
Privilegien, Pogrome, Emanzipation - Juden in Mittelalter und Neuzeit
Einführung
von Reinhard Neebe
Die vorliegende Online-Dokumentation „Privilegien, Pogrome, Emanzipation - Juden in Mittelalter und Neuzeit“ ist entstanden im Zusammenhang des DigAM-Projektschwerpunktes zur „Verfolgung der Juden während der NS-Zeit“. In Vorbereitung der Ausstellung „Pogromnacht - Auftakt am 7. November 1938 in Hessen“ (Nov. 2008-Mai 2009) anlässlich der 70. Wiederkehr der Novemberpogrome 1938 wurden umfangreiche Bestände im Hessischen Staatsarchiv Marburg zur Judenpolitik im Nationalsozialismus systematisch durchforscht. Hierbei wurde eine Vielzahl relevanter Dokumente digital erfasst und in verschiedenen Online-Ausstellungen von DigAM einer interessierten Öffentlichkeit erstmals barrierefrei zugänglich gemacht.
Die bei DigAM präsentierten Online-Ausstellungen zur Judenverfolgung im Nationalsozialismus beruhen einerseits auf einer thematisch fokussierten Auswahl der Dokumente unter der Prämisse einer ausstellungsdidaktisch notwendigen Reduktion. Hierzu gehört insbesondere die zentrale Ausstellung im Staatsarchiv Marburg:
Pogromnacht - Auftakt am 7. November 1938 in Hessen
Andererseits wird der bei DigAM vorliegende digitale Dokumentenfundus für weitergehende, eigenständige Recherchen komplett abgebildet - die Quellen sind hier entweder nach Provenienz geordnet oder in einer chronologisch-thematischen Systematik erfasst. Siehe hierzu die Ausstellungen:
Quellen zur Geschichte der Juden in Hessen 1933-1945
"Jedenfalls wird jetzt tabula rasa gemacht ..." Pogromnacht 1938 und der Weg in den Holocaust.
Gesetze und Verordnungen zur Judenpolitik 1933-1945
Im Zuge der Aufarbeitung der Dokumente zur Judenverfolgung im Nationalsozialismus ergab sich sehr bald die Frage nach einer weiterreichenden historischen Kontextualisierung, die im Rahmen der o.g. Ausstellungen nicht zu leisten war. Wenn die Novemberpogrome 1938 als eine zentrale Wegmarke zu interpretieren sind, von der aus der Weg in den Holocaust vorgezeichnet war, dann ist zu fragen nach der historischen Qualität des Zivilisationsbruchs im eliminatorischen Rassenantisemitismus des NS-Regimes, der sich spätestens 1938 unverhüllt dokumentierte.
Der Blick wendet sich damit zurück auf die lange Geschichte der Juden in Deutschland und Europa – und zwar im Spannungsfeld gegenläufiger und auch komplementärer Entwicklungen und Prozesse. „Privilegien – Pogrome –Emanzipation“, diese Begriffe stehen für das ambivalente, widerspruchsvolle Spektrum im sozialen, ökonomischen und politischen Beziehungssystem zwischen jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheitsbevölkerung in Mittelalter und Neuzeit.
In der vorliegenden Ausstellung liegt der Fokus auf den Veränderungen und Widersprüchlichkeiten der rechtlichen Situation der Juden in Deutschland seit dem hohen Mittelalter. Hierzu war es erforderlich, wegweisende Privilegien und Judenordnungen in Auswahl aufzunehmen, gleichzeitig konnten aber auch zentrale, bislang nicht publizierte Schlüsseldokumente aus dem Staatsarchiv Marburg erstmals digital erschlossen und online zugänglich gemacht werden.
Hierzu zählt insbesondere das große Speyrer Judenprivileg Kaiser Karl V. aus dem Jahre 1544, das als eine direkte Anwort auf die bekannten judenfeindlichen Schriften Luthers von 1543 gelesen werden muss. Von hier aus spannt sich einerseits der Bogen zurück zur kaiserlichen Privilegienpolitik im Mittelalter, insbesondere dem Judenprivileg Kaiser Friedrich II. aus dem Jahre 1236, andererseits unmittelbar auch zur nationalsozialistischen Judenpolitik: Hierfür steht exemplarisch die Schrift des thüringischen Landesbischofs Martin Sasse „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“, in der die brennenden Synagogen im November 1938 in schließlicher Umsetzung der Lutherschen Forderungen als „gottgesegneter Kampf des Führers“ zur endgültigen Brechung der Macht der Juden in Deutschland gerühmt werden.
Zu danken habe ich den studentischen Praktikanten Sebastian Haus, Jakob Nordmeyer und Annalena Schmidt von den Universitäten Gießen und Marburg, die das Kapitel III „Judenpolitik in der Neuzeit“ in großen Teilen selbständig bearbeitet und gestaltet haben.
Reinhard Neebe
Thematische Einleitungen und weiterführende Erläuterungen in den Teilkapiteln:
I.1. Von der Karolingerzeit bis zu den Kreuzzügen
I.2. Des Kaisers "Kammerknechte": Vom Judenprivileg Friedrich II. bis zum Ausgang des Mittelalters

Jüdische Existenz im Mittelalter: Pogrome und Privilegien (I)
Die Geschichte des Judentums unterscheidet sich von der anderer Weltreligionen maßgeblich in einem Ereignis: der Diaspora oder der Verstreuung. Nach der Zerstörung Jerusalems und des Herodianischen Tempels durch die Legionen des Titus im Jahr 70 flohen die Juden in weite Teile der Welt, vor allem nach Frankreich, Spanien, Nordafrika, Syrien, Babylonien, Persien und Kleinasien. Weiterhin fühlten sie sich dennoch als ein jüdisches Volk. Diese Verbindung mit der Welt und auch die Kontakte zur arabischen Kultur eröffneten später den europäischen Juden eine ideale Basis als Fernhändler, Ärzte, da diese der arabischen Heilkunde mächtig waren, und Gelehrte, denen sich durch die Beherrschung der Sprache der Horizont der arabischen Wissenschaften eröffnete.
Mit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich entwickelte sich die Rechtsbasis des Judentums zurück. Beide Religionen standen bereits seit der Etablierung des Christentums, das sich anfangs als eine Abspaltung des Judentums entwickelt hatte, in Konkurrenz. Bereits der Kirchenvater Augustin (354-430) deutete die Diaspora als Gottesstrafe für die Ermordung Jesu. Von den Juden selbst wurde sie als notwendige Vorbedingung für die Ankunft des Messias angesehen.
Die Bestimmungen des Codex Theodosianus von 438 schränkten die noch vorher herrschende Gleichstellung der Juden deutlich ein. Juden durften keine öffentlichen Ämter mehr wahrnehmen und auch keine militärischen Posten besetzen. Die Laufbahnen in beiden Bereichen waren im traditionellen römischen System die einzige Möglichkeit, auch politische Macht auszuüben. Juden sollten keine christlichen Sklaven erwerben dürfen. Wenn aber ihre Sklaven zum christlichen Glauben übertraten, so sollten sie freigelassen werden. Da für diesen Fall kein finanzieller Ausgleich vorgesehen war, verursachte diese Regelung eine starke wirtschaftliche Beeinträchtigung.
Obwohl die Quellen zu den Juden in Europa in der Spätantike wenig Material bieten, finden sich darin früh Hinweise auf jüdischen Bevölkerungsanteile. Bereits 321 ist für Köln in Dekreten Kaiser Konstantins an den Kölner Magistrat eine jüdische Gemeinde belegt. Unter Karl dem Großen (reg. 768-814) lebte der erste namentlich in den Quellen belegte Jude in Deutschland: Isaac, ein Großkaufmann. Während der Regierungszeit Karls des Großen bildeten sich zahlreiche neue jüdische Gemeinden und der Fernhandel begann zu blühen. Etwas später erließ Ludwig der Fromme (reg. 814-40) Privilegien , die die Einschränkungen Theodosians II. nahezu aufhoben. Taufwillige Sklaven mussten nun beispielsweise zusätzlich freigekauft werden. Dieser Erlass sorgte für weitere Konflikte zwischen Amtskirche und Kaiser. Zusätzlich betonte und festigte Ludwig den kaufmännischen Status der Juden und garantierte die Autonomie ihrer Gemeinden.
In Spätantike und Frühmittelalter gab es durchaus auch gute nachbarschaftliche Verhältnisse zwischen jüdischen und christlichen Familien im Frankenreich. Juden arbeiteten häufig als Kaufleute, Ärzte, Weinbauern oder Münzmeister. Zwar war die Bevölkerung von der hebräischen Sprache, die die Juden oft auch außerhalb der Synagoge sprachen, und durch ihre teilweise für die europäischen Christen nicht nachvollziehbaren Traditionen befremdet. Die Entfremdung bekam jedoch klare Konturen, als Kreuzzugsprediger im 11. Jahrhundert den Hass auf Andersgläubige schürten und stärker noch im Spätmittelalter, als sich ghettoisierte Wohnstrukturen durchzusetzen begannen und die Herrscher ihre direkte Herrschaft über die Juden immer öfter aus der Hand gaben. Jüdische Ghettos waren anfangs meist nicht erzwungen, sondern ergaben sich aus der alltäglichen Praxis. Die Nähe zur Synagoge und zum Marktplatz bestimmte die jüdischen Siedlungsbereiche in den Städten von Anfang an.
Im 10. und 11. Jahrhundert wanderten vermehrt Juden aus Südfrankreich und Italien in die rheinischen Städte ein. Die wichtigsten Siedlungsschwerpunkte sind zuerst Worms und Mainz, etwas später auch Speyer. Als Zentrum des jüdischen Glaubens im Frankenreich jener Zeit sind sie als SCHUM-Gemeinden bekannt; eine Abkürzung, die aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Namen der drei Städte gebildet ist.
Viele Juden trieb der Handel in ferne Länder, denn sie hatten gute Beziehungen zum Orient, besonders natürlich zu Palästina. Der Fernhandel des fränkischen Reiches lag bis ins späte Mittelalter vor allem in jüdischen Händen. Daraus ergab sich ihre Ansiedelung in großen Städten und ihre Nähe zum Herrscherhof. Vor allem Adlige und hohe Geistliche benötigten die Luxusgüter der Levante.
Die Ottonen und Salier knüpften an die für die Juden insgesamt recht günstigen Privilegien an. Aus den Privilegien Heinrichs IV., Friedrichs I. sowie Friedrichs II. ist ersichtlich, dass die Haltung der Herrscher zu den Juden generell positiv war. In Krisenzeiten fehlte ihnen allerdings die Macht, den Schutz, den sie den jüdischen Gemeinden versprochen hatten, durchzusetzen. Die aufgewiegelte christliche Bevölkerung zur Zeit der Kreuzzüge war schwer zu bändigen und einige Male gelang es den Bischöfen nicht, die Juden vor den Verfolgungen und Übergriffen zu bewahren. Den Pogromen des ersten Kreuzzuges 1096 fielen trotz Schutzprivilegien Tausende Juden zum Opfer.
Die Gesamtzahl der Juden wird am Vorabend der Kreuzzugspogrome auf etwa 20-25.000 Personen geschätzt. Auch die Zahl der Siedlungsorte stieg weiter an – so waren es vor den Kreuzzugsverfolgungen 13 Siedlungsorte. Diese Zahl stieg bis zum Jahr 1348 in dem zum Deutschen Reich gehörenden Mitteleuropa auf 1000 Orte an, an denen Juden kürzer oder länger gelebt haben.
Nach dem ersten Kreuzzug 1095 kam es zu einem tiefgreifenden Wandel in der gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung der Juden. Die wachsende Feindlichkeit gegenüber der jüdischen Minderheit seitens der christlichen Bevölkerung führte zu gewaltsamen Übergriffen, Vertreibung und Mord. Die Ursachen für diesen Wandel sind vielschichtig. Antijüdische Tendenzen waren wohl trotz der breiten Akzeptanz schon immer Vorhanden. Die kirchliche Doktrin, aber auch das Unwissen über die fremde Kultur, waren wahrscheinlich die Hauptursachen der Feindseligkeiten in der christlichen Umwelt.
Teresa Traupe
Kaiser Konstantin der Große verordnet, dass die Juden in Köln nicht mehr vom Dienst in der Kurie befreit werden. 11. Dezember 321
Nachweislich früheste Erwähnung der Juden in Deutschland; mit der nachfolgenden Verordnung hob der Kaiser [seit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion] die früheren Vorrechte der Juden, ihre Befreiung von lästigen städtischen Ämtern, wie dem der Steuereintreibung, auf.
§ 3. Den Decurionen (Stadtverwaltern) in Köln. — Allen Behörden erlauben wir durch allgemeines Gesetz, die Juden zur Kurie (Rathaus, städtische Amtsgeschäfte) zu berufen. Da-mit ihnen aber eine Entschädigung für den früheren Brauch (ihre Befreiung von jeder Amtstätigkeit) verbleibt, so wollen wir jeweils zweien oder dreien das Vorrecht gewähren, durch keinerlei Berufungen in Anspruch genommen zu werden.
Befreiung der Gemeindebehörden in Köln von persönlichen Leistungen. Konstantinopel, 1. Dezember 331
4. Den Rabbinen, Archisynagogen (Synagogenvorstehern), Synagogenvätern (Synagogenältesten), sowie den übrigen, welche an demselben Ort (Köln) ein Amt bekleiden. — Wir verordnen, dass die Rabbinen, Archisynagogen, Synagogenväter, sowie die übrigen, welche in den Synagogen ein Amt bekleiden, von jeder persönlichen Leistung frei sein sollen.
Codex Theodosianus [XVI. Buch, Titel VIII, SS 3 und 4]. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 3
Vom Eide der Juden gegen Christen.
Streue Sauerampfer zweimal vom Kopf aus im Umkreis seiner Füße (nach anderer Lesart: umgürte ihn vom Kopf bis zu den Füßen mit Dornen); dort soll er stehen, wenn er schwört und in der rechten Hand die fünf Bücher Mosis halten nach seinem Gesetz, und wenn er den hebräischen Text nicht haben kann, so soll er den lateinischen haben (und schwören):
so mir Gott helfen soll, derselbe Gott, der das Gesetz Mosis auf dem Berge Sinai gegeben hat, und so der Aussatz des Syrers Naaman nicht über mich kommen soll, wie er über jenen gekommen ist, und die Erde mich nicht verschlingen soll, wie sie Datan und Abiron (Abiram) verschlungen hat: ich habe in dieser Sache nichts Böses gegen dich verübt.
Karoli Magni Capitularia, Capitula de Judaeis, § 4. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 4
A. 801. Man meldete, dass der Jude Isaak, welchen der Kaiser vor 4 Jahren zu dem vorgenannten König der Perser (Kalif Harun al Raschid) mit Lantfrid und Sigimund, seinen Gesandten, geschickt hatte, mit großen Geschenken zurückgekehrt wäre. Lantfrid und Sigimund waren nämlich beide auf dieser Reise gestorben. Im Oktober dieses Jahres kam der Jude Isaak aus Afrika mit einem Elefanten zurück und landete in Porto Venere, einem Hafen im Golf von Spezia; und weil er des Schnees wegen die Alpen nicht überschreiten konnte, so über-winterte er in Vercelli.
A. 802. In diesem Jahr, am 20. Juli, kam Isaak mit dem Elefanten und den übrigen Geschenken, die von dem Perserkönig geschickt worden waren, und übergab zu Aachen alles dem Kaiser. Der Elefant hatte den Namen Abulabaz.
Einhardi Annales = Reichsjahrbücher von Einhard (770-840), dem Geschichtsschreiber Karls des Großen. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 3-4
Ältester Schutzbrief.
Allen Bischöfen, Äbten, Grafen, Vorstehern, Stellvertretern, Zentgrafen, Zolleihebern, sowie auch unseren Sendboten und allen unseren Getreuen, gegenwärtigen und künftigen, sei bekanntgegeben, dass wir die Hebräer, nämlich den Rabbi Dornatus und Samuel, seinen Neffen, unter unseren Schutz genommen haben. Deshalb ordnen wir durch gegenwärtige unsere Urkunde an und befehlen, dass weder ihr noch eure Untergebenen und Nachfolger sich herausnehmen, besagte Hebräer unter irgend-einem Vorwand zu beunruhigen, noch zu schmähen, noch sie an ihrem Eigentum, das sie zur Zeit rechtmäßig besitzen, zu kränken oder mindern zu irgendeiner Zeit.
Niemand soll Zoll noch Roßgeld noch Herbergsgeld noch Trinkgeld oder Rasengeld, Uferzoll, Torzoll, Brückenzoll, Balkenzoll, Zehrgeld von besagten Hebräern verlangen. Gleicherweise haben wir ihnen erlaubt, mit ihrem Eigentum Handel zu treiben und ihr Eigentum jedem, dem sie wollen, zu verkaufen. Auch soll ihnen getattet sein, nach ihrem Gesetz zu leben und Christen zu ihrer Arbeit zu mieten, ausgenommen an den Fest- und Sonntagen. Sie sollen auch die Erlaubnis haben, ausländische Sklaven zu kaufen und innerhalb unseres Reiches weiter zu verkaufen.
Wenn aber ein Christ einen Rechtsstreit wider sie hat, so soll er drei geeignete Christen und ebenso viele geeignete Hebräer zu Zeugen brauchen und mit ihnen seine Sache verfechten. Und wenn wiederum sie einen Rechtsstreit wider einen Christen haben, so sollen sie, sich christliche Zeugen nehmen und mit ihnen jenen überführen.
Auch haben dieselben Juden unserer Majestät von gewissen Leuten berichtet, die wider die christliche Religion dazu raten, dass die Sklaven der Hebräer, kraft der christlichen Religion, ihre Herren verachten und sich taufen lassen. Viel-mehr überreden sie dieselben, sich taufen zu lassen, um sich von dem Dienst ihrer Herren zu befreien. Dies bestimmen keineswegs die heiligen Kanones, vielmehr entscheiden sie dahin, dass alle, die dies anstreben, strengstens mit dem Bannstrahl zu treffen sind. Und deshalb wollen wir, dass weder ihr selbst besagten Hebräern dies weiterhin tun, noch euren Untergebenen es zu tun erlauben sollt. Haltet fest, dass jeder, der dies versucht, ohne Gefahr seines Lebens und Verlust seines Gutes nicht davonkommen wird, wenn es uns hinterbracht wird.
Und ferner sollt ihr folgendes wissen: weil wir nunmehr die obengenannten Hebräer unter unseren Schutz und unsere Vormundschaft genommen haben, soll jeder, der — solange sie uns dienen — zu ihrem Tode rät oder einen von ihnen tötet, an unsere Pfalz zehn Pfund Goldes zahlen. Schließlich verbieten wir, besagte Juden zu einem peinlichen Verfahren zu ziehen, d. h. weder zur Probe des Feuers noch des heißen Wassers noch auch zur Geißelung, wenn es nicht nach ihrem Rechte erlaubt ist.
Formulae Imperiales e curia Ludovici Pii. Erlaß über die Juden. [Praeceptum Judaeorum.] Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 4-6
Speyer, 13. September 1084.
... Ich, Rüdiger, auch Huozmann genannt, Bischof von Speyer. Als ich den Weiler Speyer in eine Stadt verwandelte, glaubte ich die Ehre unseres Ortes noch zu vergrößern, wenn ich die Juden vereinigte. Ich brachte sie darauf außerhalb der Gemeinschaft und des Zusammenwohnens mit den übrigen Bürgern, und damit sie durch den Übermut des Pöbels nicht beunruhigt würden, umgab ich sie mit einer Mauer. Ihren Wohnplatz habe ich auf gerechte Weise angeschafft, den Hügel nämlich zuerst teils durch Geld, teils durch Tausch, das Tal erhielt ich von (einigen) Erben als Geschenk. Jenen Ort, sage ich, übergab ich ihnen unter der Bedingung, dass sie jährlich drei und ein halbes Pfund Speyerschen Geldes zum gemeinsamen Verbrauch der Klosterbrüder zahlen.
Innerhalb ihres Wohnplatzes und außerhalb bis zum Schiffshafen und in dem Schiffshafen selbst gab ich ihnen das Recht, Gold und Silber frei zu wechseln und alles Beliebige zu kaufen und zu verkaufen, und eben dieselbe Freiheit gab ich ihnen durch die ganze Stadt. Außerdem gab ich ihnen vom Besitztum der Kirche einen Begräbnisplatz mit erblichem Rechte. Auch gestattete ich, dass ein fremder Jude, der sich bei ihnen vorübergehend aufhalten wird, keinen Zoll zu zahlen habe; sodann dass, wie der Stadtvogt unter den Bürgern, ihr Erzsynagog (Archisynagogus = Synagogenvorsteher) Klagen, die zwischen oder gegen Juden erhoben werden, zu entscheiden habe.
Ist dieser aber den Streit beizulegen nicht imstande, so soll die Sache vor den Bischof oder seinen Kämmerer gebracht werden. Nächtliche Wachen, Verteidigungen, Befestigungen haben sie bloß innerhalb ihres Gebietes zu verrichten, die Verteidigungen aber gemeinsam mit den Sklaven; Ammen und Knechte auf Miete können sie von den Unsrigen haben, geschlachtetes Vieh können sie, wenn es ihnen nach ihrem Gesetze zu essen nicht erlaubt ist, an Christen verkaufen, und den Christen ist es zu kaufen erlaubt.
Endlich als Gipfel meines Wohlwollens habe ich ihnen Gesetze verliehen, die besser sind, als sie das jüdische Volk in irgendeiner Stadt des deutschen Reiches besitzt. Damit diese Vergünstigung und Verleihung keiner meiner Nachfolger verringern oder sie zu größerer Abgabe zwingen möchte, als ob sie diesen Zustand sich widerrechtlich zugeeignet und nicht von einem Bischof empfangen hätten, habe ich diese Urkunde über obige Vergünstigung ihnen als sicheres Zeugnis hinterlassen. Und damit das Andenken dieser Sache durch die zeitlichen Jahrhunderte bleibe, habe ich sie durch eigene Handesunterschrift bestätigt und durch die Druntersetzung meines Siegels, wie unten zu sehen ist, bezeichnen lassen .. .
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 8-9
Heinrich IV. war der dritte Herrscher aus dem Geschlecht der Salier. Nach seiner Krönung 1054 hatte er lange Zeit noch keine Regierungsgewalt. Die Mündigkeitserklärung erfolgte erst 1065. Mit fast 50 Jahren saß er außergewöhnlich lange auf dem Thron und er besaß eine vorzügliche Bildung.
In seinen Regierungshandlungen verfolgte er die Königslandpolitik, das ist der Versuch, das Land in Konkurrenz zum ansässigen Adel militärisch und wirtschaftlich für die Krone nutzbar zu machen. Dies brachte den Adel immer wieder gegen ihn auf. 1073 formierte sich im Sachsenkrieg die erste innere Widerstandsbewegung gegen Heinrich IV.
Zusätzliche Konflikte mit der römischen Kirche konnte er sich nicht leisten und zeigte sich dem Papsr deshalb ergeben. Gregor VII. konnte so mit Heinrichs Hilfe seine Reformen in Deutschland durchsetzen. Das positive Verhältnis wurde jedoch 1075 durch die Politik Heinrichs in Reichitalien (Besetzung des Mailänder Erzstuhles mit eigenem Kaplan) getrübt. Hier entsteht die Investiturstreitproblematik. Ein heftiger Konflikt entbrennt.
Auf der Wormser Synode setzt Heinrich Gregor VII. mit der Begründung ab, dass die allein auf der dei gratia (Gnade/Gunst Gottes) beruhenden Königswürde unantastbar sei.
Der Papst untersagte daraufhin Heinrich die Regierung über Deutschland und Italien, erklärte die ihm geleisteten Treueide (auch solche, die seine Anhänger geleistet hatten) für ungültig und bannte ihn. Da die Fürsten daraufhin eine Neuwahl anstrebten, sah sich Heinrich gezwungen, sich dem Papst zu beugen. Mit dem Gang nach Canossa 1077 verhinderte er ein Bündnis zwischen seinen Gegnern im Reich und dem Papst. Er erhielt zwar Absolution, das Herrscherbild, das er aufzubauen versucht hatte, war jedoch vorerst nicht länger durchzusetzen.
Am Ende seiner Regierung musste Heinrich schließlich abdanken, nachdem sein eigener Sohn Heinrich, Führer der fürstlichen Opposition, ihn gefangen genommen hatte.
Seine Regierung war geprägt durch einen lebenslangen Kampf für eine beherrschende Stellung des Königtums gegenüber dem Reformpapsttum, dem Machtanspruch des Klerus und den erstarkenden Fürsten.
Literatur:
Judenprivileg Kaiser Heinrich IV., gegeben zu Speyer am 19. Februar 1090
Druck in: MGH DD Heinrici IV., Nr. 411, S.543-547.
Heinrich nimmt die Juden zu Speyer, Judas Sohn des Calonim, David Sohn des Massulam und Moyses Sohn des Guthihel mit ihren Genossen, in seinen Schutz und stellt ihre Rechte fest.
Vor seinem 3. Italienzug bestätigte Heinrich IV. noch das Judenprivileg Bischofs Huozmans, der Juden aus Mainz 1084 in Speyer angesiedelt hatte, um den Ruhm der Stadt zu mehren. Dieses zunächst speziell für Speyer erlassene Privileg dehnte Heinrich IV. auf alle Juden des Reiches aus und nahm sie unter seinen Schutz, womit sie vor unberechtigten Forderungen bewahrt werden sollten. Die Bestimmungen des Privilegs von 1090 regeln verschiedene Bereiche des Lebens: politische, juristische, wirtschaftliche und religiöse. Laut Privileg dürfen die Juden freien Handel ausüben. Sie dürfen ihre Waren an Christen verkaufen und ihr Eigentum wird geschützt. Wenn Diebesgut, das sie gekauft haben, bei ihnen gefunden wird, müssen sie eidlich den Preis nennen und der ursprüngliche Besitzer kann sein Eigentum durch Rückzahlung wieder erhalten. Diese Maßnahmen mindern das Risiko beim Handel und fördern damit den wirtschaftlichen Erfolg. Wenn es zwischen Juden und Christen zu Streitigkeiten kommt, „gilt das Recht des Betroffenen“, d.h., dass auch die Juden durch einen Schwur oder einen Zeugen ihr Recht beweisen können. Gottesurteile dürfen nicht angewendet werden. Bei Schwierigkeiten steht den Juden offen, sich an den Kaiser und das königliche Hofgericht zu wenden. Streitigkeiten zwischen Juden sollen von der jüdischen Gemeinde selbst entschieden werden. Willkürliche Verurteilungen vor dem christlichen Richter sollen damit unterbunden werden. Folterungen in jeglicher Art sind strengstens verboten und bei Ermordungen oder Verletzungen sind Geldbußen an den Kaiser zu zahlen.
Zwangstaufen jüdischer Kinder sind verboten. Möchte ein Jude freiwillig getauft werden, so geschieht dies erst nach 3 Tagen, um seinen eigenen Willen zur Taufe zu beweisen. Sein Recht auf das Erbe verlischt. Dadurch wird der Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft durch den Kaiser erschwert und die jüdische Gemeinschaft geschützt. Allerdings wird den Juden gestattet, christliche Mägde und Ammen und christliche Arbeitskräfte in ihren Häusern zu beschäftigen, sofern diese die christlichen Sonn- und Feiertage einhalten können.
Judenprivileg Kaiser Heinrichs IV. , gegeben zu Speyer am 19. Februar 1090
Druck in: MGH DD Heinrici IV., Nr. 411, S.543-547.
Heinrich nimmt die Juden zu Speyer, Judas Sohn des Calonim, David Sohn des Massulam und Moyses Sohn des Guthihel mit ihren Genossen, in seinen Schutz und stellt ihre Rechte fest.
1090, vor seinem dritten Italienfeldzug, bestätigte Heinrich IV. das Privileg Bischof Huozmans für die Juden von Speyer. Der Bischof hatte sie 1084 aus Mainz aufgenommen, um den Ruhm der Stadt zu mehren. Insgesamt ratifizierte der Kaiser damit die bereits geltenden Bestimmungen seiner karolingischen und salischen Vorgänger. Ein ganz ähnliches Privileg muss auch für die Regensburger Juden existiert haben. Leider ist es uns aber nicht überliefert. Die ersten Dokumente dieser Art für, die an Juden gerichtet sind, entstanden unter Ludwig dem Frommen.
Außerdem haben wir durch Vermittlung und auf Bitten von Hutzmann, Bischof von Speyer, befohlen, daß ihnen diese unsere Urkunde zugestanden und gegeben werde. Daher legen wir durch das königliche Gebot unserer Hoheit fest und befehlen, daß in Zukunft niemand, der unter unserer königlichen Macht mit irgendeiner Amtswürde oder Machtbefugnis ausgestattet ist, kein Geringer und kein Großer, kein Freier und kein Sklave, sich unterstehen soll, diese durch irgendwelche falschen Anklagen zu beunruhigen oder anzugreifen. Auch soll niemand es wagen, ihnen irgend etwas von ihren rechtmäßig ererbten Besitz an Höfen, Häusern, Gärten, Weinbergen, Feldern, Sklaven und sonstigen beweglichen oder unbeweglichen Gütern wegzunehmen. Wenn aber irgend jemand ihnen entgegen diesem Edikt irgendeine Gewalttätigkeit zufügt, so soll er gehalten sein, an die Schatzkammer unseres Palastes oder an die Kämmerei des Bischofs ein Pfund Gold zu zahlen und die Sache, die er ihnen weggenommen hat, doppelt zu erstatten.
Auch sollen sie die freie Erlaubnis haben, ihre Güter mit wem auch immer es ihnen beliebt in gerechtem Handel auszutauschen und sich frei und unbehelligt in den Grenzen unseres Reiches zu bewegen, ihren Handel und Warenaustausch zu betreiben, zu kaufen und zu verkaufen, und niemand soll von ihnen einen Zoll eintreiben oder irgendeine öffentliche oder private Abgabe von ihnen fordern. In ihren Häusern sollen ohne ihr Einverständnis keine Fremden einquartiert werden, und keiner soll von ihnen ein Pferd für die Reise des Königs oder des Bischofs oder unfreiwillige Dienste für die Beförderung des Königs verlangen. Wenn aber eine gestohlene Sache bei ihnen gefunden werden sollte und ein Jude sagt, er habe sie gekauft, so beweise er durch einen Eid nach seinem eigenen Gesetz, für wieviel er sie gekauft hat. Diesen Betrag soll er erhalten und die Sache dem, dem sie gehört, zurückgeben.
Niemand soll es wagen, ihre Söhne und Töchter gegen ihren Willen zu taufen, und wenn jemand sie zur Taufe gezwungen hat, sei es, daß sie heimlich geraubt wurden, oder sei es, daß sie mit Gewalt entführt wurden, soll er zwölf Pfund [Gold] an die Schatzkammer des Königs oder des Bischofs zahlen. Wenn irgend jemand aus eigenem Antrieb getauft werden will, so soll er drei Tage lang zurückgehalten werden, so daß man voll und ganz erkennt, ob er wirklich um der christlichen Religion willen oder ob er aufgrund irgendeines ihm zugefügten Unrechts sein Gesetz verläßt, und wie er sein Gesetz aufgibt, so soll er auch seinen Besitz aufgeben.
Auch soll niemand ihre heidnischen Sklaven unter dem Vorwand der christlichen Religion taufen und sie so dazu veranlassen, ihren Dienst zu verweigern. Wenn jemand dies tut, so soll er durch Gerichtsgewalt gehalten sein, eine Strafe zu zahlen, und zwar drei Pfund Silber, und außerdem soll er den Sklaven ohne Verzögerung seinem Herrn zurückgeben. Der Sklave aber soll alle Vorschriften seines Herrn befolgen, unbeschadet jedoch der Ausbildung des christlichen Glaubens, von dem er durch die Sakramente erfüllt ist. Auch soll es den Juden erlaubt sein, Christen zur Verrichtung ihrer Arbeiten heranzuziehen, außer an Feiertagen und Sonntagen, aber es soll ihnen nicht gestattet sein, einen christlichen Sklaven zu kaufen.
Wenn ein Christ gegen einen Juden oder ein Jude gegen einen Christen wegen irgendeiner Angelegenheit einen Prozeß oder einen Rechtsstreit hat, sollen beide, je nachdem wie die Angelegenheit liegt, gemäß ihrem eigenen Gesetz Gerechtigkeit schaffen und ihre Sache beweisen, und niemand soll den Juden zur [Probe des] glühenden Eisens oder des siedenden oder kalten Wassers zwingen, ihm Geißelhiebe versetzen oder ihn einkerkern, sondern der Jude soll nach vierig Tagen einen Eid nach seinem Gesetz schwören, und er soll nicht [allein] durch Zeugenaussagen bezüglich irgendeiner Angelegenheit überführt werden. Und wer auch immer sie [die Juden] entgegen diesem unserem Edikt unter Druck setzen will, soll eine Strafe zahlen, und zwar drei Pfund Silber.
Wer aber [einen Juden] verletzt, wenn auch nicht tödlich, soll ein Pfund Gold zahlen. Wenn es aber ein Sklave war, der ihn getötet oder verletzt hat, so soll sein Herr die oben genannte Strafe zahlen oder seinen Sklaven zur Strafe ausliefern. Wenn er jedoch, durch Armut bedrängt, die vorgeschriebene Strafe nicht zahlen kann, soll er dieselbe Strafe erleiden, mit der zur Zeit des Kaisers Heinrich, meines Vaters, jener bestraft wurde, der einen Juden namens Vivus getötet hat. Diesem wurde nämlich ein Auge ausgestochen und die rechte Hand abgehackt.
Wenn die Juden untereinander einen Prozeß oder einen Rechtsstreit zu entscheiden haben, sollen sie nur von ihresgleichen überführt und abgeurteilt werden. Und wenn irgend jemand von ihnen in betrügerischer Weise bezüglich irgendeiner Sache, die bei ihnen geschehen ist, die Wahrheit verheimlichen will, so soll er von demjenigen, der in der Gegend der Synagoge des Bischofs vorsteht, gemäß seinem Gesetz gezwungen werden, über das, wozu er befragt wird, die Wahrheit zu sagen. Wenn sich einmal zwischen ihnen oder gegen sie schwierige Streitfragen oder Prozesse erheben, sollen diese an den Bischof verwiesen werden, damit sie aufgrund seines Urteils beigelegt werden können. [Solange bis dies geschehen ist,] soll der Friede unter den Beteiligten gewahrt bleiben.
[Die Juden] sollen außerdem die Erlaubnis haben, ihren Wein, Salben und Arzneimittel an die Christen zu verkaufen, und wie wir schon gesagt haben, soll niemand Spanndienste, Fuhrwerke, unfreiwillige Leistungen oder irgendeine andere öffentliche oder private Abgabe von ihnen eintreiben.
Und damit dieses Zugeständnis zu jeder Zeit uneingeschränkt gültig bleibt, haben wir befohlen, darüber diese Urkunde aufzusetzen und sie mit dem Abdruck unsers Siegels zu versehen. [...]
Übersetzt in: Juden in Europa - ihre Geschichte in Quellen (Bd. 1 - Von den Anfängen bis zum Mittelalter) , hrsg. v. J. H. Scholps und H. Wallenborn, Darmstadt 2001, Nr. 53, S. 121-123.
Arbeitsaufträge:
- Warum wird in der Urkunde so deutlich zwischen Juden und Christen unterschieden?
- Welche Rechte werden den Juden zugestanden und was wird zu ihrem Schutz bestimmt?
- a) Welche ideellen und materiellen Interessen hat der Kaiser selbst an dieser Angelegenheit?
b) Inwiefern kann es dabei zu einem Rollenkonflikt des Kaisers kommen? - Welche Rolle spielt der Bischof von Speyer in dieser Problematik?
- Wie erklären Sie sich die Härte der angedrohten Strafen?
Die Kreuzzüge 1096 - 1270
[hier generell: Katastrophe der Kreuzzüge > Pogrome und Privilegien > KAISERLICHE KAMMERKNECHTSCHAFT
Kreuzzugsaufruf Urban II:Von April bis Juli des Jahres 1096 erlitten die jüdischen Gemeinden an Rhein und Mosel sowie in Regensburg und Prag Verfolgungen, die in Ausmaß und Intensität frühere bei weitem übertrafen und in ihrer Durchführung singulären Charakter hatten. Sie geschahen im Zusammenhang mit dem sogenannten Ersten Kreuzzug. Über diese Ereignisse sind drei hebräische Berichte aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Abschrift überliefert. Die oben stehende Quelle zu den Pogromen in Köln und den niederrheinischen Orten stammt aus dem Bericht "Mainzer Anonymus", der vermutlich in den Jahren zwischen 1097 und 1140 verfasst wurde.
Jüdischer Bericht über die Pogrome von 1096 in Speyer und Worms, verfasst vom sog. "Mainzer Anonymus" ca. 1097-1140
Während sich Historiker heute um Neutralität bemühen, wenn sie Geschichte beschreiben, war es im Mittelalter völlig normal, dass eigene Überzeugungen und Interessen in die Darstellung einflossen. Um ein möglichst authentisches Bild historischer Ereignisse zu erhalten, bedarf es möglichst vieler verschiedener Blickwinkel. Die drei erhaltenen Chroniken aus jüdischer Sicht, die die Ereignisse der Kreuzzugspogrome von 1096 beschreiben, bieten uns eine wertvolle zusätzliche Perspektive zu den übrigen christlichen Quellen. Eva Haverkamp edierte die erhaltenen Texte von Salomo bar Simson, Elieser bar Nathan und dem Mainzer Anonymus 2005 neu und liefert damit eine willkommene Ergänzug für die Betrachtung der Situation der Juden Ende des 11. Jahrhunderts. Gerade die Lebenssituation in der jüdischen Gemeinde lässt sich aus diesen Quellen herauslesen und ebenso wird die Grausamkeit der Ereignisse zur Zeit der ersten Kreuzzüge auf anschauliche und schockierende Weise greifbar.
Urban II. hatte 1095, vornehmlich um die Christen in Jerusalem vor den Muslimen, die ebenfalls Anspruch auf die heilige Stadt erhoben, zu schützen, zum ersten Kreuzzug aufgerufen. Im Frankenreich mobilisierten Prediger die Massen, die 1096 schließlich von Westen nach Osten auch durch die deutschen Reichsteile zogen. Alle Kreuzfahrer mussten mit Lebensmitteln vorsorgt werden, was eine nahezu unmögliche Aufgabe darstellte. Schon daraus ergaben sich Plünderungen im eigenen Reich. Durch die Hasspredigten aufgewiegelt, richtete sich alle negative Energie schon bald gegen jene, die keine Christen waren. Bewaffnete Horden aus allen gesellschaftlichen Schichten, die sich durch die Suche nach ihrem Seelenheil legitimiert fühlten, stellten die Juden in einigen Städten vor die Wahl „Tod oder Taufe“. Es entstand eine Bewegung unter den Juden, die den Freitod einer Taufe vorzogen. Diesen Märtyrertod nannten sie Kidusch haSchem – die „Heiligung des göttlichen Namens“. Aus dem Märtyrertod wurde das Recht auf ewiges Leben in der kommenden Welt abgeleitet. Diese Praxis wurde aber von einigen Seiten auch stark kritisiert.
Juden opferten im Gedenken an Abrahams Opferung Isaaks in einigen Fällen auch zuerst ihre Kinder und töteten sich dann selbst. Dies wurde von den christlichen Quellen sehr negativ aufgenommen. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass die Ritualmordanklagen des Spätmittelalters auf die Umdeutung durch die Christen zurückzuführen sind, die Juden töteten ihre Kinder aus rituell-religiösen Zwecken und würden dafür, in Anlehnung an die Tötung Christi, lieber noch christliche Kinder entführen. Eine harte und irrationale Anschuldigung, deren gedankliche Entstehung ihre Erklärung in den Predigten gegen Andersgläubige und in Entfremdungstendenzen zwischen den jüdischen und christlichen Gemeinde findet.
Die Zahl der Opfer des Pogroms von 1096 sind für Mainz unterschiedlich mit 700-1300 Toten überliefert. Jedenfalls dürfte das die vorübergehende Vernichtung der Gemeinde bedeutet haben.
Von April bis Juli des Jahres 1096 erlitten die jüdischen Gemeinden an Rhein und Mosel sowie in Regensburg und Prag Verfolgungen, die in Ausmaß und Intensität frühere bei weitem übertrafen und in ihrer Durchführung singulären Charakter hatten. Sie geschahen im Zusammenhang mit dem sogenannten Ersten Kreuzzug. Über diese Ereignisse sind drei hebräische Berichte aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Abschrift überliefert. Die oben stehende Quelle zu den Pogromen in Köln und den niederrheinischen Orten stammt aus dem Bericht "Mainzer Anonymus", der vermutlich in den Jahren zwischen 1097 und 1140 verfasst wurde.
Chronik des Salomo bar Simson über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs im Jahre 1096 (um 1140)
1A.Prolog
Und nun will ich den Ablauf des Verhängnisses (= Verfolgung) auch von den übrigen Gemeinden erzählen, die um Seines einzigen Namens willen getötet worden, wie treu sie am Ewigen, dem Gott ihrer Väter, festhielten und Seine Einheit bekannten bis zum letzten Atemzug:
Es geschah im Jahre 4856 (nach der Weltschöpfung) [nach christlicher Jahresszählung im Jahr 1096] , im Jahre 1028 unseres Exils [nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 68 n.Chr.], im elften Jahr des Zyklus 256, als wir auf Heil und Trost gehofft hatten, nach der Weissagung des Propheten Jeremia: ,Jauchzet Jakob Freude und jubelt an der Spitze der Völker ...', aber es ward verkehrt in Kummer und Seufzen, Jammer und Weinen, viel Schlimmes hat uns betroffen, wie es in allen (biblischen) Scheltreden ausgesagt ist, Geschriebenes wie Ungeschriebenes ist über unsere Seele ergangen.
Erhoben hatten sich nämlich vorerst Unverschämte, ein grimmiges und unberechenbares Fremdvolk, Franzosen und Deutsche; sie planten, in die heilige Stadt zu ziehen, die durch gewalttätige Völkerschaften entweiht war, dort das Grab <ihrer Schmach>[1] aufzusuchen, die im Land ansässigen Ismaeliten von dort zu vertreiben und das Land für sich zu erobern. ,Sie setzten ihre Zeichen als Zeichen ein' - sie brachten ein verpöntes Zeichen an ihrer Kleidung an, längs und quer[2] - jeder Mann und jede Frau, die sich hatten hinreißen lassen, den Irrweg zum Grab <ihrer Schmach> zu gehen, bis daß sie zahlreicher waren als Heuschrecken auf Erden, Männer, Frauen und Kinder. Über sie heißt es: ,Einen König haben die Heuschrecken nicht'.
Es geschah, als sie durch die Städte kamen, wo Juden waren, da sprachen sie zueinander: „Wohlan, wir haben uns auf den weiten Weg gemacht, das Haus der Schmach aufzusuchen und unsere Rache an den Ismaeliten zu vollziehen, dabei sind es doch die Juden, die unter uns wohnen, deren Väter ihn grundlos getötet und ans Kreuz geschlagen haben. Wir wollen zuerst an ihnen Rache üben und sie vertilgen unter den Völkern, daß des Namens Israel nicht mehr gedacht werde, es sei denn, sie werden wie wir und bekennen sich zum Sohn [der Menstruierenden][3]”.
[…]
2A. Speyer
In jenem Jahre fiel das Passa-Fest auf Donnerstag und der Neumond des Ijar auf Freitag und Sabbat. Und am achten Ijar, einem Sabbat, [3. Mai 1096] erhoben sich die Feinde wider die Gemeinde von Speyer und töteten von ihnen elf heilige Seelen, die ihren Schöpfer geheiligt hatten am heiligen Sabbat, da sie nicht bereit waren, sich mit ihrem Gestank verstänkern[4] zu lassen. Dort war eine angesehene und fromme Frau, die schlachtete sich selbst zur Heiligung des Namens. Sie war die erste der Schlachtenden und Geschlachteten in sämtlichen Gemeinden, und die übrigen wurden durch den Bischof [Johannes I, 1090-1104] ohne Verstänkerung gerettet, gemäß allem, was oben geschrieben.
3A. Worms
Am 23. Ijar [18. Mai 1096] erhoben sie sich wider die Gemeinde von Worms, und die Gemeinde hatte sich in zwei Gruppen geteilt, die einen waren in ihren Häusern geblieben, die anderen zum Bischof geflüchtet. Da erhoben sich die ,Steppenwölfe` wider die Daheimgebliebenen und plünderten sie aus, Männer, Frauen und Kinder, jung und alt. Sie brachten die Wohntürme zum Einsturz und zerstörten die Häuser, raubten und plünderten. Sie nahmen die Tora (-Rolle) und traten sie in den Schmutz, zerrissen und verbrannten sie, und fraßen die Israeliten mit allen Mäulern.
Es geschah nach Ablauf von sieben Tagen, am Neumondstag des Monats Siwan, [25. Mai 1096] dem Tag, da Israel an den Sinai gelangte, um die Tora zu empfangen, da wurden die in Schrecken versetzt, die noch im Gemach des Bischofs[5] verblieben waren; die Feinde mißhandelten sie wie die vorigen und übergaben sie dem Schwerte. Sie aber wurden bestärkt durch das Beispiel ihrer Brüder, ließen sich töten und heiligten den göttlichen Namen vor aller Augen, sie streckten den Hals aus und ließen sich den Kopf abschlagen um ihres Erschaffers Namen willen. Einige von Ihnen legten Hand an sich und erfüllten (was geschrieben steht): ‚Die Mutter wird über den Kindern zerschmettert', und der Vater fiel über den Söhnen, denn er ward über ihnen geschlachtet. Sie schlachteten ein jeder seinen Bruder und seinen Angehörigen, seine Frau und seine Kinder, auch Bräutigame ihre Verlobten und barmherzige Frauen ihre einzigen Kinder. Alle nahmen einmütig das himmlische Urteil über sich an; bei der Hingabe ihrer Seele an ihren Besitzer riefen sie aus: „Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einer”. Und die Feinde zogen sie aus, schleppten sie hin und warfen sie weg und ließen von ihnen keinen übrig außer ganz wenigen, denen sie Gewalt antaten, indem sie sie gegen ihren Willen mit dem Stinkwasser tauften. An die achthundert betrug die Anzahl der Getöteten, die an jenen zwei Tagen getötet worden, und alle wurden nackt zu Grabe gebracht. Über sie klagt Jeremia: ,Die auf Purpur Erzogenen lagern auf Kot'. Namentlich habe ich sie oben erwähnt – Gott gedenke ihrer zum Guten!
4A. Mainz
Und es geschah, als die heiligen Männer, die Frommen des Höchsten, die heilige Gemeinde zu Mainz, Schutz und Schild aller Gemeinden, deren Name in alle Lande ausgeht, vernahmen, daß einige von der Gemeinde zu Speyer getötet worden und daß das Schwert die Gemeinde zu Worms zum zweiten Mal betroffen hatte, da erlahmte ihre Hand, ihnen zerschmolz das Herz zu Wasser. Sie schrien zum Ewigen von ganzem Herzen und sprachen: „Ewiger, Gott Israels, willst Du denn (ein Ende) machen dem Überrest Israels? Wo sind all Deine furchtbaren Wundertaten, von denen unsere Väter uns erzählt: Hast Du uns nicht aus Ägypten und aus Babel heraufgeführt, und wie viele Male hast du uns errettet? Wie hast du uns nun verlassen, uns aufgegeben, Ewiger, (um) uns in die Hand des bösen Edom zu überantworten uns zu vernichten. Sei nicht fern von uns, denn Not ist nahe, und wir haben keinen Helfer”. – Da kamen zusammen die Vornehmen Israels, guten Rat zu halten, ob sie gerettet werden könnten. Sie sprachen zueinander: „Wir wollen einige von unseren Ältesten erwählen, um zu erfahren, was wir tun sollen, denn dieses große Übel hat uns verschlungen”. Und sie kamen überein, für ihr Leben Lösegeld zu entrichten und ihr Vermögen auszustreuen, um die Fürsten, Statthalter, Bischöfe und Grafen zu bestechen.
Da erhoben sich die Obersten der Gemeinde, die beim Bischof angesehen waren, gingen zum Bischof [Erzbischof Rothard/Ruthard von Mainz, 1088-1109], zu seinen Ministerialen und Dienern, mit ihnen zu reden, und sprachen zu ihnen: „Was sollen wir machen auf die Kunde hin, die wir vernommen über unsere Brüder in Speyer und in Worms, daß sie getötet worden”? Da erwiderte man ihnen: „Hört auf unseren Rat, bringt all euer Vermögen in unser Schatzhaus, ihr aber, eure Frauen, eure Söhne und Töchter und alle Eurigen bringt ins Gemach des Bischofs, bis daß vorüberziehen diese Horden, dann werdet ihr euch retten vor den Irrenden”. Das taten sie, diesen Rat gaben sie, um uns zusammenzubringen und uns an sie auszuliefern, uns zu ergreifen wie die Fische sich verfangen im argen Netz. Und sie nahmen unser Vermögen, wie sie letzten Endes taten, und das Ende erlaubt Rückschlüsse auf den Anfang. Auch hatte der Bischof seine Ministerialen und Diener, die Großen, die Freien des Landes versammelt, um uns zu helfen, anfangs war es nämlich sein Wille, uns zu retten mit aller Macht. Und wir gaben ihm viel Bestechungsgeld dafür, seinen Ministerialen und seinen Dienern, mehr als sie für unsere Rettung verlangt hatten. Doch am Ende taugte die ganze Bestechung und Beschwichtigung nicht dazu, uns am Tag des Grimms vor der Katastrophe zu schützen.
4B.Gottfried von Bouillon, Kaiser Heinrich IV. und Papst Urban II.
Zu jener Zeit erhob sich ein Herzog namens Gottfried [Gottfried von Bouillon, 1060-1100, Herzog von Niederlothringen, Führer des 1. Kreuzzugs 1096-1099] , mögen seine Gebeine zermalmt werden, von harter Geistesart, denn ein Geist der Ausschweifung hatte ihn verleitet, mit denen zu ziehen, die zur Stätte ihrer Schmach gehen. Er hatte den bösen Schwur getan, er werde sich nicht auf die Fahrt begeben, ohne das Blut des Gehenkten mit dem Blute Israels gerächt zu haben, er werde weder Überrest noch Flüchtling lassen, von denen, die Juden genannt seien – erfüllt ward sein Zorn an uns.
Doch da wurde einer aufgerichtet, in die Bresche zu springen, ein Vorbild seiner Generation, gottesfürchtig, gebunden auf dem inneren Altar, R. Kalonymus, Vorsteher der Gemeinde zu Mainz, der einen Boten zu König Heinrich [Kaiser Heinrich IV., 1050-1106] ins Königreich Pule[6] – der (König) hielt sich nämlich neun Jahre[7] lang dort auf – gesandt und ihm von den Geschehnissen Mitteilung gemacht hatte. Da entbrannte der Zorn des Königs, er sandte Briefe in alle Lande seines Reiches, an die Fürsten, Bischöfe und Grafen, auch an Herzog Gottfried, Worte des Friedens und bezüglich der Juden, sie seien zu beschützen, keiner dürfe sie antasten, ihnen etwas antun, vielmehr solle man ihnen Unterstützung und Zuflucht bieten.[8] Da schwor der böse Herzog, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, ihnen etwas Böses zu tun. Und zu alledem hatten sie ihn in Köln mit 500 Mark Silber bestochen, auch in Mainz hatten sie ihn bestochen, und er hatte ihnen in der Macht versprochen, Frieden zu gewähren. Doch der Friedenstifter war von uns gewichen und hatte seine Augen von seinem Volk abgewendet.
[…]
Papst Urban II
Da kam auch der Satan, der Papst des bösen Rom [Papst Urban II, 1088-1099], und ließ einen Aufruf ausgehen unter allen Völkern [Kreuzugsaufruf auf dem Konzil zu Clermont, Nov. 1095], die an den Abkömmling des Ehebruchs[9] glaubten, das sind die vom Berge Se'ir, sie sollten sich zusammentun und gen Jerusalem hinaufziehen und sich die Stadt er-obern, als gebahnten Weg für die Irrenden, die zum Grab <ihrer Schmach> zogen, wen sie zum Gott über sich angenommen hatten. So kam der Satan [Papst Urban II.] und mischte sich unter die Nationen, sie versammelten sich alle wie ein Mann, den Befehl auszuführen, und sie kamen wie der Sand am Meeresstrand, und ihre Stimme war gewaltig wie Gewitter und Sturm. Und es geschah, als sich versammelten ,die Tropfen am Eimer', da hielten sie üblen Rat wider das Volk des Ewigen; sie sprachen, warum sollten sie sich abmühen, Krieg zu führen gegen die Ismaeliten um Jerusalem herum, wo doch unter ihnen ein Volk sei, das ihre ,Furcht` nicht respektiere, ja dessen Väter sogar ihren Gott gehenkt hätten: „Warum sollten wir sie am Leben lassen, warum sollten sie unter uns weilen? Wir wollen unsere Schwerter an ihrem Kopf erproben, danach begeben wir uns auf den Weg unseres Irrtums”.[10] Da blieb dem Volk unseres Gottes das Herz stehen, in ihnen erhob sich kein göttlicher Geist mehr, böse Schläge waren es, und sie wurden etliche Male geschlagen. So kamen sie und warfen ihr Flehen vor dem Ewigen nieder, sie fasteten und verringerten ihr Blut und Fett, und es schmolz das Herz Israels in seinem Innern.
5A. Köln und die niederrheinischen Orte
Nun will ich berichten, was die Gemeinde zu Köln getan und wie sie den einzigen und erhabenen Namen heiligten:
Es geschah am fünften Siwan [29. Mai 1096], dem Vortag des Wochenfestes, da gelangte die Kunde nach Köln, der schönen Stadt, dem Ort der Gelehrtenversammlung, wo die Gelehrtenversammlung zusammenkam; und da Verdienst ja durch Verdiente zustandekommt, gingen von dort aus Leben, Lebensunterhalt und festes Recht für all unsere an allen Enden zerstreuten Brüder. Man begann das Töten unter ihnen vom (Wochen-)Fest bis zum achten Tamus. [1. Juli 1096] Und als sie hörten, daß die Gemeinden [Speyer, Worms und Mainz] umgekommen waren, flüchtete jeglicher Israelit zu seinem heidnischen Bekannten, dort blieben sie die zwei Festtage über. Und es geschah am dritten Tag, als es Morgen ward, da waren Donner. Da erhoben sich die Feinde wider sie, brachen in die Häuser ein, raubten und plünderten; sie zerstörten die Synagoge, rissen Tora-Rollen heraus, gingen übel mit ihnen um und traten sie in den Gassenschmutz. Am Tage, da sie gegeben, da die Erde erzitterte und ihre Säulen erbebten – und nun zerrissen, verbrannten und zertraten sie verwegene Übeltäter, Wüteriche kamen hinein und entweihten sie. Darob willst Du sie nicht heimsuchen?! Wie lange noch willst Du schweigend zusehen, wie der Frevler verdirbt?! Sieh, Ewiger, und schau her, wie erniedrigt ich bin!
Und an jenem Tage fanden sie einen Frommen namens Mar Isaak bar Eljakim; wie er aus seinem Hause trat, ergriffen ihn die Feinde und führten ihn hinaus zum Haus ihrer Schmach, da spuckte er es ihnen ins Gesicht und dies vor ihrem Götzendienst, schmähte und beschimpfte sie, so daß sie ihn zur Heiligung des Namens töteten, er hatte nämlich nicht fliehen wollen aus Ehrfucht vor dem Wallfahrtsfest (= Wochenfest), auch weil er sich freute, das himmlische Urteil auf sich zu nehmen. Und auch eine angesehene Frau fanden sie dort namens Frau Rebekka. Als sie aus dem Hause trat, trafen die Feinde sie an mit goldenen und silbernen Geräten in den Ärmeln, die wollte sie zu ihrem Mann, R. Salomo, bringen, denn der hatte sich bereits aus seinem Hause zu einem heidnischen Bekannten begeben; da nahmen sie ihr die Kostbarkeiten weg und töteten sie. Dort starb diese Gerechte in Heiligkeit; und noch eine Frau, Frau Madrona. Und die übrige Gemeinde wurde gerettet, da sie sich im Haus eines Bekannten befanden, wohin sie geflüchtet waren. Dort hielten sie sich auf, bis sie der Bischof [Hermann III., Erzbischof von Köln 1089-1099] in seine Orte[11] bringen ließ am zehnten des Monats Siwan [3. Juni 1096], er verteilte sie über sieben seiner Ortschaften, um sie zu retten. Dort waren sie bis zum Neumond des Tamus, wobei sie tagtäglich den Tod erwarteten; sie pflegten tagtäglich zu fasten, auch an den beiden Tagen des Neumonds Tamus, die fielen auf Montag und Dienstag, [23. und 24. Juni 1096] sowie am folgenden Tag. So fasteten sie drei Tage und Nächte ununterbrochen.
5B.
Und am dritten Tag wurden die im Dorf Neuss getötet, und man begrub sie. Da es der Tag ihres Festes war, hatten sich alle aus den Dörfern dort zusammengerottet.
Und dort war der Fromme Mar Samuel bar Ascher, den töteten sie am Ufer des Rheins und seine beiden Söhne mit ihm; sie begruben ihn im Sand am Fluß, und einen seiner Söhne hängten sie am Eingang seines Hauses auf, um ihn zu verhöhnen. (Auch ein Frommer gelangte dorthin, der hieß R. Isaak haLevi, den hatten sie mit harten Qualen gepeinigt.) Als sie seine Foltern sahen, verstänkerten sie ihn gegen seinen Willen[12], vor lauter Schlägen, die ihm zugefügt, wußte er nämlich nicht, wie ihm geschah. Und als er wieder zu sich kam, kehrte er nach drei Tagen zurück, ging nach Köln, betrat sein Haus und wartete ein wenig, nur eine Stunde, dann ging er an den Rhein und ertränkte sich im Fluß. Über ihn und seinesgleichen heißt es: ,Aus Baschan will ich wiederbringen, aus den Tiefen des Meeres ...`. Er trieb auf dem Wasser, bis er zum Dorf Neuss kam, dort warf ihn das Wasser ans Ufer. Er wurde an Land gespült neben jenen Frommen, Mar Samuel, der in Neuss umgebracht worden; so wurden jene beiden Frommen dort am Flußufer im Sand gemeinsam in einem Grab beigesetzt. Sie hatten den himmlischen Namen geheiligt im Angesicht der Sonne.
Und Mar Gedalja war im Dorf Bonn vor dem Verhängnis, aber seine Gattin und ihre Kinder wurden ebenfalls dort im Dorf Neuss getötet; sie hatten den Namen sehr geheiligt.
[…]
5G
Von allen sieben Ortschaften, wohin sich die Gemeinde von Köln zerstreut hatte, wurden nur die wenigen gerettet, die sich in der Ortschaft Kerpen befanden, die wurden nicht getötet.
Aber der Feind, der über den Ort herrschte, tat Böses in anderer Hinsicht: Er befahl nämlich seinen Knechten, sie sollten die Grabsteine von den zu Köln Begrabenen nehmen und ihm ein Gebäude aus Grabsteinen errichten; das taten sie.
Doch als sie die Steine auf Rampen hinaufzogen auf den Bau, um die Mauer zu errichten, kam etwas ins Rollen vom Ewigen her, der ein eifriger Rächer ist; ein Stein fiel dem Feind, dem Herrscher des Ortes, auf den Kopf, so daß er eine Kopfverletzung und einen Hirnschaden davontrug und starb. Und danach wurde sein Weib verrückt, und sein Kebsweib verlor den Verstand, und sie starb an jener Krankheit. So zeigte uns Gott, ein eifriger Rächer, daß er an ihnen Rache geübt, für was sie getan. Ebenso möge er rächen das Blut seiner Knechte, das vergossen wurde und täglich vergossen wird um Seinetwillen, bald in unseren Tagen.
6. Epilog
Und wie die Feinde nach ihrem Mutwillen gehandelt an jenen Gemeinden, wie wir berichtet haben, so taten sie auch an anderen Gemeinden, in der Stadt Trier, in Metz und in Regensburg, in Prag, und in Veschel (= Vysehrad) und in Böhmen. Und alle heiligten den großen und furchtbaren Namen voll Liebe und Eifer. Und alles geschah im selben Jahr innerhalb eines Zeitraums, denn diese ganze gute Generation hatte sich Gott zum Erbteil erkoren, durch sie Verdienst zu schaffen den künftigen Generationen nach ihnen. So möge es wohlgefällig sein vor dem hohen und erhabenen Gott, daß Er ihren Nachkommen den Lohn für das Tun der Früheren auszahle, ihr Verdienst, ihre Gerechtigkeit, ihre Frömmigkeit und ihre Vollkommenheit mögen uns beistehen bis in Ewigkeit, Sela, uns die Erlösung näherzubringen, uns zu führen über den Tod hinaus im Lande der Lebendigen.
Zit. nach MGH Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, Bd. 1: Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs, hg. von Eva Haverkamp, Hannover 2005, S. 246ff.; S. 562-614.
R.N.
Am Ende seiner Regierung, nachdem sich der Kaiser mit seinen wichtigsten Gegnern, den Welfen und den Zähringern, ausgesöhnt hatte, schien die Möglichkeit zu bestehen, mit dem neuen Instrument des Landfriedens das durch die langjährigen Kämpfe verwüstete Reich zu befrieden. Wie die Großen des Reiches mit ihrem Schwur bekräftigten, sollten namentlich die Geistlichen, Kaufleute, Frauen und uneingeschränkt auch die Juden in den Genuß des Landfriedens kommen. Neu an den Friedensgesetzen im Reich, die nach dem Vorbild der französischen Gottesfrieden seit 1083 zuerst im Westen des Reichs (Lüttich und Köln) erlassen wurden, war die Ausdehnung der Strafen auf Körperstrafen und das Exil. Diese Strafen sollten ohne Unterschied alle Bewohner des Reiches treffen; auch Adelige wurden also mit verstümmelnden Strafen bedroht, die bis dahin nur auf Unfreie angewandt wurden. In einem Bericht über den Landfrieden, der auf einer Reichsversammlung in Mainz erlassen wurde, heißt es:
Im Jahre der Fleischwerdung des Herrn 1103 setzte Kaiser Heinrich zu Mainz einen Frieden ein und bekräftigte ihn eigenhändig, und die Erzbischöfe und Bischöfe bekräftigten ihn eigenhändig. Der Sohn des Königs schwur und die Großen des ganzen Reiches, Herzöge, Markgrafen, Grafen und viele andere. Herzog Welf[1] und Herzog Berthold[2] und Herzog Friedrich[3] beschworen diesen Frieden bis Pfingsten und danach auf vier Jahre. Sie schworen, sage ich, Frieden den Kirchen, Geistlichen, Mönchen und Laien — Kaufleuten, Frauen (daß sie nicht mit Gewalt entführt werden sollten) und Juden.
Dies ist der Schwur: Keiner soll in jemandes Haus feindlich eindringen noch es durch Brand verwüsten. Keiner soll jemanden um Geldes willen fangen noch verwunden noch durchbohren noch töten. Und wenn einer das tut, der soll die Augen oder die Hand verlieren. Wenn einer ihn schützt, der soll die gleiche Buße erleiden. Wenn er in eine Burg flieht, soll sie drei Tage belagert und von den Schwurbrüdern zerstört werden. Wenn einer dies Gericht flieht, soll, wenn er ein Lehen hat, sein Herr es ihm nehmen; das Eigen sollen ihm seine Verwandten nehmen. Wenn einer einen Diebstahl begangen hat im Werte von 5 Schillingen oder mehr, der soll die Augen oder die Hand verlieren. Wenn er einen Diebstahl begangen hat im Werte von weniger als 5 Schillingen, der soll die Haare verlieren und mit Ruten fortgetrieben werden und das Gestohlene zurückgeben, und wenn er dreimal einen solchen Diebstahl begangen hat oder Raub zum dritten Male, soll er die Augen oder die Hand verlieren. Wenn dich auf der Straße dein Feind berennt, magst du ihm schaden, wenn du ihm schaden kannst; wenn er in jemandes Haus oder Hof flieht, soll er unverletzt bleiben.
Dieser Schwur dient den Freunden des Königs als Schild, den Feinden aber nützt er keineswegs.
Zit. nach: Joachim Leuschner: Das Reich des Mittelalters. Stuttgart 1971, S. 16-17. Einführung (kursiv) nach: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 1, Frühes und hohes Mittelalter 750-1250, hg. von Wilfried Hartmann, Stuttgart 2001, S. 321-322. Originalquelle: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Hrsg. von Ludwig Weiland. Hannover 1893. (MGH Const. 1.) S. 125 f.
[2] Der Zähringer Berthold II. (1078-1111)
[3] Friedrich I. von Schwaben (1079-1105)
Jahrbücher von Würzburg zum Jahre 1147
Es lief also untereinander Volk von beiderlei Geschlecht, Männer und Weiber, Arme und Reiche, Fürsten und Große der Krone mit ihren Königen, Weltgeistliche und Mönche mit ihren Bischöfen und Äbten. Der eine hatte dies, der andere das Begehren. Denn manche waren gierig nach Neuem und zogen, um das Land zu beschauen, andere zwang die Armut und dürftiges Hauswesen. Diese waren bereit, nicht nur gegen die Feinde des Kreuzes Christi zu kämpfen, sondern auch gegen jeden guten Freund des Christentums, wenn es sich tun ließ, um ihrer Armut abzuhelfen. Andere wieder wurden durch Schulden bedrängt oder gedachten, die Dienste zu verlassen, die sie ihren Herren zu leisten hatten, oder sie erwarteten die verdiente Strafe für ihre Missetaten. Diese alle heuchelten Gotteseifer, aber sie waren nur eifrig, die Last ihrer großen Bedrängnis abzuwerfen. Kaum dass man wenige fand, die durch fromme und heil-bringende Absicht geleitet wurden und durch die Liebe Gottes so weit entzündet waren, dass sie für das Allerheiligste ihr Blut vergießen wollten. Aber nähere Erörterung dieser Sache überlassen wir dem Herrn, der die Herzen durchschauet; Gott kennet die Seinen am besten.
Der ganze Schwarm eilte der Stätte zu, wo die Füße Christi gestanden haben; mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichneten sie ihre Röcke sehr auffällig, und wo sie durchzogen und Juden fanden, zwangen sie diese zur Taufe; die Widerstrebenden brachten sie ohne Zaudern um. So kam es, dass manche Juden in der Not durch den Quell der Taufe abgewaschen wurden; einige von diesen blieben bei dem angenommenen Glauben, andere kehrten, als es Friede wurde, zu ihrer alten Gewohnheit zurück. Nur ein Beispiel will ich aus vielen Berichten anführen, den Judenmord, der zu Würzburg geschah, damit ich durch die genaue Angabe eines Falles den übrigen besseren Glauben verschaffe. Als im Monat Februar die Fremden in der Stadt zusammenströmten, fand man durch Zufall am 24. Februar den Leib eines Menschen auf, der in viele Stücke zerschnitten war, zwei größere Stücke im Mainfluß, eins zwischen den Mühlen bei der Vorstadt Bleiche, andere bei dem Dorfe Thunegersheim; die übrigen Stücke fanden sich außer der Mauer auf dem Wall. Und als man alle Teile des zerstreuten Leibes gesammelt hatte, wurde der Leib zu dem Hospital getragen, das unterhalb der Stadt ist, und dort auf dem Kirchhofe begraben.
Darauf wurden sowohl Bürger als Fremde von plötzlicher Wut ergriffen, als wenn sie aus diesem Vorfall eine gerechte Veranlassung gegen die Juden gefunden hätten; sie brachen in die Häuser der Juden ein, stürmten auf sie und töteten Greise und Jünglinge, Frauen und Kinder ohne Unterschied, ohne Zaudern, ohne Erbarmen. Wenige retteten sich durch die Flucht, noch wenigere ließen sich, Rettung hoffend, taufen, die wenigsten aber beharrten, als später der Friede wiederkam, beim Glauben. Auch geschahen, wie man behauptet, bei der Bestattung des Leibes Wunderzeichen, Stumme sollen gesprochen haben, Blinde gesehen, Lahme sollen gelaufen sein und andere Zeichen dieser Art. Deshalb verehrten die Fremden jenen Menschen, als ob er ein Märtyrer wäre, trugen Reliquien des Körpers einher, nannten ihn Theodorich und verlangten, dass man ihn heilig spreche.
Und da Siegfried, der fromme Bischof der Stadt, mit der Geistlichkeit ihrem Toben und ihrem Irrtum widerstand, so erregten sie gegen den Bischof und die Geistlichkeit eine solche Verfolgung, dass sie den Bischof steinigen wollten und ihn in die schützenden Mauern der Türme drängten; die Geistlichen aber wagten in der allerheiligsten Nacht des Abendmahles aus Furcht vor Verfolgern weder zum Chor hinaufzugehen, noch die Messe zu singen. Als nun die Woche der Auferstehung des Herrn kam, machten sich die Fremden auf die beschlossene Fahrt. Da wurde endlich die Aufregung in der Stadt unterdrückt, und alles kam zur Ruhe. Dies ereignete sich in Würzburg; was aber die Haufen in anderen Städten getan haben, das mag man daraus erkennen.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 12-14
Friedrich I. wurde 1152 zum König und bereits 1155 zum Kaiser gekrönt. Kaiserkrönungen mussten im Prinzip vom Papst erfolgen.
Nach jahrzehntelangen Konflikten zwischen dem staufischen und dem welfischen Haus um die Vorherrschaft schadete es Friedrich nicht, dass er sowohl welfische als auch staufische Eltern hatte. Er war der Sohn Friedrichs II. von Schwaben, der der Bruder des Königs Konrad III. war, und der Welfin Judith.
Konrad III. zog ihn in der Erbfolge seinem eigenen, damals erst 6-jährigen Sohn vor, um den Frieden mit dem Welfen Heinrich dem Löwen nicht durch unklare Machtverhältnisse zu gefährden.
Friedrich führte Italienzüge durch, um die Herrschaft über Reichsitalien zu erreichen. Dadurch kam es kontinuierlich zu Konflikten mit dem Papst, der das Erstarken des Kaisers befürchtete. Durch die Jahrhunderte zieht sich die Befürchtung, dass der Kirchenstaat strategisch in den Zangengriff von Reichsterritorien geraten könnte, wenn Sizilien und Norditalien unter die direkte Herrschaft des Kaisers fallen würden.
Papst Hadrian IV. stellte sich als dem Kaiser übergeordnet dar und bezeichnete das Kaisertum als beneficium, er schaltete sich also als Instanz zwischen Gott und den Kaiser. In diesen Formulierungen setzt sich die Investiturstreitproblematik fort.
Die Ministerialen, der Dienstadel des Reiches, bildeten eine wichtige Stütze für den Territorialausbau, den Friedrich betrieb und das Lehnrecht (Nutzung von Eigentum, v.a. Land, gegen das Versprechen der Treue) wurde unter seiner Regentschaft wieder wichtiger.
Wormser Judenprivileg Kaiser Friedrichs I. Barbarossa vom 6. April 1157
Druck in: MGH DD Friedrich I. Nr. 166, S. 284-286 u. MGH Constitutiones Bd. 1 Nr. 163; [Abbildung]
Die direkte Vorlage dieses Privilegs ist jenes, das Heinrich IV. 1090 den Wormser Juden ausstellte. Friedrich I. übernahm die Bestimmungen als Transsumpt, d.h. er zitierte den Urkundentext Heinrichs IV. und stand selbst dafür ein, dass sie eingehalten wurden.
Die Zeit der ersten Kreuzzüge ab 1096 hatte der jüdischen Gemeinde von Worms schwer zu schaffen gemacht. Durch die Gewalt der Kreuzfahrer gegen Andersgläubige und durch Zwangstaufen war sie derartig dezimiert worden, dass sie erst 1112 wieder in Urkunden Erwähnung findet. Die folgende Zeit war geprägt durch Unsicherheit: Vertreibungen, Verfolgung und Wiedereingliederung wechselten einander ab.
Fraglich ist, für wen das Privileg ausgesprochen wurde. Als Adressaten sind genannt die Iudeis de Wormacia et ceteris sodalibus, die Wormser Juden und Glaubensgenossen. In der Forschung ist umstritten, ob dieser Ausdruck schon für die gesamte Judenschaft des Reiches gelten kann oder ob es sich nur um einen kleineren Teil handelt. Definitiv weitet Friedrich II. die Gültigkeit des Privilegs auf alle Juden der deutschen Reichsteile aus. Nach Kisch existierte ein reichsweiter Judenschutz bereits ab dem Mainzer Reichslandfrieden von 1103, Friedrich Lotter sieht ihn erst ab dem Augsburger Judenprivileg Friedrichs II. endgültig umgesetzt. Alexander Patschovsky hingegen vertritt die Meinung, bereits aus diesem Privileg Friedrichs I. gehe hervor, dass alle Juden des Reiches ihm in einem Schutzverhältnis unterstanden und sie damit seiner Kammer angehörten. 1179 bezeichnet Friedrich I. die Juden im rheinfränkischen Landfrieden ausdrücklich als zu seiner Kammer gehörig (iudei, qui ad fiscum imperatoris pertinent). Diese „Kammerzugehörigkeit“ wird unter Friedrich II. zur „Kammerknechtschaft“.
Übersetzung:
(1) Weil Wir also wollen, daß sie wegen jeglicher Rechtssache nur Uns berücksichtigen müssen, bestimmen Wir kraft Unserer königlichen Würde, daß weder Bischof, Kämmerer, Graf, Schultheiß noch überhaupt sonst jemand, es sei denn sie selbst hätten ihn aus ihrer Mitte erwählt, sich herausnehmen soll, wegen irgendeiner Streitsache oder Abgabe infolge eines Rechtsfalles mit ihnen oder gegen sie zu verhandeln, es sei denn allein derjenige, den der Kaiser aufgrund ihrer Wahl, wie zuvor gesagt, über sie setzt — besonders da sie Unserer Kammer zugehören [ad cameram nostram attineant] —, wie es uns gut dünkt.
(2) Von den Sachen, die sie nach Erbrecht besitzen in Form von Grundstücken, Gärten, Weinbergen, Äckern, Knechten oder sonstigem beweglichem oder unbeweglichem Hab und Gut, soll sich keiner vermessen, irgendetwas wegzunehmen. In dem Freiraum, den sie an Baulichkeiten an der Stadtmauer innerhalb und außerhalb besitzen, soll sie keiner behindern. Wenn aber einer versucht, sie gegen diesen Unseren Erlaß irgendwie zu belästigen, so ist er schuldig wider Unsere Huld, er muß ihnen aber die Sachen, die er gestohlen hat, in doppelter Höhe zurückerstatten.
(3) Sie sollen auch die freie Befugnis haben, in der ganzen Stadt mit jedermann Silber zu wechseln, ausgenommen lediglich vor dem Münzhaus oder wo sich andere Münzleute zum Wechseln niedergelassen haben.
(4) Innerhalb des Gebietes Unseres Reiches dürfen sie frei und friedlich umherziehen, um ihre Geschäfte und ihren Handel auszuüben, um zu kaufen und zu verkaufen; und keiner soll von ihnen Zoll fordern noch irgendeine öffentliche und private Abgabe erheben.
(5) In ihren Häusern sollen ihnen ohne ihre Einwilligung keine fremden Gäste aufgeladen werden; keiner soll von ihnen ein Pferd für einen Zug des Königs oder Bischofs oder Frondienste für einen königlichen Heereszug fordern.
(6) Wenn aber Diebsgut bei ihnen gefunden wird, und wenn der Jude sagt, er habe es gekauft, soll er durch einen Schwur nach seinem Gesetz beweisen, wie teuer er es gekauft hat, und soviel soll er dafür erhalten und die Habe demjenigen, dem sie zu eigen war, zurückerstatten.
(7) Niemand soll sich herausnehmen, deren Söhne oder Töchter gegen ihren Willen zu taufen, doch falls er gewaltsam Gefangengenommene, heimlich Geraubte oder Gezwungene tauft, soll er zwölf Pfund Gold an das Schatzamt des Königs zahlen. Wenn aber einer von ihnen freiwillig getauft werden will, so soll dies drei Tage aufgeschoben werden, damit man eindeutig erkennen kann, ob er wirklich wegen des christlichen Glaubens oder wegen eines ihm zugefügten Unrechts sein Gesetz verlassen will; und wie sie das Gesetz ihrer Väter verlassen haben, so sollen sie auch ihren Erbbesitz verlassen.
(8) Auch soll keiner ihre heidnischen Knechte unter dem Vorwand christlichen Glaubens taufen und dadurch ihrem Dienst entziehen; wenn er das aber tut, soll er die Bannbuße, das sind drei Pfund Silber, zahlen und den Knecht seinem Herrn zurückgeben; der Knecht aber soll in allem den Anweisungen seines Herrn gehorchen, unbeschadet jedoch der Beobachtung des christlichen Glaubens.
(9) Es soll ihnen erlaubt sein, christliche Mägde und Ammen zu halten und Christen zum Ausführen von Arbeiten zu mieten, ausgenommen an Festtagen und an Sonntagen; dagegen darf auch kein Bischof oder Geistlicher Einspruch erheben.
(10) Es soll ihnen nicht erlaubt sein, einen christlichen Knecht zu kaufen.
(11) Wenn nun ein Jude mit einem Christen oder ein Christ mit einem Juden Streit hat, so sollen beide, je nachdem wie der Fall liegt, sich ihrem Gesetz gemäß Recht verschaffen und ihren Fall beweisen. Und so wie es einem jeden Christen erlaubt ist, durch einen öffentlichen Schwur von ihm selbst und je einem Zeugen der beiden Rechte zu beweisen, daß die durch ihn dem Juden gestellten Bürgen erfüllt haben, so soll es auch einem Juden erlaubt sein, durch einen öffentlichen Schwur von ihm und einem Juden und einem Christen zu beweisen, daß die durch ihn dem Christen gestellten Bürgen erfüllt haben; und er soll nicht weiter vom Kläger noch vom Richter behelligt werden.
(12) Niemand soll einen Juden zum Gottesurteil mit glühendem Eisen, heißem oder kaltem Wasser zwingen, mit Ruten geißeln noch in den Kerker werfen, vielmehr soll er seinem Gesetz gemäß nach vierzig Tagen schwören. Niemand soll in irgendeiner Streitsache durch Zeugen, es sei denn durch Juden und Christen gemeinsam, überführt werden können. In jeder Rechtssache dürfen sie das königliche Hofgericht anrufen, Fristen sollen ihnen gewährt werden. Wer immer sie gegen diese Unsere Verfügung belästigt, soll dem Kaiser die Bannbuße, das sind drei Pfund Gold, zahlen.
(13) Wenn jemand gegen einen von ihnen einen Plan ausheckt oder ihm nachstellt, um ihn zu töten, so sollen beide, Ratgeber und Mörder, zwölf Pfund Gold an das Schatzamt des Königs zahlen. Wenn er ihn aber verwundet, nur nicht tötlich, soll er ein Pfund Gold Buße zahlen. Und wenn es ein Knecht ist, der ihn tötet oder verwundet, soll sein Herr das obengenannte Bußgeld leisten oder den Knecht zur Bestrafung ausliefern. Wenn er nun aus Armut das Genannte nicht zahlen kann, soll er mit derselben Strafe belegt werden, mit der zu Zeiten Kaiser Heinrichs [Kaiser Heinrich III.], Unseres Urgroßvaters, derjenige gestraft wurde, der den Juden namens Vivus getötet hat, und zwar sollen ihm die Augen ausgestochen und die rechte Hand abgeschlagen werden.
(14) Wenn die Juden einen Streit oder eine Rechtssache untereinander zu entscheiden haben, sollen sie von ihresgleichen und nicht von anderen Leuten gerichtet werden. Und wenn unter ihnen einmal ein Treuloser die Wahrheit über eine unter ihnen verübte Tat verheimlichen will, so soll er dem, der ihr Bischof ist, die Wahrheit zu bekennen gezwungen werden. Wenn sie aber wegen einer großen Sache beschuldigt werden, sollen sie eine Frist beim Kaiser erhalten, wenn sie wollen.
(15) Außerdem sollen sie die Erlaubnis haben, ihren Wein, Kräuter und Arzneien an Christen zu verkaufen, und, wie Wir vorher gesagt haben, keiner soll von ihnen Spannpferde, Frondienste oder irgendeine öffentliche oder private Abgabe fordern.
Und damit dieses Verleihungsgebot allzeit unverletzt bleibe, haben Wir daraufhin diese Urkunde ausfertigen und mit dem Aufdruck Unseres Siegels versehen lassen. Zeugen dieses Vorgangs sind: Arnold Erzbischof von Mainz, Konrad Bischof von Worms, Gunther Bischof von Speyer, Hermann Bischof von Verden, Konrad Pfalzgraf bei Rhein, Friedrich Herzog von Schwaben — Sohn König Konrads —, Graf Emicho von Leiningen, Ulrich von Horningen, Markward von Grumbach.
Handzeichen des Herrn Friedrich, Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches. Ich, Kanzler Rainald, habe in Vertretung des Erzbischofs von Mainz die Ausfertigung beglaubigt.
Gegeben zu Worms, am 6. April, unter der Herrschaft des Herrn Friedrich, unüberwindlichster Römischer Kaiser, in der 5. Indiktion, im Jahre der Geburt des Herrn 1157, im 5. Jahr seines Königtums und im 2. seines Kaisertums. Geschehen in Christus. Heil und Segen. Amen.
Übersetzung in: Quellen zur deutschen Verfassungs- Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. u. übersetzt von L. WEINRICH, Darmstadt 1977, Nr. 63, S. 241-247.
Aufgabenstellung:
Das Wormser Judenprivileg Kaiser Friedrichs I. Barbarossa vom 6. April 1157 eignet sich für einen Vergleich mit dem Judenprivileg Kaiser Heinrichs IV., gegeben zu Speyer am 19. Februar 1090, hinsichtlich der garantierten Freiheiten und der Schutzbestimmungen, um die Kontinuität der kaiserlichen Politik herauszustellen.
Wo lassen sich auch Unterschiede feststellen?
Druck in: MGH DD Friedrich I. Nr. 166, S. 284-286 u. MGH Constitutiones Bd. 1 Nr. 163; Abbildung siehe Dok. >
Übersetzung in: Quellen zur deutschen Verfassungs- Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. u. übersetzt von L. WEINRICH, Darmstadt 1977, Nr. 63, S. 241-247
Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit. Friedrich, durch das Walten von Gottes Gnaden Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches. Allen Bischöfen, Äbten, Herzögen, Grafen sowie allen, die den Gesetzen Unseres Reiches unterworfen sind, möge es bekannt sein, daß Wir den Juden von Worms und ihren übrigen Genossen die Erlasse Unseres Urgroßvaters, des Kaisers Heinriche, [ Kaiser Heinrich IV. ?] aus der Zeit Salmanns, des Bischofs dieser Juden, kraft Unseres Amtsgebots auch mit einer Urkunde von Uns bestätigen, durch ein Gesetz, das immer gelten soll.
(1) Weil Wir also wollen, daß sie wegen jeglicher Rechtssache nur Uns berücksichtigen müssen, bestimmen Wir kraft Unserer königlichen Würde, daß weder Bischof, Kämmerer, Graf, Schultheiß noch überhaupt sonst jemand, es sei denn sie selbst hätten ihn aus ihrer Mitte erwählt, sich herausnehmen soll, wegen irgendeiner Streitsache oder Abgabe infolge eines Rechtsfalles mit ihnen oder gegen sie zu verhandeln, es sei denn allein derjenige, den der Kaiser aufgrund ihrer Wahl, wie zuvor gesagt, über sie setzt — besonders da sie Unserer Kammer zugehören [ad cameram nostram attineant] —, wie es uns gut dünkt.
(2) Von den Sachen, die sie nach Erbrecht besitzen in Form von Grundstücken, Gärten, Weinbergen, Äckern, Knechten oder sonstigem beweglichem oder unbeweglichem Hab und Gut, soll sich keiner vermessen, irgendetwas wegzunehmen. In dem Freiraum, den sie an Baulichkeiten an der Stadtmauer innerhalb und außerhalb besitzen, soll sie keiner behindern. Wenn aber einer versucht, sie gegen diesen Unseren Erlaß irgendwie zu belästigen, so ist er schuldig wider Unsere Huld, er muß ihnen aber die Sachen, die er gestohlen hat, in doppelter Höhe zurückerstatten.
(3) Sie sollen auch die freie Befugnis haben, in der ganzen Stadt mit jedermann Silber zu wechseln, ausgenommen lediglich vor dem Münzhaus oder wo sich andere Münzleute zum Wechseln niedergelassen haben.
(4) Innerhalb des Gebietes Unseres Reiches dürfen sie frei und friedlich umherziehen, um ihre Geschäfte und ihren Handel auszuüben, um zu kaufen und zu verkaufen; und keiner soll von ihnen Zoll fordern noch irgendeine öffentliche und private Abgabe erheben.
(5) In ihren Häusern sollen ihnen ohne ihre Einwilligung keine fremden Gäste aufgeladen werden; keiner soll von ihnen ein Pferd für einen Zug des Königs oder Bischofs oder Frondienste für einen königlichen Heereszug fordern.
(6) Wenn aber Diebsgut bei ihnen gefunden wird, und wenn der Jude sagt, er habe es gekauft, soll er durch einen Schwur nach seinem Gesetz beweisen, wie teuer er es gekauft hat, und soviel soll er dafür erhalten und die Habe demjenigen, dem sie zu eigen war, zurückerstatten.
(7) Niemand soll sich herausnehmen, deren Söhne oder Töchter gegen ihren Willen zu taufen, doch falls er gewaltsam Gefangengenommene, heimlich Geraubte oder Gezwungene tauft, soll er zwölf Pfund Gold an das Schatzamt des Königs zahlen. Wenn aber einer von ihnen freiwillig getauft werden will, so soll dies drei Tage aufgeschoben werden, damit man eindeutig erkennen kann, ob er wirklich wegen des christlichen Glaubens oder wegen eines ihm zugefügten Unrechts sein Gesetz verlassen will; und wie sie das Gesetz ihrer Väter verlassen haben, so sollen sie auch ihren Erbbesitz verlassen.
(8) Auch soll keiner ihre heidnischen Knechte unter dem Vorwand christlichen Glaubens taufen und dadurch ihrem Dienst entziehen; wenn er das aber tut, soll er die Bannbuße, das sind drei Pfund Silber, zahlen und den Knecht seinem Herrn zurückgeben; der Knecht aber soll in allem den Anweisungen seines Herrn gehorchen, unbeschadet jedoch der Beobachtung des christlichen Glaubens.
(9) Es soll ihnen erlaubt sein, christliche Mägde und Ammen zu halten und Christen zum Ausführen von Arbeiten zu mieten, ausgenommen an Festtagen und an Sonntagen; dagegen darf auch kein Bischof oder Geistlicher Einspruch erheben.
(10) Es soll ihnen nicht erlaubt sein, einen christlichen Knecht zu kaufen.
(11) Wenn nun ein Jude mit einem Christen oder ein Christ mit einem Juden Streit hat, so sollen beide, je nachdem wie der Fall liegt, sich ihrem Gesetz gemäß Recht verschaffen und ihren Fall beweisen. Und so wie es einem jeden Christen erlaubt ist, durch einen öffentlichen Schwur von ihm selbst und je einem Zeugen der beiden Rechte zu beweisen, daß die durch ihn dem Juden gestellten Bürgen erfülltt haben, so soll es auch einem Juden erlaubt sein, durch einen öffentlichen Schwur von ihm und einem Juden und einem Christen zu beweisen, daß die durch ihn dem Christen gestellten Bürgen erfüllt3 haben; und er soll nicht weiter vom Kläger noch vom Richter behelligt werden.
(12) Niemand soll einen Juden zum Gottesurteil mit glühendem Eisen, heißem oder kaltem Wasser zwingen, mit Ruten geißeln noch in den Kerker werfen, vielmehr soll er seinem Gesetz gemäß nach vierzig Tagen schwören. Niemand soll in irgendeiner Streitsache durch Zeugen, es sei denn durch Juden und Christen gemeinsam, überführt werden können. In jeder Rechtssache dürfen sie das königliche Hofgericht anrufen, Fristen sollen ihnen gewährt werden. Wer immer sie gegen diese Unsere Verfügung belästigt, soll dem Kaiser die Bannbuße, das sind drei Pfund Gold, zahlen.
(13) Wenn jemand gegen einen von ihnen einen Plan ausheckt oder ihm nachstellt, um ihn zu töten, so sollen beide, Ratgeber und Mörder, zwölf Pfund Gold an das Schatzamt des Königs zahlen. Wenn er ihn aber verwundet, nur nicht tötlich, soll er ein Pfund Gold Buße zahlen. Und wenn es ein Knecht ist, der ihn tötet oder verwundet, soll sein Herr das obengenannte Bußgeld leisten oder den Knecht zur Bestrafung ausliefern. Wenn er nun aus Armut das Genannte nicht zahlen kann, soll er mit derselben Strafe belegt werden, mit der zu Zeiten Kaiser Heinrichs [Kaiser Heinrich III.], Unseres Urgroßvaters, derjenige gestraft wurde, der den Juden namens Vivus getötet hat, und zwar sollen ihm die Augen ausgestochen und die rechte Hand abgeschlagen werden.
(14) Wenn die Juden einen Streit oder eine Rechtssache untereinander zu entscheiden haben, sollen sie von ihresgleichen und nicht von anderen Leuten gerichtet werden. Und wenn unter ihnen einmal ein Treuloser die Wahrheit über eine unter ihnen verübte Tat verheimlichen will, so soll er dem, der ihr Bischof ist, die Wahrheit zu bekennen gezwungen werden. Wenn sie aber wegen einer großen Sache beschuldigt werden, sollen sie eine Frist beim Kaiser erhalten, wenn sie wollen.
(15) Außerdem sollen sie die Erlaubnis haben, ihren Wein, Kräuter und Arzneien an Christen zu verkaufen, und, wie Wir vorher gesagt haben, keiner soll von ihnen Spannpferde, Frondienste oder irgendeine öffentliche oder private Abgabe fordern.
Und damit dieses Verleihungsgebot allzeit unverletzt bleibe, haben Wir daraufhin diese Urkunde ausfertigen und mit dem Aufdruck Unseres Siegels versehen lassen. Zeugen dieses Vorgangs sind: Arnold Erzbischof von Mainz, Konrad Bischof von Worms, Gunther Bischof von Speyer, Hermann Bischof von Verden, Konrad Pfalzgraf bei Rhein, Friedrich Herzog von Schwaben — Sohn König Konrads —, Graf Emicho von Leiningen, Ulrich von Horningen, Markward von Grumbach.
Handzeichen des Herrn Friedrich, Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches. Ich, Kanzler Rainald, habe in Vertretung des Erzbischofs von Mainz die Ausfertigung beglaubigt.
Gegeben zu Worms, am 6. April, unter der Herrschaft des Herrn Friedrich, unüberwindlichster Römischer Kaiser, in der 5. Indiktion, im Jahre der Geburt des Herrn 1157, im 5. Jahr seines Königtums und im 2. seines Kaisertums. Geschehen in Christus. Heil und Segen. Amen.
Quellen zur deutschen Verfassungs- Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. u. übersetzt von L. WEINRICH, Darmstadt 1977, Nr. 63, S. 241-247
Vidimus (beglaubigte Kopie) des Erzbischofs von Köln, 2. Januar 1260
Pergament, Wachssiegel, H: 42; B: 55 cm
Köln, Historisches Archiv, Best.1 (HUA) 3/2283
Druck in: MGH DD Friedrich 1. Nr. 165 u. MGH Constitutiones Bd. 1 Nr. 163; Übersetzung in: Quellen zur deutschen Verfassungs- Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. u. übersetzt von L. WEINRICH, Darmstadt 1977, Nr. 63, S. 241-247
Als der Kaiser Anfang April 1157 nach seinem erfolgreichen Romzug (Kaiserkrönung am 18. Juni 1155) zuerst Würzburg, dann Worms aufsuchte, erschienen bei ihm sowohl Kaufleute von den Städten an Main und Rhein als auch Abgesandte der Wormser Juden, um sich über mancherlei Beschwerungen von Handel und Wandel zu beklagen. So schränkte er am selben Tag, am 6. April, die Mainzölle bis auf drei ein und erteilte den Juden ein weitgehendes Privileg, mit dem er weitgehend dem Diplom seines Urgroßvaters Heinrichs IV. folgte, das dieser auf Ersuchen des „Judenbischofs” Salman erteilt hatte. Hierin bestätigte Barbarossa, und sein Enkel Friedrich folgte ihm später hierin, die gerichtliche Exemtion der Juden, weil sie „zu unserer Kammer (ad cameram nostram) gehören”. Außerdem wurde ihnen Freizügigkeit im Reich, die Unantastbarkeit ihres Besitzes und die Befreiung von Gottesgerichten, Zwangstaufen sowie Fron- und Rossdiensten zugebilligt. Wieweit die Würzburger Kaufleute und die Wormser Juden zuvor geholfen haben, den Romzug des Kaisers zu finanzieren, ist unbekannt, aber naheliegend, da die Gegenleistung häufig in Privilegierungen und sonstigen urkundlichen Vergünstigungen erfolgte.
Die Originalausfertigung ist verloren, hat Friedrich II. aber noch für sein Judenprivileg von 1236 vorgelegen und wurde transsumiert (eingerückt, bestätigt) durch den Bischof von Worms 1260 und den Erzbischof von Köln von 1360 – nur dieses erzbischöfliche Transsumt des Privilegs ist noch erhalten.
Erste deutliche Erwähnung der allgemeinen Kammerknechtschaft der deutschen Juden.
September 1182.
Es ist die Pflicht unserer Kaiserlichen Majestät, zugleich aber verlangt es die Rechtsgleichheit und die Vernunft, dass wir jedem unserer Untertanen, nicht nur den Anhängern der christlichen Religion, sondern auch denen, die nicht unseres Glaubens sind und nach der Weise ihrer väterlichen Überlieferung leben, ihr Eigentum nach gerechter Prüfung bewahren und für die Beibehaltung ihrer Gewohnheiten sorgen, auch ihnen Frieden, sowohl für ihre Person als für ihren Besitz, verschaffen.
Deshalb geben wir bekannt, dass wir eifrig sorgen wollen für alle Juden, die in unserem Reiche leben und die durch ein besonderes Vorrecht unserer Würde als zur kaiserlichen Kammer gehörig anerkannt worden. Wir wollen unseren Juden zu Regensburg ihre guten Gewohnheiten, die sie von ihren Vorfahren durch Gnade und Gunst unserer Vorgänger auf unsere Zeit gebracht haben, zugestehen und ihnen kraft kaiserlicher Macht bestätigen. Es soll ihnen erlaubt sein, Gold, Silber und jede Art Metall, sowie allerlei Handelsware zu verkaufen und nach ihrer alten Sitte zu erwerben, ihr Eigentum und ihre Waren zum Tausch darzubieten und auf gewohnte Weise für ihren Nutzen zu sorgen.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 14

Jüdische Existenz im Mittelalter: Pogrome und Privilegien (II)
Innozenz III., Papst von 1198 bis 1216, tat, was ihm möglich war, um das Leben der Juden zu erschweren. Er verbot den Christen den Geldhandel, da das Erheben von Zinsen in der Bibel kritisiert wird, und schob die Schuld an hohen Wuchern (die neutrale mittelalterliche Bezeichnung für Zinsen) auf die Geldgier der Juden. Diese schloss er durch seine weiteren Bestimmungen immer mehr vom gesellschaftlichen Leben aus. Sie mussten ein gelbes Stoffstück an der Kleidung tragen, das sie kennzeichnete. Ferner war es ihnen nicht mehr erlaubt, öffentliche Ämter anzunehmen. Er erneuerte die Bestimmung, dass sie einen spitzen Hut tragen sollten, was schon vorher wenig Beachtung gefunden hatte. Einige reiche Juden trugen diesen Hut als Zeichen ihrer privilegierten Stellung. Da die Zunftordnungen das Kirchenrecht zur Grundlage hatten, blieb den Juden bald nur noch die Geld- und Pfandleihe und in Einzelfällen die Medizin als legitime Einnahmequelle. Dieser Ausschluss trennte sie zusätzlich zu ihrer religiösen Praxis vom christlichen Alltagsleben.
Friedrich II. nahm schließlich alle Juden des Reichen als servi camarae („Kammerknechte“) unter seinen Schutz, sie wurden aber gleichzeitig seine Leibeigenen. Das Recht von ihnen Steuern zu verlangen konnte der Herrscher auch an andere verleihen oder verkaufen. Meist waren die Steuern, die sie an ihre Regenten zahlen mussten, so hoch, dass sie besonders hohe Zinsen verlangen mussten, die wiederum vom Herrscher genehmigt wurden. Die vom Papst geschürte Wut über den "Wucher" wurde in der Bevölkerung deutlich spürbar. 1250 erlitt die jüdische Gemeinde in Frankfurt eine blutige Verfolgung, die viele Opfer forderte. Nachdem Friedrich II. bereits 1236 die Ritualmord-Beschuldigungen nach einer Prüfung für unwahr erklärt hatte, lebten sie Ende des 13. Jahrhunderts wieder auf. Eine weitere auf unsinnigen Vorwürfen gründende Verfolgung fand 1349 statt, als einige Christen den Juden die Schuld an der großen Pestwelle gaben, die von 1347-52 ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte. Man behauptete, sie hätten die Brunnen vergiftet. Im Zuge dieser Verfolgungen flohen einige Juden in östlichere Teile Europas.
Im 15. Jahrhundert waren die meisten Gemeinden vollends zugrunde gerichtet worden. Es sollte lange Zeit dauern, bis sie sich wieder von der Willkür erholten. Vor allem auf dem Land hatten jüdische Bürger überlebt. Diese waren meist verarmt und deshalb vermutlich auch nicht dem Neid der Bevölkerung zum Opfer gefallen. Da sie von den meisten Berufszweigen ausgeschlossen waren, blieb vielen, die kein Geld mehr hatten, das sie hätten verleihen können, nichts anderes übrig, als mit Vagabunden und Bettlern ihr Dasein zu fristen.
Teresa Traupe
Je mehr die Christenheit im Zinsnehmen beschränkt wird, desto stärker wächst die Treulosigkeit der Juden ihnen über den Kopf, so dass in kurzer Zeit das Vermögen der Christen erschöpft wird. Wir wollen also in diesem Stück für die Christen sorgen, damit sie nicht maßlos durch die Juden beschwert werden. Wir bestimmen demnach durch Synodaldekret, dass, wenn unter irgendeinem Vorwand die Juden von Christen unmäßige Zinsen erpressen, ihnen der Verkehr mit den Christen entzogen werde, bis sie ihnen wegen der unmäßigen Belastung eine angemessene Genugtuung gegeben haben. Auch die Christen sollen, wenn nötig, durch Kirchenstrafen, zunächst unter Ausschluss des Berufungsweges, angehalten werden, sich des Handels mit ihnen zu enthalten. Den Fürsten aber legen wir auf, dass sie deswegen den Christen nicht feind sein sollen, sondern sich vielmehr bemühen, die Juden von solcher Beschwerung der Christen abzuhalten. Mit derselben Strafe haben wir beschlossen, die Juden anzuhalten, dass sie den Kirchen Genugtuung bezüglich der schuldigen Zehnten und Opferpfennige geben, welche die Kirchen von den Christen für Häuser und andere Besitztümer zu bekommen pflegten, bevor letztere an die Juden unter irgendeinem Rechtstitel gekommen sind, damit auf diese Weise die Kirchen schadlos gehalten werden.
In einigen Provinzen unterscheidet Juden oder Sarazenen von den Christen die K l e i d u n g, aber in anderen ist eine solche Regellosigkeit eingerissen, dass sie durch keine Unterscheidung kenntlich sind. Es kommt daher manchmal vor, dass irrtümlich Christen mit jüdischen oder sarazenischen und Juden oder Sarazenen mit christlichen Frauen sich vermischen. Damit also den Ausschweifungen einer so abscheulichen Vermischung in Zukunft die Ausflucht des Irrtums abgeschnitten werde, bestimmen wir, dass Juden und Sarazenen beiderlei Geschlechts in jedem christlichen Land und zu jeder Zeit durch ihre Kleidung öffentlich sich von den anderen Leuten unterscheiden sollen, zumal da man schon bei Moses liest, dass ihnen eben dies auferlegt ist. An den letzten drei Tagen vor Ostern aber und am ersten Passionssonntag (Judica), sollen sie sich überhaupt nicht öffentlich zeigen und zwar deswegen, weil einige von ihnen, wie wir gehört haben, sich nicht scheuen, an solchen Tagen erst recht geschmückt einherzugehen und die Christen, welche zum Gedächtnis der allerheiligsten Passion die Zeichen der Trauer anlegen, zu verspotten. Dies aber verbieten wir aufs strengste, damit sie sich nicht herausnehmen, zur Schmach des Erlösers ihre Freude zu zeigen. Und da wir die Beschimpfung dessen, der unsere Schuld getilgt hat, nicht verleugnen dürfen, so befehlen wir, dass derartige Frevler durch die weltlichen Fürsten, durch Auflegung einer angemessenen Strafe, gedämpft werden, damit sie nicht wagen, den für uns Gekreuzigten zu lästern.
Da es allzu sinnlos wäre, dass ein Lästerer Christi über Christen Gewalt habe, so erneuern wir das, was hierüber das Konzil von Toledo weise verfügt hat, unsererseits wegen des Frevelmutes der Übertreter dieses Gebotes in dieser Sitzung. Wir verbieten hiermit, dass Juden zu öffentlichen Ämtern zugelassen werden, weil sie unter dem Vorwand des Amtes den Christen am meisten aufsässig sind. Wenn aber jemand ihnen ein solches Amt übertragen hat, so soll er durch das Provinzialkonzil, dessen jährliche Abhaltung wir befehlen, nach vorgängiger Ermahnung mit der gebührenden Strafe belegt werden. Einem derartigen jüdischen Beamten aber soll so lange der Handelsverkehr und jeder andere Verkehr mit Christen verweigert werden, bis, unter sorgsamer Kontrolle des Diözesanbischofs zum Nutzen armer Christen, alles dasjenige verwendet ist, was er von Christen gelegentlich dieses so übernommenen Amtes erhalten hat. Das Amt selbst aber, das er respektloserweise angenommen hat, soll er mit Schanden wieder aufgeben. Dasselbe Gebot dehnen wir auf die Heiden aus.
Einige (Juden), welche freiwillig zur heiligen Taufe gekommen sind, ziehen, wie wir erfahren, keineswegs den alten Menschen aus, um den neuen anzuziehen. Sie bewahren Reste ihres früheren Religionsbrauches und verunreinigen die Herrlichkeit der christlichen Religion durch solche Vermischung. Da aber geschrieben steht (Sirach 2, 14): „Verflucht der Mensch, der auf zwei Wegen in das Land hineingeht”, und da man ein Kleid nicht anziehen darf, das aus Leinen und Wolle gewebt ist (3. Mose 19, 19; 5. Mose 22, 11), so bestimmen wir, dass solche Leute durch die Prälaten der Kirche von der Beobachtung ihres alten Religionsbrauches auf alle Weise abgehalten werden. Denn diejenigen, die sich aus freiem Willen der christlichen Religion dargeboten haben, soll ein heilsamer Zwang auch zu ihrer Beobachtung anhalten, da es ein geringeres übel ist, den Weg des Herrn nicht zu erkennen, als von dem Erkannten wieder abzugehen.
Wenn aber jemand nach dem Heiligen Land geht und eidlich gezwungen ist, Zinsen zu geben, so befehlen wir, dass die Gläubiger solcher Leute bei Vermeidung kirchlicher Strafe angehalten werden sollen, sie des geleisteten Eides zu entbinden und von der Eintreibung der Zinsen Abstand zu nehmen. Wenn aber einer der Gläubiger sie trotzdem zur Bezahlung von Zinsen gezwungen hat, so befehlen wir, ihn mit der gleichen Strafe zur Zurückerstattung derselben zu zwingen. Was aber die Juden betrifft, so befehlen wir, sie durch die weltliche Macht zum E r l a s s e n der Zinsen anzuhalten. Bis zur erfolgten Rückzahlung hat aller Verkehr von Christen mit ihnen bei Strafe des Bannes zu unterbleiben.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 15-18
§ 1. Ein Jude darf nicht eines Christen Gewährsmann sein, wenn er nicht für ihn vor Gericht antworten will.
§ 2. Erschlägt ein Jude einen Christen oder wird er bei einem Vergehen ergriffen, so richtet man über ihn, wie über einen Christen.
§ 3. Erschlägt ein Christ einen Juden oder vergeht er sich gegen ihn, so richtet man über ihn wegen des Königs Frieden, den er an ihm gebrochen hat. Diesen Frieden erwarb ihnen Josephus vom König Vespasian, da er dessen Sohn Titus von der Gicht heilte.
§ 4. Kauft ein Jude oder nimmt er als Pfand Kelche, Bücher oder Priestergewänder, wofür er keinen Gewährsmann hat, und findet man das Gut bei ihm, so richtet man über ihn wie über einen Dieb. Käufe anderer Art, die der Jude offen bei Tage und nicht im verschlossenen Hause vornimmt, kann er selbdritt bezeugen und darf dann, mit seinem Eide, das Geld, das er dafür gegeben oder darauf geliehen hat, behalten, auch wenn es gestohlenes Gut ist. Gebricht es ihm aber an Zeugen, so verliert er sein Geld.
§ 5. Nach dem alten Frieden, den die kaiserliche Gewalt mit Einwilligung der Ritterbürtigen für das Land zu Sachsen aufgerichtet hat, sollen Geistliche, Frauen und Juden alle Tage und alle Zeit Frieden haben an ihrem Gute und ihrem Leibe.
§ 6. Pfaffen und Juden, die Waffen führen und Pfaffen, die nicht die Tonsur tragen nach ihrem Rechte, soll man, wenn ihnen Gewalt geschieht, Genugtuung leisten wie einem Laien, da die keine Waffen führen sollen, die in des Königs beständigem Frieden stehen.
Der Sachsenspiegel [Landrecht] 1224—1232. Buch III, Art. 7, § 1-4; B. II, A. 66, § 1; B. III, A. 2. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 18
Der Fuldaer Judenmord ist der bekannteste Fall der zur Zeit der ersten Kreuzzüge auch in Deutschland aufkommenden Ritualmordbeschuldigungen. Die Keimstätte derartiger Ideen war England, wo bereits 1144 in Norwich der Tod eines Jungen auf solche Art erklärt wurde. Sogar in Chaucers "Canterbury Tales" wird der Tod Hugos von Lincoln als Ritualmord bezeichnet.
Am Weihnachtsfest des Jahres 1235 ereignete sich der Brand in der Fuldaer "Quadmühle", bei dem fünf christliche Kinder ums Leben kamen. Man beschuldigte die Mitglieder der jüdischen Gemeinde die Kinder zu Ritualzwecken getötet zu haben, und brachte zwei Männer zu einem Geständnis. Daraufhin erschlugen die Fuldaer Bürger über dreißig Juden, um den vermeintlichen Ritualmord zu rächen.
Hernach zogen einige aus ihren Reihen mit den Leichen der fünf verbrannten Kinder zur Pfalz Hagenau, in der sich Friedrich II. zu jener Zeit aufhielt, und legte sie ihm mit der Forderung nach reichsweiter Judenverfolgung vor. Der Kaiser jedoch war von der Unhaltbarkeit der Ritualmordanschuldigungen überzeugt und ließ den Fall ausgiebig prüfen. Von ehemals jüdischen, zum Christentum übergetretenen Experten ließ er prüfen, ob die vorgeworfenen Handlungen mit den Grundsätzen des jüdischen Glaubens vereinbar seien. Sie bestätigten seine Vermutung.
Im Anschluss an die Ereignisse erließ er 1236 das Schutzprivileg für alle Juden des Reiches.
Überblicksdarstellung zum Fuldaer Judenmord
Zitiert aus: Wolfgang Stürner: Friedrich II., Der Kaiser 1220-1250, Darmstadt 2000, S. 321-323.
[...] Mit einem besonders schwierigen Problem sah sich Anfang 1236 das kaiserliche Hofgericht konfrontiert. Am eben vergangenen Weihnachtsfest waren beim Brand einer Mühle vor den Mauern Fuldas fünf Kinder umgekommen. Die Fudaer Bevölkerung beschuldigte offenbar sofort die Juden der Stadt, sie hätten die Kinder ermordet, um ihr Blut, an dessen Heilwirkung sie glaubten, für sich zu gewinnen; sie hätten dann, um die Spuren ihrer Untat zu verwischen, das Haus des Müllers angezündet. In der Tat erpresst man von zwei jüdischen Männern ein entsprechendes Geständnis, worauf über dreißig Jahre Juden zur Vergeltung der vermeintlichen Verbrechens erschlagen wurden. Die Leichen der Kinder aber brachte man in die Pfalz Hagenau vor den Kaiser. Er sollte, so erwartete es die empörte Öffentlichkeit, die Juden seines Reiches für ihre ungeheuerlichen, den christlichen Glauben tief demütigenden Bräuche bestrafen.
Friedrich war, wie er am Ende zu verstehen gab, aufgrund seiner eigenen Kenntnis des jüdischen Glaubens und Denkens von vornherein von der Haltlosigkeit der gegen die Juden erhobenen Vorwürfe überzeugt. Das Aufsehen, das der Fall erregte, die generelle Bedeutung, die ihm schnell zuwuchs, veranlaßten den Staufer jedoch zu einem peinlich korrekten, sorgsam auf Sachlichkeit und genaue Aufdeckung der Wahrheit bedachten Verfahren. Als die um ihn versammelten Fürsten zu keiner klaren und einhelligen Meinung in der Sache fanden, entschloß er sich deshalb, die benachbarten Könige um Entsendung getaufter Juden zu bitten. Von ihnen erhoffte er gleichermaßen kritisch distanzierte wie unbedingt verläßliche Aussagen. Die angeforderten Sachverständigen trafen wirklich an seinem Hof ein, und ihre gründliche Befragung ergab mit absoluter Gewißheit, daß der Genuß von Blut und gar von Menschenblut bei den Juden völlig unbekannt sei, ja geradezu als eine Befleckung angesehen werde. So sprach der Kaiser im Juli 1236 zu Augsburg die Juden Fuldas wie ganz Deutschlands dem Urteil der anwesenden Fürsten gemäß von allen vorgebrachten Anschuldigungen und Verdächtigungen frei und verbot streng deren Wiederholung. Zugleich dehnte er Barbarossas Privileg für die Wormser Juden auf die gesamte deutsche Judenschaft aus und nahm ihre sämtlichen Mitglieder als servi camere nostre, als seine Kammerknechte in seinen besonderen Schutz.
Mit seiner Handhabung des Fuldaer Kindermordprozesses demonstrierte Friedrich, gerade auch angesichts der vielerorts durch das Ereignis ausgelösten judenfeindlichen Reaktionen, sehr eindrücklich, welches entscheidende Gewicht er der geduldigen, unparteiischen Wahrheitfindungals der Basis gerechter Gerichtsurteile zumaß, wieviel ihm also an der zentralen Herrscherpflicht lag, seinen Untertanen Frieden und Recht zu schaffen. Dazu kommt der vielbeachtete Umstand, daß er hier erstmals die Auffassung vertrat, alle Juden Deutschlands unterstünden gleicherweise seiner Kammerknechtschaft, und daß er ihnen allen als Folge ihres gemeinsamen Rechtsstatus durchweg die gleichen Privilegien zuerkannte. Er verdeutlichte und präzisierte damit die bereits von seinen staufischen Großvater, freilich eher beiläufig in Verfügungen für einzelne jüdische Gruppen und Gemeinden geäußerte Ansicht, die Juden gehörten zur kaiserlichen Kammer. Klarer als jener bekannte sich der Enkel nun zu den umfassenden Pflichten der Judenschaft gegenüber, die ihm aus deren Abhängigkeitsverhältnis erwuchsen, unmißverständlich definierte er dieses Verhältnis anderseits als Knechtschaft. Vielleicht doch bewußt an die eben in Gregors IX. Dekretalen bekräftigte kirchliche Lehre von der ewigen jüdischen Knechtschaft anknüpfend, suchte er so seine unmittelbare, jede Zwischengewalt, auch den Zugriff der Kirche ausschließende Schutzherrschaft über alle deutschen Juden und deren direkte Bindung an ihn völlig zweifelfrei zu sichern.
Aus der solcherart definierten Rechtsstellung der jüdischen Bevölkerung schlechthin leitete der Kaiser die folgerichtig nur ihm zukommende Berechtigung ab, über deren Finanzkraft zu verfügen, sie also mit speziellen Steuern zu belasten, und hier lag für ihn sicherlich ein wichtiger Grund zur Ausformung des Instituts der Kammerknechtschaft überhaupt. Es verpflichtete ihn indessen umgekehrt zum wirksamen Schutz aller Juden, die darauf künftig geradezu einen vor dem Hofgericht einklagbaren Anspruch besaßen. Der Prozeß von 1236 sollte zeigen, daß er diesen Zusammenhang anerkannte und seine Verantwortung ernst nahm. Gewiß unterstand damals manche jüdische Gemeinde trotz des kaiserlichen Einsatzes in Wirklichkeit bereits der fürstlichen Gewalt. Dennoch gehörten die Jahrzehnte von Friedrichs Regiment ohne Zweifel zu denjenigen des Mittelalters, die den Juden relativ günstige Lebensbedingungen bescherten, und seine Kammerknechtschafts- Regelung erschein einer ganzen Reihe von Herrschern nachahmenswert. [...]
Stürner, Wolfgang: Friedrich II., Der Kaiser 1220-1250, Darmstadt 2000, S. 321-323.
Augsburger Judenprivileg Kaiser Friedrich II., Juli 1236
Druck: MGH Constitutiones Bd. 2, Nr. 204, S. 274-276. Übersetzung in: Quellen zur deutschen Verfassungs- Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. u. übersetzt von L. WEINRICH, Darmstadt 1977, Nr. 123, S. 497-503
Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit. Friedrich II., durch das Walten von Gottes Gnaden Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches, König von Jerusalem und Sizilien.
Obgleich die kaiserliche Würdevormacht gehalten ist, über alle dem Römischen Reich Unterstellten den Arm des Schutzes auszustrecken, und gleichsam zur Schirmung des Glaubens aus göttlicher Bestimmung berufen, es ihr angemessen ist, die getreuen Christgläubigen mit besonderer Gunst zu fördern, ist es nichtsdestoweniger ihre Pflicht gegenüber den Rechtsbestimmungen, die für die Ungläubigen erlassen wurden, diese als ein ihr besonders anvertrautes Volk gütig zu regieren und gerecht zu schützen, damit sie nicht etwa, die mit den Gläubigen zusammen im Schutz und Schirm Unserer Erhabenheit stehen, von Mächtigeren gewaltsam bedrängt werden. Daher ergibt es sich also, daß aus dem Wort-laut des vorliegenden Schriftstücks die gegenwärtige Zeit und die künftige Nachwelt wissen möge, daß alle Unsere Kammerknechte Deutschlands [universi Alemannie servi camere nostre] Unsere Hoheit ersucht haben, Wir möchten doch geruhen, das Privileg des seligen Kaisers, Unseres Großvaters Friedrich seligen Angedenkens, das den Wormser Juden und ihren Genossen gewährt war, aus Unserer Gnade heraus allen Juden Deutschlands bestätigen.
Der Wortlaut dieses Privilegs geht folgendermaßen: „Im Namen der heiligen ... in Christus, Heil und Segen. Amen.“ [Transsumt des Wormser Judenprivilegs Friedrich I. von 1157]
Indem Wir daher für die Unangefochtenheit und den ruhigen Stand der Juden in Deutschland Vorsorge tragen, glaubten Wir allen Juden, die unmittelbar zu Unserer Kammer gehören, folgende besondere Gunst erteilen zu sollen: und zwar, daß Wir in Nachahmung und Nachfolge der Verfügungen Unseres genannten Großvaters das zuvor aufgeführte Privileg und das, was in ihm enthalten ist, so wie es der selige Kaiser, Unser Großvater, den Wormser Juden und ihren Genossen freigebig gewährt und verliehen hat, ihnen aus angeborener Güte bestätigen.
Außerdem wollen Wir, es möge allen Gegenwärtigen und Zukünftigen bekannt sein: Da wegen der Ermordung einiger Fuldaer Knaben1 den Juden, die zu der Zeit in dieser Stadt wohnten, eine schwere Beschuldigung aufgebürdet wurde, weswegen gegen die übrigen Juden in Deutschland aufgrund dieses beklagenswerten Vorfalls von auftauchendem Unheil allgemein eine schwere Mißstimmung der Nachbarbevölkerung drohte — obgleich die Umstände der geheimen Untat nicht geklärt werden konnten, — haben Wir zur Untersuchung der Wahrheit bei dieser Beschuldigung Fürsten, Große, Edle sowie viele Reichsäbte und Ordensleute von überall her vor Unser Hofgericht geladen und Vorsorge getroffen, von ihnen kundigen Rat zu erlangen. Diese haben, da sie Verschiedene waren, über diesen Fall verschieden geurteilt, und konnten darüber nicht, wie es angemessen gewesen wäre, einen hinreichenden Beschluß finden; darum haben Wir also aus den geheimen Tiefen Unseres Wissens heraus die Ansicht vertreten, gegenüber den Juden, die des genannten Verbrechens beschuldigt werden, könne nicht angemessener vorgegangen werden als durch diejenigen, die Juden gewesen sind und zur Verehrung des christlichen Glaubens bekehrt wurden, die gleichsam als Leute auf der anderen Seite nichts verschweigen würden, was sie von daher wissen könnten über sie oder über die mosaischen Bücher oder durch den Wortlaut des Alten Testaments. Obgleich angesichts der Geltung der vielen Bücher, die Unsere Hoheit herangezogen hat, Unser Wissen die Unschuld der genannten Enden für rechtlich erwiesen hält, haben wir dennoch zur Genugtuung wohl für das ungebildete Volk wie für das Recht, aus Unserem umsichtigen, heilsamen Entschluß heraus wie auch in einmütigem Einverständnis dieser Fürsten, Großen, Äbte und Ordensleute wegen dieses Falles zu allen Königen des Abendlandes Sonderbotschafter geschickt, durch die Wir aus deren Königreichen möglichst viele im Judengesetz erfahrene Neugetaufte vor Uns beschieden haben. Als diese an Unserem Hofe nicht wenig Zeit verbrachten, haben Wir ihnen zur Erforschung der Wahrheit den Auftrag erteilt, daß sie ein sorgfäliges Studium auf die Untersuchung verwenden und Unser Wissen unterrichten sollten, ob diese Juden etwa eine besondere Auffassung vom menschlichen Blut hätten, um etwa gar auch ein anderes Verbrechen zu vollbringen, eine Auffassung, die diese Juden hätte veranlassen können, die vorgenannte Untat zu begehen. Deren entsprechende Aussagen wurden sodann veröffentlicht: Weder im Alten noch im Neuen Testament ist kundgetan, die Juden seien gierig danach, Menschenblut zu schöpfen; vielmehr — und dies ist das Gegenteil des zuvor Gesagten: Daß sie sich überhaupt vor jeder Befleckung mit Blut hüten dürften, können wir ganz ausdrücklich feststellen in der Bibel, die auf hebräisch „Bereschith” heißt, an den Geboten, die dem Moses gegeben wurden, und an den jüdischen Gesetzen, die auf hebräisch „Talmud” heißen; und dabei dürfen wir in einer wohlbegründeten Vermutung vermuten: Sie, denen sogar das Blut der erlaubten Tiere untersagt ist, dürften keinen Durst auf Menschenblut haben (wegen der Schauderhaftigkeit der Sache, wegen des Verbots der Natur und der Gemeinsamkeit der Art, nach der sie auch die Christen lieben), und sie würden deswegen, weil sie etwa das hinsichtlich der Tiere Bestimmte hinsichtlich der Menschenleichen für nichtig halten können, nicht Besitz und Leben aufs Spiel setzen; – darum also haben wir nach Abgabe eines Fürstenspruchs die Juden des oben genannten Ortes von dem ihnen vorgeworfenen Verbrechen und die anderen Juden Deutschlands von dem Vorwurf einer so schweren Verruchtheit völlig freigesprochen.
Deswegen gebieten Wir kraft des vorliegenden Privilegs und untersagen vollständig, daß irgendein Herr, weder geistlich noch weltlich, hoch oder niedrig, unter dem Vorwand einer Predigt oder einer Gelegenheit – die Schultheißen, Vögte, Bürger oder andere sonst –, die genannten Juden besonders oder allgemein wegen des zuvor genannten Verrufs anklagt oder ihnen irgend etwas Bemerkenswertes oder Schlimmes in dieser Hinsicht vorwirft; schließlich sollen alle wissen, daß, da der Herr in seinen Knechten geehrt wird, sie nicht zögern sollen, jedermann, der sich den Juden, Unseren Knechten, gegenüber huldvoll und wohlwollend zeigt, Uns zu melden; die übrigen aber, die sich herausnehmen, gegen die Urkunde dieser Unserer vorliegenden Bestätigung und Freisprechung anzugehen, werden der Ungnade Unserer Hoheit verfallen.
Damit aber die vorliegende Bestätigung und Freisprechung in unerschütterter Rechtskraft für immer und ewig dauere, haben Wir das vorliegende Privileg daraufhin abfassen und mit der goldenen Bulle, in die das Siegel Unserer Hoheit eingeprägt wurde, versehen lassen. Zeugen dieses Vorgangs sind: die Erzbischöfe Siegfried von Mainz, Eberhard von Salzburg und Dietrich von Trier, die Bischöfe Ekbert von Bamberg und Konrad von Speyer; Wladislaus König von Böhmen, der Herzog von Bayern, der Markgraf von Brandenburg, der Landgraf von Thüringen, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Baden, Konrad Burggraf von Nürnberg, Konrad von Hohenlohe, Eberhards Schenk von Winterstetten, Bruder Hermann Hochmeister des Ordenshauses vom Spital der Deutschen; Bruder Berthold von Tannroda und recht viele andere.
Handzeichen des Herrn Friedrich II., von Gottes Gnaden unüberwindlichster Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches, König von Jerusalem und Sizilien. Verhandelt wurde dies im Jahre der Geburt des Herrn 1236, im Monat Juli, in der 9. Indiktion, unter der Kaiserherrschaft unseres Herrn Friedrich II., von Gottes Gnaden unüberwindlichster Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches, König von Jerusalem und Sizilien, im 17. Jahr seines Römischen Kaisertums, dem 11. seines Königreichs Jerusalem und dem 38. seines Königreichs Sizilien; Heil und Segen. Amen.
Gegeben zu Augsburg, Jahr, Monat und Indiktion wie oben angegeben.
1 Fuldaer Bürger und Kreuzfahrer hatten 32 Juden erschlagen, weil angeblich 5 Kinder eines Müllers von Juden in einem Ritualmord umgebracht worden waren
Quellen zur deutschen Verfassungs- Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. u. übersetzt von L. WEINRICH, Darmstadt 1977, Nr. 123, S. 497-503
Friedrich II. erneuert und beglaubigt 1236 das Privileg Barbarossas für die Wormser Judenschaft für die Juden des gesamten Reiches. Dem Hofgerichtsbrief hängt eine goldene Bulle an. Der Kaiser scheute also keine Kosten, um den Betrachtern der Urkunde schon durch die äußere Form des Dokuments die Festigkeit seiner Erlasse kundzutun.
Mit der Umsetzung des Privilegs fallen alle Juden unter dieselben Bestimmungen. Im Kontext fällt erstmals der Begriff der jüdischen Kammerknechtschaft („servi camere nostre“). Alle Juden werden als servi (Leibeigene) gesehen, die allerdings nur dem König unterstehen. Finanziell unterstehen sie der königlichen Kammer, der König besitzt die Gewalt über alle Juden und nimmt sie gleichzeitig in seinen Schutz. Zudem ist das Privileg im Vergleich zu der beglaubigten Version um die Vorschrift erweitert, dass die Juden von der Anschuldigung des Christenmordes freizusprechen seien. Nicht zuletzt hatten der aktuelle Anlass des Fuldaer Judenmords von 1235 und die daran anschließenden Untersuchungen zu einer derart deutlichen Stellungnahme des Kaisers geführt.
Besonders seit dem Interregnum (die thronvakante Zeit nach dem Tod Friedrichs II.) wurden die jüdischen Gemeinden an Territorialherren verlehnt bzw. verpfändet und damit aus dem direkten Machteinfluss des Königs entlassen. Dabei ging es hauptsächlich um Lukrativität, da jüdische Bürger hohe Steuern zahlen mussten. Als Kammerknechte wurden sie bereits früh bezeichnet, die Herrscher setzten die Bedeutung dieses Abhängigkeitsverhältnisses aber erst im Spätmittelalter in ihrer Regierungspraxis um.
Rudolf von Habsburg war der erste, der dieses Rechtsprinzip der Kammerknechtschaft als Repressionsmittel nutzte. 1286 befand sich eine Gruppe von deutschen Juden, unter denen namhafte Gelehrte waren, auf dem Weg nach Palästina. König Rudolf ließ sie mit der Begründung, sie seien seine Kammerknechte und hätten kein Recht, sich ohne seine Erlaubnis aus seinem Reich zu entfernen (Freizügigkeit), gefangen nehmen und ihren Besitz konfiszieren.
Teresa Traupe
Aufgabenstellung:
Wie ist es zu erklären, dass Kaiser Friedrich II. dem Fuldaer Judenmord als einer Einzeltat eine derart starke Bedeutung beimisst, dass er eine groß angelegte Untersuchung einleitet?
Welche Konsequenzen werden daraus gezogen? Welche politischen Ziele werden damit verfolgt?
Rieti, 5. Sept. 1236.
An den erlauchten König von Frankreich!
Wir haben die bewegliche und erbarmungswürdige Klage der Juden im Königreich Frankreich vernommen, dass die Kreuzfahrer aus den Diözesen Angers, Poitiers, Le Mans, Tours und St. Brieuc (die Juden grausam verfolgt haben) und aus diesem Grunde die Juden sich entschlossen haben, zur Gnade des apostolischen Stuhles untertänigst ihre Zuflucht zu nehmen. Es ziemt aber den Königen, Recht und Gerechtigkeit walten zu lassen, da nach den Propheten die Ehre des Königs das Recht liebt, und Recht und Gerechtigkeit seinen Stuhl gründen und es seines Amtes ist, die Unterdrückten von der Hand ihrer Bedrücker zu befreien (Psalm 37,28. 97,2 u. a.).
Wir bitten daher die Königliche Hoheit und ermahnen sie ernstlich in dem Herrn, solche Ausschreitungen abzustellen, denn sie sind abscheulich und ungeheuerlich und verstoßen gegen die Gottheit, nach deren Bild die Menschen gebildet sind, und gereichen dem apostolischen Stuhl, durch dessen Privileg sie (die Juden) geschützt sind, zur Unehre. Wir bitten Dich also, solche Übergriffe, die sie sich mit außerordentlicher Leichtfertigkeit herausgenommen haben, mit der Macht, die Dir vom Herrn übergeben ist, auszumerzen und den Juden alles ihnen Abgenommene wieder zustellen zu lassen, damit Du mit der Tat beweisest, dass Du das Unrecht hassest und die Gerechtigkeit liebest und wir die Aufrichtigkeit Deines Eifers in dem Herrn nach Verdienst rühmen können.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 21
Judenschlacht Frankfurt 1241
In der Reichsstadt Frankfurt wurde der Sohn eines Juden, der sich taufen lassen wollte, von Eltern und Freunden daran gehindert. Darüber entstand ein Streit zwischen Christen und Juden, und am 24. Mai kam es zu einem heftigen Kampfe. Nachdem einige Christen gefallen waren, kamen etwa 180 Juden durch das Schwert und durch Feuer, das sie an ihre eigenen Häuser legten, um. Der Brand zerstörte fast die halbe Stadt, und die übrigen Juden, deshalb das Schlimmste befürchtend, ließen sich nun, 24 an der Zahl, taufen, angeblich mit einem ihrer Rabbiner ...
König Konrad IV. erlässt den Frankfurter Bürgern jeden Schadenersatz an die Juden, Rothenburg, Mai 1246.
Konrad, Sohn des Kaisers Friedrich, von Gottes Gnaden gewählter König der Römer und Erbe des Reiches Jerusalem.
Durch dieses Schreiben machen wir allen gegenwärtigen und zukünftigen Getreuen des Reiches bekannt, dass, wegen der verdienstlichen Treue und Ergebenheit unserer Bürger von Frankfurt, und in Ansehung der Dienste, die sie zu jeder Zeit unserem Herrn Vater, seinen Vorfahren und uns in Ergebenheit geleistet, wie durch Vollmacht und besonderen Befehl des Kaisers, unseres Herrn Vaters, den wir auf unsere ergebenste Fürbitte bei ihm für die Bürger erlangt, ihnen allen Schaden und die Verletzung erlassen, welche die Bürger bei der Ermordung und Vertreibung der Juden von Frankfurt, unserer Kammerknechte, mehr aus Nachlässigkeit und Zufall als mit Willen begangen haben. Aus überfließender Gnade unserer Hoheit versprechen wir, über diese Verzeihung eine Urkunde von der kaiserlichen Majestät selbst zu erlangen zu ewiger Sicherheit der Bürger selbst, wie ihrer Erben ...
Annales Erphordenses [Erfurter Chronik] 1241 — Vgl. Kina aus dem Machsor Salonichi. B. XXII. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 27-30.
Lyon, 5. Juli 1247.
... Innocenz, Bischof, Knecht der Knechte Gottes, bietet den ehrwürdigen Brüdern, den Erzbischöfen und Bischöfen Alemanniens, Heil und apostolischen Segen.
Wir haben die Tränen erregende Klage der Juden Alemanniens vernommen, dass einige, sowohl geistliche wie weltliche Fürsten und andere Edle und Mächtige eurer Städte und Sprengel, um die Güter jener ungerechterweise zu plündern und sich anzueignen, böse Ratschläge sinnen und häufige und verschiedene Gelegenheiten herbeiführen — wahrlich ohne kluges Überlegen, da ja aus ihren Urkunden gleichsam die Zeugnisse des christlichen Glaubens hervorgegangen sind.
Da die göttliche Schrift unter andern Befehlen des Gesetzes sagt: „Du sollst nicht töten”, und jenen besonders verbietet, am Osterfeste etwas Gestorbenes zu berühren, so beschuldigt man sie fälschlich, dass sie an demselben Feste sich das Herz eines getöteten Knaben gegenseitig mitteilen, in dem Glauben, dass das Gesetz ihnen dieses vorschreibe, während dies offenbar ihrem Gesetze zuwider ist; — übel ist es, dass man ihnen die Leichname gestorbener Menschen, die man irgendwo gefunden hat, aufbürdet. Und über solche und viele andere Erfindungen gegen sie in Wut entbrannt, begeht man gegen sie, ohne Anklage, ohne Geständnis, ohne Überführung, wider die ihnen vom päpstlichen Stuhle verliehenen Privilegien, wider Gott und die Gerechtigkeit, Raub aller ihrer Güter, quält sie mit Hunger, Gefängnis und so vielen Bedrängnissen und Bedrückungen, indem man sie mit den verschiedensten Strafen belegt und so viele von ihnen zum schmählichen Tode verdammt, so dass diese Juden unter der Herrschaft jener Fürsten, Edlen und Mächtigen schlechter daran sind, als ihre Väter unter Pharao in Ägypten gewesen sind. — Ja, man zwingt sie jämmerlicherweise, aus den Orten, die sie und ihre Voreltern seit undenklichen Zeiten bewohnt haben, zu weichen. Ihre Vertreibung befürchtend, haben sie sich an die Für-sorge des apostolischen Stuhles gewandt.
Indem wir daher nicht wollen, dass die vorgenannten Juden unschuldig gequält werden, denn der mitleidige Herr erwartet doch ihre Bekehrung, da nach dem Propheten ihre Überreste auch gerettet werden sollen, — so befehlen wir eurer Brüderlichkeit durch apostolisches Schreiben, dass ihr euch ihnen günstig und wohlwollend zeigen, und dass, wenn ihr die erwähnten Prälaten, Edle und Mächtige in einem ähnlichen Versuche gegen diese Juden findet, ihr den rechtlichen Zustand zurückrufen und nicht ferner gestatten sollet, dass sie wegen dieser, ähnlicher oder irgendwelcher Dinge unverschuldet bedrückt und gequält werden. Die Bedrücker ähnlicher Art sollt ihr durch geistlichen Zwang ohne weitere Berufung zur Ruhe bringen ...
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 22-24
Wir glauben, dass es außerordentlich zu unserem Vorteil und unserer Ehre gereiche, die Juden, die sich unserer Herrschaft anvertrauen wollen, in der Hoffnung auf Schutz und Gnade, solche Wohltat genießen zu lassen. Wir tun daher allen unseren Untertanen zu wissen, dass wir aus solcher Erwägung allen Juden, sie mögen stammen, woher sie wollen, beim Eintritt in die Stadt Köln zum Behuf dauernder Niederlassung, sowie den dort schon wohnenden folgende Gnade erweisen wollen. Sobald sie die Stadt betreten haben, sollen sie mit ihrer Person und ihrem ganzen Besitz unter unserem Schutz stehen und sollen auf unserem ganzen Gebiete bei all ihrem Handel unsere Förderung genießen.
Sie sollen demnach, gemäß einer Übereinkunft, die sie mit einigen zu diesem Zweck von uns abgeordneten Männern getroffen haben und die nicht länger als zwei Jahre dauern soll, zweimal im Jahre ein bestimmtes Schutzgeld entrichten, nämlich am Feste des heiligen Johannes des Täufers und zu Weihnachten. Darüber hinaus wollen wir sie auf keine Weise in Anspruch nehmen und versprechen, sie auch nicht durch einen Vogt oder Kämmerer oder sonst jemanden in Anspruch nehmen zu lassen. Nach Ablauf dieser zwei Jahre aber soll es in ihrem freien Belieben stehen, wegzugehen oder zu bleiben. Wenn sie innerhalb der genannten zwei Jahre sich anderswohin begeben wollen, sollen sie nach Erlegung des uns geschuldeten Schutzgeldes frei ziehen können ohne irgendeine Belästigung an Gut oder Leib. Wenn sie aber nach Vollendung der zwei Jahre weiter bleiben wollen, so behalten wir uns das Recht vor, die Übereinkunft wegen des uns zu entrichtenden Schutzgeldes bei passender Gelegenheit auf den Rat der vorgenannten Männer zu erneuern oder zu verändern.
Im übrigen werden wir gegen sie keine weltliche Gerichtsbarkeit ausüben, außer in bestimmten Fällen, nämlich. wenn einer einen Diebstahl oder eine Falschmünzerei begangen hat oder wenn er sich eine Körperverletzung hat zuschulden kommen lassen, welche in der Volkssprache „bligendait” (blickende Tat = offenbare Tat) genannt wird, oder wenn ein von ihnen Gebannter sich dem Banne widersetzt, oder wenn ein Jude mit einer Jüdin oder Christin Ehebruch begangen hat. In diesen Fällen werden wir gegen sie die weltliche Gerichtsbarkeit üben. Ferner soll ihr Judenbischof nur ein Jahr im Amte bleiben, und nach Ablauf des Jahres sollen sie selbst einen anderen wählen, der ihnen geeignet scheint und bei dessen Wahl uns eine Abgabe von fünf Mark zu entrichten ist.
Wir wollen aber, dass dieselben Juden, die sich schon in unserer Stadt niedergelassen haben, selbst gerne bleiben wollen und auswärtige Juden, wenn sie sehen, dass sie gut behandelt werden, Lust bekommen sollen, ihrem Beispiel zu folgen. Deshalb befehlen wir ausdrücklich euch, unsern Getreuen, den Richtern und Bürgermeistern, den Schöffen und Ratsherren insgesamt zu Köln, die ihr euch auf unser Verlangen für die Einhaltung dieser Bestimmungen verbürgt habt, und geben euch mit diesem unserm Brief Vollmacht, zur Ehre, Förderung und zum Vorteil genannter Juden zu tun, was ihr könnt und sie in unserem Namen zu schützen und zu verteidigen und nicht zu leiden, dass dieselben Juden wider das Vorerwähnte von jemand belästigt und beleidigt werden.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 22-24
1) Eine Judenverfolgung (unter Rindfleisch 1298).
Da man zählte 1298 Jahr, da hob eine Verfolgung der Juden an, die währte von Sankt Jakobs Tag bis Sankt Matthäus Tag. Das tat ein Edelmann aus Franken, der war genannt Rindfleisch. Der hatte viel Volks versammelt und tötete wohl hunderttausend Juden, die zu Würzburg und zu Nürnberg waren und in anderen Städten. Das geschah nur darum, dass sie also sehr übel getan hatten an unseres Herrn Leib, darum Gott die Plage über sie verhängte. Man hatte sie auch in ganz Deutschland verfolgt, aber König Albrecht tat Einhalt, als er von Aachen her auf der Rückreise (begriffen) war.
2) Eine weitere Judenverfolgung (1337 „Armleder"bewegung).
Da man zählte 1337 Jahr, da war ein Edelmann zu Dorlisheim, der hieß der Unbehaun und einer zu Andlau, hieß Zimberlin. Die sammelten viel Volks, mit denen belagerten sie Colmar und forderten die Herausgabe der Juden, um sie zu verderben. Da kamen die von Straßburg überein, gegen sie zu ziehen. Da sie des gewahr wurden, flohen sie von dannen und ward nichts mehr daraus. Die Hauptleute nannten sich König Armleder. Dies geschah im Maien.
3) Eine weitere Judenverfolgung (Schwarzer Tod und Brunnenvergiftung 1349).
Da man zählte 1349 Jahr, da wurden die Juden zu Straßburg verbrannt in ihrem Kirchhof auf einem hölzernen Gerüste an Sankt Veltens Tage, der fiel dieses Jahr auf einen Samstag. Sie wurden auch desselben Jahres verbrannt in allen Städten an dem Rheine, gleichviel ob es freie Städte oder Reichsstädte oder anderer Herren Städte waren. Das geschah darum: man zieh sie, sie hätten Brunnen und andere Wasser verunreinigt mit Gift. In etlichen Städten verbrannte man sie nach (ordentlichem) Urteil, in etlichen steckten sie selbst mit Feuer die Häuser an, da sie innen waren, und verbrannten sich selbsten. Da kam man zu Straßburg überein, dass in hundert Jahren kein Jude da wohnen sollte.
4) Der Aufruhr zu Straßburg und die Judenverfolgung.1349.
Da man zählte 1349 Jahr, an Sankt Apollonien Tag, der auf einen Montag fiel, und folgende drei Männer Bürgermeister zu Straßburg waren: Herr Gosse Sturm und Herr Kunz von Winterthur und Herr Peter Swarber der Ammannmeister, da wurden sie alle drei vertrieben. Und das kam also.
Die Stadt hatte Geld aufgenommen von den Juden und hatte Rückzahlung auf ein Ziel zugesichert und hatte ihnen dafür ordnungsmäßig gesiegelte Schutzbriefe gegeben. Und es bestand auch folgende gesetzliche Abmachung: wer von ihnen geliehen hatte, musste schwerere Zinsen zahlen, als wenn er es von einem Christen geliehen hätte. Darauf verließen sich die Juden und wurden also hochtragenden Gemütes, dass sie niemandem Nachlass gewähren wollten, und wer mit ihnen zu tun hatte, der konnte kaum mit ihnen übereinkommen. Darum wurden sie verhasst bei männiglich. Dazu fiel die Beschuldigung auf die Juden, dass sie die Brunnen und die (fließenden) Wasser sollten vergiftet haben. Darob murrte das Volk gemeiniglich und sprachen, man sollte sie verbrennen. Darauf wollte sich der Rat nicht einlassen, man vermöchte ihnen denn zu beweisen, dass es wahr wäre, oder sie gäben es selber zu. Darauf verhaftete man eine Anzahl von ihnen und folterte sie sehr mit Daumschrauben, von denen gestanden drei oder vier andere Sachen, deren sie schuldig waren, darum man sie räderte. Doch gestanden sie nie, dass sie der (Brunnen-) Vergiftung schuldig wären. Da man eine Weile so mit ihnen verfahren war, sperrte man die Judengasse und setzte bewaffnete Leute da zur Hut. Denn man fürchtete, dass wenn man sie überfiele oder ein (allgemeines) Gerichtsverfahren gegen sie eröffnete, dass (die Menge) dann in ihre Häuser einbrechen oder anderen Schaden tun würde. Auch wollte man ihrer desto sicherer sein, gleichviel was man noch über sie beschließen würde. Darum bewachte man sie.
Da sie dergestalt eine Weile bewacht waren und das gemeine Volk sehr über sie ergrimmt war und sie gerne hätte töten sehen, schützten sie dawider die Bürgermeister und der Rat und wollten sie nicht dem Tode preisgeben, sie könnten sie denn mit Recht verurteilen; denn sie wollten nichts wider den Schutzbrief tun, den die Juden hatten von der Stadt. Davon wollte das gemeine Volk nichts wissen und sprachen untereinander heimlich einer zu dem andern, die drei Bürgermeister müssten Geld von den Juden genommen haben, dass sie sie also schützten wider allermänniglichs Willen, und wollten\\\'s nicht dafür halten, dass sie es nur aus Gerechtigkeit täten.
(Es folgt ein bewaffneter Aufstand der Handwerker, aber ohne Blutvergießen. Die Bürgermeister und der Ammann wer-den abgesetzt und der Stadt verwiesen; ausdrücklich wird betont, dass man ihnen Bestechung durch die Juden nicht habe nachweisen können. Die Verfassung wird im Sinne der Handwerker geändert.)
... Am Freitag fing man die Juden, am Samstag verbrannte man die Juden, deren waren schätzungsweise wohl gegen zweitausend. Die sich aber wollten lassen taufen, die ließ man leben. Es wurden auch gegen ihrer Mütter und ihrer Väter Willen viel junger Kinder aus dem Feuer genommen, die getauft wurden. Was man den Juden schuldig war, das war alles wett, und wurden alle Schuldpfänder und Schuldbriefe, die sie hatten, zurückgegeben. Das bare Geld, das sie hatten, das nahm der Rat und teilte es unter die Handwerke (Zünfte) nach Markzahl. Das war auch das Gift, das die Juden tötete.
Aus Friedrich Closener [seit 1349 Inhaber einer Pfründe beim Straßburger Münster], Straßburger deutsche Chronik, 1362. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 27-30
Chronica St. Petri Erfordensis moderna
Monumenta Erphesfurtensia S. 379f.
Eodem anno infra festum purificacionis beate Marie virginis et carnisprivium Iudei occisi sunt in omnibus oppidis, castellis et villis Thuringie, scilicet in Gotha, Ysenach, Arnstete, Ylmene, Nebere, Wie, Tenstete, Herbisleybin, Tummezbrucken, Frankenhusen, Wizzense, quia infecerunt fontes et puteos veneno et toxico, ut tunt manifeste dicebatur, quod multi sacci veneno pleni in fontibus et puteis reperirentur. Eodem anno in die sancti Benedicti, qui tunt fuit sabato ante dominicam letare, Iudei interfecti sunt in Erphordia per communitatem civium, invitis consulibus, centum et ultra. Alii vero plus quam tria milia, cum viderent se manus Christianorum non posse evadere, pro quadam sanctitate se ipsos in propriis domibus cremaverunt. Post triduum in curribus oneratis ducti sunt ad cimiterium eorum ante valvam sancti Mauricii' et ibidem sepulti. Requiescant in inferno! Eciam dicitur ipsos fontes et Geram Erphordie intoxicasse nec non allecia, ita ut nemo ipsa in quadragesima commedere vellet, nec aliquis civium de dicioribus cum aqua coquere permitteret. Si verum dicunt, nescio. Sed magis credo fuisse exordium calamitatum eorum magnam et infinitam pecuniam, quam barones cum militibus, cives cum rusticis ipsis solvere tenebantur. Deo autem gracias, qui civitatem Erphordensem populumque christianum inter tot incendia tantaque homicidia sua magna misericordia pie custodivit. Eodem anno et die interfecti sunt Iudei in Molhusen pari modo sicut in Erphordia et fere in tota Alemania occisi, seipsosque personaliter cremaverunt. [...]
Im selben Jahr, zwischen Mariä Reinigung und Fastnacht [2.-24. Februar 1349] wurden die Juden in allen Städten, Burgen und Dörfern Thüringens erschlagen, nämlich in Gotha, Eisenach, Arnstadt, Ilmenau, Nebra, Wiehe, Tennstedt, Herbsleben, Thamsbrück, Frankenhausen und Weißensee, weil sie Quellen und Brunnen verseucht hatten, wie damals für erwiesen galt, weil viele Säcke voll Gift in den Brunnen gefunden worden sein sollten. Im selben Jahr, am Tag des heiligen Benedikt [21. März 1349], der damals auf den Sonnabend vor Lätare fiel, wurden die Juden in Erfurt entgegen dem Willen des Rates von der Bürgergemeinde erschlagen, hundert oder mehr. Die andern aber, mehr als dreitausend1, haben sich, als sie sahen, daß sie den Händen der Christen nicht entkommen konnten, aus einer Art Frömmigkeit in ihren eigenen Häusern selbst verbrannt. Nach drei Tagen wurden sie auf Lastkarren zu ihrem Friedhof vor dem Moritztor gebracht' und dort begraben. Mögen sie in der Hölle ruhn! Man sagt auch, sie hätten in Erfurt die Brunnen und die Gera vergiftet und auch die Heringe, so daß niemand in den Fasten davon essen wollte und keiner der reicheren Bürger mit Wasser kochen ließ. Ob sie recht haben, weiß ich nicht. Eher glaube ich, der Anfang ihres Unglücks war das unendlich viele Geld, das Barone und Ritter, Bürger und Bauern ihnen schuldeten. Gott aber sei Dank, daß er die Stadt Erfurt und die Christenheit bei soviel Brand und Mord in seiner großen Barmherzigkeit gnädig bewahrt hat. Im selben Jahr und am selben Tag wurden die Juden in Mühlhausen auf gleiche Weise wie in Erfurt getötet und sind fast in ganz Deutschland umgebracht worden oder haben sich selbst verbrannt. [...]
zit. nach: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mittel- und Oberdeutscher Städte im Mittelalter, ausgewählt und übersetzt von Gisela Möncke, Darmstadt 1982, S. 198-199
König Karl IV. verpfändet der Stadt Frankfurt die dortigen Juden.
Frankfurt, 25. Juni 1349
Wir, Karl, von Gottes Gnaden, Römischer König, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs und König zu Böhmen, verkündigen öffentlich mit diesem Briefe allen denen, die ihn sehen, hören oder lesen: Wir sind durch offenkundige Not unser und des Reichs, die jetzo entstanden ist und schon eine Weile gewährt hat, durch Kriege und Zweiungen des Reichs in Schulden, Kosten, Bedrängnis und großen Schaden gekommen. Um diese zu beheben, dem Reiche zu Ehren und zu Nutze, sind wir überein-gekommen mit den Schöffen, dem Rat und den Bürgern zu Frankfurt, unsern und des Reichs lieben Getreuen, daß sie angesehen haben unsere und des Reichs Ehre und Nutz. Und sind wir mit ihnen und sie mit uns übereingekommen und haben sie sich darum großen Schaden getan und haben uns und dem Reiche zu Nutz und Ehren und um den Schaden und die Schuld zu beheben, gereicht und bezahlt fünfzehntausend und zweihundert Pfund Heller guter Währung, die wir zu offenkundigem Nutzen und Not des Reiches, wie hievor geschrieben ist, verwendet haben. Für dieselbe Summe Geldes haben wir ihnen zu Pfande gesetzt und verpfändet unsere Juden insgesamt zu Frankfurt, unsere Kammerknechte, reich und arm, die jetzt da sind oder hernach dahinkommen mögen, samt und sonders, ihr Leib und Gut zu Frankfurt oder außerhalb derselben Stadt, in demselben Gebiet oder anderswo, wo es sei, liegende, schwimmende oder fahrende Habe, versucht und unversucht, auch bereite Habe, wie sie immer erdenklich oder nennbar sei, namentlich aber ihre Höfe, ihre Häuser, ihren Kirchhof, ihren Schulhof, ihr Eigen und ihr Erbe und was sie haben, innerhalb oder außerhalb der Stadt Frankfurt gelegen.
Das soll alsolange gelten, bis daß wir oder unsere Nachkommen an dem Reiche die Juden von den Bürgern der Stadt Frankfurt oder von ihren Nachkommen wieder lösen mit fünfzehntausend und zweihundert Pfund Hellern guter Währung, und bis wir das Geld denen von Frankfurt gänzlich haben bezahlt und gewährt. Und sollen wir oder unsere Nachkommen an dem Reiche oder irgend jemand von unseretwegen an die Juden samt oder sonders dar-über hinaus keine Forderungen richten oder Ansprüche, noch von ihnen fordern keinerlei Geld, keinerlei Dienst, keinerlei Steuer oder Forderung, was man davon erdenken möchte, ohne jeden Hinterhalt. Ausgenommen sei der Zins, den sie dem Stifte von Mainz und der Herrschaft von Eppstein seit langem bis-her von des Reichs wegen entrichtet haben, und daß sie, wenn wir oder unsere Nachkommen an dem Reiche gen Frankfurt kommen, uns dann dienen sollen für unsere Kanzlei mit Pergament, für unseren Hof mit Betten, für unsere Küche mit Kesseln, wie es hergebracht ist. Sonst sollen weder wir noch unsere Nachkommen an dem Reich noch irgend jemand unseretoder unserer Nachkommen wegen keinerlei Dienst von ihnen heischen, er sei klein oder groß, oder wie er sei, solange sie unsern und des Reichs Bürgern und der Stadt Frankfurt zu Pfande stehen, ausgenommen die Rechte unserer Amtleute. Und sagen auch wir dieselben Juden samt und sonders frei, ledig und los aller Dienste, aller Gefälle und aller Nutzen, damit sie uns und dem Reiche in diesen Zeiten, solange sie unsern und des Reichs Bürgern zu Frankfurt zu Pfande stehen, dienen könnten, und heißen und gebieten wir bei unsern und des Reichs Hulden denselben Juden samt und sonders, daß sie den Bürgern und der Stadt Frankfurt fortan aufwarten und dienen, wie hievor geschrieben steht, solange bis wir oder unsere Nachkommen an dem Reich sie von ihnen lösen ..
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Julius Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 30-32
1352, Mai 26.
Wir, Karl, usw. erklären öffentlich durch diesen Brief allen, die ihn sehen oder lesen hören, daß wir nach rechter Überlegung und nach dem Rate unserer Getreuen zum Nutzen des Reichs dem Schultheißen, dem Rate und den Bürgern insgesamt zu Nürnberg befohlen haben und befehlen, mit Kraft dieses Briefes, daß sie in ihrer Stadt Juden aufnehmen, schirmen und schützen sollen, unsert- und des Reiches wegen. Dagegen geloben wir kraft unserer königlichen Gnade dem Schultheiß, dem Rate, den Bürgern insgesamt und den Juden zu Nürnberg, daß wir die jährlichen Zinsen und Gefälle, die uns von den dortigen Juden zustehen, niemandem verschreiben, verpfänden oder zusprechen wollen, sondern sie bei unserer und des Reiches Kammer behalten wollen. Haben wir darüber bereits Briefe erteilt, so sollen diese ohne Kraft sein.
Zur Urkunde dessen versiegelt mit unserm königlichen Siegel, gegeben zu Pürgleins (bei Nürnberg) im Jahre 1352, am Pfingstabend, im sechsten Jahre unserer Reiche.
Julius Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 32
Gleichwie die Juden nicht die Erlaubnis haben dürfen, in ihren Synagogen sich mehr herauszunehmen, als ihnen durch das Gesetz erlaubt ist, so brauchen sie in den Stücken, die ihnen tatsächlich zugestanden sind, keine Übergriffe zu dulden. Zwar wollen die besagten Juden lieber in ihrem Eigensinn beharren, als den wahren Sinn der Prophetenworte und die Geheimnisse ihrer heiligen Schrift zu erkennen und zur Erkenntnis des christlichen Glaubens zu gelangen. Weil sie aber uns um Hilfe bitten und die christliche Milde anrufen, so wollen wir den Spuren unserer Vorgänger folgen, der Bitte der Juden stattgeben und ihnen den Schild unseres Schutzes leihen.
Wir haben neuerdings die Klagen einiger Juden empfangen, dass einige Prediger, sowohl von Bettelorden als von anderen Orden, unter anderem den Christen ausdrücklich gebieten wollen, den Umgang mit den Juden schlechterdings zu meiden, weder für sie zu kochen, noch Feuer zu machen oder sonst eine Arbeit zu leisten oder sich von ihnen leisten zu lassen oder Armendienste bei Juden zu leisten; die Zuwiderhandelnden aber (sagen sie) verfielen schweren kirchlichen Strafen. Dadurch wird allerlei Zwietracht zwischen Juden und Christen gesät und wird den Juden, die sich vielleicht bei milder und menschlicher Behandlung dem christlichen Glauben zuwenden würden, Anlaß gegeben, bei ihrem Unglauben zu verharren. In vielen Fällen haben auch Christen, um besagte Juden ihres Vermögens berauben und steinigen zu können, bei Gelegenheit von Seuchen und anderen öffentlichen Unglücksfällen behauptet, die Juden hätten selbst Gift in die Brunnen geworfen und ihren Mazzen Menschenblut beigemischt; solche ihnen mit Unrecht vorgeworfenen Verbrechen aber gereichten (sagen sie) zum Verderben der Menschen. Durch der-gleichen wird das Volk gegen die Juden aufgeregt, so dass sie dieselben töten und auf alle Weise verfolgen.
In der Hoffnung auf die von den Propheten vorausgesagte einstige Bekehrung des heiligen Restes der Juden verbieten wir euch, allen hohen Weltgeistlichen und besonders den Oberen der vorgenannten Orden, ausdrücklich, solche Hetzpredigten gegen die Juden zu erlauben. Wir wollen, dass jeder Christ die Juden mit menschlicher Milde behandelt und ihnen weder an Leib noch an Gut ein Unrecht zufügt. Gleichwie es ihnen erlaubt ist, mit den Christen zu verkehren, so soll es auch beiden Teilen erlaubt sein, sich gegenseitig Vorteile zu verschaffen. Alle ihre verbrieften Rechte sollen sie genießen. Nur diejenigen Juden jedoch sollen dieses Schutzes teilhaftig werden, die keine Verschwörungen zur Umstürzung des christlichen Glaubens unternehmen.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 42-43
... Am Hochzeitstage — am Freitag — wird die Gemeinde durch den Synagogendiener zum Gottesdienste zusammengerufen und zugleich zum Meien (Reigen) eingeladen. Der Rabbiner, unter Vorantritt des Bräutigams, und die ganze Gemeinde begeben sich, von Fackelträgern und Musik begleitet, nach dem Synagogenhofe. Das Geleite kehrt dann zurück, um die Braut, die von ihren Freundinnen umgeben ist, dem Bräutigam zuzuführen. Ist der Zug an der Pforte des Synagogenhofes angelangt, begibt sich der Bräutigam, von dem Rabbiner und den angesehensten Männern der Gemeinde geführt, hin zur Braut, ergreift ihre Hand, und alle Anwesenden bestreuen das Brautpaar mit Weizenkörnern und rufen ihnen dreimal zu: „Seid fruchtbar und mehret euch!” Hand in Hand gehen nun Braut und Bräutigam zur Synagogentür, woselbst sie sich auf einige Augenblicke niederlassen. Die Braut wird sodann heimgeleitet, um sich mit den Hochzeitsgewändern zu schmücken, über welche sie das Serganeum (Totengewand) anzieht, dann ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllt und statt des Mantels die Kürsen (ein mit Pelz verbrämtes Gewand) anlegt. Der Bräutigam dagegen, in sabbatliche Gewänder gekleidet, mit der Mitra (einer Art Kapuze), die er, zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels, in einer von der gewohnten Art abweichenden Form trägt, auf dem Kopfe, begibt sich nach der Synagoge, und nachdem er neben der heiligen Lade an der nordöstlichen Seite Platz genommen, beginnt der Morgengottesdienst in gewohnter Ordnung, nur, dass das Tachänungebet nicht verrichtet wird.
Die Trauungsfeierlichkeiten gehen in Mainz bald nach dem Morgengottesdienste vor sich. Die Verwandten des Brautpaares und der Rabbiner erscheinen zu demselben in sabbatlichen Gewändern. Den für den Sabbat bestimmten Tallis legte R. Jakob Möllin nur zum Hochzeitsfeste seiner Tochter an. Nun wird die Braut unter Musikbegleitung bis zur Synagogenpforte gebracht, verweilt jedoch dort, bis der Rabbiner den Bräutigam die Bima (Estrade in der Mitte) hinangeführt hat. Der Rabbiner streut dem Bräutigam unter die Mitra an die Stelle, an welche die Tefillin angelegt werden, zur wehmütigen Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems, Asche und holt, von den achtbarsten Männern der Gemeinde begleitet, die Braut. Der Rabbiner führt sie zum Bräutigam und stellt sie ihm zur Rechten im Hinblick auf den Vers der Schrift: „Es steht die Gemahlin dir zur Rechten in Gold von Ophir” (Psalm 45, 10). Das Brautpaar wird mit dem Antlitz nach Süden gestellt, zu seiner Seite sind die beiden Mütter oder an deren Stelle die nächsten Verwandten. Als Symbol des Trauzeltes wird der Kopf der Braut mit dem Zipfel der Mitra des Bräutigams bedeckt. — R. Jakob Möllin bediente sich bei der Trauung seiner Tochter des Saumes des Schleiers und bedeckte mit ihm den Kopf von Braut und Bräutigam, des Verses gedenkend: „Sie (Rebekka) nahm den Schleier und bedeckte sich mit ihm”. —
Sodann beginnt der Trauungsakt, für welchen zwei Kelche, mit Wein gefüllt, bereitgestellt sind; der eine ist für die zwei Benediktionen bestimmt (Birchat Erussin), die vor dem eigentlichen Trauungsakte gesprochen werden, der andere für die sieben Benediktionen (Birchat Nissuin), die ihm nachfolgen ... Nachdem Bräutigam und Braut von dem ersten Weinkelch getrunken, zeigt der Rabbiner den beiden Zeugen den Trauring und bemerkt, dass er sicherlich den Wert einer Peruta habe, was sie (die Zeugen) bejahen. Nachdem sich der Rabbiner noch über das vorgeschriebene Alter der Braut Sicherheit verschafft, steckt der Bräutigam, die Weiheformel für das Ehebündnis sprechend, der Braut den Ring an den Zeigefinger. Die Ketuba wird nicht verlesen, aber deren Echtheit von den Zeugen bestätigt. Während der Rabbiner die Birchat Nissuin spricht, wendet er sich mit dem Angesicht gegen Osten, bei der Benediktion: „Erfreuen mögest du, o Herr, die trauten Genossen”, dem Brautpaare zu. Nach Schluss der Benediktion trinken Braut und Bräutigam aus dem ihnen dargereichten Kelche, den sodann der Bräutigam, sich nach Norden wendend, an die Wand schleudert und zerschellt. — Die Hochzeitsfeierlichkeiten dauerten sieben Tage.
R. Jakob beiz Meir Möllin Halevi (Maharil). Rabbiner in Mainz, zuletzt in Worms, dort gestorben 142\'7. Aus: Minhagim [„Bräuche"]. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 110-112
Wir, Sigmund, von Gottes Gnaden, Römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, und zu Ungarn, Böhmen, Dalmatien, Kroatien etc. König, entbieten den ehrsamen Bürgermeistern und Räten der Stadt zu Augsburg, unsern und des Reichs Lieben und Getreuen unsere Gnade und alles Gute. Ehrsame, liebe Getreuen, wir haben durch wahrhaftige Meldung vernommen, dass die Juden, unsere Kammerknechte, bei euch wohnhaft, denen es doch wohl billig genug sein sollte, dass man ihnen Handel gönnte und zugestand, in jüdischer Absonderung bei christlichem Volke zu wandeln und zu wohnen, jetzt also vermessen und übermütig geworden sind, dass sie sich mit Kleidung fast gleich Christenleuten zieren, zeigen und tragen, also dass man zwischen den Gläubigen und den obgenannten Juden bei euch auf den Gassen keinen, oder aber nur geringen Unterschied erkennen könne, wovon manchmal komme, dass dieselben Juden auf Märkten und Gassen für Christen angesehen und geachtet, und ihnen wie Christen in allen Züchten Gruß und Ehre erboten werde.
Da nun die Juden, Verschmäher Gottes und christlichen Glaubens, dessen nicht würdig sind, und wir auch nicht wollen, dass sie also noch fürderhin bei euch ohne Unterschied und öffentliche Zeichen sich tragen oder zeigen sollen oder dürfen, darum so erlauben, empfehlen und gebieten wir euch von Römischer Kaiserlicher Macht in Kraft dieses Briefs, dass ihr von unseretwegen die vorgenannten Juden bei euch dazu anweiset und haltet, dass sie ein kenntlich offenbares Zeichen, wie euch das gefällt und bequem dünkt, annehmen, und fürderhin auf Märkten und Gassen bei einer Strafe, die ihr ihnen von unseretwegen darauf setzen sollt und müsst, öffentlich tragen, damit dieselben Juden von Christen sichtlich gesondert und für Juden erkannt werden ...
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 44
Jüdische Kleiderordnung des Kölner Rates von 1404, Juli 8
Juden und Jüdinnen, jung und alt, die in Köln wohnen oder die fremd dahin kommen, sollen solche Kleidung tragen, dass man sie als Juden erkennen kann, und zwar in folgender Weise:
Ärmel sollen sie an ihren überwürfen und Röcken tragen, nicht weiter als eine halbe Elle.
Die Kragen an Röcken und Kapuzen dürfen nicht breiter als einen Finger sein.
An ihren Kleidern darf keine Pelzfütterung gesehen werden, die oben oder unten heraustritt.
Sie dürfen keine geschnürten Kleider oben tragen mit Schnüren oder Riemen, es sei denn an den Armen oder vorne zu (geschlossen).
Die Einfassungen der Ärmel sollen bei Männer- und Frauenkleidern nicht weiter als bis auf den Handrücken reichen.
Die Mäntel müssen befranst sein und müssen mindestens bis an die Waden reichen, sie dürfen nicht kürzer sein.
Sie dürfen keine überhänge und Kapuzen tragen, die gänzlich geschlossen oder zu beiden Seiten offen sind; sie müssen lange überhänge tragen, die zum mindesten eine Handbreit von der Erde ab gehen.
Die Kapuzen müssen bei jeder Mannsperson, die über 13 Jahre alt ist, mindestens eine Elle lang sein; die Zipfel dürfen nicht länger sein als anderthalb Ellen und nicht breiter als eine halbe Viertelelle.
Sie sollen keine grauen Schuhe tragen, weder innen noch außen grau.
Über dem Ohrläppchen dürfen sie sich nicht scheren lassen, es sei denn, dass einige sich das Haar ganz scheren lassen.
Keine Kinder über drei Jahren dürfen geschlitzte oder mit Leder besetzte Kleider tragen.
Kein jüdisches Mädchen darf einen Kopfschmuck tragen, der mehr als sechs Gulden wert ist; er darf nicht breiter als zwei Finger sein.
Die jüdischen Frauen dürfen werktäglich keine Ringe tragen, deren Gewicht das von drei Goldgulden übersteigt; wohlbemerkt, an jeder Hand nur einen Ring.
Sie dürfen werktäglich keine vergoldeten Gürtel tragen und keine Gürtel, die über zwei Finger breit sind.
An ihren Feiertagen dürfen sie auch Gürtel tragen, die ein Gewicht bis zu zwei (kölnischen) Silbermark haben, auch dürfen sie an ihren Feiertagen, die auf Werktage fallen, zwei Ringe tragen, deren jeder bis zu sechs Goldgulden Gewicht haben darf.
In der Karwoche und am Ostertage müssen sie sich in ihren Häusern aufhalten.
Ebenso sollen sie in ihren Häusern bleiben, wenn man den Leib des Herrn in feierlicher Prozession um die Stadt oder um die Kirchplätze von St. Lorenz, St. Brigitta, St. Alban und von der großen St. Martinskirche trägt, oder wenn man andere Prozessionen abhält in den Straßen, in welchen die Juden es sehen könnten.
An Sonn- und anderen Feiertagen dürfen die Juden ihre Pfänder nicht öffentlich zum Verkauf auslegen oder zeigen.
Sie dürfen zu keiner Zeit unter der Halle des Bürgerhauses gehen, stehen oder sitzen, außer wenn die Herren vom Rate sie dahin entbieten.
Wenn unsere Herren im Rathaus versammelt sind, dürfen die Juden keine Versammlung im Gehen oder Stehen auf dem Platz davor abhalten; jedoch dürfen sie zu ihrer Synagoge und davon wieder zurück zu zweien oder dreien zusammen gehen.
Sie sollen keine Pfänder ausleihen, die von Leuten, welchen sie abhanden kamen, gestohlen oder genommen wurden, bei ihnen gesucht werden.
Welcher Jude oder Jüdin bei der Übertretung eines der vorgeschriebenen Punkte erwischt wird, der wird vom Erzbischof oder von den Ratsfreunden von Köln angemessen bestraft.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 36-38
Der angebl. Trienter Ritualmord von 1475
Simon von Trient (auch Simmele von Trient) war ein in der katholischen Kirche bis 1965 als Märtyrer verehrtes Kind, für dessen Tod im Jahr 1475 Juden als vermeintliche Ritualmörder verantwortlich gemacht wurden.
Am Ostersonntag des Jahres 1475 wurde in einem Bach in Trient ein zwei-, nach anderen Quellen dreijähriges Kind von einem Juden Samuel tot aufgefunden, das seit dem Gründonnerstag vermisst worden war. Zusammen mit anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde meldete Samuel den Mord. In einem aufsehenerregenden Prozess kam man auf der Grundlage von unter der Folter erpressten „Geständnissen” der Juden zu dem Schluss, dass diese einen Ritualmord verübt und das Kind langsam zu Tode gequält hätten. Es wurden insgesamt 14 Juden hingerichtet.
Während Johannes Hinderbach, der Bischof von Trient, den Prozess unterstützte, war Papst Sixtus IV. skeptisch und verbot im Juni 1475 die Weiterführung. Den Vorwurf des päpstlichen Kommissars Bischof Giovanni dei Guidice, Hinderbach habe sich persönlich bereichern wollen, erwiderte der Trienter Bischof mit dem Gegenvorwurf, der Kommissar sei von Juden bestochen worden. Eine Kardinalskommission kam 1478 zu dem Ergebnis, die Hinrichtungen seien rechtmäßig gewesen. An den Untersuchungen beteiligt war der Franziskanerprediger Bernhardin von Feltre.
Der Leichnam des Kindes wurde in der Trienter Peterskirche beigesetzt (die Kapelle von San Simonino ist heute meist geschlossen). Die Verehrung Simons wurde 1480 von Papst Sixtus IV. anerkannt und 1584 von Papst Gregor XIII. durch die Eintragung ins Martyrologium bestätigt. Gedenktag Simons war der 24. März. 1782 macht die Ritenkongregation den seligen Simon zum zweiten Diözesanpatron von Trient. Erst 1965 hob die Ritenkongregation unter Paul VI. die Anerkennung auf und stellte fest, dass die Trienter Juden Opfer eines Justizirrtums geworden waren.
Text zit nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Simon_von_Trient
Hartmann Schedels Weltchronik 1493: Darstellung des angebl. Trienter Ritualmords von 1475
Das sechst alter [sechstes Weltalter, Gegenwart seit Christi Geburt]
Symon das sellig kindlein zu Trient ist am. xxi. tag des Mertzen nach der gepurt Cristi. M.cccc.lxxv. iar. in der heiligen marterwochen in der statt Trient von den iuden getoedt vnd ein martrer Cristi worden. dann als die iuden in derselben statt wonende ir ostern nach irem sytten begeen wolten vnd doch kein cristenlichs pluot zu geprauch irs vngesewrten prots hetten do brachten sie diss kindlein verstolens in Samuelis eins iuden haws. in solcher gestalt. an dem dritten tag vor ostern vmb versperzeit saße diss kindlein vor seins vaters thuer in abwesen seiner eltern do nehnet sich Thobias ein iuedischer verreter zu disem kindlein das noch nit dreymal zehen monat alt was. dem redet er mit schmaychlenden worten zu vnd truog es pald in das haws Samuelis. Als nw die nacht herfiele do frewten sich Samuel Thobias Vitalis Moyses Israhel vnd Mayer vor der synagog vber vergiessung cristenlichen pluots. Nw entploeßeten sie das kindlein vnd legten ime ein faciletlein vmb sein helßlein das man es nit schreyen hoeren moecht vnd spanneten ime sein ermlein auß. schnytten ime erstlich sein manlich glidlein ab vnd auß seinem rechten wenglein ein stuecklein vnd stachen es allenthalben mit scharpffen spitzigen stacheln heftlein oder nadeln. einer die hend der ander die fueßlein haltende. vnd als sie nw das pluot grawsamlich gesammelt hetten do huoben sie an lobsang zesingen vnd zu dem kindlein mit hoenischen bedroewortten zesprechen Nym hin du gehangner Jhesu also haben dir ettwen vnßer eltern gethan. also sollen alle cristen in hymel. auff erden vnd meer geschend werden. dieweil verschied das vnschuldig mertrerlein. die iuden eyleten zum nachtmal vnd assen von dem pluot das vngesewerte zu schmahe Cristo vnßerm hayland vnd wurffen den toten leichnam in ein fließends wasser nahent bey irem haws vnnd hielten ir ostern mit frewden. Die bekuemerten eltern suchten ir verlorns kindlein. das funden sie vber drey tag in dem fluss. Als solchs an Johanßen von Salis den edeln burger von Brixien kaiserlicher rechten doctor vnd deßmals oebersten pfleger gelanget do hieß er nach den iuden greiffen vnd sie mit marter anziehen. also das sie nach ordnung ansagten wie sie dise mißtat beganngen hetten. vnd darauff warden sie mit gepuerlicher straff außgetilgt. Als der leichnam auff befelhe Johanßen hinderbachs bischoffs daselbst bestattet wardt do fieng er alßpald an in wunderzaichen zescheinen vnd auß allen cristenlichen gegenten zu dises heilliges kindes grab ein zulawff zewerden. dauon dann dise statt nicht kleine auffung vnnd zunemung empfunden hat. vnd die burger daselbst haben disem leichnam ein schoene kirchen auffgerichtet.
DErgleichen vbeltat haben auch die iuden vber fuenff iar darnach in dem stettlein Mota in Foriaul gelegen mit ertoedtung eins andern kinds begangen. darumb warden der teter drey gefangen gein Venedig gefueert vnd nach grawsammer peyn verprennt.
DIe Tuercken zohen abereins in nydern Misiam vnd warden mit großer schlacht ernydergelegt. Darnach eroberten die Genueser die großen statt Capham die die Tuercken noch innhetten. aber dieselb statt kome in disem iar durch verretterrey vnd dargebung eins Genuesischen burgers widerumb in der Tuercken gewalt.
Der Mond hüllte sich in Dunkel (es war eine totale Mondfinsternis) in der Nacht vor dem 15. Nissan (Donnerstag, 23. März) im Jahre 5235, d. i. im Jahre 1475. In jener Zeit, am Mazzotfeste, erschlug der Bösewicht Enzo in Trient in Italien ein zweijähriges Kind, namens Simon, und warf es insgeheim in den Teich am Hause des Juden Samuel, ohne dass es jemand gesehen hatte. Da beschuldigten sie die Juden nach ihrer Gewohnheit und begaben sich auf Geheiß des Bischofs in deren Häuser, kehrten aber, da sie das Kind nicht fanden, bald wieder heim. Als es jedoch später gefunden wurde, gingen sie auf Befehl des Bischofs hin, das Kind an Ort und Stelle zu besichtigen, worauf er alle Juden ergreifen ließ und ihnen das Leben unerträglich machte. Man folterte sie, so dass sie gestanden, was ihnen niemals zu tun in den Sinn gekommen war. Nur ein alter, sehr betagter Mann, namens Mosche, bekannte jene schändliche Unwahrheit nicht und starb unter den Schlägen. Vergilt ihm, o Gott, seine Frömmigkeit!
Zwei gelehrte, gesetzeskundige Christen aus Padua waren hingekommen, um zu erfahren, welche Bewandtnis es mit der Sache habe, aber der Zorn der Bewohner des Landes ward wider sie rege, und man wollte sie töten. Hierauf verurteilte der Bischof die Juden, man machte ihnen das Leben unerträglich, indem man sie mit Zangen zwickte und dann verbrannte, so dass ihre reine Seele zum Himmel emporstieg, worauf der Bischof, seinem Plane gemäß, sich alle ihre Habe zueignete und seine Wohnung mit Zerrissenem (Beute) füllte. Alsdann hieß es, das Kind sei heilig und tue Wunder. Der Bischof ließ dies auch in allen Ortschaften bekanntmachen, worauf das Volk sich herandrängte, es zu sehen, und man kam dabei nicht mit leeren Händen. Es erfüllte damals die Bevölkerung des Landes Hass gegen die Juden überall, wo sie wohnten, und man mochte nicht freundschaftlich mit ihnen reden. Später forderte der Bischof den Papst auf, das Kind heiligzusprechen, da es sich heilig erwiesen habe, worauf der Papst einen seiner Kardinäle, der den Titel Legat führte, hinschickte, damit er die Sache genau untersuchen sollte.
Als dieser gekommen war, die Sache untersuchte und genau er-forschte, sah er, dass es eitles Blendwerk und Torheit war, und auch die Leiche des Kindes untersuchte er, und siehe da, sie hatten sie mit Gewürzen und Leichenparfümerien einbalsamiert. Hierauf spottete er ihrer, und als er in Gegenwart des Volkes die ganze Sache für unwahr erklärte, wurde der Zorn des Volkes gegen ihn rege, so dass er vor ihnen fliehen und sich in eine in der Nähe von Trient gelegene Stadt zurückziehen musste. Dann ließ er sich die Akten über das, was jene armen Juden eingestanden hatten und was über sie beschlossen worden war, bringen. Hierauf ließ er einen der Diener jenes Bösewichts, der das Kind ermordet hatte, ergreifen, der dann auch gestand, dass jene Schändlichkeit auf Befehl des Bischofs verübt worden sei, welcher die Juden zu verderben beabsichtigt hätte. Diesen Diener führte er mit nach Rom, berichtete demgemäß dem Papste, der daher auch das Kind nicht heiligsprach, wie der Bischof tagtäglich von ihm begehrt hatte. Man nannte das Kind bea(tus) Simon; sanctus jedoch wird es noch bis auf den heutigen Tag nicht genannt.
R. Joseph Hakohen „Emek habacha” Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 114-115
Nachdem dieses Vorkommnis (Übertritt eines Mönches, der eine Jüdin heiratete, zum Judentum) bekannt geworden war, ließen die Mönche den König und die Königin, die einen aus ihrer Mitte zum Beichtvater hatte, gegen die Juden aufhetzen. Sie (die Mönche) betrachteten nämlich das Vergehen jenes Mannes als ein sehr schweres Unrecht. Obendrein wurden sie wegen des Vorfalls von dem Volke verachtet und in ihrer Ehre gekränkt, was sie noch mehr erbitterte. Seitdem unterließen sie nie, in den Predigten auf der Kanzel gegen die Juden ausfällig zu werden. Hierdurch fasste in dem Herzen des Volkes ein glühender Hass gegen mich Wurzel, und es wurde eine Gelegenheit gesucht, bei der es seine Wut an mir auslassen könnte. Neben anderen Beschuldigungen und falschen Zeugnissen, die man, obwohl sie, als erlogen, in sich selbst zusammenfielen, wider mich vorbrachte, behauptete man auch, dass ich Geld präge, für welche Verleumdung sie leicht (falsche) Beweise erbringen konnten. Einst versammelte sich, nach Verabredung, viel Volk mit Münzen in den Händen, die sie, um die armen Juden anzuklagen, zu diesem Zwecke insgeheim in ihren Häusern geprägt hatten. Sie behaupteten nämlich, sie von den Juden bekommen zu haben. Viele liefen da noch herbei, in die Anklage einzustimmen, damit das Zeugnis aufrechterhalten bleibe.
Nachdem die Gerichte die Klage angenommen hatten — es hatte nicht viel Mühe gekostet, sie gegen mich einzunehmen — wurde nun mit Zustimmung des Königs erkannt, dass alle meine Söhne aus dem Königreiche verbannt werden und ihrer Habe verlustig gehen sollten. Diese Vermögensentziehung wurde statt der Todesstrafe ausgesprochen, die nach den Landesgesetzen auf dieses Verbrechen gesetzt war. Als nun die Mönche sahen, dass die armen Juden bedrückt wurden und nur geringe Mühe erforderlich war, um sie ganz aus dem Lande zu schaffen, kamen sie auch bald mit ihrer anderen Klage hervor, dass die Juden in einem christlichen Lande einen Mönch zu ihrer Religion bekehrt hätten und dass sie sich, zur Wiedervergeltung, alle zum Christentum bekehren oder den Tod erleiden müssten.
Nun gingen damals schon die Absichten des Königs, des Adels und des ganzen Volkes dahin, mich zu vernichten, und jeder kleine Anlass war geeignet, Pulver und Schwefel in das scheinbar schlummernde Feuer zu schütten. Also wurde der Klage der mir feindlichen Mönche, ganz wie sie es gefordert hatten, stattgegeben. Sie entrissen die kleinen israelitischen Kinder ihren Eltern und schickten sie nach Norden ans andere Ende der Insel. Dort erteilte man ihnen Unterricht in der christlichen Glaubenslehre, damit sie, von ihren Eltern getrennt, ihres alten Gesetzes nicht mehr gedenken und vollständig die Liebe zu der jüdischen Religion, die sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, verlieren sollten. Von den Eltern erlagen viele der Qual, welche ihnen die Trennung von ihren Kindern bereitete. In Ausführung des ersten Urteils wurden die Überlebenden mit solcher Härte aus dem Königreiche verbannt, dass es Steine hätte zum Mitleid bewegen können, zumal sie sehen mussten, wie Fleisch von ihrem Fleische, ihre Kinder, zurückblieben. So ließ man sie, gegen menschliches und göttliches Recht, zweifachen Tod oder zweifache Strafe für ihre (vermeintlichen) Verbrechen erleide, während doch, nach allen Gesetzen, niemand mehr als einmal bestraft werden soll. Von den Zurückbleibenden wurde das ganze Königreich übersäet. Hiervon findet man noch jetzt viele Spuren, wie die in Kirchen umgewandelten Synagogen, sowie viele Leute, die jüdische Namen tragen ...
Aus: Samuel Usque, 1553 in Ferrara, Dichter und Geschichtsschreiber, „Consolavam as tribulacoes de Ysrael” Trost für die Trübsal Israels. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 104-105.
Im Jahre 5066, d. i. im Jahre 1306, befahl Philipp IV., König von Frankreich, der Sohn Philipps III., Enkel Ludwigs IX., Urenkel Ludwigs VIII. und Ururenkel von Philipp August, in allen Städten seines Reiches auszurufen, dass jeder Jude aus seinem Lande ziehen solle, ohne das geringste von seiner Habe mitnehmen zu dürfen, er müsste sich denn zu einem andern Glauben bekennen und mit uns ein Volk werden.
Als dies die Juden hörten, erschraken sie sehr; aber sie achteten ihren Besitz und ihr Vermögen nicht und zogen, nichts als ihr Leben rettend, im Monate Ab aus Frankreich. Es blieben in Frankreich nur sehr wenige zurück, deren Herz nicht von ihrem Gotte durchdrungen war, wie es diejenigen getan hatten, welche in Toulouse wohnten. Von hier war nur eine geringe Anzahl weggezogen, die sich Gott vor Augen genommen hatte und dem Herrn treu gefolgt war. So blieben unter den Christen zahlreiche von jüdischer Abkunft, und daher gibt es jetzt unter ihnen viele, welche sich zu andern Glaubenssätzen bekennen. Nach Verlauf von noch nicht neun Jahren begab sich Philipp auf die Jagd, eilte auf dem Felsen einem Hirsche nach und stürzte samt seinem Rosse von der Spitze des Hügels aus ins Meer, so dass er umkam.
Hierauf regierte an seiner Stelle sein Sohn Ludwig (X.). Dieser lud die Juden ein, wieder zu ihm zurückzukehren, worauf sie sieben Jahre dort verweilten. Alsdann verjagte er sie wiederum, weil er dem Willen seines Volkes, welches schlecht und nichtswürdig war, nachgeben musste. Indes durften sie damals wenigstens mit ihrem Besitze und ihrem Vermögen abziehen. Nach Ludwigs Tode kam sein Sohn Johann zur Regierung; da dieser aber noch ein Kind war und schon nach zwanzig Tagen starb, regierte Karl (IV.) an seiner Stelle. Man ließ die Juden wiederum nach Frankreich kommen, und sie wohnten da-selbst unangefochten, solange sie lebten. Nach ihrem Tode aber, als Karl von Valois zur Regierung gekommen, erhoben sich viele gegen die Juden, erschlugen eine große Anzahl von ihnen mit dem Schwerte, eigneten sich ihre Habe an und verjagten die übrigen, gegen den Willen des Königs, aus ihrem Lande, worauf die Juden bis auf den heutigen Tag nicht mehr nach Frankreich zurückkehrten.
Aus „Emek habacha” von Joseph Hakohen, vgl. Teil IV. C. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 109-110
Granada, 31. März 1492.
Don Ferdinand und Dona Isabel, durch die Gnade Gottes König und Königin von Kastilien, Leon, Aragonien usw.: An den Fürsten D. Juan, unseren sehr teuren und sehr geliebten Sohn, und an die Infanten, Prälaten, Herzöge, Marquise usw., an die Judenviertel und an alle Juden und Einzelpersonen, an die männlichen wie an die weiblichen jeden Alters und an alle anderen Personen jeglichen Standes, Gesetzes oder jeglicher Würde, allen, die dieser Erlass auf irgendeine Weise betrifft, Gruß und Gnade: Wisset, und ihr sollt es wissen, dass es nach den von uns eingezogenen Erkundigungen in unseren Königreichen einige schlechte Christen gibt, die mit unserem heiligen katholischen Glauben judaisierten. Schuld daran trug der vertrauliche Verkehr der Juden mit den Christen. Auf der Ständeversammlung, die wir in der Stadt Toledo im verflossenen Jahr 1480 abhielten, verordneten wir, dass die Juden in allen Städten, Dörfern und Ortschaften unserer Königreiche abgesondert wohnen sollten, und gaben ihnen Judenviertel und getrennte Orte, in denen sie ihrer Sünde leben und in ihrer Absonderung Reue fühlen sollten. Und wir haben daher den Befehl zur Inquisition in unseren Reichen gegeben, die, wie ihr wisst, seit mehr als in Jahren tätig ist. Durch sie sind viele Schuldige, wie bekannt ist, ausfindig gemacht worden. Wie wir durch die Inquisitoren und viele andere Fromme, geistliche und weltliche, in Erfahrung gebracht haben, scheint der Schaden, der aus dem Verkehr und dem Umgang mit den Juden für die Christen entstanden ist, sehr groß zu sein. Sie sind stolz darauf und legen es darauf an, durch viele Mittel und Wege unseren heiligen katholischen Glauben bei den Gläubigen zu zerstören, sie von ihm zu trennen und sie zu ihrem verfluchten Glauben und Denken hin-überzuziehen. Sie unterweisen die Christen in der Kunde und den Zeremonien ihres Gesetzes; sie halten Versammlungen ab, in denen sie ihnen das vorlesen und zeigen, was sie nach ihrem Gesetz zu halten und zu beobachten haben; sie beabsichtigen, sie und ihre Kinder zu beschneiden; sie geben ihnen Bücher, aus denen sie ihre Gebete verrichten; sie erklären ihnen die Fasttage und vereinigen sich mit ihnen, um die Geschichte ihres Gesetzes zu lesen und zu schreiben; sie setzen sie von ihrer Passahzeit vorher in Kenntnis und unterweisen sie in dem, was in ihr zu beobachten ist; sie geben ihnen von ihrem ungesäuerten Brot und ihrem Opferfleisch nebst den zugehörigen Zeremonien; sie unterrichten sie über die Dinge, deren sie sich zu enthalten haben, ebenso in den Speisen wie in anderen Dingen, die in ihrem Gesetz verboten sind; sie überreden sie, dass sie möglichst das Gesetz Moses halten und beobachten; sie suchen sie zu überzeugen, dass es kein anderes Gesetz, noch eine andere Wahrheit gebe als jene. Das alles kostet viele Verhöre und Bekehrungen, ebenso bei den Juden, wie bei denen, die von ihnen betrogen oder verdorben worden sind. Dies alles ist zum großen Schaden und Nachteil für unseren heiligen katholischen Glauben gewesen.
Und da wir von vielen Seiten von diesen Zuständen schon früher in Kenntnis gesetzt worden sind und wissen, dass die wirkliche Abhilfe aller dieser Schäden und Nachteile darin besteht, den Verkehr genannter Juden mit den Christen überhaupt zu unterbinden und sie aus unseren Königreichen und Lehnsgütern zu vertreiben, haben wir uns darauf beschränkt, sie aus allen Städten, Dörfern und Ortschaften Andalusiens zu verbannen, wo, wie es scheint, sie den größten Schaden gestiftet haben. Wir waren der Überzeugung, dass dies genüge, damit die Juden der anderen Städte, Dörfer und Ortschaften aufhörten, die obenerwähnten Frevel zu begehen. Wir haben nun in Erfahrung gebracht, dass weder dies, noch die Prozesse, die gegen einige der besagten Juden geführt worden sind, als wirksame Mittel genügten. Um diese große Schmach und Beleidigung der katholischen Religion zu beseitigen und dem abzuhelfen — denn jeden Tag ereignet es sich, dass die genannten Juden ihre Schlechtigkeit und ihre schimpflichen Absichten da fortsetzen, wo sie leben und verkehren —, und damit es ihnen nicht mehr gelingt, unseren heiligen katholischen Glauben zu beleidigen, wie auch diejenigen, die Gott bisher zu. behüten gewillt war, und diejenigen, die abfielen, sich besserten und in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrten, was in Anbetracht unserer menschlichen Schwäche und der Verschlagenheit und teuflischen Eingebung, die uns beständig antreibt, noch zunehmen könnte, muss das Übel mit der Wurzel beseitigt werden, d. h. die Juden müssen aus unseren Reichen vertrieben werden.
Denn wenn irgendein schweres und abscheuliches Verbrechen von irgendeinem Kollegium oder einer Universität begangen worden ist, so ist es recht und billig, dass besagtes Kollegium oder jene Universität aufgelöst oder vernichtet wird und dass die Großen für die Kleinen und die einen für die andern bestraft werden, und dass diejenigen, die das gute und ehrbare Leben der Städte und Dörfer verderben und die anderen durch Ansteckung schädigen, aus unseren Siedlungen vertrieben werden, auch wegen leichterer Gründe, die zum Schaden des Gemeinwesens sind, um so mehr für das größte, gefährlichste und ansteckendste aller Verbrechen, wie es dieses ist.
So beschließen wir nach dem Rate und der Meinung einiger Prälaten, Granden und Ritter unserer Königreiche und anderer Personen von Wissenschaft in unserem Rate, nachdem wir darüber große Beratungen gepflogen haben, alle Juden aus unseren Reichen zu verbannen, damit sie niemals zurückkehren. In bezug darauf veröffentlichen wir dieses Edikt, durch welches wir allen Juden und Jüdinnen jeden Alters, die in genannten Königreichen und Lehnsherrschaften leben und verweilen, ebenso den von dort gebürtigen wie den nicht von dort gebürtigen, welche auf irgendeine Weise oder unter einem Vorwand dorthin gekommen sind und in ihnen verweilen, gebieten, dass sie bis Ende des Monats Juli mit ihren Söhnen und Töchtern, Dienern und Dienerinnen, großen und kleinen, eines jeden Alters das Land verlassen müssen ... Wenn sie dies nicht tun und befolgen und in genannten Königreichen und Lehnsherrschaften angetroffen werden oder auf irgendeine Weise in sie zurückkehren, werden sie mit dem Tode und der Konfiskation ihrer Güter bestraft zugunsten unseres königlichen Schatzes und des Fiskus . . .
Und wir befehlen und verbieten, dass irgendwelche Personen unserer erwähnten Königreiche von irgendwelchem Stande, jeglicher Stellung und Würde, sich erkühnen, nach Ablauf des Termins, für alle Zeiten, weder öffentlich noch heimlich, einen Juden oder eine Jüdin aufzunehmen, zu empfangen oder zu beherbergen auf ihren Ländereien, noch in ihren Häusern, noch in irgendeinem anderen Teil genannter Reiche und Lehnsherrschaften, bei Strafe, alle Güter, Vasallen, Festungen und andere Erbschaften zu verlieren . . . Auf gleiche Weise geben wir genannten Juden und Jüdinnen die Erlaubnis und Befugnis, aus allen unseren Königreichen und Herrschaften ihre Güter und ihre Habe zu Wasser und zu Lande fortzuschaffen, insofern es nicht Gold oder Silber oder gemünztes Geld ist, noch die anderen durch die Gesetze unserer Königreiche verbotenen Dinge, ausgenommen Waren, die nicht verboten oder verheimlicht werden . . . Damit dies zur Kenntnis aller gelange und niemand Unkenntnis vorschützen kann, befehlen wir, dass dieser Erlass öffentlich auf den Plätzen, Märkten und anderen bekannten Plätzen genannter Städte, Dörfer und Ortschaften durch den Ausrufer in Gegenwart des Stadtschreibers bekannt-gegeben wird.
Gegeben in der Stadt Granada, 31. März, Jahr der Geburt unseres Heilands Jesu Christi 1492. Ich, der König. Ich, die Königin. Ich, Juan de Coloma, Sekretär des Königs und der Königin, ließ es auf ihren Befehl schreiben.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. II. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 117-121
Und im Jahre 5252 (1492) suchte der Herr den Rest seines Volkes zum zweiten Male heim und strafte sie in den Tagen des Königs Ferdinand mit Verbannung. Nachdem der König den Ismaeliten Granada abgenommen und die Stadt sich ihm am B. Januar des obenerwähnten Jahres ergeben hatte, ordnete er die Vertreibung aller Juden aus allen Teilen seines Reiches an, also aus Kastilien, Katalonien, Aragon, Galicia, Majorka, Minorka, den baskischen Provinzen, den Inseln Sardinien, Sizilien und dem Königreich Valencia. Schon vorher hatte sie die Königin aus Andalusien ausgewiesen. Der König gab ihnen drei Monate Zeit zur Räumung. Die Frist wurde in jeder Stadt öffentlich am 1. Mai, dem 19. Omertage, bekanntgegeben und endete einen Tag vor dem 9. Ab. Die Zahl der Ausgewiesenen wurde nicht festgestellt, aber nach vielen Nachforschungen fand ich, dass die Schätzung auf 50 000 oder nach anderen auf 53 000 Familien fast allgemein angenommen wurde. Sie besaßen Häuser, Äcker, Weinberge und Vieh und waren in der Mehrzahl Handwerker.
Damals gab es in Spanien viele Akademien. An der Spitze der größten von ihnen waren R. Isaak Aboab in Guadalaxara, R. Isaak Bezodo in Leon und R. Jakob Habib in Salamanca. In der letztgenannten Stadt lebte ein großer Mathematiker; immer, wenn sich in der christlichen Akademie der Stadt ein Zweifel über mathematische Fragen erhob, unterbreitete man sie ihm. Er hieß Abraham Zacuto. An der Spitze der anderen Akademien standen R. Isaak Alfrandji in Valladolid, R. Jacob Canisal in Avila di Campos, R. Isaak Giakon in Toledo — und zwar nach dem Tode des in ganz Spanien betrauerten R. Isaak von Leon und seines Gegners R. Isaak Ziyyat, der sich in religionsgesetzlichen Fragen nicht mit ihm hatte einigen können —, R. Samuel Franco in Fromista, R. Isaak Uziel in Alkendi, R. Simon Sarsa in Segovia und 11, Samuel Zarfati in . . . (einem nicht mehr festzustellenden Ort).
Im Laufe der ihnen zugestandenen Frist von drei Monaten suchten die Juden einen Vergleich zustande zu bringen, laut dem sie im Lande bleiben dürften, und sie hofften fest, einen solchen zu erreichen. Ihre Vertreter waren Rabbi Don Abraham Senior, der Vorsteher der spanischen Gemeinden, der ein Gefolge von 30 Maultierreitern hatte, R. Meir, der Sekretär des Königs, und Don Isaak Abarbanel, der vom König von Portugal weg und nach Kastilien geflohen war und dann am spanischen Königshofe eine gleich hervorragende Stellung einnahm, der-elbe, der später vertrieben wurde und nach Neapel ging, wo ihn wiederum der König hochschätzte. Der erwähnte große Rabbi, R. Isaak von Leon, pflegte den Don Abraham Senior, einen „Sone Or”, d. i. Hasser des Lichts zu nennen, weil er ein Ketzer war. Das Ende des Don Abraham bewies auch, dass R. Isaak damit recht hatte: mit 80 Jahren ließ sich Don Abraham mit seiner ganzen Familie taufen und R. Meir mit ihm. Don Abraham hatte die Verhandlungen zwischen dem König und der Königin bei ihrer Heirat geführt; Thronerbin war die Königin, der König stammte aus dem spanischen Adel. Auf Grund dieses Verdienstes war Don Abraham Vorsteher der Juden geworden, ohne ihre Zustimmung. Das Abkommen, nach dem sie gegen Zahlung einer großen Summe Geldes im Lande sollten bleiben dürfen, war dem Abschluss nahe, als es durch das Dazwischentreten eines hohen Beamten, der an die Geschichte vom Kreuz erinnerte, vereitelt wurde. Daraufhin gab die Königin den jüdischen Vertretern eine Antwort ähnlich wie König Salomo: „Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn, gleich Wasserläufen. Er wendet sie, wohin er will. Glaubt ihr,” fuhr sie fort, „dass dies euer Unglück von uns kommt? Der Herr hat es dem Herzen des Königs eingegeben.”
Da sahen sie, dass ihr Unglück beim König eine beschlossene Sache war, und sie gaben die Hoffnung auf, bleiben zu können. Aber die Frist war inzwischen fast abgelaufen, und sie mussten ihren Auszug aus Spanien beeilen. Sie verkauften ihre Häuser, Ländereien und ihr Vieh zu sehr niedrigem Preise, nur um noch wegzukommen. Der König ließ sie kein Silber und Gold aus dem Lande mit fortnehmen. Daher mussten sie es gegen Waren, Kleider, Felle und anderes umtauschen.
Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. II. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 126-127
... Der Hauptteil (der Vertriebenen) von Kastilien ging nach Portugal, da sie das Meer nicht erreichen konnten. Um sich zu sichern, gaben sie den Zehnten von all ihrem Vermögen, dazu 11/3 Dukaten auf jeden Kopf für die Erlaubnis, durch die Landschaft zu ziehen. Dazu gaben sie 1/4 alles Geldes, das sie in das Land brachten, einige sogar fast 1/3, und selbst wer kein Geld hatte, gab ein Lösegeld von acht Dukaten, denn sonst wäre er zum Gefangenen gemacht worden ... Mehr als 120 000 Seelen zogen in das Land, und nur wenige von ihnen überlebten die Pest. Von diesen wurde ein Teil gefangengenommen; denn man entriss ihnen die Kinder und brachte sie nach Inseln im Meere. Andere traten zum Christentum über wegen der übergroßen Not. So fiel die Krone (Israels) zu Boden. Der zweite König, der zur Regierung kam, war ein Bedränger der Juden. Am 24. Dezember (1496), am Samstag, den 29. Kislew, am Chanukka, verhängte er in Presmona bei Santarem die Vertreibung aus Portugal innerhalb elf Monaten, um während dieser Zeit an jedem Tage Neues zu ersinnen. Es war in jenem Jahre eine schlimmere Verfolgung als je vorher. Am Freitag vor dem großen Sabbate (dem Sabbat vor dem Pesach 1497) wurde befohlen, die Knaben und Mädchen in Evora und ganz Portugal zu taufen. Da war ein bis dahin noch nie gehörtes, gewaltiges Anflehen des Königs in Elvora. Am Pesach nahmen sie alle männlichen und weiblichen Kinder fort, und der Befehl wurde (so-gar) überschritten; denn sie tauften selbst Greise gegen deren Willen. Viele starben, um den göttlichen Namen zu heiligen, indem sie sich selbst töteten.
In demselben Jahre war auch eine Vertreibung aus dem ganzen Königreich Navarra, so dass in ganz Spanien kein Jude übrigblieb mit Ausnahme von fünfzig Personen, die nach Sevilla geflohen waren und dort zwei Jahre gefangen gehalten wurden bis zum Monat Ab 259 (1499). Dann führte man sie hinaus, verkaufte sie, und sie kamen nach Algier in Afrika zwischen Oran und Bugia, das zum Reiche Bugia gehört und am Meeresufer liegt. Dort ist bis jetzt R. Simeon Duran und seine Familie, und dort löste man sie um 700 Dukaten aus; obschon die Gemeinde an Zahl klein war, leistete sie doch Großes. Gott, der Gepriesene und Erhabene, gebe ihnen in diesem, wie im ewigen Leben guten Lohn! Ebenso half dazu die heilige Gemeinde Bugia; Gott schütze sie. So blieb in ganz Spanien kein Jude zurück. Gott sammle unsere Vertriebenen und erbaue sein Heiligtum bald in unseren Tagen! Amen! So sei sein Wille!
Abraham ben Samuel Zacuto, spanischer Astronom, Mathematiker und Geschichtsschreiber, geb. 1450 in Salamanca, vertrieben 1492, gest. nach 1510 in der Türkei. Aus „Sefer Juchasin” [„Geschlechtsregister"], 1504, Abschn. V.) Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 128-129
Auch diejenigen, welche nach Fez ausgewandert waren, wurden von den Strafgerichten des Hochgelobten betroffen, besonders von der schweren Hungersnot. Es erlaubten ihnen die Einwohner nicht den Zutritt in die Städte, aus Furcht vor einer Teuerung der Lebensmittel; sie waren genötigt, auf dem freien Felde Hütten aufzuschlagen, froh genug, wenn sie zu ihrer Sättigung nur Gras fanden. Wegen der übergroßen Dürre war nämlich nichts Grünes zu sehen, und nur die Wurzeln der Kräuter waren vorhanden. Es starben ihrer eine große Menge auf dem freien Felde; niemand begrub sie, so sehr hatte der Hunger die überlebenden ermattet.
Als die Juden bei der schweren Hungersnot sich auf einem Felde in der Nähe von Fez aufhielten, begab es sich, dass mancher von ihnen nach der Stadt ging und um ein Stück Brot seinen Sohn als Sklave verkaufte. Aber der damals regierende König war ein frommer Mann, und nachdem die Hungersnot vorüber war, ließ er öffentlich ausrufen, dass jeder, der einen Judenknaben um Brot gekauft habe, ihn ohne Ersatz seinen Eltern zurückgeben solle.
An einem Orte unweit Fez befand sich ein von Heiden bemanntes großes Schiff. Mehrere israelitische Knaben pflegten in der Nähe jenes Ortes, der Saleh hieß und dicht am Meere lag, sich Nahrung zu suchen, wo immer sie etwas fanden. Der Herr des Schiffes rief sie ans Ufer und gab jedem von ihnen ein Stück Brot. Als sie das Brot sahen, freuten sie sich über die Maßen und teilten die Nachricht anderen Knaben mit. Am Tage darauf kamen etwa hundertundfünfzig Knaben dorthin ans Ufer. Der Schiffsherr forderte sie auf, in das Schiff zu kommen, dann wolle er ihnen Brot zur Genüge geben. Aber als sie darin waren, lichtete er die Segel und führte sie alle fort. Als dies in dem Lager der Juden bekannt wurde, und besonders als es die Frauen vernahmen, eilten sie mit großem Geschrei ans Ufer, aber da war niemand, der ihnen helfen konnte. Da erhoben die Mütter der Kinder ein Klagen und Weinen, desgleichen niemals gehört worden. Jener Räuber sonderte die blühendsten und schönsten Knaben aus und machte den Vornehmen des Landes ein Geschenk mit ihnen; den Rest verkaufte er nach einem fremden Lande.
Aus „Schebet Jehuda” [Zuchtrute Judas], 155o. S 53—55 von R. Salomo ibn Verga [Geschichtsschreiber, Marrane, aus Sevilla, lebte im 15. und 16. Jahrhundert, setzte in Adrianopel das Werk fort, das sein Vater Juda begonnen und sein Sohn Joseph ergänzt und veröffentlicht hat]. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. II. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 129-130


1509 erhielt der Konvertit Johannes Pfefferkorn ein Mandat von Kaiser Maximilian I., das ihn berechtigte,
bucher vnd schri/fften [der Juden] überal zu uistieren [=visitieren] zu erfaren vnd besehen vnd was darunder befun//den die wider die buecher vnd gesatz moisi auch der propheten weren vnd wie obstet vngegrunt / unser hailigen cristen glauben zu schmach vnd übel richten / die selben alle / doch an iedem ort mit wissen ains raths vnd in gegenwurtigkait des pastors / auch zwaier vom rathe oder der ob//erkait von üch zunemen die aweg zethon vnd zu vnder/(d)rrucken.
Pfefferkorn, der laut eigenen Angaben zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern 1504 vom Judentum konvertiert hatte, war seit 1507 schriftstellerisch im Dienste der christlichen Apologetik tätig. Er verfasste mehrere Traktate gegen seine früheren Glaubensgenossen, in denen er gegen sie polemisierte und von der christlichen Obrigkeit Maßnahmen gegen sie forderte. Seine Hauptforderungen waren das Verbot der Zinsnahme, was er nicht durchsetzen konnte, und die Beschlagnahme und Verbrennung der jüdischen Bücher, allen voran des Talmuds.
Nach Erhalt des Mandats machte sich Pfefferkorn eifrig an die Arbeit. In Frankfurt, wo er zunächst versuchte, sein Vorhaben durchzuführen, stieß er auf Widerstand von Seiten der Judenschaft in der Stadt. Diese wandte sich an den Erzbischof von Mainz Uriel von Gemmingen, der ein Schreiben an den Kaiser schickte, in dem er die Kompetenz und das Urteilsvermögen Pfefferkorns bezweifelte und die Einstellung der Beschlagnahme der Bücher forderte. Der Kaiser wiederum beauftragte den Erzbischof, Gutachten von den Universitäten Mainz, Köln, Heidelberg und Erfurt, sowie von dem konvertierten Priester Viktor von Carben, vom Inquisitor Jakob Hochstraten und dem Juristen Johannes Reuchlin zu holen. Die Gutachten sollten beantworten,
ob solliche bücher so sie über die bücher der zehe gebot Moysi / der propheten vnnd psalter des altten testamennts gebrauchen abzethon / göttlich vnnt loblich /unnd unserm hailigen glauben nützlichen sei / vnd zu merung vnd gütt kommen mög.
Von allen verfassten Gutachtern vertrat nur Reuchlin, ein hochangesehener Humanist, Jurist und Hebraist die Meinung, dass den Juden ihre Bücher nicht weggenommen werden sollten beziehungsweise dürften. Alle anderen Gutachten sprachen sich für die Beschlagnahme der Bücher aus. Mittlerweile wurden die bereits konfiszierten Bücher unter Anordnung des Kaisers den Juden zurückgegeben und der ganze Prozess geriet ins Stocken. Pfefferkorn, der von dem Inhalt des Gutachtens Reuchlins erfuhr, verfasste eine Schmähschrift ‚HAndt Spiegel‘, in der er nicht nur erneut gegen die Juden polemisierte, sondern auch Reuchlin angriff und ihm schwere Vorwürfe machte. Er beschuldigte ihn die Juden zu sehr begünstig zu haben, wobei dies für ihn eine Folge der Verführungskraft der Juden war.
Mit diesen Beschuldigungen eröffnete Pfefferkorn die in der Geschichtsschreibung als Bücherstreit bekannte Kontroverse. Reuchlin antwortete auf dieses Werk mit einer eigenen Schrift, dem ‚Augenspiegel‘, in der er die bisherigen Ereignisse schilderte, sein Gutachten druckte, und 34 Unwahrheiten, die im ‚HAndt Spiegel‘ standen, widerlegte. Dieser Schritt sollte sich als gefährlich für Reuchlin erweisen, weil Pfefferkorn ein Exemplar des ‚Augenspiegels‘ an die Dominikaner in Köln schicken ließ, bei denen er seit einiger Zeit Unterstützung fand. Die theologische Fakultät in Köln, mehrheitlich aus Dominikanern bestehend, beauftragte Arnold von Tongern, den ‚Augenspiegel‘ auf den Verdacht der Ketzerei hin zu überprüfen, weil in der Schrift die Juden zu sehr begünstigt würden und Reuchlin die Lehre der Kirche verletzt haben soll.
Als Reuchlin vom Geschehen in Köln erfuhr, nahm er Kontakt mit Tongern und seinem Freund, dem Humanisten Kollin auf und versuchte, diese von seiner Treue zur Lehre der Kirche zu überzeugen. Trotz aller Bemühungen, den Streit um den ‚Augenspiegel‘ beizulegen, drohten die Kölner Reuchlin mit einem Prozess, da er seine Aussagen nicht widerrufen wollte.
Was darauf folgte, kann man nur als Schriftenkampf bezeichnen, der zum einen zwischen Reuchlin und Pfefferkorn, der weitere sechs Schriften gegen die Juden und Reuchlin veröffentlichte, andauerte, zum anderen nun auch zwischen Reuchlin und der theologischen Fakultät in Köln eröffnet wurde. Im Zuge dieser Auseinandersetzung schaltete sich der Inquisitor Jacob Hochstraten ein und leitete ein Gerichtsverfahren gegen Reuchlin ein.
Ab diesem Punkt nahm der Streit eine neue Dimension an. Der Gerichtsprozess fand kein Ende, weil die Akteure sich immer wieder an höheren Instanzen wandten und Unterstützung bei immer mehr Leuten suchten und fanden, die Einfluss auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen nahmen. Diese wurden von Mainz, wo der Inquisitionsprozess zuerst stattfand, nach Speyer und schließlich sogar nach Rom verlagert. Dort zögerte aber der Papst lange mit der endgültigen Urteilsverkündung, vielleicht mit der Hoffnung, die Brisanz der Sache würde mit der Zeit nachlassen und ein Ausgleich könnte dann erreicht werden.
Allerdings sollte es noch einige Jahre dauern, bis der Papst sein Urteil fällte. Während der Verhandlungen meldeten sich immer mehr Gelehrte, Fürsten, Bischöfe und andere Geistliche zu Wort und es bildeten sich zwei Lager heraus. Auf der einen Seite standen die Unterstützer Reuchlins, die mehrheitlich Humanisten waren, und auf der Seite der Gegner waren vor allem die scholastischen Theologen. Auch die Vertreter beider Lager starteten nun eine öffentliche Schriftenschlacht, die ihren Höhepunkt in der Publikation der Satire der „Dunkelmännerbriefe“ erreichte.
Was als eine Initiative eines unbekannten und ungebildeten, getauften Juden begann, wurde zu einer großen Affäre, welche die Gemüter der Gelehrtenwelt des frühen 16. Jahrhunderts sehr erregte. Der Streit darüber, ob man gut daran täte, die jüdischen Bücher zu beschlagnahmen und zu vernichten, verwandelte sich durch die Antwort Reuchlins in eine prinzipielle Frage nach dem Status und nach den Rechten der Juden im weltlichen sowie im kirchlichen Bereich. Dieser Streitpunkt entfachte eine innerchristliche Auseinandersetzung über die Lehre der Kirche und darüber, welche Positionen bezüglich der Juden und deren Bücher noch annehmbar wären. Es entzündete sich also ein Streit über (modern ausgedrückt) Redefreiheit und Zensur. Die Herausbildung der zwei Lager ließ den Streit in den Augen der Zeitgenossen als eine Auseinandersetzung zwischen Humanisten, die die via moderna repräsentierten, und den scholastischen Theologen, welche die via antiqua vertraten, erscheinen.
Die Affäre endete erst zehn Jahre nachdem sie begonnen hatte. Der Gerichtsprozess wurde zuungunsten von Reuchlin entschieden und sein „Augenspiegel“ wurde verboten. Aber in der Sache ging es gar nicht mehr um die jüdischen Bücher oder um die Positionen Reuchlins, welche die Juden begünstigten. Vielmehr waren es die Unruhen im Reich, welche die Reformation mit sich brachte, und als man die ‚Causa Reuchlini’ mit der ‚Causa Lutheri’ in Zusammenhang brachte, sah der Papst keine andere Wahl, als Reuchlin zu verurteilen.
Zur Ausstellung:
Im Folgenden soll der Streit anhand folgender Dokumente dargestellt werden: Zuerst sollen Auszüge aus Pfefferkorns Schrift „Judenfeind “ vorgestellt werden. Diese Schrift gab in zugespitzter Form das wieder, was er in anderen Schriften über die Juden schrieb. Insgesamt enthielten die Schriften Pfefferkorns ein bestimmtes Judenbild, wonach die Juden auf der einen Seite Gefangene der eigenen Tradition und ihrer Rabbiner seien. Auf der anderen Seite seien sie schädlich für die Christen und das Christentum. Pfefferkorn spielte in seiner schriftstellerischen Tätigkeit die Rolle eines Kenners (eines Insiders) des jüdischen Glaubens, der die Schädlichkeit und Erbärmlichkeit der Juden enthüllen will. Dies verlieh seinen Schriften eine relativ große Glaubwürdigkeit.
Als nächstes folgt das Mandat zur Konfiskation der jüdischen Bücher , das Pfefferkorn von Kaiser Maximilian I. erhielt und in seiner Schrift „Zu Lob und Ehre“ 1510 drucken ließ. Das darauffolgende Dokument ist der Brief des Erzbischofs Uriel von Gemmingen an Kaiser Maximilian I., in dem er Zweifel an die Eignung Pfefferkorns zur rechtmäßigen Erfüllung der Aufgabe äußert. Als Antwort darauf erteilte der Kaiser dem Erzbischof die Aufgabe, Gutachten über die Bücher der Juden von mehreren theologischen Fakultäten sowie von verschiedenen Gelehrten aus unterschiedlichen Bereichen zu holen. Dieser Brief Maximilians wurde vollständig in Reuchlins „Augenspiegel“ veröffentlicht. Aus diesem Dokument sollen auch Auszüge aus dem von Reuchlin verfassten 'Ratschlag ' wiedergegeben werden. Diese bieten eine umfangreiche Grundlage für Diskussionen über eine untypische Meinung über die Juden und ihre Rechte im beginnenden 16. Jahrhundert.
Schließlich soll gezeigt werden, dass die Juden nicht ganz untätig blieben, als es darum ging, sich gegen androhende Verfolgungen zu wehren und für die eigenen Rechte zu kämpfen. In diesem Zusammenhang werden folgende drei Dokumente präsentiert: Zuerst wird ein Bericht aus Frankfurt vorgelegt, der die Ereignisse seit dem Eintreffen Pfefferkorns in die Stadt und bis zur Einmischung des Mainzer Erzbischofs aus der Sicht der Juden darstellt. Danach folgt ein Brief Jonathan Zions , des Gesandten der Frankfurter Juden am Hof des Kaisers. Dieser schildert seine Bemühungen am Kaiserhof, den Plan der Konfiskation der Bücher zu vereiteln und berichtet von seinem anfänglichen Erfolg bis zum Eintreffen Pfefferkorns dort. Darüber hinaus liefert er eine Abschrift des Mandats von Rovereto, in dem nach Gutachten von Gelehrten und Universitäten über die jüdischen Bücher verlangt wird (siehe oben). Schließlich soll der gescheiterte Versuch der Frankfurter Juden, andere jüdische Gemeinden zu mobilisieren, anhand eines letzten Dokuments gezeigt werden.
Bearbeitung: Avraham Siluk
Weiterführende Literatur:
Herzig, Arno / Schoeps, Julius H., Reuchlin und die Juden, (Pforzheimer Reuchlinschriften; Bd. 3), Sigmaringen 1993
Martin, Ellen, Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn. Zum Problem des Judenhasses und der Intoleranz in der Zeit der Vorreformation. Göppingen 1994
Overfield, James H., A New Look at the Reuchlin Affair, in: Howard L Adelson (Hrsg.), Studies in Medieval and Renaissance History, 8, Nebraska 1971, S. 167-207. (Overfield, A New Look)
Peterse, Hans, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im 16. Jahrhundert, Mainz 1995. (Peterse, Hoogstraeten gegen Reuchlin)
Rummel, Erika, The Case Against Johann Reuchlin. Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany, Toronto 2002
Trusen, Winfrid, Die Prozesse gegen Reuchlins „Augenspiegel“. Zum Streit um die Judenbücher, in: Stefan Rhein (Hrsg.), Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, (=Pforzheimer Reuchlinschriften; 5), Sigmaringen 1998.
Folgende Auszüge aus der Schrift „Judenfeind“ sollen einen Einblick darauf verschaffen, mit welchen Mitteln Pfefferkorn die Juden in den Augen der christlichen Zeitgenossen diskreditieren wollte. Das Büchlein versteht sich als ein „Enthüllungswerk“, denn die angeblichen bösen Gedanken und Praktiken der Juden gegenüber ihrer christlichen Nachbarn, deren Religion und Ordnung [das heißt gegen das Reich] sollen aufgedeckt werden. Entlarvt werden die Juden also als Feinde des Reichs und der Christen überall. Pfefferkorns Strategie ist es, die Bosheit der Juden aufzudecken und all das in einen (verschwörungstheorieartigen) Zusammenhang zu stellen. Er deckt die Schädlichkeit und Böswilligkeit der Juden im privat-verborgenen (z.B. in ihren Gebeten) wie im öffentlich-verschleierten Bereich (durch ihre Tätigkeit als „Wucherer“) ‚enthüllen‘. Jeder Umgang mit den Juden, so Pfefferkorn, verderbe die Christen, deswegen sollte jeden möglichen Kontakt mit ihnen vermieden werden.
Judenfeind
[S.2] Ich bin ain Buchlinn der Juden veindt ist mein namen
Ir schalckhait sag ich vnnd will mich des nit schamenn
Die lang zeyt verborgen gewest ist als ich thůn bedeütenn
Das will ich yetz offenbarn allen Cristen leüten
Dann ich bin mit yren hebraischen schrifften wol vwart
Vnd dem verkerten geschlecht die warhait nit gespart
Jesus Nazaren rex iudeos
[S.3] Got vnd seiner gebenedeiten můter zů lob Auch zů furdrung des gemainen nutzes, auch zů bewarung meiner selbst Ere hab ich Johannes pfefferkorn Etwenn [ehemals] ain Jud aber nun ain crist des büchlin gemacht vnnd getetailt [geteilt] ynn drey tayl
In dem ersten wil ich sagen Etlich vnere, schmach vnnd schande so die Juden teglich got Maria seiner hochwirdigen müter vnd allem himlischē her an thun vn beweisen in yren hebraischen sprach
Zů dem andren will ich Erzelen vnnd ercleren den schaden vnd verderbnüs der land vnnd leut der ende da Juden beschwert werden dan sie důrch den wůcher die selben verderben als yr hören werdt
Zů dem dritten wil ich melden, wie sie die cristen der selben orte zů vngötlichen vnd vncristlichen hendlen dur[ch] yr valsch [falsches] gůt (das sie yn yren anligen vberschwencklich uß geben) raitzen/ vnnd dar mit entlichen wie sy mir (als ich clarlich bericht vnnd getrülich gewarnet bin zů ermorden vnnd zů verdilgen nach stellen der hoffnung die Cristenlichen hewpter [Häupter] sollen solichs zů herzen fassen vnnd denn schaden so Cristlicher macht in baiden gaistlichem vnnd weltlichem Stat durch die auß setzigen hundt zůgefuigte wirt bedencken vnd den fürkumen [zuvorkommen]
[S.4] Das Erste tayl dises Bůchs sagt von der vnerlichn blasphemirung so die Juden teglich got Marie seiner gebendeitē muter vn allem himlichē her [Herr] an thun ….
[S.6] Item sy haben zwai sunderlicher gebet wider vns cristen die lauten in yr hebraischer sprach also:
[hier folgt die Wortlaut des Gebets auf Hebräisch mit einer Transkription mit lateinischen Buchstaben]
Dise wort lauten auff den hebraischen zů Teuschem also zů den getaufften ist kain hoffnung vnd alle vnglabigen sollen schnelliglich vergon vnd alle die find deines volckes Israhel vndertruckt vn verdilgt werden das geschech bald. Dise wort bettē sy altag dreii mal mit grosser andacht damit Sy anfencklich die haligen aposteln vnd yre nachuolger [Nachfolger] die den tauff enpfangen haben maynen. Vnnd welche yren valschen glauben nit halten die werden von ynen vnglaubig gezelt Si bitten auch rach vber die gantz gemain der cristlichen kirchen vn in sunderhait das das Römisch reich verwust zerbrochen vn verstört wird vnd diß gebet [S.7] dürfen sy nit sitzend sprechen/ sunder sy müssen auffrecht ston [stehen]. Es darff auch kainer mit dem andren redenn biß das gebet volbracht wirt. Vnd so vnnder vns Cristenn krieg oder auffrur enstien [entsteht] erfreiwen [erfreuen] sy sich aus gantzem hertzen der hoffnung/ das als dann die zeit sollichs des Reichs verstörung nahent sey.
…
[S.8] Das ander [zweiter] tail sagt wie die Juden landt und leuth verderbenn
Wje wol vil vnd mangerlai Seckten vnnd glauben in der welt gefunden werdenn/ So ist doch vnter allen kain diebischer duckischer vnnd der Cristenhait schedlicher volck, dan die vnrainen vnd verflüchtē Juden/ weliche alle zeit tag vn vnacht mer dan andre völcker mit hohem vleys [Fleiß] gedenckē vn embsiglich dar nach trachtē wie si die mach vn gewalt d. cristē vßrytē [ausreißen] od. [S.9] verdilgen möchten/ die weil aber solichs yenenn zů thun, vnmüglich ist durch sie der weg des wůchers vnnd ander vntrew (so ich zů seiner zeyt an tag bringen mag) fynden dar durch sie yr früntlich beiwonung wort/ weiß/ vnd geberde solichs zů thun vnrhoffen vnd da mit aber yr behendikait von meniglich gemerckt vnnd verstanden werdenn mag / so hört mit gutem gunst. Jr vest [wisst] das sy leihen gelt auff pfandt weliche alweg vil bessers werdts / dan sie dar auff lihen sein mussen Vnd also/ so ymandt mit pfanden die zůuersetzen zů einem Judenn kumpt/ so wais der Jud das der selb so also kumpt benötiget ist doch so fragt Er/ den Cristen mit güten fruntlichen worten was sein beger sey das ym dan also der Crist sagt vnnd spricht/ hie hab ich pfand dar auff ich mir ain sollche Sum gelts zů lyhn beger So nimpt der Jud besicht das pfand hin vnnd her wider spricht dann fürvar [fürwahr] so vil lihe ich nit berauff [darauf] vnnd get dar von mit erzaigung als ob er gar nütz lyhenn welle. Des der Crisi erschreckt/ dan er müß gelt haben vnd tzm Juden spricht was oder wie vil wilt du mir dann leihen/ So kert der Jud anderwait das pfandt wie vor vleyssiglich zů besehen vnd nach langer solicher besehung so sagt Er dan gar ain ring vnd clain gelt das er dar auff leihenn well. Vnd ich setz es sein ain golt guldn churfürsten müntz den wöll er lihen die wochen von vi Cölschen Weißpfennigen ain haller/ thüt von ainem golt guldenn viii heller die wochen/ als dan zů Daytz am Rein vor Cöln vber der gebrauch vnd gewonhait ist. Vnd wie wol der Crist mer gelst bedörfft (so nimpt er doch den gulden an/ der hoffnung solich sein pfand Bald wider zů lössen/ In mitlerzeit wirt der Crist von tag zů tag Ermer [ärmer] (dan ich wais für war wer vnder die Juden kumpt oder mit yn zů thün hat der kann nimmer mer gedeihen) vnd kann auch das pfandt [S.10] nit lösen/ hofft doch alweg besserung/ Vnnd so also ain yar vmb gangen vnd verloffen ist, vnnd der Crist solichs sein pfandt das vil mer werdt/ dann dar auff gelihenn ist nit löst/ so ist es dem Juden vmb die klaine somma so Er dar auff gelihen hat verfallen vnd gibt es nach verscheinug [Verstreichen] des iars nit wid kumbt aber d crist ehe dz iar vscheint ich setz vff dē letztē tag des iars vn recht mit dem iudē so ist auff dē golt guldn gegē xxxiiii Cölnsch wie pennig vn xiii heller hat der crist nit zů bezalen. Bith [bittet] den Judn das er den wücher bei dem haüpt güth vmb gewonlichem gefug stann lassen wel/ so antwurt der Jud gern/ aber yr müst mir noch mer pfand bringen das also der Crist thut […] Aber der hoffnung sein sach soll sich bald bessern das doch nit geschicht dann als ich vor gesagt hab ye tieffer der mensch hinder die Juden kumbt yr weniger er von ynen kann […] Dar durch wirt der Crist dann by maniglich verschambt/ vnnd also tregt ym der Crist selber alles das Er hat auss dem hauß, vnd stöst es haimlich zů dem Juden Also das der Jud für ainen gulden den er außgelehet wol hundert gulden oder mer werts pfand hat/ dar durch dan der arm Crist so er nimer zůuersetzen hat Entlauffen vnd al sein tag in armut leben muß das offt vnd vil geschicht…
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[S.14] Das III vnnd letz tail sagt wie die Judenn durch ir valsch güt die cristen zů grossen sünden vrsachē
Wo Juden wonen ist zů besorgen Sie zihen durch yr gůt nit allein den gemainen man sunder auch etlich d gelerten an sich die selben dan yr vnrecht helffen verduncklen / vnnd so ain / Jud leib vnnd leben verbürgt hete So vinden sie lewth die ynen hilff vnd beistand theten wider das gebot der Cristlichenn kirchenn/ Dann es wirt an etlichen enden vnnd steten wo Judenn wonē gesehen dz sie gemainlich ym rechten obligen vn gar selteē d sach vlustig verdē das allain vo irem falschen gůt herkombt dz also die cristen von inen enpfahen vn helffen [S.15] in vrsach ym schein des rechten vnerduncklen vnd bedecken deßhalben wirt manichem frumen. Cristen sein recht zů/ruck gesatzt vmb das sie die Juden villeicht mer dann die Cristen auß zůgeben haben.
Weiter Raytzen die Juden manichen Cristen menschenn gelert vnd vngelert zů vnglauben Als ich dan vor in andrē meinen bůchern gemeld hab
Auch so geschicht wo Judenn wonen vil ketzerey dann man vindt vil Cristen die mit den iuden vnkeuschait treyben vnd so dan also von den selben kinder gemacht werde bleiben die selben kinder iuden welichs vngezweifelt gar ain groß mercklich vnd lesterlich vbel ist. Das also das Cristlich blůt in ewige verdammnuß gestelt wirt vnnd als ich vor ym anfanck meins Büchlins gerürt hab / so ist in gantzer welt kain Seckt oder volck den Cristen gehessiger dan die iuden…
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[S.22] Da mit will ich das Büchlin beschliessenn ob aberr ymant. Ob aberr ymant wer der ym solichs wolt lassen zu hertzenn gon/damit die lesterung gottes welche täglich von den /Judenn geschicht fürkummenn möchte werden Antwurt ich vnnd sprich die weil man sy die Juden also frei last sitzen so ist es nit wol müglich das solch vbel nit geschech/ Dann sie müsten nyt allain den wůcher vnderwegen lassen oder in grossem reichtumb sitzen. Sunder sy musten alle verworffne arbait thuun/ als die gassen sauber halten oder dye Camin kerē deß gelichē [desgleichen] die scheussheuser [öffentliche Bäder] fegen vn huns dreck klaubenn ec. Doch das nit vnnderwegen lassen als ich manig mal erzelt hab/ von yn [ihnen] zů nehmen die falschen Bucher des Talmut, vnnd ynen nichts weiters zů lassen dann allain denn Text der Biblen, vngezweyfelt nach solcher handlung wurden sy ain andernn sin vnnd gemüt an sich nehmen, vnnd also bekannt werden zůuerlassen yr falschhait [falschen Glauben] vnnd nachuolgen der warhidt [Wahrheit] vnnsers glaubens
Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München
Transkription: A. Siluk
Aufgaben:
1. Welche Mittel benutzt Pfefferkorn, um die Juden in den Augen ihrer christlichen Zeitgenossen zu diskreditieren und zu denunzieren?
2. Die Schrift ist in drei Teile geteilt. Welche Funktion erfüllt jeder einzelne Teil und welches Judenbild ergibt sich aus dem gesamten Werk?
Pfefferkorn hat folgendes Mandat bei Kaiser Maximilian I. nicht allein mit seiner eigenen Überzeugungskraft erwirkt. Vielmehr waren es die Franziskaner und Dominikaner, die ihm die nötige Unterstützung gewährten. Mit deren Vermittlung kam Pfefferkorn in Kontakt mit der franziskanischen Äbtissin Kunigunde, die zugleich die Schwester des Kaisers war. Diese war mit dem Vorhaben einverstanden (mache sagen, sie sei begeistert gewesen) und gab Pfefferkorn ein Empfehlungsschreiben an ihren Bruden, den Kaiser, mit.
Wortlaut des Mandats:
Wyr Maximilian vō gottes gnade Erweiter Römischer kaiessr zů allen zeiten merer des reichs/ In Germanien zů Hūgern Dalmacia Craocia künig, Ertzgertzog zů Ostereych hertzog zů Brugndia zů Brabant vnd Pfaltzgrauffe ec. Entbietten allen vn ietlichen iuden in allin vnsern vnd des Reichs Stetten mörckten [Märkten] vn flecken gesesser allēthalben gemeinlich vn ietlichē in sond’hait/ dz wyr glaubwirdig bericht seind/ wie yr in euwern Synagogē lybereien od sunst bey üch habē solt / etliche vngegrūtde [falsche] vnnütze bůcher vn schrifftē/ die nit alain vnsern hailigē Cristen glaubē vn des selben nach folgē zů schmach spot vertilgūg vn übel sund [sondern] auch wid [wider] die bücher vn gesetz Moysi vn d prophetē die doch ir selbs zů glaubē vn zů halten bekenet erdicht vn auff gericht sein söllen / die üch auch nit alain vō vnserm cristē glauben ebwenden sund in ürem iüdischē glauben yrrūg machen/ verfürren vn zů ketzerey raitzē dar in vns als Römischem kaiser vn weltlichē schwert d cristenhait zůsehen wol gebürt vn gemaint ist. haben dem nach vnsem diener vn des reichs getreuwen Joa pfeffeerkorn vō Cöln als ainem wolgelertn/ vnnd erfarn euwers glaubens vn d bůcher Moysi vn prophetn vordnet vn ym hie mit ernstlich beuelle [Befehl] vn gewalt gebē Alle euwer bůcher vn schrifften überal zů uisitieren [visitieren] zů erfarē vn besehn vn was darund befunden die wid die bůcher vn gesatz moisi. auch d prophetn wern un wie obstet vngegrūt/ vnser hailign cristn glauben zů schmach vn übel richten / die selbē alle / doch an iedē ort mit wissen ains raths vn in gegnwartigkait des pastors / auch zwaier vō rathe odd oberkait vō üch zůnemē die aweg zethō vn zů vndrruckn dar durch wo ir ye vnsern hailign cristen gluabn nit haltn wolt/ dar zů üch d almechtig mit gnaden weisen wöl/dz yr doch vnd zwaien übel dz mind` böß erwelt vn nit zů weitern vn meren schadn euwer solen seligkaiten auß euwern fürgenōnen iudischen glauben/ die yr sal vn ketzerey geet/ sund bey den bůchern moisi vn prophetn als wir halten bleibet/ dz wolten wir uch nit vhalten, eüch allen mit ernst gebittēde [gebieten] vnd wöllen wa vn an welchē enden d obgenant Jo pfefferkorn zů üch komen vn üch dyß vnser madat [Mandat] anzaigen oder bkinden würt, dz yr ym vn dem gedachten Pastor od pfarer vnd geordneten vō R‚atten [Räten] / alle eüwer bůcher vnd schrifften euwers glaubens fürbringet/ die genůgsamlich sehen vund vnemen vnd die vngegrünten erdichten von bößen dar auß nehmen vnd abton lassen wie abstatt/euch des auch nit s‚atzet widere tvnnd [tun] dar inn kains wegs er aziehet, auß nicht wegert [weigert] noch vngehorsammer erscheinet bey vermeidung vnser schweren straff, vnd vngenad [Ungnade] an euwern leib vnd gütter Und beuelhen [befehlen] dar auff allen vnd ietlichē pfarernn, dar zů Burgermaisternn, Richtern vnnd ratgen [Rätten] aller vnd ietlicher stat mercktin vnd flecken So diser vnser brieff für kompt vnd damit ermant werden Auch ernstlich gebieten das ir den obgemeten Joannes Pfefferkorn berürter ainer handlung an allen enden gütlich stat geber Auch ir die Pastor vnd pfarrer personlich mit vnd bei der handlung seit [seid] vnd erscheinet/ vn ir die Burgermaister richter vnd rethe alle zeit zwen euwers rats fründ dar zů verornet vnd im also zů der hanlung fürdrung hilff vnd rat beweisset/ daran thůt ir zů sampt der ere gots vnd vnsers hailigen cristen glaubens vnser ernstliche mainnung vnd gůt geuallen [Gefallen]. Geben [Gegeben] in vnseren keisserlichen Heer, bei Badua [Padua] Am XIX tage des maners Augusti, Anno ec.im.ix vnsers Reichs des römischen Im xxiiii. vnd des Hunggerischen im xx. Per regem pro. Ad mandat adni imperato.pro. Serentiner.
Transkription: A. Siluk
Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München
Aufgaben:
1. Analysieren Sie den Aufbau des Mandats? Berücksichtigen Sie dabei: welche Rechtfertigungen zu diesem Erlass werden gebracht? Wie soll Missbrauch verhindert werden? Welche Strategien sind enthalten, damit dem kaiserlichen Befehl Folge geleistet wird?
2. Welche Aussagen im Mandat sind, Ihrer Meinung nach, direkt von Pfefferkorns antijüdischer Propaganda beeinflusst bzw. übernommen?
Der Erzbischof Uriel von Gemmingen meldet bei Kaiser Maximilian I. Zweifel darüber, ob der Konvertit, Johannes Pfefferkorn geeignet sei, das kaiserliche Mandat auszuführen.
Dieses Dokument ist Teil der Aktenstücke der jüdischen Gemeinde in Frankfurt. Das Original ist auf Deutsch mit hebräischen Buchstaben geschrieben. Deswegen unterscheidet sich die Sprache des Dokuments von der der üblichen zeitgenössischen Quellen.
Quelle: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, (1900), Heft 5, S. 220-234
Frage: Warum ist der Erzbischof nicht einverstanden damit, dass Pfefferkorn derjenige ist, der das kaiserliche Mandat ausführt? Welche Interessen bewegten den Erzbischof, sich in die Sache einzumischen? (Hinweis: schauen Sie sich auch Dokument Nr. 6)
Brief Maximilians I. an den Erzischof von Mainz Uriel, in dem er ihm den Auftrag erteilt, Gutachten von Universitäten und Gelehrten über die jüdischen Bücher zu holen
Diesen Brief des Kaisers an den Mainzer Erzbischof veröffentlichte Reuchlin in seinem "Augenspiegel". Diese Schrift, die als Antwort auf Pfefferkorns Schmähschrift "Handspiegel" geschrieben war, liefert neben der Dokumentation des bisherigen Verlaufs der Angelegenheit auch das vollständige Gutachten Reuchlins über die Bücher der Juden (Siehe Dokument Nr. 5), sowie seine Apologie zu Pfefferkorns Beschuldigungen, die er am Schulss dieser Schrift widerlegte. Da im "Augenspiegel" Pfefferkorn persönlich angegriffen wird, vor allem sein Christsein, veranlasste er die Untersuchung der Schrift durch die Inquisition. Der Inquisitionsprozess, der 10 Jahre dauern soll, beschäftigte sich mit der Frage, ob diese Schrift ketzerische Aussagen enthält, weil sie die Juden zu viel begünstigt.
Wortlaut des Mandats
[Aii r] Laut die commission von wort zů wort also,
Maximilian von gotts gnaden Römischer kaiser etc. Erwirdiger lieber neue vnnd churfürst/ vnns zweifelt nit [noch] dein lieb sy noch inn frischer gedechnus der handlung so wir der iuden bücher halbē in verschiner zeit für genōmē/ und daruff wir dich mit sampt etlichē vniuersiteten [Universitäten] vnd andern gelerten vnder sachverstendigen zů commissarien verordnet laut vnßer cōmission deshalben vß gangen/ Nun haben wir in verschiner zeit den iuden ire bücher wider zů geben verschaffen/ der gestalt das die also beschribē vnd vnuerruckt biß vff vnsern wytern beuelch [Befehl] behaltē werde. Da mit aber inn sollichē allem grüntlichen gehandelt werden mög/ so empfelhen wir deiner lieb ernstlich vnnd wöllen/ das du den vniuersiteten Cöln/ Mentz/ Erdtfurdt vnnd Haidelberg/ des gleichen Jacoben Hochstraß kezermaister zů Cöln lerer der hailigenn schrifft/ Johann Reüchlin lerer der recht/ Victor von korb priester/ vnd andern der hebraischen schrifft vnd gesetz verstendigen vnd gelerten die nit iüden sind/ fürderlichen schreibest/ vnnser für genommen handlung anzaigest/ vnd von vnser wegen beuelhest [befehlst] die sachen grunttlichen nach notturfft zů erwegen vnd zů beratschlagen/ welcher masßen [Maßnahmen] vnd vff was grundt vnd weg das alles anzůfahen vnd zü thon sy/ vnnd sunderlichen ob solliche bücher so sie über die bücher der zehē gebot Moysi/ der propheten vnnd psalter des altten testamennts gebrauchen abzethon/ göttlich vnnd loblich/ [Aii v] vnnd unsern hailigen glauben nůtzlichen sei/ vnd zū merung vnd gůtt kommen mög/ vnd dir sollich ire ratschleg zů schicken die du als dan fürter auch übersehen/ vnnd vns des alles mit sampt deinē rat vnd gůt bedunckē by Johansen Pfefferkorn den wir der sachē zů sollicitator geordnet schrifftlichen weiter berichten sollest/ vnnd dich dar an kainerlai ann der beuelch irren oder verhindern lassest/ sunder dem also nach kōmest/ daran thüt dein lieb vnßer ernstlich mainung. Geben zů füssen am sechsten tag des monats Julii anno domini c.xv hundert vn im zehendē vnser reich des römischē im funff vnnd zwaintzigsten/ vnnd des vnngerischen im ain vnnd zwaintzigsten iaren. Ad mandatum domini imperatoris proprium. Per regem pro.ma. Sernteiner subscripsit
Dem erwirdigen Vrieln ertzbischoffen zu Mentz des hailigen römischen reichs durch Germaniē ertzcantzlern vnßerm lieben neuen vnd Churfürsten.
So laut das Mandat alßo
Wir Maximilian von gots gnaden erwöltter römischer kaißer zů allen zeitten merer des reich sinn Germanien/ zů Hungern/ Dalmatien/Croatienn etc. künig/ ertzhertzog zů Osterreich/ hertzog zů Burgund/ zů Brabant vnd Pfaltzgraff etc. Embietten den ersamen gelertten vnsern andechtigen vnd lieben getrewen. N. rectorn, vicarien vnd legenten der vniuersiteten Cöln/ Mentz/ Erffurt vnd Haidelberg Jacoben Hochstraß ketzermaister zů Cöln lerer der hailigen schrifft. Johansen Reüchlin lerer der recht. Vichtorn vō Korbo priester/ vnd allen vnd yegklichen der hebraischen gesetz/ schrifften vnd wesens gelerten vnd verstendigen die nit iuden sein/ so mit disem vnnserm brieff oder glauplicher abschrifft darvon er sücht werden vnser gnad vnd alles güt. Wir haben dem erwirdigen Vrieln ertzbischoffen zů Mentz des hailigen römischen reich sinn Germanien ertzcantzlern vnßerm lieben neuen vnd churfürsten der iudē bücher halben/ so sie yetzo über die bücher der zehen gebot Moysi der propheten vnd psalter des altten testaments gepruchē ettwas für zenemen vnd zů handeln beuolhen [befohlen]/ laut vnßer commission des halben vß gangen/ des leichen üwern [euren] ratschlag vn gůt bedunckē hierinn zů vernemen/ dē nach empfehlen wir euch allen vnd üwer yedem erstlichen vnd wöllen das ir inn den selben sachen vff des genanttē vnßers lieben neuen vn churfürsten anzaigen fürderlichē vnnd onverzogenlichen [unverzüglich] üwer ratschlege vnd gůt beduncken verfasset/ vnnd die seiner lieb zů schicket/ dar mit er wyter vnserm beuelch nach handeln vnd procediern mög/ vnd darinn nit verziehet oder sümig erscheinet/ daran thüt ir vnßer ernstlich mainung. Gebē zů füssen am xxvi. Des monats Julii nach Christi geburt fünf/zehen hunndert vnnd im zehennden vnnßer reich des römischenn im fünff vnd zwaintzigstē vnd des vngerischen im ain vnd zwaintzigsten iaren. Ad mandatum domini imperatoris proprium. Per regem pro[pria] ma[nu]. Sernteiner subscripsit.
Transkription: A. Siluk
Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München
Aufgaben:
1. Was kann man über die Motiven des Kaisers bei dieser Angelegenheit aus diesem Schriftstück erfahren? Und was über seine Politik gegenüber Juden?
2. Wer sind die Anderen Personen, die im Mandat erwähnt werden? Warum wurden ausgerechnet sie gewählt? Welche Rolle werden sie im weiteren Verlauf der Affäre spielen?
Johannes Reuchlin war zu Beginn des 16. Jahrhunderts einer der ruhmreichsten Humanisten seiner Zeit. Er war sowohl ein geschätzter Jurist und Richter im schwäbischen Bund als auch ein begnadeter Latinist und Gräzist. Er widmete sich in relativ hohem Alter dem Studium der hebräischen Sprache und gilt heute als der Begründer der Hebraistik in Deutschland. Aufgrund seiner Kenntnisse in den drei klassischen Sprachen nannte man ihn „homo triliguis“, eine Bezeichnung, die bei der nächsten Gelehrtengeneration nur den ‚wahren Humanisten‘ gelten soll.
Das Studium der hebräischen Sprache sollte verhindern, dass die Heilige Schrift, die Bibel, irgendwann einmal restlos verlorengeht, und somit gleichzeitig das Fortschreiten unserer Seelen […] im Abgrund endet, schrieb Reuchlin in der Widmungsschreiben zu seiner Hebräischgrammatik. Aber nicht nur die Bibel interessierte Reuchlin, sondern auch die jüdische Mystik, die Kabbala, in der er eine Bestätigung und Beweise für die Richtigkeit des christlichen Glaubens zu finden glaubte.
Reuchlin lernte Hebräisch bei gelehrten Juden, die die einzigen Menschen waren, die diese Sprache im Reich beherrschten, und pflegte zu ihnen einen warmen Kontakt, der oft zu Freundschaften und gegenseitiger Schätzung führte. Solche Freundschaften waren für die Zeit sehr ungewöhnlich. Allerdings scheint Reuchlins Meinung über das Judentum nicht besonders positiv gewesen zu sein. Er war von der Richtigkeit seines Glaubens überzeugt, und vertrat die Meinung, dass man die Juden bekehren könnte, wenn man den jüdischen Glauben und die jüdischen Schriften besser kennen würde, weil man sie dann widerlegen könnte.
Ratschlag, ob man den Juden alle ire bůcher nemmen/ abthůn vnnd verbrennen soll
Dem durchleūchtigsten vnd hochwirdigsten fürsten vnd herrn herrn Vrieln ertzbischoff zů Mentz des hailigen römichen rychs durch Germanien ertzcantzlern vnnd churfürsten ec. Mynem gnedigsten herren/ Embeüt ich Johannes Reüchlin von Pfortzheim maister in der philosophi/ vn in kaißerlichen rechten doctor/ myn vndertenig willig dienst alzeit beuor [zuvor], Hochwirdigster füsrst gnedigster herr. Des aller durchleüchtigsten vnnd großmechtigsten fürsten vnd herren herrn Maximilian Römschen kaisers vnßers aller gnedigsten herren commission vnd beuelch hieuor an euer fürstlich gnaden außgangen vnnd ietzt mir sampt ainem mandat überschickt/ hab ich aus rechter vndertenigkait mit hohen eeren vnd reuerentz empfangenn wie sich gebürt/ darinn mir beuolhen [befohlen] ist / den handel der genmmen oder consignierten iuden bücher so sie yetzo über die gebott Moysi/ der propheten vnnd psalter des alten testaments gebrauchen/ grüntlichen vnnd nach notturfft zů erwegen. vnd zů ratschlagen welcher massen vnnd vff was grund vn weg das alles an zůfahen vnd zů thůnd sy/ Vnnd sunderlich ob sollich bücher ab zethūn göttlich/ löblich vnnd dem hailigen cristglauben nützlich sy/ vnd zů meerung gottes dienst vnd gůttem kōmen mög/ Wie wol ich mich aber sölcher grossē sachē der cristenlichē kirchē nütz/vnd römscher K.M. lob vnnd eer betreffende. gar vil zů klain wais vnnd acht. ye doch auß schuldiger pflicht will ich lieber gegē mengklichem für vnweis dann für vngehorsam gehalten werdē/ vnnd daruff mein klain verstendigkait inn geschrifft geben vff die fragē wie hernach volgt. Ob den iuden ire bücher söllent oder mögent von rechts wegen genōmen, abgethon oder verbrent werden Sagent ettlich ia/ vß vil vrsachen [Gründe].
Zům ersten/ dan sie seien wider die cristen gemacht
Zům andern sie schmehen Jesum/ Maria vn die zwelffbotten [Apostel]/ auch vnns vnd vnser cristenliche ordnung
Zům dritten dann sie seien falsch.
Zům vierden so werden dar durch die iuden vnerfůrt das sie verharren in irer iüdischhait vnd nit zům cristen glauben kommen/
Welcher aber solch gros übel werē möcht [Iv] Vnnd das nit verhütet noch abtette/ der were dem tetter gleich för mig zů achten vn sollte als ain mitverwilliger gleicher straff gehalten werden/ [ex de off. Delega.c.i. eti. q.i. quiquid inuisibilis].
Aber etlich synd die dar zů sagen/ Nain/ auch nit on vrsachen:
zům erstē dann die iuden als vnderthonen [Untertanen] des hailigen römschen reichs sollent by kayßerlichen rechtē behaltten werden.[l.iudei cōmuni romano iure C.de iude].
Zům andern was vnser ist das soll von vns nit mögent kommē/ on vnßer zů thün/ [l. iudaei quod nostrum ff. de reg. jure].
Zům drittē kaißerliche vn künigliche recht auch andere furstliche satzungen haben es fürkommē das nieman das syn verliere durch gewalt [l. 1§ nequid autem. ff. de vi. et vi.]
Zům vierden so sol ain ieglicher by synem alten herkommen brauch vnd besesß behalten werden/ ob er gleich ain rauber wer [c. in literis de resti. spo. in fi.]
Zům funfften so sollennt die iuden ire synagogen die man nennt schul rüwigklich on irrung vnnd eintrag mögen halten. [c. 3. ex. de judaeis]
Zům sechsten so sind sollch iuden bücher noch nit weder von gaistlichen noch weltlichen rechten verworffen noch verdampt [patet per omia corpora iuris et patrum decreta]
Vnnd darumb mainen die selben man sol nit mögen solliche bücher den iuden abreissen vn die vndertrucken oder verbrennen.
In gottes namen amen. Vff die frag zů anttwurten ist noc zů bedencken was zizania vnd vnkraut vnd was triticū oder waissen sei/ da mit ains nit mit dem andern vß geraufft werd/ wie das hailig euangeliū spricht Matthei XIII. Nun find ich vnnder den iuden büchern das sie seien mannicherlai gestalt:
Zům ersten die hailig schrifft haissen sie Essrim varba das ist xxiiii [24], dann so vil haben sy bücher inn ir bibel.
Zům andern den Thalmud das ist ain versamelte leer [Lehre] vnnd auslegung aller gebott vnnd verbott/ so in der thora das ist in den fünff büchern Moysi inen gegeben/ der do sechs hundert vnd xiii [613] inn der zal/ durch vil irer hochgelerten vor langen zytten [Zeiten] beschriben sind.
Zům dritten find ich die hohe haimlichait der reden vn wörter gottes/ die sie haissent Cabala.
Zům vierden find ich scribenten vnnd doctores die do glos vnnd comment schreiben über yeglichs buch der bibel inn sunderhait. Solliche cōment oder commentarien haissen sie perusch.
Zům funfften find ich sermones disputationes vn predig bucher genant midrasch oder draschoth.
Zům sechsten find ich gelert leüt vnnd philosophos inn allen künsten die werden mit gemainem wort Sepharim das ist bücher genannt nach aines yegklichen künstners vnnd der kunst namen.
Zům letsten find ich poetry/ fabel/ gedicht merlin/ spötterei/vnnd exempel büchlin/ des hat iegklichs seinen aigē namen/ wie der dichter des selben büchlins ainen zů fall gehabt hat/ vnd die selben werden von dem merertail [Mehrheit] der iuden selbs für gelogen vnnd erdicht geacht. Ob denen yetzt zů letst gemeltten büchlin mag Sein/ es werdē ettliche gefunden aber gar wenig/ die ettwas spottwort nachred oder lesterunng vnßerm lieben herren vnnd gott Jesu vnnd seiner werden mütter auch den aposteln vnnd hailigen zů legent / Deren hab ich nit mer dann zway geleßen/ das ain wirt genant Nizahon das ander Tolduth Jeschu/ ha nozri/ das auch von dē iuden selbs für apocrypho gehalten wirt/ alls Paulus Burgensis schreibt in secunda parte Svrutinii.c.vi. Wie wol ich vor zeitten ann kayser Friderichs des driten vnßers aller gnedigsten herren vatters löblicher gedechtnus hofe von dē iuden da selbst nach vil redē zwischen vnns gehaltten hab gehört/ das sollich bücher von inen abgethon vertillckt [vertilgt] vnnd allen den iren verbotten sy/ der gleichen nymmer mer zeschreiben oder zeredenn. Nun aber zekommend vff die frag sag ich also/ By welchem iuden wissentlich gefunden würdt ain sollich buch das mit aus getruckten wortenn schlechts vnnd starcks zu schmach schand vnd vneere vnßerm hern gott Jesu/syner werden mütter/ den hailigenn oder der cristenlichenn ordnung gemacht were/ das möcht mann durch kaißerlichen beuelch [Befehl] nemmen vnnd verbrennen/ vnd den selben iuden darumb straffen das er es nit selbs zerrissen verbrennt oder vndergetruckt [unterdrückt] hett/ das bedunckt mich gegründt sein inn den rechten/ des ersten da geschriben stat [steht] in [l.Lex cornelia.§. Si quis librum.ff.de iniur.] nemlich also, Ob ainer ain büch ainem anndern zů vneere [Unehre] schmach oder schannde hette geschriben gemacht oder aus geben/ oder durch argen list verschafft hette das deren ains geschehen were/ vnd ob er gleich das in aines anndern namen lies auß gon [ausgehen] oder on ainichen namen wie dann sollich ansprach gebürt für zenemmen. Hat der Senat gewalt durch peinlich [IIv] clag iudiciorum publicorū die selb sach straffen. Darnach kommet ain ander kaißerlich recht [l.i.C. de famos.lib.] das spricht also. So ainer ain schätliche schmochliche geschrifft es sy zů haus oder an der offen stras oder an welchē orten es welle/ vnwussentlich findt der sol sie entweder zerreissē ee [ehe] ain ander dar über kom/ oder sol nyeman dar von sagen. Wan er aber nit gleich von stund an sollich brieue [Brief] oder bücher zerrissen oder verbrent sunder sein inhaltung ainem andern geoffnet hat/ so sol er wissē das er als ain selbs stiffter dißer überltat mit pynlicher vrtail sol gestrafft werden. Doch ist dz wol war ob ainer seiner aigen pflicht vn gemaines nutz bewarūg můst tragen so sol er sein angeben offentlich dar thün/ Vnd was er im hette gemaint durch ain schmechlich geschrifft zů durchechten gebürn/ das mag er mit müd vssprechē/ also dz er on all forcht her für trett [hervortrete] vnnd sol das wissen/ wa der glaub der warhait synen reden zů statten kumbt/ so wirdt er gros lob vnnd nit klainem lon von vnßer maiestat erlangen/ wan er aber sölchs nit mag erweißē war sein/ so wirt er sein haubt darumb verlieren/ dannocht sol die selb geschrifft ains andern gůtten leümbden kains wegs verletzen. Aus diesen zwayen kaißerlichen satzungen vnnd rechten clarlich erscheint/ das ain schmach büch soll vnder getruckt/ abgethon vnd verbrent/ vnnd wer das nit tette hertigklich [herzlich] darumb gestrafft werden/ vnnd nichtz destminder mag man im sollich schmach bůch nēmen vnd verbrennen/ ob er es selbs nit verbrent oder zerrissen hette. Doch nit anders dan nach gnügsamer verhörung/ vnd rechtmessiger ergangner vrtail/ als das geschirben recht spricht nemlich also: Nit gleich vō stund nach dem ainer inn gefengknus gefüert ist sol man im das syn nemmen/ sunder nach dem vnnd die vrtail wider in gangen ist/ das hat kaißer Adrianus selig schrifftlich gesetzt vnnd geordnet [l.ii.ff.de bo.damnat.]
So vil sei gesagt von den schmachbůchern die ich am letsten tail der iuden bůcher angezaigt hab/ Dar inn nit anders gehandelt wirt dan wie mit ainem yeden cristen in der gleichen sach gehandelt soll werden/ nach de bayd secten on mittel glider des hailigen reichs vnnd des kaißerthumß burger synd/ wir cristen durch vnser churfürsten wal vnd kur/ vn die iuden durch ir verwilligung vnnd offen bekanntnus/ als sy gesprochen hond/ Wir haben kainen künig dan den kaißer. Johan [IIIr] .xix. hierumb so bindent kaißerliche recht cristen vnd iuden ieglichs nach seiner gestalt.
Transkription: A. Siluk
Quelle: Johannes Reuchlin, "Augenspiegel", Tübingen: Thomas Anshelm 1511
Eine Übersetzung des Textes findet man bei: Johannes Reuchlin, Gutachten über das jüdische Schrifftum, hrsg. und übers. von Antonie Leinz-v. Dessauer, Konstasnz 1965.
Aufgabe:
1. Wie unterscheidet sich Reuchlins Formulierung dessen, was seine Aufgabe ist, vom kaiserlichen Auftrag (vgl. Dokument Nr. 4)?
2. Wie versucht sich Reuchlin vor möglichen Beschuldigungen schützen?
3. Reuchlin legt einige Grundsätze zugrunde, bevor er mit der Untersuchung beginnt. Was sind diese Grundsätze?
Folgende Dokumente werfen Licht auf die Tätigkeiten der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main gegen die Machenschaften Pfefferkorns, ihnen alle ihre Bücher wegzunehmen. Wichtig dabei ist, dass die Sicht der Juden durch diese Schriftstücke erhellt wird. Die Originaldokumente befinden sich in der Stadtbibliothek von Amsterdam. Die vollständige Liste der Dokumente mit dem Druck der Orginal auf Hebräisch samt der Übersetzungen liefert uns Isidor Kracauer.
Als Überblick über die Geschehnisse werden folgende Dokumente vorgestellt:
1. Pfefferkorns Eintreffen in Frankfurt, erfolgloser Widerstand der Juden gegen die Bücherkonfiskation; der Erzbischof Uriel von Gemmingen mischt sich ein. Geschildert aus der Sicht der jüdischen Gemeinde in Frankfurt.
2. Der 2. Brief des Gesandten der Frankfurter Juden, Jonathan Zions, an seine Glaubensgenossen. Darin schildert er seine Bemühungen am Kaiserhof, den Plan der Konfiskation der Bücher zu vereiteln und seinen anfänglichen Erfolg bis zum Eintreffen von Pfefferkorn. Darüber hinaus liefert er eine Abschrift des Mandats von Rovereto, in dem der Kaiser Gutachten über die jüdischen Bücher von Gelehrten und Universitäten verlangt (Aktenstücke, Teil 2).
3. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt versuchte, Unterstützung von anderen Gemeinden im Reich zu erhalten, denn auch diese wären vom gleichen Schicksal betroffen, wenn sie nicht tätig würden. Allerdings verhielten sich die meisten Gemeinden, die von Frankfurt angeschrieben worden waren, aus vielerlei Gründen relativ passiv. So waren die Frankfurter Juden auf sich selbst angewiesen. Hier wird das Verhalten der Gemeinden in der Bücherangelegenheit geschildert. Darüber hinaus befindet sich in diesem Schriftstück das Schreiben eines Würzburgers an seine Verwandten in Frankfurt (Aktenstücke, Teil 3).
Quelle: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, (1900), Heft 3, S. 114-126 ; Heft 4, S. 167-177 und Heft 5, S. 220-234 .
Der 2. Brief des Gesandten der Frankfurter Juden, Jonathan Zions, an seine Glaubensgenossen. Darin schildert er seine Bemühungen am Kaiserhof, den Plan der Konfiskation der Bücher zu vereiteln und seinen anfänglichen Erfolg bis zum Eintreffen von Pfefferkorn. Darüber hinaus liefert er eine Abschrift des Mandats von Rovereto, in dem der Kaiser Gutachten über die jüdischen Bücher von Gelehrten und Universitäten verlangt.
Quelle: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, (1900), Heft 4, S. 167-177
Die jüdische Gemeinde in Frankfurt versuchte, Unterstützung von anderen Gemeinden im Reich zu erhalten, denn auch diese wären vom gleichen Schicksal betroffen, wenn sie nicht tätig würden. Allerdings verhielten sich die meisten Gemeinden, die von Frankfurt angeschrieben worden waren, aus vielerlei Gründen relativ passiv. So waren die Frankfurter Juden auf sich selbst angewiesen. Hier wird das Verhalten der Gemeinden in der Bücherangelegenheit geschildert. Darüber hinaus befindet sich in diesem Schriftstück das Schreiben eines Würzburgers an seine Verwandten in Frankfurt
Quelle: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, (1900), Heft 5, S. 220-234 .
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebten weder in England noch in Frankreich oder auf der iberischen Halbinsel Juden. Aus England wurden die Juden bereits 1290 per Dekret des Königs Eduard I. vertrieben. In Frankreich dauerte es noch ein Jahrhundert bis 1394 Karl IV. eine Gesamtausweisung der Juden aus seinem Herrschaftsbereich verordnete und durchführte. In Spanien, wo sich seit Jahrhunderten ein kulturelles und geistiges Zentrum der Juden befand, wurden diese ein weiteres Jahrhundert geduldet, bis sie 1492 nach langen Verfolgungen zu entscheiden hatten: entweder traten sie ins Christentum über, oder sie mussten das Land verlassen. Lediglich vier Jahre später wurden sie aus Portugal durch König Manuel I. ausgewiesen. In Zusammenhang mit dieser Vertreibung sind noch die Ausweisungen aus Sizilien (1493), Navarra (1498) und Neapel (1510) zu erwähnen. Alle diese Vertreibungen waren der End- und Höhepunkt einer langen Geschichte der Verfolgungen und Diskriminierungen.
Der größte Unterschied zwischen der Situation der Juden in Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und der der Juden in den anderen (westeuropäischen) Ländern war, dass die ersteren nicht eine Gesamtvertreibung erleiden mussten, sondern immer lokale beziehungsweise regionale Ausweisungen. Außer in den Städten Frankfurt am Main und Worms – und vorübergehend noch bis 1519 in Regensburg – waren zu Beginn der Neuzeit alle Zentren jüdischen Lebens im Deutschen Reich vernichtet. Vor allem nach der großen Pestwelle und im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurden die Juden aus allen bedeutenden Reichsstädten und einigen Territorien vertrieben.[1] Oft endete die Ausweisung mit der Verdrängung der Juden aus dem Stadtinneren in die umliegenden Dörfer, in anderen Fällen in das angrenzende Territorium. Der Grund dafür, dass eine Gesamtvertreibung nicht durchgeführt wurde und gar nicht möglich war, lag im Bestehen des Reiches aus mehreren sich gegenseitig konkurrierenden Territorien, was ein einheitliches Handeln unmöglich machte.
Ein anderer Unterschied bestand darin, dass die Juden im deutschen Reich dem päpstlichen wie auch gleichzeitig dem kaiserlichen Schutz unterstanden. Die Päpste nahmen die Juden mit den „Sicut-Judeis“ Bullen wegen der sich wiederholenden Angriffe und Pogrome während der ersten Kreuzzüge unter ihren Schutz. Auch die Aufnahme der Juden unter den Schutz des Kaisers (seit 1236 ) war eine Reaktion auf Verfolgungen und Prozesse gegen Juden. Allerdings war die Entscheidung, die Juden in die Schutzherrschaft und Kammerknechtschaft des Kaisers aufzunehmen, mit ökonomischen und politischen Interessen verbunden. Der Kaiser konnte sich nun durch eine besondere Judenschutzsteuer wirtschaftliche Vorteile versprechen. Gleichzeitig konnte er bei seinen Auseinandersetzungen mit dem Papst über die hegemoniale Herrschaft durch die direkte Schutzherrschaft über die Juden seinen universellen Machtanspruch geltend machen.
Allerdings bestand seit 1286 durch das Mandat Rudolfs von Habsburg die Möglichkeit, die Judenschutzrechte an Dritte zu verleihen, was die Juden de facto zum Objekt des Kaisers machte, da sie nicht mehr in personalen Beziehung zum Herrschaftsträger stehen mussten. In den folgenden Jahrhunderten erfuhren die Judenschutzrechte eine gewisse Territorialisierung und Kommerzialisierung. Diese Entwicklungen traten dadurch ein, dass die „kaiserliche[n] Schutzrechte sukzessiv in Form von Judenregalien an territoriale Herrschaftsträger verliehen“ beziehungsweise verpfändet wurden.
Dass der Schutz des Kaisers beziehungsweise der jeweiligen Obrigkeit im 14. und 15. Jahrhundert nachließ, hatte vor allem ökonomische Gründe. Die Juden, die zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in den Geldgeschäften tätig waren [2], waren eine sichere Einnahmequelle für die Herrscher, da das Geld der Juden ihr Geld war, denn die Juden waren ihr Besitz. Allerdings begann die fiskalische und ökonomische Bedeutung der Juden in dieser Zeit zu schwinden. Im Zuge der Verfolgungen infolge der Pestwellen verloren viele Juden ihr gesamtes Vermögen und viele jüdische Gemeinden lösten sich auf. Als ein paar Jahrzehnte später König Wenzel eine Judenschuldtilgung verordnete, welche arme Christen bis zu einer festgesetzten Frist von ihrer Schulden befreite, erlitt die finanzielle Kraft der Juden einen weiteren Schlag. Schließlich bildete sich eine christliche Konkurrenz auf dem Gebiet der Geldgeschäfte heraus, welche die Juden aus dem lukrativen Geschäft verdrängte, und ihre fiskalische Bedeutung noch weiter verminderte.
Da die Juden nun ihre Geldgeschäfte mit der Mittel- und Unterschicht treiben mussten, entstanden latente soziale Konflikte, die der Obrigkeit Grund zur Sorge bereiteten. Aufgrund dieser sozialen Spannungen und wegen des Verlustes an ökonomischer Bedeutung bestand für die Herrscher kein besonderes Interesse, die Juden in ihren Städten beziehungsweise Territorien zu dulden. Hinzu kam, dass viele Herrscher ihren Herrschaftsbereich von äußeren Einflüssen reinigen wollten. Die Juden, die unter direktem Kaiserschutz standen, galten als Störfaktor für die ‚Autonomie' der regionalen Herrscher.
Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts stand im Zeichen von Umbrüchen in allen Lebensbereichen. Der Prozess der Herausbildung der territorialen Staaten führte zur Auflösung der mittelalterlichen, auf ein gegenseitiges, persönliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herrscher und Vasall beruhenden Herrschaftsform. Damit verbunden waren auch die Auseinandersetzungen der Kaiser mit den Fürsten und städtischen Magistraten um die universellen und partikularen Rechte und um Macht. Im wirtschaftlichen Bereich begann sich ein frühkapitalistisches Wirtschaftssystem zu etablieren, das alle bis dahin bekannten und praktizierten Wirtschaftsbeziehungen veränderte – vor allem was die Geldwirtschaft betrifft. Dazu kamen noch mehrere Krisenjahre, in denen es Ernteausfälle, Pestwellen und andere Epidemien sowie kriegerische Auseinandersetzungen gab. Auch klimatische Veränderungen verschärften diese Entwicklungen. Schließlich trug auch das Bevölkerungswachstum zur Verknappung der Ressourcen und diese wiederum zu Teuerungswellen bei. Wachsende Armut, soziale Unruhen und gegenseitiges Misstrauen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen waren die Resultate dieser Entwicklungen.
In dieser Zeit der Unruhen und Umbrüche kamen zwei neue geistige Strömungen auf, die auch eine neue Elite von Gelehrten hervorbrachten, die die Missstände der Gesellschaft und des Staates benannte und kritisierte. Die erste dieser Strömungen war der Humanismus, der als „Ausdrucksform des geistigen Lebens der Renaissance“ [3] angesehen werden kann. Die zweite war die Reformation, die zwar in erster Linie eine rein theologische Angelegenheit war, die aber zu massiven Veränderungen in der deutschen und europäischen Politik und Gesellschaft führte beziehungsweise diese aktiv mitgestaltete.
Charakteristisch für beide Strömungen waren ihre Orientierung an der (paganischen bzw. christlichen) Antike und der Versuch, die Gesellschaft nach ihren Idealen zu reformieren. Deswegen gerieten sie häufig in Konflikt mit den alten politischen, religiösen und Bildungseliten. Gemeinsam war beiden Strömungen auch die Bedeutung, die sie den antiken Sprachen und Schriften beimaßen. In diesem Kontext spielte sowohl ihre Hochschätzung der hebräischen Sprache als auch die Wiederentdeckung des Alten Testaments als Quelle der eigenen Religion eine wichtige Rolle. Aus diesen beiden Gründen – die Reform der Gesellschaft und das wachsende Interesse am Hebräischen und am Alten Testament – mussten sich die neuen Gelehrten mit den Juden ihrer Zeit, die Teil der Gesellschaft waren, und mit dem Judentum, das der Ursprung der christlichen Religion war, auseinandersetzen. Sie mussten sich mit ihnen befassen und manche grundsätzliche Fragen erörtern: Welchen Platz sollten die Juden in einer neu geordneten christlichen Gesellschaft haben? Sollte man sie dulden und sogar in die Gesellschaft integrieren? Oder sollte man sie lieber vertreiben und so wenige Kontakte wie möglich mit ihnen pflegen? Welche Rechte standen ihnen zu, welche sollten ihnen eingeräumt und welche verweigert werden? Die Beschäftigung mit solchen politisch-rechtlichen Fragen – für die Zeit als weltliche Fragen angesehen – bildete die ‚Judenfrage‘ [4] für das Deutschland des frühen 16. Jahrhundert.
Diese Fragen wurden aber nicht in einem luftleeren Raum gestellt. Die neuen Gelehrten mussten um ihre Ideen und Überzeugungen gegen die alten Eliten ringen. Es kam zu spektakulären Streiten, die mit dem neuen Medium der Flugschriften eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Auch die „Judenfrage“ wurde immer öfter öffentlich debattiert. Der erste dieser Streite war die Schriftenschlacht zwischen Johannes Reuchlin und dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn über die Frage, „ob man den Juden ihre Bücher wegnehmen abtun und verbrennen soll“. Dieser Streit wurde bald zu einer grundlegenden Auseinandersetzung um die Rechte und den Status der Juden im Reich. Die Auffassung Reuchlins, dass die Juden Mitbürger im Reich seien, die nicht einer willkürlichen Repression, wie der Bücherkonfiskation ausgesetzt werden dürften, erregte die Gemüter der Zeit und löste die größte öffentliche Debatte im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (und darüber hinaus) in der Phase unmittelbar vor der Reformation aus. Der Ausstellungsraum über den Reuchlin-Pfefferkorn-Streit skizziert die Anfänge dieser Debatte, als die „Judenfrage“ im Zentrum der Auseinandersetzungen stand.
Nicht umsonst heißt die hier dargestellte Epoche Reformationszeitalter. Die Reformation, die durch Martin Luthers 95 Thesen und die neue Theologie des Theologieprofessors und Augustinermönchen aufkam, verursachte in den darauffolgenden Jahrzehnten massive politische und soziale Auseinandersetzungen, die fast jeden Bereich des Lebens berührten. Auch in der „Judenfrage“ vertrat der große Reformator zunächst eine sehr ungewöhnliche und vor allem judenfreundliche Position. Dies änderte sich später und Luther wurde vom „Judenfreund“ zum „Judenfeind“. Seine späten Judenschriften beeinflussten mehr als jede andere politische oder theologische Meinung die Judenpolitik der protestantischen Fürsten und Städte. Der Ausstellungsraum über Martin Luther und die Juden zeichnet die wandelnde Einstellung des Reformators zu den Juden nach und zeigt, welche Einflüsse seine Schriften auf seine Zeitgenossen und die zeitgenössische Politik ausübten.
Das Zeitalter der Reformation war nicht nur eine Zeit der Verfolgungen und Polemik gegen bzw. über Juden. In dieser Zeit fand die Judenschaft im Reich auch eine außerordentliche Führung in der Person des Josel (Joseph) von Rosheim. Dieser Mann, der als der Befehlshaber der Juden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in die Geschichtsbücher eingegangen ist, war unumstritten die einflussreichste jüdische Person der Zeit. Als Reformator, Anwalt, Lehrer, Apologet, Führer und Fürsprecher wirkte er an allen Ecken des Reichs. Bei Fürsten, Bischöfen, städtischen Magistraten und beim Kaiser trat er für die Rechte seiner Glaubensgenossen ein, verteidigte sie gegenüber Beschuldigungen aller Art, verhinderte Verfolgungen und Vertreibungen gegen sie und erwirkte Privilegien, die ihre Existenz und ihr Wohl im Reich sicherten. Der Ausstellungsraum über Josel von Rosheim, den Befehlshaber der Judenschaft im Reich gibt einen bescheidenen Einblick in das Leben und Wirken dieses ungewöhnlichen Mannes, der viel dazu beitrug, dass die Juden im Reich sich politisch organisierten und für ihre Rechte kämpften.
Der Ausstellungsraum über die Judenpolitik Kaisers Karls V. versucht, diese in den Gesamtzusammenhang von Reformation und Reichspolitik zu bringen. Karl V. spielte beim Kampf der Juden (Josel von Rosheim) um eine sichere Existenz und den Erhalt ihrer Rechte eine herausragende, bislang zu wenig beachtete Rolle. Schon seit seinem Krönungstag 1520 gewährte, bestätigte und erneuerte der Herrscher den Juden Privilegien und Schutzbriefe. Dabei dehnte er den Wirkungsbereich älterer Privilegien über das gesamte Reichsgebiet aus, sodass alle Juden von diesen profitierten. Den Höhepunkt seiner Privilegienpolitik gegenüber den Juden erreichte er 1544 mit seinem großen Speyer-Privileg, das hier zum ersten Mal veröffentlicht wird. Dieses Privileg stellt das unmittelbare Gegenstück zu Luthers judenfeindlicher Agitation dar. Aber die Zeit seiner Regentschaft war, wie bereits erwähnt, eine sehr unruhige Periode. Es war vor allem eine Zeit der Umwälzungen und der Kaiser musste immer wieder an seiner hegemonialen Macht einbüßen. Eine zu judenfreundliche Politik hätte nicht standgehalten und wäre auch nicht im Sinne des fromm-katholischen Kaisers gewesen. Allerdings ist es bezeichnend, dass die Bestimmungen der Reichspolizeiordnungen über die Juden und ihre Geschäfte moderater als sonst ausfielen, als der Kaiser am Höhepunkt seiner Macht war.
Der letzte Abschnitt über die „Judenfrage“ im Zeitalter der Reformation beschäftigt sich mit der Judenpolitik des hessischen Landgrafen Philipps des Großmütigen . Als einer der ersten Landesherrscher (und als erster protestantischer Fürst) versuchte Philipp die „Judenfrage“ in seinem Territorium rechtlich zu regeln. Dabei musste er sowohl auf die reformatorische Theologie, der er sich verpflichtete, als auch auf die in der Reichspolizeiordnung festgehaltenen Bestimmungen sowie auf die Einschränkungen seiner Rechte über Juden, die ja bekanntlich dem direkten Schutz des Kaisers unterstanden, Rücksicht nehmen. Vor allem aber musste der Landgraf seine Politik mit seinem Gewissen vereinbaren können. Alle diese Aspekte spielten eine Rolle, als Philipp 1539 seine Judenordnung verabschiedete. Diese Auseinandersetzungen und die verschiedenen Akteure, die sich zu Wort meldeten, sollen anhand der Dokumente in diesem Abschnitt zum Vorschein kommen.
Die Geschichte der Juden im Reformationszeitalter nachzuerzählen, ist keine einfache Aufgabe. Verfolgungen, Vertreibungen, Agitation und Einschränkungen waren nur die eine Seite der Medaille. Die andere bildeten die Verteidigungsschriften und Fürsprachen für die Juden durch christlichen Theologen und Juristen sowie die Gesetze und Privilegien, die den Juden Schutz versicherten und Rechte gewährten. Dass dabei die gleichen Personen mal die Ankläger und mal die Verteidiger waren, war typisch für die Zeit. Die Haltung Luthers und Bucers sind ein Beispiel für dieses Phänomen. Aber auch die Politik des sächsischen Kurfürsten und in gewisser Weise die des Kaisers spiegeln diese Widersprüchlichkeit wieder.
Einen Teil der Geschichte der Juden zur Zeit der Reformation darf man dabei nicht vergessen: die Juden selbst. Sie blieben keinesfalls untätig, wenn es darum ging, für ihre Rechte zu kämpfen. Josel von Rosheim war zwar eine Ausnahme, was den Umfang seiner Tätigkeiten und die Erfolge, die er erzielen konnte, betrifft. Aber auch die Juden von Hessen und die aus Frankfurt sahen den Verfolgungen und drohenden Diskriminierungen nicht tatenlos zu. In jedem Ausstellungsraum wurde versucht, diese Seite der Geschichte mit zu erzählen und möglichst hervorzuheben, auch wenn die Bemühungen der Juden oder deren Anführer nicht immer erfolgreich waren.
Bearbeitet von: Avraham Siluk
[1] Folgende Vertreibungen verdienen eine Erwähnung: Innerösterreich (1420), Sachsen (1432), Bayern (1442/1450), Mecklenburg (1492), Württemberg (1498), Brandenburg (1510), Ansbach-Bayreuth (1515); aus geistlichen Territorien: Trier (1418), Würzburg (1453), Mainz (1470), Bamberg (1475), Passau (1478), Salzburg (1498); sowie aus den Reichstädten: Köln (1424), Augsburg (1440), Nürnberg (1498) und wie oben erwähnt Regensburg (1519).
[2] Dies hing mit Verdrängung der Juden aus den Handwerken und Zünften zusammen, die schon seit dem ersten Kreuzzug dokumentiert ist. Aber nicht nur dadurch wurden die Juden ausgegrenzt und ausgeschlossen. Die verschiedenen päpstlichen und seit dem 15. Jahrhundert vermehrt auch die obrigkeitlichen Edikte bewirkten die Ausgrenzung der Juden von der christlichen Gesellschaft in fast allen Bereichen des Lebens. So sollte es laut verschiedenen Mandaten und Ordnungen des 15. Jahrhunderts Juden nicht gestattet sein, christliche Bedienstete zu beschäftigen, und Christen sollte die Behandlung durch jüdische Ärzten verboten sein. Darüber hinaus mussten die Juden bestimmte Kleidungsstücke oder Kennzeichen tragen, die sie von den Christen unterschieden.
[3] Mit Renaissance wird die kulturelle Bewegung gemeint, deren Anfang in Italien zu finden ist, die eine Hinwendung zur Antike vollzog und den Wunsch nach deren Wiedergeburt hatte.
[4] Der Begriff Judenfrage stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist durch seine Verwendung durch Antisemiten und später durch die Nationalsozialisten negativ beladen. Deswegen soll dieser Begriff in diesem Rahmen in Anführungszeichen stehen.

Martin Luther und die Juden - Martin Luther gegen die Juden
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seit den Nürnberger Prozessen [1] geriet die Lutherforschung und die evangelische Theologie in eine „Erklärungsnot“: War Luther ein Antisemit? Und war er ein Vordenker des Nationalsozialismus? Was bedeuteten Luthers antijüdische Schriften für die evangelisch-lutherische Bekenntniskirche? Mittlerweile ist dieses Forschungsfeld so ausführlich behandelt worden, dass Johannes Brosseder eine ganze Monographie nur über die Interpretationen zu Luthers Einstellung zu den Juden veröffentlichen konnte.
Die Brisanz des Themas und die Tatsache, dass kein anderer Reformator sich so oft und so ausführlich über Juden äußerte, wie Luther es in seinen Bibelkommentaren, Briefen, Traktaten, Tischreden, Predigten und in seinen so genannten „Judenschriften“ tat, führte oft zu Verwirrungen über das Thema. In der Tat umspannte das Thema Juden und Judentum in theologischer, historischer und zeitgenössischer Hinsicht Luthers gesamtes Werk und war ein „Eckstein seiner Theologie“ (Oberman). Der Grund dafür war vor allem, dass die Juden „das Gegenbild dessen, was für Luther Christsein bedeutete“, darstellten (Kaufmann). Welche politischen Konsequenzen er aus seiner grundsätzlichen Einstellung in seinen Schriften zog, und welche Vorschläge er infolgedessen den Obrigkeiten und seinen Glaubensbrüdern machte, hing aber nicht allein von seiner theologischen Haltung ab. In jeder seinen Schriften finden sich Hinweise auf die Motive, die ihn zum Verfassen dieser Werke bewegten. Sie entstanden also in bestimmten politischen und sozialen Kontexten.
Die vielen Studien und Untersuchungen zu Luthers Schriften über Juden belegen: Seine Stellung zu den Juden im politisch-weltlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich kann nicht mit seiner theologischen Haltung den Juden und dem Judentum gegenüber gleichgesetzt werden. Darüber hinaus wurde eindeutig festgestellt, dass Luthers Einstellung zur „Judenfrage“ einen umfassenden Wandel erlebte, während seine Vorstellung von Juden im theologischen Bereich konstant blieb.
Noch vor dem Beginn der Reformation äußerte sich Luther zum Judenthema und zwar im Kontext des Reuchlinstreits. Luther fällt folgendes Urteil über die Juden und ihre Bücher: Aus der Bibel entnahm er,
dass die Juden GOtt und ihren König Christum schmähen und lästern werden. Und ich gestehe, daß der, welcher dies nicht gelesen hat oder nicht versteht, die Theologie noch nicht gesehen habe. Und deshalb nehme ich an, daß die Kölner die Schrift nicht auflösen können, weil es so geschehen und die Schrift werden muß. Und wenn sie es unternehmen sollten, die Juden von Gotteslästerungen zu reinigen, so werden sie das ausrichten, daß die Schrift und GOtt lügenhaft erscheine.[2]
Zu dieser Zeit hatte Luther zwar eine schlechte Meinung über die Juden. Er folgerte daraus aber nicht, dass man ihnen irgendetwas verbieten oder sie in irgendeiner Art und Weise in ihrem Verhalten oder ihrer Religionsausübung behindern sollte oder durfte. Er vertraute völlig auf die Heilige Schrift und darauf, dass nur Gott darüber zu entscheiden habe, was gegen ihre Lästerungen zu unternehmen sei. Denn sie sind durch GOttes Zorn so in verstockten Sinn dahingegeben, daß sie […] unverbesserlich sind, und jeder Unverbesserliche wird durch die Züchtigung ärger und niemals gebessert.
Luther war gegen jede Form von religiösem Zwang. Eine Bekehrung, wenn sie auf Zwang beruhe, konnte seiner Meinung nach deswegen nicht gelingen, weil Gott von Innen wirkt, nicht der Menschen die nur von außen vielmehr spielen als wirken. Eine wahrhaftige Bekehrung konnte sich für ihn nur durch einen innerlichen Vorgang vollziehen, der durch Gott verursacht werde. Dieser Vorgang könne aber durch eine Belehrung und Verbreitung des Wortes Christi gefördert werden.
In diesem Geiste verfasste er seine erste Judenschrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523). Darin ruft Luther die gläubigen Christen dazu auf, die Juden in ihre Mitte einzulassen, sie durch gute Nachbarschaft, durch Nächstenliebe und Barmherzigkeit, und durch einen friedlichen Dialog dem Evangelium anzunähern. Dazu müssten alle Diskriminierungen, alle Unterdrückungsformen und jede Art vom Ausschluss den Juden gegenüber beseitigt werden. Nur dadurch bestehe die Möglichkeit, dass sich Juden Gott und dem Christentum öffnen und sich wahrlich bekehren würden. Nicht zu übersehen ist aber, dass Luther seine sehr judenfreundliche Meinung in einer Polemik gegen seine größten Gegner, die „Papisten“ formulierte. Außerdem hätte die Aussicht darauf, dass sich viele Juden durch die neue Politik zur reformierten Religion bekehren lassen würden, ein großer Sieg für die Reformationsbewegung bedeutet. Eine pro-jüdische Einstellung kann hier keineswegs festgestellt werden. (Dokument Nr. 1)
Die durchaus freundliche Haltung, die Luther 1523 den Juden gegenüber entgegenbrachte, wandelte sich radikal in den darauffolgenden Jahren. Schon 1537 gab es die ersten Anzeichen, dass Luther mit der judenfreundlichen Politik brechen wollte, als er Josel von Rosheim einen geärgerten Brief schrieb, in dem er sich beklagt, dass die Juden seine Schrift dafür missbraucht hätten, in ihrer Religion verstockt zu bleiben. Er verweigerte Josel dann die Hilfe, um die dieser bat, die Judenvertreibung aus Sachsen zu verhindern. Darüber hinaus kündigte er an, er wolle eine neue Schrift schreiben, in der er beweise, dass der jüdische Glaube falsch sei. (Dokument Nr. 4)
Letztendlich verfasste Luther nicht eine, sondern insgesamt vier Schriften gegen die Juden, die nicht nur ihren Glauben bezichtigte, sondern die Juden selbst als Feinde der Christen und des Christentums angreift. Die Konsequenzen, die er daraus zog, waren, dass man die Juden mit aller Kraft unterdrücken soll. Man soll alles dafür tun, um die Christen von ihrer angeblichen Schädlichkeit zu beschützen und letztendlich hielt er es für unvermeidbar, dass man die Juden aus den christlichen Territorien ganz vertreiben soll.
In der ersten dieser Schriften, „Wider die Sabbather“ (1538) reagierte Luther auf Gerüchte aus Böhmen, Mähren und Polen, denen zufolge die Juden Christen verführt haben sollen, sich beschneiden zu lassen, daran zu glauben, dass der Messias noch nicht gekommen sei, und sich an die jüdischen Gesetze zu halten, allem voran die Einhaltung der Sabbat als Ruhetag. Diese Schrift war vor allem ein Versuch der Widerlegung des jüdischen Glaubens, um die Neujuden zurückzugewinnen und beinhaltete keine extreme Polemik gegen Juden, wie die folgenden Schriften es tun werden.
Diese Schrift war allerdings nicht die verkündete Schrift aus dem Brief an Josel. Diese kam erst 1543 heraus. „Von den Juden und ihren Lügen“ war Luthers ausführlichste und radikalste, antijüdische Schrift. Der Anlass ist schon bekannt: Die Juden bleiben verstockt in ihrer Religion, benutzen Luthers erste Schrift noch dazu, das zu rechtfertigen und versuchen Christen zu verführen. Hinzu kam der Einfluss der Endzeiterwartungen, welche die Geschehnisse der Zeit als Zeichen für das Jüngste Gericht gedeutet wurden. Luther vertrat in diesem Kontext die Meinung, dass man sich vor Gott schuldig mache, wenn man es zulässt, dass in seinem Lande gegen Gott gelästert und verflucht werde. Wie schon in seiner ersten „Judenschrift“ war der wesentliche Teil eine Widerlegung der jüdischen Glaubensgrundsätze, die aber in scharfen, polemischen Angriffen ausartete. Seine Schlussfolgerung, wie mit den Juden zu halten sei, - die sogenannte „scharfe Barmherzigkeit“ – konnte, wie schon oben angeführt, nicht schlimmer ausfallen. (Dokument Nr. 5 /6)
Noch im gleichen Jahr veröffentlichte Luther eine weitere Schrift gegen die Juden, in der er sie mit dem Teufel selbst gleichsetzte und sie der Zauberei bezichtigte. Diese schwerwiegenden Beschuldigungen fielen in einer Zeit, in der auch Hexen verfolgt wurden, die auch angeklagt wurden, mit dem Teufel im Pakt zu stehen. Die zeitgenössische, herrschende Endzeiterwartung, die von Luther oft angesprochen war, ließ die Juden in diesem Kontext erneut als der Antichrist selbst erscheinen. Solche Vorwürfe verursachten häufig Aufruhr im Volk, der mit Ausschreitungen oft endete. (Dokument Nr. 7)
Die letzte Aussage Luthers zum Thema Juden geschah 3 Tage vor seinem Tod in einer Predigt. In seiner „Vermahnung wider die Juden“ stellt er noch einmal eindeutig seine Forderungen dar: die Juden sollen nicht unter Christen geduldet werden, wenn sie sich nicht bekehren. (Dokument Nr. 10)
Luthers Aussagen über die Juden und seine Vorschläge, wie man mit ihnen umgehen soll, hatten aufgrund seines enormen Einflusses weitreichende Wirkungen. Die Zeit nach Veröffentlichung seiner ersten „Judenschrift“ war durch Annährungsversuche charakterisiert. Es existieren mehrere Flugschriften, die von freundschaftlichen Gesprächen und freundlichem Umgang berichten. Die Frage nach einer Austreibung der Juden aus protestantischen Territorien stand in dieser Zeit selten zur Debatte. Darüber hinaus ist es kaum vorstellbar, dass eine Schrift wie die Osianders in einer anderen Atmosphäre hätte entstehen können. Osiander untersucht die Beschuldigung gegen die Juden. Diese besagt, die Juden würden Christenblut gebrauchen, um ihre Rituelle durchführen zu können. Seine Schrift lehnt diese Beschuldigung so vehement ab und widerlegt sie durch solche überzeugende Argumente, dass man fast von einer Verteidigungsschrift des Reformators reden kann. (Dokument Nr. 3)
Die Vertreibung der Juden aus Sachsen (Dokument Nr. 9) und aus anderen Territorien und Städten (z.B. Hildesheim und Braunschweig) sowie andere Debatten über die Duldung und die Rechte der Juden in protestantischen Territorien (Siehe Ausstellungsraum über Landgraf Philipp von Hessen ) scheinen aber den gleichen Ton wiederzugeben, der aus Luthers späteren, antijüdischen Schriften hervorgeht. Auch spätere Auseinandersetzungen über die „Judenfrage“ zogen oft Luthers Argumentation als Begründung für scharfes Vorgehen gegen die Juden heran. Sowohl in den Berichten über die Pläne für eine Gesamtvertreibung der Juden aus dem Reich (1545), als auch im Speyerer Judenprivileg Kaiser Karls V. (1544) lassen sich Passagen aus Luthers judenfeindlichen Schriften wiedererkennen, die als Beweggründe für oder gegen bestimmte Maßnahmen, die die Juden betreffen, herangezogen wurden (siehe Ausstellungsräume über Kaiser Karl V . und Josel von Rosheim ).
Bearbeitung: Avraham Siluk
[1] Julius Streicher, Herausgeber des nationalsozialistischen Hetzblatts „Der Stürmer“ sah in Luther offensichtlich ein Vorgänger der Nationalsozialisten mit seinen antijüdischen Schriften. Er sagte in seinem Prozess: „Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklageband, wenn dieses Buch [„Von den Juden und ihren Lügen“] von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde“. Zitiert nach: Stöhr, Martin Luther und die Juden, S. 89. Auch der Philosoph Karl Jaspers sah einen Zusammenhang zwischen Luther und dem Nationalsozialismus: „Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern“, zitiert nach: Domörs, Arne, ...ob ich villeicht , S. 229. (Siehe Literaturangabe oben)
[2] Luther in einem Brief an Georg Spalatin von 1514. In: Luther, Martin, Sämtliche Schriften, Bd. 21, Dr. Martin Luthers Briefe, Teil 1: Briefe vom Jahre 1507 bis 1532 Incl., hrsg. v. Johannes Georg Walch, Nachdruck der 2., überarbeiteten Aufl. Groß Oesingen 1987, Sp. 9f.
Weiterführende Literatur zum Thema Luther und die Juden:
Brosseder, Johannes, Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten. Interpretation und Rezeption von Luthers Schriften und Äußerungen zum Judentum im 19. Und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum (Beiträge zur Ökumenischen Theologie, Bd. 8), München 1972.Domörs, Arne, ...ob ich villeicht auch der Juden ettliche mocht tzum glauben reytzen. Martin Luther und die Juden, In: Ders/ Thomas Bartoldus/ Julian Voloj (Hrsg.), Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch, Berlin 2002, S. 229-266.
Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981; Bienert, Walther, Martin Luther und die Juden, Frankfurt/M 1982;
Lewin, Reinhold, Luthers Stellung zu den Juden: Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters, Berlin 1911.
Kremers, Heinz (Hrsg.), Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden. Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderungen, Neukirchen 1985.
Kaufmann, Luthers „Judenschriften“ in ihren historischen Kontexten, Göttingen 2005.
Von der Osten-Sacken, Peter, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der ganz Jüdisch Glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002;
Im Frühjahr 1523 wurde ‚Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei‘ veröffentlicht und erreichte neun Auflagen in kurzer Zeit. Der Anlass für ‚Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei‘ war eine Lüge, die Luthers Gegner, die Papisten, gegen ihn verbreitet haben. Nämlich, dass er die Jungfräulichkeit Marias verleugnet und darüber hinaus eine neue Ketzerei gepredigt haben [soll], dass Christus Abrahams Same sei. Luther hielt diese Beschuldigung zuerst für einen schlechten Scherz und wollte darauf nicht antworten. Aber da er von anderen dazu aufgefordert wurde und um anderer Willen entschied er sich die Schrift zu verfassen, nicht einfach, um sich vor dieser Beschuldigung zu verteidigen, sondern auch mit der Absicht, ob ich vielleicht auch der Juden etliche möchte zum Christenglauben reizen.
Die Reaktionen auf ‚Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei‘ waren vielfältig. Die Unterstützer Luthers zeigten große Zustimmung, ja sogar Begeisterung mit den Aussagen der Schrift. Viele teilten nämlich Luthers Ansicht, dass durch die Verbreitung von Gottes Wort sich Juden bekehren lassen würden. Der Vorschlag, man solle auf der Grundlage des Alten Testaments ein Gespräch mit den Juden führen, stieß auf großen Beifall, da das Studium dieser heiligen Schrift zum Bestandteil der Ausbildung der reformatorischen Theologen geworden war.
Luthers Gegner reagierten auf seine Schrift mit dem üblichen Vorwurf des ‚Judaisierens‘, das heißt, er würde den christlichen Glauben mit jüdischen Elementen verunreinigen. Einige Jahre später wurde Luther wegen dieser Schrift verspottet, denn seine Erwartung, etliche Juden würden sich bekehren lassen, wenn man die im Werk enthaltenen Vorschlägen befolgen würde, erfüllten sich nicht. Stattdessen habe sich der Hass der Juden auf die Christen lediglich verstärkt. Die Reaktionen der Juden auf Luthers Schrift waren, erwartungsgemäß, äußerst positiv. Überhaupt ließ die Reformation bei vielen Juden Sympathie und positive Erwartungen aufkeimen. Das Interesse für die hebräische Sprache und für das Alte Testament wurde als Anzeichen dafür gesehen, dass die Christen nun Juden werden würden. Luther wurde als Vormessias und ein „vielversprechendes Licht“ hochgepriesen. Seine Schrift von 1523 verstärkte noch dieses Gefühl. Sie wurde durch jüdische Gemeinden verbreitet und es wurden spanische und hebräische Übersetzungen von Auszügen aus der Schrift verfertigt, die nach Spanien und Palästina geschickt wurden.
A. Siluk
Aufgaben:
1. Luther verwarf den Gedanken der Missionierung schon einige Jahre vor dem Abfassen dieser Schrift. Er war der Überzeugung, dass nur Gott auf die Juden von Innen wirken könnte und dass keine menschlichen Bemühungen sie bessern würden. Allerdings lassen sowohl seine im Werk formulierten Absichten, als auch die Reaktionen auf das Werk den Eindruck entstehen, es handelte sich um eine Missionsschrift. Was ist Ihre Meinung dazu, handelt es sich um eine solche Schrift, oder erfüllte das Werk andere Funktion(en)? (Eine kleine Hilfe: Fragen Sie sich, wen Luther als Zielpublikum hatte?)
2. a) Welche Verbesserungen hätten die Juden erwarten können, wenn die in der Schrift enthaltenen Vorschläge von Luthers Anhängern befolgt worden wären? Hätte es auch negative Folgen nach sich ziehen können?
b) Könnte man in Zusammenhang mit dieser Schrift und im Kontext der Reformation von einem ersten Schritt Richtung Emanzipation der Juden reden?
Dieser Brief wurde zusammen mit der Übersetzung von Luthers Schrift "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" [1523] durch Justus Jonas herausgegeben und erschien deswegen zuerst auf Latein. Luther verfasste diesen Brief an Bernhard, "einen bekehrten Juden", damit dieser in seinem Glauben bekräftigt und bestätigt fühlen werde. Bernhard ist wahrscheinlich der 'fromme getaufte Jude', den Luther in seiner Schrift erwähnt. Mit diesem Brief werden einige von Luthers Motiven erkennbar, seine erste "Judenschrift" zu verfassen.
Der Nürnberger Reformator und Humanist Andreas Osiander war einer der wichtigsten christlichen Kenner der jüdischen Geschichte, Religion und Kultur seiner Zeit. Er war auch einer der wichtigsten Hebraisten, der unter anderem nach dem Verständnis des jüdischen Talmuds und der Kabbala strebte, in denen, so glaubte er, „reiche Zeugnisse von Christus verborgen seien“. Grundsätzlich behandelte Osiander die Juden mit Respekt und zeigte auch Achtung vor deren Kultur und gelehrten Schrifttum. Er glaubte fest daran, dass die Juden sich bekehren lassen würden und deswegen setzte er sich für sie ein, wenn sie sich bekehrungswillig zeigten. Er scheute aber auch sonst nicht den Kontakt mit Juden. Allerdings sah er in den Juden Ungläubige und Feinde des wahren Glaubens. Sie hatten, seiner Meinung nach keinen Platz innerhalb der christlichen Gesellschaft. Deswegen wandte er sich nicht gegen ihre Vertreibung aus Nürnberg (1498).
Die vorliegende Schrift über die Blutbeschuldigung von 1529 war ursprünglich ein Antwortbrief auf eine Anfrage eines unbekannten Freundes. Dieser schickte Osiander eine Flugschrift über einen Fall von Kindesmord in Pösing, Ungarn, bei dem die ortsansässigen Juden des Ritualmordes beschuldigt wurden. Die Juden sollen, laut der Flugschrift, das Blut des 9 jährigen Jungen für die Salbung ihrer Priester (Cohanim) benutzt haben. Nach einer peinlichen Befragung gestanden diese die Beschuldigungen und wurden nach einem schnellen Prozess verurteilt. Circa 30 Juden, darunter auch Frauen und Kinder, wurden in Folge dessen verbrannt.
Nun fragte der Freund nach Osianders Meinung zur Sache. Osiander, der verhindern wollte, dass Unrecht geschehen oder sich wiederholen würde, sah sich verpflichtet ein Gutachten zu erstellen. Er argumentierte, dass ein Stillschweigen für ihn unmöglich gewesen sei, weil er sich vor Gott schuldig gemacht hätte, wenn er tatenlos dem Rechtsbruch zusah.
In der Schrift schilderte der Reformator 20 Argumente, warum die Blutbeschuldigungen im Allgemeinen weder der Vernunft noch der Wirklichkeit entsprächen. Damit versuchte er seine Überzeugungen mit sachlichen, auf Wissen beruhenden und vernunftgeleiteten Begründungen zu untermauern. Im nächsten Schritt wandte sich Osiander dem Fall aus Pösing zu und führte 12 Punkte auf, welche die Rechtmäßigkeiten im Gerichtsprozess in Zweifel zogen. Da er zur Aufklärung des Falls beitragen wollte, schrieb er, wie der eigentliche Täter gefunden werden könne. Osianders Überlegungen leiteten ihn zur Überzeugung, dass die Juden nichts mit dem Fall des Kindesmordes zu tun hatten.
Nach einer Auskunft über den weiteren Verlauf und den Ausgang des Prozesses hatte Osiander mit seinen Vermutungen Recht, dass verschuldete Christen – in diesem Fall Graf Wolf von Pösing – hinter der ganzen Angelegenheit standen. 1540 spielte diese Schrift wieder eine Rolle bei einem Fall von Ritualmordbeschuldigung. Die Juden von Sappenfeld und der Umgebung wurden beschuldigt, den Mord an einem vierjährigen Knaben begangen zu haben, um das Blut des Kindes für rituelle Zwecke zu missbrauchen. Man ließ infolgedessen alle Juden in der umliegenden Region vor das bischöfliche Gericht in Eichstätt vorladen. Dabei erschienen auch zwei Juden, die zu ihrer Verteidigung ein gedrucktes Büchlein übergaben, das die Juden vor der Blutbeschuldigung verteidigte. Zwar ist es nicht klar, welche Rolle die Schrift in der Entscheidung des Bischofs spielte, aber man weiß, dass es hier zu keiner Judenverfolgung kam.
Aber dieser Fall hatte ein Nachspiel: Die Schrift weckte die Neugier des Eichstätter Bischofs, und dieser ließ sie dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck vorlegen. Eck reagierte empört auf diese Schrift. Er reiste zurück nach Ingolstadt, wo er an einer Schrift arbeitete, die eine ausführliche Widerlegung des Traktats bieten sollte. 1541 veröffentlichte er ‚Ains Judenbüechlins verlegung‘, eine Abhandlung, die sich mit Osianders Büchlein Argument für Argument auseinandersetzte und diese zu entkräften versuchte. Neben dieser Widerlegung trug er alle erdenklichen Anklagen und Vorurteile, die in dieser Sache gegenüber den Juden bestanden zusammen. Eine Antwort Osianders auf diese Schrift ist nicht bekannt. Die Lage der Juden wurde aber wieder gefährlicher.
A. Siluk
Weiterfürhende Literatur:
- Moritz Stern, Andreas Osianders Schrift über die Blutbeschuldigung (Ob es war und glaublich sey, dass die Juden der Christen kinder heimlich erwürgen und jr blut gebrauchen), Kies 1983. (Online Ressource: Judaica Sammlung Frankfurt ).
- Gerhard Philipp Wolf, Osiander und die Juden im Kontext seiner Theologie, in: Zeitschrift für bayrische Kirchengeschichte, 53 (1984), S. 49-77.
Brief Martin Luthers an Joseph von Rossum, in dem er es ablehnt sich beim Kurfürsten für Joseph und die "Jüdischheit" zu verwenden, Wittenberg, 11. Juni 1537
Dieser Brief Luthers gilt als erster deutlicher Beleg für die grundsätzliche Wendung des Reformators gegen die Judenschaft im Reich und die Aufkündigung jeglicher Koexistenz von Christen und Juden. Der Anlass für dieses Schreiben war das Empfehlungsschreiben Wolfgang Capitos (und Martin Bucers) an Luther. Diese erfüllten Josel von Rosheims Bitte, ihm dabei zu helfen, die Entscheidung des sächsischen Kurfürsten, die Juden des Landes zu verweisen, rückgängig zu machen.
Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543
[Druck: Jenaer Ausgabe, 1562, Bd. VIII, Bl. 49-50, Bl. 92-101. Transkript (Auszüge) nach Martin Luther, Schriften wider Juden und Türken, München 1936, S. 61ff, S. 185ff.]
Vorrede:
Ich hatte mir wohl vorgenommen, nichts mehr, weder von den Juden noch wider die Juden zu schreiben. Aber weil ich erfahren, daß die elenden, heillosen Leute nicht aufhören, auch uns, das ist die Christen, an sich zu locken, hab' ich dies Büchlein lassen ausgehen, damit ich unter denen erfunden werde, die solchem giftigen Vornehmen der Juden Widerstand getan und die Christen gewarnet haben, sich vor den Juden zu hüten. Ich hätte nicht gemeint, daß ein Christ sollte von den Juden sich lassen narren, in ihr Elend und Jammer zu treten. Aber der Teufel ist der Welt Gott, und wo Gottes Wort nicht ist, hat er gut machen, nicht allein bei den Schwachen, sondern auch bei den Starken. Gott helfe uns, Amen.
Gnade und Friede im Herrn. Lieber Herr und guter Freund, ich habe eine Schrift empfangen, darinnen ein Jude mit einem Christen ein Gespräch hat, der sich unterstehet, die Sprüche der Schrift (so wir anführen für unsern Glauben, von unserm Herrn Christo und Maria, seiner Mutter) zu verkehren und weit anders zu deuten, damit er meinet, unsere Glaubens Grund umzustoßen.
Darauf gebe ich euch und ihm diese Antwort. Es ist mein Vorhaben nicht, daß ich wolle mit den Juden zanken oder von ihnen lernen, wie sie die Schrift deuten oder verstehen, ich weiß das alles vorher wohl. Viel weniger gehe ich da mit um, daß ich die Juden bekehren wolle, denn das ist unmöglich. Und die zween trefflichen Männer, Lyra und Burgensis, haben uns vor hundert und vor zweihundert Jahren neben andern mehr der Juden unflätiges Deuten treulich beschrieben und fürwahr stattlich widerlegt. Dennoch hilft's bei den Juden garnichts und sind immer für und für ärger geworden.
Auch weil sie so hart und schlägefaul geworden sind, daß sie nicht witzig werden wollen aus der schrecklichen Plage, daß sie nun über vierzehnhundert Jahre im Elende sind und noch kein Ende oder bestimmte Zeit durch so heftig ewiges Rufen und Schreien zu Gott (wie sie meinen) erlangen können. Helfen (sage ich) die Schläge nicht, so ist gut zu rechnen, daß unser Reden und Deuten viel weniger helfen wird.
Darum sei ein Christ nur zufrieden und zanke mit den Juden nicht, sondern mußt du oder willst du mit ihnen reden, so sprich nicht mehr als also: Hörest du, Jude, weißt du auch, daß Jerusalem und eure Herrschaft samt dem Tempel und Priestertum zerstöret ist, nun über 1460 Jahre? Denn dies Jahr, da wir Christen schreiben von der Geburt Christi 1552, sind's gerade 1468 Jahre und geht also ins 1500. Jahr, daß Vespasianus und Titus Jerusalem zerstöret haben und die Juden draus vertrieben. Mit diesem Nüßlein laß sich die Juden beißen und disputieren, solange sie wollen.
Denn solch grausamer Zorn Gottes zeigt mehr als genug an, daß sie gewißlich müssen irren und unrecht fahren; solches kann ein Rind wohl begreifen. Denn so greulich muß man nicht von Gott halten, daß er sollte sein eigen Volk so lange, so greulich, so unbarmherzig strafen und dazu stillschweigen, weder mit Worten noch Werken trösten, keine Zeit noch Ende bestimmen, wer wollte an solchen Gott glauben, hoffen oder ihn lieben? Darum beweist dies zornig Werk, daß die Juden, gewißlich von Gott verworfen, nicht mehr sein Volk sind, er auch nicht mehr ihr Gott sei. Und es gehet nach dem Spruch Hosea 1 [V. 9] „Lo Ammi. Ihr seid nicht mein Volk, so bin ich nicht euer Gott." Ja es gehet ihnen leider also, und allzu sehr und schrecklich. Sie mögen deuten, wie sie wollen, so sehen wir das Werk vor Augen, das trügt uns nicht.
Und wo ein Funke Vernunft oder Verstandes in ihnen wäre, müßten sie wahrlich bei sich also denken: Ach, HErr Gott, es stehet und gehet nicht recht mit uns, das Elend ist zu groß, zu lange, zu hart, Gott hat unser vergessen usw. Ich bin zwar kein Jude, aber ich denke mit Ernst nicht gern an solchen grausamen Zorn Gottes über dies Volk, denn ich erschrecke davor, daß mir's durch Leib und Leben gehet, was will's werden mit dem ewigen Zorn in der Hölle über falsche Christen und alle Ungläubigen? Wohlan, die Juden mögen unsern HErrn Jesum halten, wofür sie wollen, wir sehen, daß es also gehet, wie er sagt Luk. 21 [V. 20. 22 f.]: „Wenn ihr sehen werdet Jerusalem belagert mit einem Heer, so merket, daß herbeigekommen ist ihre Verwüstung, denn das sind die Tage der Rache. Und wird große Not im Lande sein und Zorn über dies Volk."
Summa, wie gesagt, disputiere nicht viel mit Juden von den Artikeln unsers Glaubens, sie sind von Jugend auf also erzogen mit Gift und Groll wider unsern Herrn, daß da keine Hoffnung ist, bis sie dahin kommen, daß sie durch ihr Elend zuletzt mürb und gezwungen werden zu bekennen, daß der Messias sei gekommen, und sei unser Jesus. Sonst ist's viel zu früh, ja gar umsonst, mit ihnen zu disputieren, wie Gott dreifaltig, Gott Mensch sei, Maria Gottes Mutter sei. Denn solches keine Vernunft noch menschlich Herz zuläßt, wie viel weniger solch ein verbittert, giftig, blind Herz der Juden. Was Gott selbst nicht bessert mit solchen grausamen Schlägen, das werden wir mit Worten und Werken ungebessert lassen (wie gesagt). Moses konnte den Pharao weder mit Plagen, noch mit Wundern, noch mit Bitten, noch mit Dräuen bessern, er mußte ihn lassen ersaufen im Meer.
So wollen wir nun, unsern Glauben zu starkem, der Juden etliche grobe Torheiten in ihrem Glauben und Auslegung der Schrift behandeln, weil sie so giftig unsern Glauben lästern. kommt's irgendeinem Juden zur Besserung, daß er sich schäme, ist's desto besser. Wir reden jetzt nicht mit den Juden, sondern von den Juden und von ihrem Tun, das unsere Deutschen auch wissen mögen. […]
[…]
Wiewohl nun solche teuflische Lüge und Lästerung, der Person Christi und seiner lieben Mutter getan, auch unser und aller Christen Person getan ist, denn sie meinen auch unsere Person damit, weil Christus und Maria tot sind, wir Christen aber so gar schändliche Leute sind, daß wir solche schändliche tote Personen ehren, so geben sie uns doch darüber auch unser besonder Teil. Erstlich klagen sie vor Gott über uns, daß wir sie im Elende gefangen halten und bitten heftig, daß Gott wollte sein heiliges Volk und lieben Kinder von unserer Gewalt und Gefangenschaft erlösen, heißen uns Edom und Haman, damit sie uns vor Gott wollen sehr wehe getan haben, welches sie sehr bitter meinen, und hier zu lang zu erzählen, denn sie selbst wohl wissen, daß sie hierin lügen, und ich mich nicht schämen wollte (wenn's wahr sein könnte), Edom zum Großvater zu haben, welcher ist der heiligsten Frau Rebekka natürlicher Sohn und der lieben Sara Enkel gewesen, Abraham sein Großvater, Isaak sein rechter Vater. Und Mose selbst gebeut, Deutero. 23 [5. Mos. 23 V. 8]: „Sie sollen Edom für ihren Bruder halten", ja sie halten Mosen, wie sie Juden sind.
Darnach lehren sie Gott und schreiben ihm vor die Weise, wie er sie solle erlösen, denn er ist bei den Juden, den hochgelehrten Heiligen, ein schlechter Schuster, der nicht mehr als einen linken Leisten hat, Schuh zu machen. Nämlich also: er solle uns Heiden durch ihren Messias alle totschlagen und vertilgen, damit sie aller Welt Hand, Güter und Herrschaft kriegten. Und hier gehen die Wetter über uns mit Fluchen, Lästern, Speien, daß es nicht zu sagen ist, wünschen uns, daß Schwert und Kriege, Angst und alles Unglück über uns verfluchte Gojim komme. Solch Fluchen treiben sie alle Sonnabend öffentlich in ihren Schulen und täglich in ihren Häusern, lehren, treiben und gewöhnen ihre Kinder dazu von Jugend auf, daß sie ja sollen bitter, giftig und böse Feinde der Christen bleiben.
Hieraus siehest du nun wohl, wie sie das fünfte Gebot Gottes verstehen und halten, nämlich, daß sie durstige Bluthunde und Mörder sind der ganzen Christenheit mit vollem willen, nun mehr als 1500 Jahre her, und wären's wohl lieber mit der Tat, wie sie denn oftmals drüber verbrannt sind, daß sie beschuldigt gewesen, als hätten sie Wasser und Brunnen vergiftet, Kinder gestohlen, zerpfriemet und zerhechelt, damit sie an der Christen Blut ihr Mütlein heimlich kühleten. Dennoch will Gott solche ihre heilige Buße, so großer Heiligen und liebsten Kinder, nicht hören, und läßt der ungerechte Gott solche heilige Leute umsonst so herzlich fluchen (ich wollte sagen, beten) wider unsern Messias und alle Christen, will weder sie noch ihr frommes Wesen, das mit des Messias und seiner Christen Blut dick, dick, grob, grob überzogen ist, nicht sehen noch wissen. Denn sie sind viel heiliger als die gefangenen Juden zu Babylon, welche nicht fluchten noch der Kinder Blut heimlich vergossen noch die Wasser vergifteten, sondern, wie sie Jeremia lehret [29 V. 11], mußten sie beten für die Babylonier, bei denen sie gefangen waren. Ursache: daß sie nicht so heilig waren, wie diese Juden sind, hatten auch nicht so kluge Rabbinen, wie diese Juden jetzt haben, denn Jeremia, Daniel, Ezechiel waren große Narren, die solches lehreten, und sollten wohl bei diesen Juden mit Zähnen zerrissen werden.
Nun siehe, welch eine feine, dicke, fette Lüge das ist, da sie klagen, sie seien bei uns gefangen. Es sind über 1400 Jahre, daß Jerusalem zerstöret ist, und wir Christen zu der Zeit schier 300 Jahre lang von den Juden gemartert und verfolget sind in aller Welt (wie droben gesagt), daß wir wohl möchten klagen, sie hätten uns Christen zu der Zeit gefangen und getötet, wie es die helle Wahrheit ist. Dazu wissen wir noch heutigen Tages nicht, welcher Teufel sie her in unser Land gebracht hat; wir haben sie zu Jerusalem nicht geholet.
Zudem hält sie noch jetzt niemand, Land und Straßen stehen ihnen offen, mögen ziehen in ihr Land, wenn sie wollen, wir wollten gern Geschenk dazu geben, daß wir ihrer los wären, denn sie uns eine schwere Hast, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserm Hände sind. Zu Wahrzeichen sind sie oft mit Gewalt vertrieben (geschweige, daß wir sie sollten halten), aus Frankreich (das sie Zarpath nennen aus Obadja) als einem feinen sonderlichen Nest sind sie vertrieben. Jetzt neulich sind sie von dem lieben Kaiser Karolo [Kaiser Karl V.] aus Hispanien (welches sie Sepharad auch aus Obadja nennen), dem allerbesten Nest, vertrieben. Und dies Jahr aus der ganzen böhmischen Krone, da sie doch zu Prag auch der besten Nester eines hatten. Item aus Regensburg, Magdeburg und mehr Orten bei meinem Leben vertrieben.
Heißt das gefangen halten, wenn man einen nicht leiden kann im Lande oder Hause? Jawohl, sie halten uns Christen in unserm eigenen Lande gefangen, sie lassen uns arbeiten im Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, daß wir arbeiten und sie faule Junker lassen sein von dem Unsern und in dem Unsern, sind also unsere Herren, wir ihre Knechte mit unserm eigenen Gut, Schweiß und Arbeit, fluchen darnach unserm HErrn und uns zu Hohn und zu Dank. Sollte der Teufel hier nicht lachen und tanzen, wenn er solch sein Paradies bei uns Christen haben kann, daß er durch die Juden, seine Heiligen, das Unsere frisset und uns zu Hohn Maul und Nasen voll tut, spottet und flucht Gott und Menschen dazu.
Sie hätten zu Jerusalem unter David und Salomo nicht solche gute Tage können haben in ihrem eigenen Gut, wie sie jetzt haben in unserm Gut, das sie täglich stehlen und rauben.
Dennoch klagen sie, wir haben sie gefangen. Ja, wir haben und halten sie gefangen, wie ich meinen Calculus, Blutschwären und alle andere Krankheit oder Unglück gefangen habe, deren ich warten muß als ein armer Knecht mit Geld und Gut und allem, was ich habe, wollte wohl, sie waren zu Jerusalem mit den Juden, und wen sie gern mit sich hätten.
Weil nun das gewiß ist, daß wir sie nicht gefangen halten, womit verdienen wir doch bei solchen edlen, großen Heiligen, daß sie uns so feind sind? wir heißen ihre Weiber nicht Huren, wie sie Maria, Jesu Mutter, tun, wir heißen sie nicht Hurenkinder, wie sie unsern Herrn Christum heißen, wir sagen nicht, daß sie zur Zeit der Reinigung, das ist als natürliche Narren geboren sind, wie sie unserm Herrn tun. Wir sagen nicht, daß ihre Weiber Haria sind, wie sie unserer lieben Maria tun. wir fluchen ihnen nicht, sondern wünschen ihnen alles Gute, leiblich und geistlich, herbergen sie bei uns, lassen sie mit uns essen und trinken, wir stehlen und zerpfriemen ihre Kinder nicht, vergiften ihr Wasser nicht, uns dürstet nicht nach ihrem Blut. Womit verdienen wir denn solchen grausamen Zorn, Neid und Haß solcher großen, heiligen Kinder Gottes?
Nicht anders ist's, als wie droben gesagt aus Mose [5. Mose 28 V. 28], daß sie Gott mit Wahnsinn, Blindheit und rasendem Herzen geschlagen hat. So ist's auch unsere Schuld, daß wir das große unschuldige Blut, so sie an unserm Herrn und den Christen bei dreihundert Jahren nach Zerstörung Jerusalems und bis daher, an Kindern vergossen (welches noch aus ihren Augen und Haut scheinet) nicht rächen, sie nicht totschlagen, sondern für alle ihren Mord, Fluchen, Lästern, Lügen, Schänden frei bei uns sitzen lassen, ihre Schule, Häuser, Leib und Gut schützen und schirmen, damit wir sie faul und sicher machen und helfen, daß sie getrost unser Geld und Gut uns aussaugen, dazu unser spotten, uns anspeien, ob sie zuletzt könnten unser mächtig werden, und für solche große Sünde uns alle totschlagen, alles Gut nehmen, wie sie täglich bitten und hoffen. Sage du nun, ob sie nicht große Ursache haben, uns verfluchten Gojim feind zu sein, uns zu fluchen und unser endlich, gründlich, ewig Verderben zu suchen.
Aus diesen, allen sehen wir Christen (denn sie, die Juden, können's nicht sehen), welch ein schrecklicher Zorn Gottes über dies Volk gegangen und ohn' Aufhören gehet, welch ein Feuer und Glut brennet da, und was die gewinnen, so Christo und seinen Christen fluchen oder feind sind. O lieben Christen, laßt uns solch greulich Exempel zu Herzen nehmen, wie S.Paulus Rom. 11 [V. 20] sagt, und Gott fürchten, daß wir nicht auch zuletzt in solchen und noch ärgern Zorn fallen, sondern (wie wir droben auch gesagt) sein göttlich Wort ehren und die Zeit der Gnaden nicht versäumen, wie es bereits der Mahmet und Papst versäumet haben und nicht viel besser als die Juden geworden sind.
Was wollen wir Christen nun tun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden? Zu leiden ist's uns nicht, nachdem sie bei uns sind und wir solch Lügen, Lästern und Fluchen von ihnen wissen, damit wir uns nicht teilhaftig machen aller ihrer Lügen, Flüche und Lästerung. So können wir das unlöschliche Feuer göttlichen Zorns (wie die Propheten [Jer. 4 V. 4] sagen) nicht löschen, noch die Juden bekehren. Wir müssen mit Gebet und Gottesfurcht eine scharfe Barmherzigkeit üben, ob wir doch etliche aus der Flamme und Glut erretten könnten. Rächen dürfen wir uns nicht, sie haben die Rache am Halse, tausendmal ärger, als wir ihnen wünschen können. Ich will meinen treuen Rat geben.
Erstlich, daß man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun, unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentlich Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilliget haben. Denn was wir bisher aus Unwissenheit geduldet (ich hab's selbst nicht gewußt), wird uns Gott verzeihen. Nun wir's aber wissen, und sollten darüber, frei vor unserer Nase, den Juden ein solch Haus schützen und schirmen, darin sie Christum und uns belügen, lästern, fluchen, anspeien und schänden (wie droben gehöret), das wäre ebenso viel, als täten wir's selbst und viel ärger, wie man wohl weiß.
Moses schreibt Deutero. 13 [5. Mose 13 V. 13ff.], daß, wo eine Stadt Abgötterei triebe, sollte man sie mit Feuer ganz zerstören und nichts davon behalten. Und wenn er jetzt lebete, so würde er der erste sein, der die Judenschulen und Häuser ansteckte. Denn er hat gar hart geboten Deute. 4 und 12 [5. Mose 4 V.2 und 13 V. 1], sie sollen nichts zu- noch abtun von seinem Gesetze. Und Samuel sagt 1.Sam. 15 [V. 23], es sei Abgötterei, Gott nicht gehorchen. Nun ist der Juden Lehre jetzt nichts anders, als eitel Zusätze der Rabbinen und Abgötterei des Ungehorsams, daß Mose ganz unkenntlich bei ihnen geworden ist (wie gesagt), gleichwie bei uns unter dem Papsttum die Biblia unkenntlich geworden ist. Daß also auch Mosi halben ihre Schulen nicht zu leiden sind, den sie ebensowohl schänden als uns, und nicht not ist, daß sie zu solcher Abgötterei eigene, freie Kirchen haben sollten.
Zum andern, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben ebendasselbige drinnen, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf daß sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserm Hände, wie sie rühmen, sondern im Elend und gefangen, wie sie ohn' Unterlaß vor Gott über uns Zeter schreien und klagen.
Zum dritten, daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten, darin solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehret wird.
Zum vierten, daß man ihren Rabbinen bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren. Denn solch Amt haben sie mit allem Recht verloren, weil sie die armen Juden mit dem Spruch Mosi Deutero. 17 [5. Mose 17 V. 10ff.] gefangen halten, da er gebeut, sie sollen ihren Lehrern gehorchen bei Verlust Leibes und der Seele, so doch Mose klar daselbst beisetzt: „Was sie dich lehren nach dem Gesetz des HERRN." Solches übergehen die Bösewichter und brauchen des armen Volks Gehorsam zu ihrem Mutwillen wider das Gesetz des HERRN, gießen ihnen solch Gift, Fluch und Lästerung ein. Gleichwie uns der Papst mit dem Spruch Matth. 16 [V. 18]: „Du bist Petrus usw." gefangen hielt, daß wir alles mußten glauben, was er uns vorlog und -trog aus seinem Teufelskopf, und nicht nach Gottes Wort uns lehrte, darüber er das Amt zu lehren verloren hat.
Zum fünften, daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe. Denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herrn noch Amtleute noch Händler, oder desgleichen sind, sie sollen daheim bleiben. Ich lasse mir sagen, es solle ein reicher Jude jetzt auf dem Lande reiten mit zwölf Pferden (der will ein Kochab werden) und wuchert Fürsten, Herrn, Land und Leute aus, daß große Herrn scheel dazu sehen, werdet ihr Fürsten und Herrn solchen Wucherern nicht die Straße legen ordentlicherweise, so könnte sich einmal eine Reiterei sammeln wider sie, weil sie aus diesem Büchlein lernen werden, was die Juden sind, und wie man mit ihnen umgehen und ihr Wesen nicht schützen solle. Denn ihr sollt und könnt sie auch nicht schützen, ihr wollt denn vor Gott alle ihres Greuels teilhaftig sein, was daraus Guts kommen möchte, das wollet wohl bedenken und verhindern.
Zum sechsten, daß man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und KIeinode an Silber und Gold, und lege es beiseit zu verwahren. Und ist dies die Ursache: Alles, was sie haben (wie droben gesagt), haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher, weil sie sonst keine andere Nahrung haben. Solch Geld sollte man dazu brauchen (und nicht anders), wo ein Jude sich ernstlich bekehret, daß man ihm davon vor die Hand gebe hundert, zwei, drei flo. nach Gelegenheit der Person, damit er eine Nahrung für sein arm Weib und Kindlein anfangen möge, und die Alten oder Gebrechlichen damit unterhalte. Denn solch böse gewonnen Gut verflucht ist, wo man's nicht mit Gottes Segen in guten nötigen Brauch wendet.
Daß sie aber rühmen, Mose hab' ihnen erlaubt oder geboten zu wuchern an den Fremden, Deutero. 23 [5. Mose 23 V. 21] (sonst haben sie auch keinen Buchstaben mehr zum Schein für sich), darauf ist also zu antworten: Es sind zweierlei Juden oder Israel. Die ersten sind, so Mose aus Ägypten ins Hand Kanaan führte, wie ihm Gott befohlen hatte, denselben gab er sein Gesetz, das sie sollten in demselbigen Lande halten, nicht weiter, und das alles, bis daß der Messias käme. Die andern Juden sind des Kaisers Juden, nicht Moses Juden. Die haben angefangen zur Zeit des Pilatus, des Landpflegers im Lande Juda. Denn da er sie fragt vor seinem Richtstuhl [Matth. 27 V. 22; Joh. 19 V. 15]: „Was soll ich machen mit Jesu, den man Messias heißt?", da schrieen sie: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn." Er aber sprach: „Soll ich euern König kreuzigen?" Sie schrieen wiederum: „Wir haben keinen König als den Kaiser." Solch Untergeben dem Kaiser hatte ihnen Gott nicht geboten, taten's von sich selber.
Als nun der Kaiser schuldigen Gehorsam forderte, sträubeten sie sich und setzten sich wider ihn, wollten nun nicht kaiserisch sein. Da kam er und visitierte seine Untertanen und holte sie zu Jerusalem, zerstreute sie durch sein ganzes Reich, daß sie mußten gehorsam sein, von denen sind die jetzigen übrigen Hefen der Juden, von welchen Moses nichts weiß, sie selbst von ihm auch nichts, denn sie kein Passuk oder Vers im Mose halten. Wollen sie nun Moses Gesetz genießen, so müssen sie zuvor wieder ins Land Kanaan kommen und Moses Juden werden, sein Gebot halten. Da mögen sie alsdann wuchern, wieviel es die Fremden von ihnen leiden werden. Weil sie aber haussen und Mose ungehorsam sind in fremden Landen unter dem Kaiser, sollen sie des Kaisers Recht halten und nicht wuchern, bis sie Mose gehorsam werden. Denn Mose Gesetz ist noch nie einen Schritt weit außer dem Lande Kanaan oder aus dem Volk Israel gekommen, denn er nicht zu den Ägyptern, Babyloniern oder irgendeinem andern Volk mit seinem Gesetz gesandt ist, außer allein zu dem Volk, das er aus Ägypten ins Hand Kanaan gebracht, wie er solches im Deutero. [5. Mose 17 V. 16; 26 V. 5] oft selbst anführt; sie sollen solche Gebote halten in dem Lande, das sie über dem Jordan einnehmen würden.
Zudem, weil Priestertum, Gottesdienst, Fürstentum, davon am meisten, ja fast alles Mose gebeut, gefallen ist nun über 1400 Jahre, so ist's gewiß, daß sein Gesetz dazumal ausgewesen, auch gefallen ist und ein Ende genommen hat. Darum soll man diesen kaiserischen Juden Kaisers Recht lassen widerfahren und nicht gestatten, daß sie Mosische Juden sein wollen, von welchen nun über 1400 Jahre keiner mehr gewesen ist.Zum siebenten, daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen, wie Adams Kindern aufgelegt ist, Gene. 3 [1. Mose 3, V 19]. Denn es taugt nicht, daß sie uns verfluchte Gojim wollten lassen im Schweiß unsers Angesichts arbeiten, und sie, die heiligen Leute, wollten’s hinter dem Ofen mit faulen Tagen, Feisten und Pompen verzehren, und drauf rühmen lästerlich, daß sie der Christen Herrn wären von unserm Schweiß, sondern man müßte ihnen das faule Schelmenbein aus dem Rücken vertreiben.
Besorgen wir uns aber, daß sie uns möchten an Leib, Weib, Kind, Gesind, Vieh usw. Schaden tun, wenn sie uns dienen oder arbeiten sollten, weil es wohl zu vermuten ist, daß solch edle Herrn der Welt und giftige, bittere Würmer, keiner Arbeit gewohnet, gar ungern sich so hoch demütigen würden unter die verfluchten Gojim, so laßt uns bleiben bei gemeiner Klugheit der andern Nationen, als Frankreich, Hispanien, Böhmen usw. und mit ihnen rechnen, was sie uns abgewuchert, und darnach gütlich geteilet, sie aber für immer zum Lande ausgetrieben. Denn, wie gehört, Gottes Zorn ist groß über sie, daß sie durch sanfte Barmherzigkeit nur ärger und ärger, durch Schärfe aber wenig besser werden. Drum immer weg mit ihnen.
Ich höre sagen, daß die Juden große Summa Geldes geben und damit den Herrschaften nütze sind. Ja, wovon geben sie es? Nicht von dem Ihren, sondern von der Herrschaft und Untertanen Güter, welche sie durch Wucher stehlen und rauben. Und nehmen also die Herrschaften von ihren Untertanen, was die Juden geben, das ist: Die Untertanen müssen Geld zu geben und sich schinden lassen für die Juden, damit sie im Lande bleiben, getrost und frei lügen, lästern, fluchen und stehlen können. Sollten die verzweifelten Juden des nicht in die Faust lachen, daß wir uns so schändlich äffen und narren lassen und unser Geld geben, daß sie im Lande bleiben und alle Bosheit treiben können, überdies noch reich dazu werden von unserm Schweiß und Blut, wir aber arm und von ihnen ausgesogen werden? Wenn das recht ist, daß ein Knecht, ja ein Gast möge seinem Herrn oder Wirt jährlich zehn flo. geben und dafür tausend stehlen, so ist der Knecht und Gast leicht und bald reich, der Herr und Wirt in Kürze ein Bettler geworden.
Und wenngleich die Juden von ihrem Eigen der Herrschaft solche Summa geben könnten, wie's nicht möglich ist, und sie damit uns abkaufen sollten Schutz und Schirm, öffentlich, frei in ihren Schulen unsern Herrn Christum so schändlich zu belügen, zu lästern, verspeien, verfluchen, dazu uns auch alles Unglück, daß wir alle erstochen werden und umkommen, mit unsern Haman, Kaiser, Fürsten, Herrn, Weib und Kindern zu wünschen, das hieße wahrlich Christum, unsern Herrn, die ganze Christenheit samt dem ganzen Kaisertum, uns mit Weib und Kindern schändlich wohlfeil verkauft. Wie gar ein großer Heiliger würde hier der Verräter Judas gegen uns geschätzt werden? Ja, wenn ein jeglicher Jude (so viel ihrer ist) jährlich hunderttausend flo. geben könnte, so sollten wir doch nicht dafür gestatten, daß sie einen einzigen Christen so frei zu lästern, zu fluchen, zu verspeien, auszuwuchern sollten Macht haben, es wäre noch viel zu wohlfeil verkauft, wieviel unerträglicher ist's, daß wir den ganzen Christum, und uns alle, sollten mit unserm eigenen Gelde kaufen lassen, den Juden zu lästern und zu fluchen, und sie zum Lohn dafür noch reich und zu unsern Jungherrn machen, die uns dazu noch verlachten und sich in ihrem Mutwillen kitzelten. Das könnte dem Teufel und seinen Angeln ein recht Freudenspiel sein, des sie durch die Nasen lachen könnten, wie eine Sau ihre Ferkel anlacht, aber vor Gott einen rechten Zorn verdienen.
Summa, lieben Fürsten und Herrn, so Juden unter sich haben, ist euch solcher mein Rat nicht genehm, so trefft einen bessern, daß ihr und wir alle der unleidlichen, teuflischen Last der Juden entladen werden, und nicht vor Gott schuldig und teilhaftig werden alle der Lügen, des Lästerns, Speiens, Fluchens, so die rasenden Juden wider die Person unsers HErrn Jesu Christi, Seiner lieben Mutter, aller Christen, aller Oberkeit und unserer selbst, so frei und mutwillig treiben, keinen Schutz noch Schirm noch Geleit noch Gemeinschaft sie haben lassen, auch nicht euer und eurer Untertanen Geld und Güter, durch den Wucher, ihnen dazu dienen und helfen lassen, wir haben ohnedies eigener Sünde genug auf uns, noch vom Papsttum her, tun täglich viel dazu mit allerlei Undankbarkeit und Verachtung seines Worts und aller seiner Gnaden, daß nicht not ist, auch diese fremden, schändlichen Laster der Juden auf uns zu laden und ihnen dann noch Geld und Gut zu geben. Laßt uns denken, daß wir nun täglich wider den Türken streiten, dazu wir wohl Erleichterung von unserer eigenen Sünde und Besserung unsers Lebens bedürfen. Ich will hiermit mein Gewissen gereinigt und entschuldigt haben, als der ich's treulich hab' angezeigt und gewarnet.
Und euch, meine lieben Herrn und Freunde, so Pfarrherrn und Prediger sind, will ich ganz treulich euers Amts hiermit erinnert haben, daß auch ihr eure Pfarrleute warnet vor ihrem ewigen Schaden, wie ihr wohl zu tun wisset, nämlich, daß sie sich vor den Juden hüten und sie meiden, wo sie können, nicht daß sie ihnen viel fluchen oder persönlich Leid tun sollten. Denn sie haben sich selbst allzu hoch verflucht und beleidigt, wenn sie den Mann Jesum von Nazareth, Marien Sohn, verfluchen, wie sie leider tun nun über 1400 Jahre. Die Oberkeit lasse man hier mit ihnen gebaren, wie ich jetzt gesagt. Es tu aber die Oberkeit dazu oder nicht, daß dennoch ein jeder für sich selbst seines Gewissens wahrnehme und mache ihm eine solche definitio oder prosopopeia eines Juden.
Wenn du siehest oder denkest an einen Juden, so sprich bei dir selbst also: Siehe, das Maul, das ich da sehe, hat alle Sonnabend meinen lieben HErrn Jesum Christ, der mich mit seinem teuren Blut erlöset hat, verflucht und vermaledeiet und verspeiet, dazu gebetet und geflucht vor Gott, daß ich, mein Weib und Kind und alle Christen erstochen und aufs jämmerlichste untergegangen waren, wollt's selber gern tun, wo er könnte, daß er unsere Güter besitzen möchte, hat auch vielleicht heute dieses Tages vielmal auf die Erde gespeiet über dem Namen Jesu (wie sie pflegen), daß ihm der Speichel noch im Maul und Bart hänget, wo er Raum hätte zu speien. Und ich sollte mit solchem verteufelten Maul essen, trinken oder reden, so möcht' ich aus der Schüssel oder Kanne mich voller Teufel fressen und saufen, als der ich mich gewiß damit teilhaftig machte aller Teufel, so in den Juden wohnen und das teure Blut Christi verspeien. Davor behüt' mich Gott.
Denn ob sie nicht glauben wie wir, dafür können wir nicht, und niemand zum Glauben zu zwingen (was unmöglich) ist, so ist doch das zu meiden, daß wir sie nicht stärken in ihrem mutwilligen Lügen, Lästern, Fluchen und Schänden, auch mit Schutz, Schirm, Essen, Trinken, Herbergen und anderer nachbarlicher Wohltat uns nicht teilhaftig machen ihres teuflischen Wütens und Tobens, zuvoraus, weil sie sich stolz und schmählich rühmen, wo wir ihnen freundlich oder dienstlich sind, daß sie Gott zu Herrn und uns zu ihren Knechten gemacht habe, als, wo ein Christ am Sabbat ihr Feuer machet, in der Herberge ihnen kochet, was sie wollen, dafür sie uns fluchen, verspeien und lästern, als täten sie wohl dran, und zehren doch von unserm Gut, das sie uns gestohlen haben. Ein solch verzweifelt, durchböset, durchgiftet, durchteufelt Ding ist's um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen und noch sind.
Insonderheit, wo ihr Prediger seid, da Juden sind, da haltet an mit Fleiß bei euren Herrn und Regenten, daß sie ihr Amt bedenken, wie sie Gott schuldig sind, und die Juden zur Arbeit zwingen, den Wucher verbieten und steuern ihrem Lästern und Fluchen. Denn so sie unter uns Christen die Diebe, Räuber, Mörder, Lästerer und andere Laster strafen, warum sollen die Teufelsjuden frei sein, solches bei und wider uns zu üben? Leiden wir doch mehr von ihnen, als die Walen von den Spaniolen. Dieselbigen nehmen dem Hauswirt Küchen, Keller, Kasten, Beutel ein, fluchen ihnen dazu und dräuen ihnen den Tod. Also tun uns die Juden, unsere Gäste, auch, wir sind ihre Hauswirte. So rauben sie und saugen uns aus, liegen uns auf dem Halse, die faulen Schelmen und müßigen Wänste, saufen, fressen, haben gute Tage in unserm Hause, fluchen zu Lohn unserm HErrn Christo, Kirchen, Fürsten und uns allen, dräuen und wünschen uns ohn' Unterlaß den Tod und alles Unglück. Denke doch, wo kommen wir armen Christen dazu, daß wir solch faul, müßig Volk, solch unnütz, böse, schädlich Volk, solche lästerliche Feinde Gottes umsonst sollen nähren und reich machen, dafür nichts kriegen als ihr Fluchen, Lästern und alles Unglück, das sie uns tun und wünschen können? Sind wir doch wohl so blind und starrende Klötze in diesem Stücke, wie die Juden in ihrem Unglauben, daß wir solch große Tyrannei von den heillosen Schelmen leiden, solches nicht sehen noch fühlen, wie sie unsere Junker, ja unsere wütigen Tyrannen sind, wir aber ihre Gefangenen und Untertanen, klagen dennoch, sie seien unsere Gefangenen, spotten unser dazu, als müßten wir's von ihnen leiden.
Wollen aber die Herrn sie nicht zwingen, noch solchem ihrem teuflischen Mutwillen steuern, daß man sie zum Lande austreibe, wie gesagt, und lassen ihnen sagen, daß sie hinziehen in ihr Land und Güter gen Jerusalem, und daselbst lügen, fluchen, lästern, speien, morden, stehlen, rauben, wuchern, spotten und alle solche lästerliche Greuel treiben, wie sie bei uns tun, und lassen uns unsere Herrschaft, Land, Leib und Gut, vielmehr unsern HErrn Messias, Glauben und Kirche unbeschweret und unbeschmeißet mit solchen ihren teuflischen Tyranneien und Bosheiten. Ob sie Freiheiten vorwenden könnten, die sollen ihnen nichts helfen. Denn es kann niemand Freiheit geben, solche Greuel zu üben, und sind alle Freiheiten dadurch verwahrloset und verloren.
Wenn ihr Pfarrherrn und Prediger (neben mir) solch treulich Warnen habt ausgerichtet, und will weder Herr noch Untertan etwas dazu tun, so laßt uns (wie Christus spricht [Matth. 10 V. 14]) den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschuldig an euerm Blut. Denn ich sehe wohl und hab's oft erfahren, wie gar barmherzig die verkehrete Welt ist, da sie billig sollte scharf sein, und wiederum scharf ist, da sie sollte barmherzig sein, wie der König Ahab, 3. Reg. 20 [1. Kön. 20 V. 31ff.]. So regiert der Fürst dieser Welt. Also werden sie vielleicht jetzt auch barmherzig sein wollen über die Juden, die blutdürstigen Feinde unsers christlichen und menschlichen Namens, damit den Himmel zu verdienen. Aber daß die Juden mit allen solchen teuflischen oben aufgezählten Greueln uns arme Christen fangen, plagen, martern und alles Herzleid anlegen, das soll man leiden, und ist christlich wohlgetan, sonderlich so Geld da ist, das sie uns gestohlen und geraubt haben.
Was wollen wir armen Prediger indes tun? Erstlich wollen wir glauben, daß unser HErr Jesus Christus wahrhaftig sei, der von solchen Juden, die ihn nicht annahmen, sondern kreuzigten, ein solch Urteil spricht [Matth. 12 V. 34]: „Ihr seid Schlangengezücht und Teufelskinder." wie sein Vorläufer Johannes Baptista auch sagt [Matth. 3 V. 7], und waren doch seine Blutsfreunde. Nun werden uns unsere Herrschaften und alle solche barmherzigen Heiligen, die den Juden wohl wollen, zum wenigsten den Raum lassen, daß wir glauben mögen Jesu Christo, unserm HErrn, der freilich alle Herzen besser kennet als solche barmherzigen Heiligen, daß diese Juden müssen Schlangengezüchte und Teufelskinder sein, das ist, die uns ebensoviel Guts gönnen wie ihr Vater der Teufel. Was uns derselbige Guts getan, sollten wir Christen ja billig aus der Erfahrung neben der Schrift längst und wohl verständigt sein.
Wer nun Lust hat, solche giftige Schlangen und junge Teufel, das ist die ärgesten Feinde Christi, unsers HErrn, und unser aller zu Herbergen, zu füttern und zu ehren und sich zu schinden, rauben, plündern, schänden, zu speien, zu fluchen und alles Übels zu leiden begehrt, der lasse sich diese Juden treulich befohlen sein. Ist's nicht genug, so lasse er ihm auch ins Maul tun oder krieche ihm in den Hintern und bete dasselbige Heiligtum an, rühme sich darnach, er sei barmherzig gewesen, habe den Teufel und seinen jungen Teufel gestärkt, zu lästern unsern lieben HErrn und das teure Blut, damit wir Christen erkauft sind. So ist er denn ein vollkommener Christ, voller Werke der Barmherzigkeit, die ihm Christus belohnen wird am jüngsten Tage mit den Juden im ewigen höllischen Feuer.
[…]
Weil nun das gewiß ist (durch solche lange, gewaltige Predigt in aller Welt), daß [Joh. 5 V. 23] „wer den Sohn unehret, der unehret den Vater", und wer den Sohn nicht hat, kann den Vater nicht haben, und die Juden gleichwohl immer für und für Gott den Vater, unser aller Schöpfer, lästern und fluchen, eben in dem, daß sie seinen Sohn Jesum von Nazareth, Marien Sohn (welchen er hat nun 1500 Jahre in aller Welt erklärt für seinen Sohn, mit predigen und Wunderzeichen wider aller Teufel und Menschen Macht und Kunst, und noch immer bis ans Ende der Welt erkläret) lästern und fluchen, nennen ihn Hebel Vorik, das ist: nicht allein einen Lügner und Falschen, sondern die Lüge und Falschheit selbst, ärger als den Teufel selbst, so ist uns Christen solches, vor unsern Ohren und frei vor unserer Nase in öffentlichen Synagogen, Büchern und Gebärden täglich geübt in unserm eigenen Lande, Häusern und Regiment, keinesweges zu leiden, oder müssen Gott den Vater mit seinem lieben Sohn, der uns so teuer mit seinem heiligen Blut erkauft, mit und um der Juden willen verlieren und ewiglich verloren sein, davor sei Gott.
Demnach soll und muß es uns Christen kein Scherz, sondern großer Ernst sein, hierwider Rat zu suchen und unsere Seelen von den Juden, das ist: vom Teufel und ewigen Tod, zu erretten. Und ist der, wie droben gesagt, erstlich:
Daß man ihre Synagoge mit Feuer verbrenne und werfe hierzu, wer da kann, Schwefel und Pech; wer auch höllisch Feuer könnte zuwerfen, wäre auch gut. Auf daß Gott unsern Ernst, und alle Welt solch Exempel sehen möchte, daß wir solch Haus (darin die Juden Gott, unsern lieben Schöpfer und Vater, mit seinem Sohn so schändlich gelästert hätten) bisher unwissend geduldet, nunmehr ihm seinen Hohn gegeben hätten.
Zum andern, daß man ihnen alle ihre Bücher nehme, Betbücher, Talmudisten, auch die ganze Bibel, und nicht ein Blatt ließe, und verwahrte auf die, so sich bekehreten. Denn sie des alles brauchen zu lästern den Sohn Gottes, das ist: Gott selbst den Vater, Schöpfer Himmels und der Erde (wie gesagt ist) und werden's nimmermehr anders brauchen.
Zum dritten, daß man ihnen verbiete, bei uns und in dem Unsern öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren, bei Verlust Leibes und Lebens. In ihrem Lande mögen sie das tun, oder wo sie können, da wir Christen es nicht hören noch wissen können. […]. Darum der Juden Maul nicht soll wert gehalten werden bei uns Christen, daß es Gott sollte vor unsern Ohren nennen, sondern, wer es vom Juden höret, daß er's der Oberkeit anzeige oder mit Saudreck auf ihn werfe, sofern er ihn siehet, und von sich jage. Und sei hierin niemand barmherzig noch gütig. Denn es betrifft Gottes Ehre und unser aller (der Juden auch) Seligkeit.[…].
Ja, wie wollen wir tun, wenn wir gleich den Juden ihre Synagoge verbrennen, Gott loben, beten, lehren, Gottes Namen nennen, öffentlich verbieten usw., gleichwohl werden sie es doch heimlich nicht lassen. Und weil wir wissen, daß sie es heimlich tun, so ist's ebensoviel, als täten sie es öffentlich. Denn, was man weiß, das heimlich geschieht und geduldet wird, das heißt doch nicht heimlich, und gleichwohl unser Gewissen damit vor Gott beschweret ist. wohlan, da mögen wir uns vorsehen. Meines Dünkens will's doch da hinaus: sollen wir von der Juden Lästerung rein bleiben und ihrer nicht teilhaftig werden, so müssen wir geschieden sein, und sie aus unserm Lande vertrieben werden. Sie mögen gedenken an ihr Vaterland, so dürfen sie nicht mehr vor Gott über uns schreien und lügen, daß wir sie gefangen halten, wir auch nicht klagen, daß sie uns mit ihrem Lästern und Wuchern beschweren. Dies ist der nächste und beste Rat, der beide Parteien in solchem Fall sichert.
Aber hier, werden sie, als die das Land ungern räumen, getrost alles und alles leugnen, dazu auch Gelds genug der Herrschaft bieten, ob sie bleiben möchten, wehe aber denen, so solch Geld nehmen, und verflucht sei solch Geld, das sie doch auch sonst verfluchterweise durch Wucher uns gestohlen haben. Denn sie leugnen ja so sehr, wie sie lügen, und wo sie uns Christen heimlich fluchen, giften oder Schaden tun können, des machen sie sich kein Gewissen. Werden sie darüber begriffen oder sonst bezichtiget, so wagen sie es getrost zu leugnen, auch bis in den Tod, weil sie uns nicht wert achten, denen sie sollten die Wahrheit bekennen, nachdem es die heiligen Gotteskinder gewiß dafür halten, daß sie, was sie uns Böses fluchen und tun können, einen großen Gottesdienst daran tun. Ja, wenn sie uns das könnten tun, das wir ihnen tun können, würde unser keiner eine Stunde leben müssen. Weil sie es aber öffentlich nicht vermögen zu tun, bleiben sie gleichwohl im Herzen unsere täglichen Mörder und blutdürstigen Feinde. Solches beweisen ihr Beten und Fluchen, und so viel Historien, da sie Rinder gemartert und allerlei Laster geübt, darüber sie oft verbrannt und verjagt sind.
Darum ich wohl glaube, daß sie viel Ärgeres heimlich reden und tun, als die Historien und andere von ihnen schreiben, sie aber sich aufs Leugnen und ihr Geld verlassen. Aber wenn sie gleich alles leugnen könnten, so können sie das nicht leugnen, daß sie uns Christen öffentlich fluchen, nicht um unseres bösen Lebens willen, sondern, daß wir den Jesum für den Messias halten, und daß sie bei uns gefangen sein müssen, so sie wohl wissen, daß sie daran lügen, und vielmehr sie uns in unserm Lande durch ihren Wucher gefangen halten, jedermann aber ihrer gern los wäre. Weil sie aber uns verfluchen, so verfluchen sie unsern HErrn auch; verfluchen sie unsern HErrn, so verfluchen sie auch Gott den Vater, Schöpfer Himmels und der Erde, daß also ihr Leugnen ihnen nichts helfen kann. Sie sind allein mit dem Fluchen überwunden, daß man alles wohl glauben muß, was man Böses von ihnen schreibet, sie tun's gewißlich mehr und ärger, als wir wissen oder erfahren. Denn Christus lüget und trüget nicht, der sie als Schlangen und Teufelskinder beurteilt, das ist: seine und aller der Seinen Mörder und Feinde, wo sie können.
Wenn ich Macht hätte über die Juden, wie unsere Fürsten und Städte haben, wollt' ich diesen Ernst mit ihrem Lügenmaul spielen. Sie haben eine Lüge, damit sie großen Schaden tun, bei ihren Kindern und gemeinem Mann, und unsern Glauben schändlich verunglimpfen. Nämlich, sie geben uns Schuld und belügen uns bei den Ihren, daß wir Christen mehr als einen einigen Gott anbeten. Da ist des Rühmens und Stolzes nicht Maß noch Zahl. Damit halten sie ihre Leute gefangen, wie sie allein das Volk sind, die vor allen Heiden nicht mehr als einen Gott anbeten. O, wie gewiß sind sie in diesem Stück ihrer Sache.
[…]
Darum, wenn ich über sie Gewalt hätte, wollt' ich ihre Gelehrten und Besten versammeln und ihnen auflegen, bei Verlust der Zunge hinten zum Halse heraus, daß sie innerhalb acht Tagen uns Christen überweisen und überzeugen, und also diese lästerliche Lüge wider uns wahr machen müßten, nämlich, daß wir mehr als den rechten einigen Gott anbeten. Könnten sie das tun, so wollten wir des Tages alle Juden werden und uns beschneiden, wo nicht, so sollten sie ihres verdienten Lohns gewarten für solche schändliche, mutwillige, schädliche, giftige Lügen. Denn wir, Gottlob, nicht so gar Enten, Klötze oder Steine sind, wie uns die hochverständigen Rabbinen (unsinnige Narren) achten, daß wir nicht sollten wissen, daß ein Gott und viele Götter nicht können zugleich mit Wahrheit geglaubet werden.
[…]
Es ist der Zorn Gottes über sie gekommen, daran ich nicht gerne denke, und mir dies Buch nicht fröhlich zu schreiben gewesen ist, also, daß ich habe müssen, jetzt mit Zorn, jetzt mit Spott, wider die Juden den schrecklichen Blick aus meinen Augen reißen, und mir wehtut, daß ich ihre schrecklichen Lästerworte hab' müssen nennen von unserm HErrn und seiner lieben Mutter, die wir Christen gar ungerne hören, und verstehe wohl, was S. Paulus meinet Roman. 10 [Röm. 9 V. 2], daß ihm sein Herz wehe tu, wenn er an sie gedenkt, welches ich acht', auch einem jeglichen Christen geschehe, der mit Ernst dran denket, nicht des zeitlichen Unglücks und Elendes halben, darüber sie, die Juden, klagen, sondern daß sie dahingegeben sind, zu lästern, fluchen, verspeien Gott selbst und alles, was Gottes ist, zu ihrer ewigen Verdammnis, und doch solches nicht hören noch wissen wollen, sondern als aus einem Eifer Gottes tun. Ah Gott, himmlischer Vater, wende dich und lasse deines Zorns über sie genug gewesen und ein Ende sein, um deines lieben Sohnes willen. Amen.
[…]
Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi.
Doctor Martinus Luther.
Im nächsten Büchlein hab' ich verheißen, ich wollt' hiernach lassen laufen, was die rasenden, elenden Juden von ihrem Schem Hamphoras lügen und lästern, wie davon schreibt Purchetus in seinem Buch, Victoria genannt. Das will ich hiermit also getan haben, unserm Glauben zu Ehren und den Teufelslügen der Juden zuwider, daß auch die, so Juden werden wollen, sehen können, was sie für schöne Artikel bei den verdammten Juden glauben und halten müssen. Denn wie ich in jenem Büchlein bedingt, ist meine Meinung nicht, wider die Juden zu schreiben, als hoffte ich sie zu bekehren, Hab' darum dasselbe Buch nicht wollen nennen: Wider die Juden, sondern: Von den Juden und ihren Lügen1, daß wir Deutschen auch historienweise wissen könnten, was ein Jude sei, unsere Christen vor ihnen, als vor den Teufeln selbst, zu warnen, unsern Glauben zu stärken und zu ehren, nicht die Juden zu bekehren, welches ebenso möglich ist, wie den Teufel zu bekehren.
Denn gleichwie wir müssen lehren und schreiben vom Teufel, Hölle, Tod und Sünde, was sie sind und tun, nicht, daß wir aus dem Teufel einen Engel, aus der Hölle einen Himmel, aus dem Tod ein Heben, aus der Sünde Heiligkeit wollten machen, welches unmöglich ist, sondern daß wir uns davor hüten, also schreibe ich auch von den Juden. Denn ein Jude oder jüdisch Herz ist so stock-, stein-, eisen-, teufelshart, daß es mit keiner Weise zu bewegen ist. wenn Mose käme mit allen Propheten und täten alle Wunderwerke vor ihren Augen, daß sie sollten ihren harten Sinn lassen, wie Christus und die Apostel vor ihnen getan haben, so wäre es doch umsonst.
Wenn sie auch so greulich gestraft würden, daß die Gassen voll Bluts rönnen, daß man ihre Toten nicht mit hunderttausend, sondern mit zehnhunderttausend rechnen und zählen müßte, wie zu Jerusalem unter Vespasianus und zu Bittor unter Adrianus geschehen ist. Dennoch müssen sie recht haben, wenn sie auch über diese 15 hundert Jahre noch 15 hundert Jahre sollten im Elende sein, dennoch muß Gott ein Lügner, sie aber wahrhaftig sein.
Summa, es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt, ist aber noch etwa was Menschliches in ihnen, dem mag solch Schreiben zu nutz und gut kommen; vom ganzen Haufen mag hoffen, wer da will, ich habe da keine Hoffnung, weiß auch davon keine Schrift, können wir doch unsere Christen, den großen Haufen, nicht bekehren, müssen uns am kleinen Häuflein ge-nügen lassen. Wieviel weniger ist's möglich, diese Teufelskinder alle zu bekehren. Denn daß etliche aus der Epistel an die Römer am 11. Kap. [Röm. 11 V. 15] solchen Wahn schöpfen, als sollten alle Juden bekehret werden am Ende der Welt, ist nichts, Sankt Paulus meint gar viel ein anderes.
Transkript nach: Martin Luther, Schriften wider Juden und Türken, München 1936, S. 229-230
1 Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543, siehe > Dokument
Doctor Martinus Luther zur Judensau an der Wittenberger Pfarrkirche
Wohlan, ich weiß nicht sonderlich, woher sie es haben, aber nahe hinzu will ich wohl raten. Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen, darunter liegen junge Ferkel und Juden, die saugen, hinter der Sau stehet ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zeucht er den Pirtzel über sich, bückt und kuckt mil großem Fleiß der Sau unter dem Pirtzel in den Talmud hinein, als wollt' er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbsther haben sie gewißlich ihr Schem Hamphoras. Denn es sind vorzeiten sehr viel Juden in diesen Landen gewesen, das beweisen die Namen der Flecken, Dorfer, auch Bürger und Bauern, die hebraisch sind noch heutiges Tages, daß etwa ein gelehrter ehrlicher Mann solch Bild hat angeben und abreißen lassen, der den unflätigen Lügen der Juden feind gewesen ist. Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der große Klugheit ohne Grund vorgibt: Wo hat er's gelesen? Der Sau im (grob heraus) Hintern.Aus: Martin Luther, Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, 1543. Transkript nach: Martin Luther, Schriften wider Juden und Türken, München 1936, S. 250
Burckhardt, Die Judenverfolgungen im Kurfürstentum Sachsen von 1536 an, S. 593-598, mit Judenausschreibung des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich, gegeben zu Wittenberg am 6. Mai 1543
Mandat zur Vertreibung der Juden aus Kursachsen binnen 14 Tagen, bis Trinitatis 1543, d.h. 20. Mai 1543.
Von Gottes gnaden Johans Friderich, Herczog zu Sachssen. Des heiligen Römischen Reichs Ertzmarschall vnd Churfůst, Landgraff in Důringen, Marggraff zu Meissen, vnd Burggraff zu Magdeburg.
Allen vnd itzlichen, vnsern Prelaten, Grauen [Grafen], Herrn, Landvoigten, Haubt vnd Amptleuten, Ampts beuelhabern, denen von der Ritterschafft, Schössern, Vorwaltern, Vorstehern, Schulteisen, Gleitsleuten, Bůrgermeistern, Richtern vnd Rethen der Stedte, vnd Gemeinden, auch allen vnsern Vnterthanen vnd verwandten, vnsern grus zuuor, Erwirdigen, [Ehrwürdigen], Wolgebornen, Edlen, Lieben andechtigen Rethe, vnd getrewen, Wiewol wir des verschienen Sechs vnd dreißigsten Jars, ein offen Mandat, im Druck haben ausgehen lassen, Das kein Jůde, sampt den seinen, inn vnsern Landen, Chur, vnd Fůrstenthumben (aus bewegenden vrsachen, so zum teil, darinnen ausgedrückt) solt gelitten vnd geduldet, ihnen auch kein gewerbe oder passs, in vnd durch vnsere Lande, gestattet werden, So haben wir doch hernachmals vff Stadliche bescheene vorbit, auch der Jůdenschafft selbst, hochvleißiges anhalten, bitten vnd erbieten, vbertretten wůrden, solch vnser Mandat, durch etzliche Missiuen, des Passes halben gemiltert, vnd ihnne den, mit einer maß zugelassen, Vns aber vorbehalten, wo sie solche vnsere nachlassung, vnd ihr erbieten, vbertretten wůrden, das wir ihnen jederzeit, berůerten Passs vnd Důrchzug, gantz vnd gar, widerumb verbitten wollten, wann wir dann in glaubliche erfarung komen, das die Jůden, berůrter vnser ihnen erzeigten, nachlassung, nicht allein, mit dem Passiren, vnd Durchziehen, misbraucht, sondern nachtlager, darin zůgehalten, auch henttirens, Gewerbn vnd Ertzneytreibens, vnd darin von ihren irthumben, wider vnsern warhafftigen, Christlichen Glauben, inn berurten vnsern Landen zu disputiren, Vnd ire Jůdische, falsche lesterungen vnd lůgen, wider den rechten vnd warhafftigen Messiam, Christum vnsern Heiland, dem Volck einzubilden, hat vnterstanden, So sind wir aus dem, auch den Stadlichen schrifften nach, So der Erwirdige vnd Hochgelarte [Hochgelehrter], Vnser lieber anderchtiger, Er Martinus Luther, der Heiligen Schrifft Doctor, wider das verstockte Jůdenthumb, newlichen gethan, vnd im Druck, mit bestendigen grůnden, der Heiligen Schriften, hat ausgehen lassen, verursacht, Die vorberurte, vnsere gethane erlaubnus, des Passirens halben, inn vnd durch vnsere Lande, vnd Gebiethe, zu cassiren, vnd widerumb auffzuheben, Vnd thun darauff, ob angezeigt, vnser erstlich offentlich ausgegangen Mandat, hiermit wiederumb ernewern, vnd wollen, das kein Jůde, noch Jůdin, hinfurt in vnsere Landen, Chur vnd Fůrstenthůmben oder vnserer Prelaten, Grauen vnd Herrn, Gebieten vnd gůtern, wonen, noch darin handeln, wandeln, webern, oder dadurch Passiren, Sonder sich vnser Lande, gantz vnd gar eussern, vnd enthalten sollen, Vnd da, nach Trinitatis schirsten, einer oder mehr, der Jůden oder Jůdin, hirůber inn vnsern Landen antroffen, vnd betretten wurden, Der oder dieselben, sollen vnsers schutzes vnd schirms, auch Gerichts vnd Rechts entsatzt, vnd nicht vehig [fähig] sein. Wer auch von den vnsern, einen Jůden, oder Jüdin, inn obgemelten vnsern Chur vnd fůrstenthumben, vnd Landen antreffen vnd erlangen wirdet, Der sol sich mit jnen, vnd ihrer hab vnd gůtern, so bey ihnen befunden, Inn vnser negst gelegene Ampt, darinn sie betretten werden, vorfůgen, Vnd dieselben Juden oder Jüdin, mit der habe, so bey ihnen befunden, dem Amptman, desselben vnsers Ampts vberantworten, Do dann der Jüde oder Jüdin, inn verwarung, vnd ire bey inen befunden, dem Amptman, desselben vnsers Ampts vberantworten, Do dann der Jüde oder Jüdin, inn verwarung, vnd ire bey inen befunden habe vnd güter, ins Ampt sollen genomen, vnd dem vberantworter, von wegen, seins darbey gethanen vleisses, die helfft, solcher erlangten habe vnd güter, als das seine zu haben vnd zu gebrauchen, wider zugestalt, Aber das ander, bis auff weitern vnsern beuehlich, im Ampt verwart werden, Vnd gebieten darauff hiemit ernstlichen, das ihr alle, vnd ein jder inn sonderheit, ob diesem vnsern Mandat vnd beuehlich, wollet vnd sollet vestiglich halden [halten], vnd darwider nichts vorhengen, noch vmb einicherley vrsach willen, die Jüdenschafft inn dem verschonen, bey vormeidung, vnserer vngnade vnd ernsten straff, Daran geschiet vnsere gentzliche meinung, Zu vrkundt mit vnsern zu ende auffgedrucktem Secret besiegelt, Vnd geben zu Wittemberg, Sontags Exaudi [6. Mai],
Anno Domini 1543.
Transkription: A. Siluk
Siehe auch Josel von Rosheims Sicht auf die Dinge
Dieses Dokument ist aus Luthers letzter Predigt entnommen, die er drei Tage vor seinem Tod am 18.02.1546 gehalten hat. Der Text zeigt eindeutig, dass Luther den Versuch, die Juden dem Evangelium anzunähern, aufgegeben hat. Den Christen bleibt keine Alternative als die Vertreibung der Juden, wenn diese sich nicht bekehren.
Aufgaben:
Luther Klage, dass die Juden Jesus und Maria täglich lästerten klingt so, als wäre dies ein essentielles Merkmal der Juden. Eine der ersten Äußerungen Luthers über die Juden besagte das gleiche (sehen Sie die Einleitung zu diesem Ausstellungsraum).
1) Inwiefern hat sich seine Meinung geändert und inwiefern ist sie konstant geblieben?
2) Welche Motiv(e) bewegten Luther diese Warnung gegen die Juden zu predigen?
3) Betrachtet man Luthers verschiedene Äußerungen über die Juden während seines Lebens, kann man diese Predigt als Luthers Vermächtnis bezeichnen?

Josel von Rosheim, Führer der Judenschaft im Reich:
Josel/Joseph ben Geschon aus Rosheim wurde vermutlich 1478 geboren. Er starb 1554. Seine Familie stammt aus Louhans in Burgund, was auf eine verwandtschaftliche Beziehung zu Jakob Jehiel Loans deutet, dem Leibarzt des Kaisers Friedrich III. und einem hochangesehenen Gelehrten, der von vielen Humanisten seiner Zeit geschätzt wurde – darunter auch Johannes Reuchlin, der bei ihm die Grundlagen der hebräischen Sprache lernte. Trotz dieser berühmten Herkunft wurden drei Onkel seines Vaters wegen einer Blutbeschuldigung verbrannt. Josels Eltern entkamen dem Tod nur knapp.
Seine rabbinische Ausbildung genoss Josel bei seinem Verwandten Jochanan ben Aaron Luria. Dass Josel ein begabter Gelehrter war, erkennt man aus seinen Schriften und überlieferten Argumentationen bei öffentlichen Disputationen. Darin zeigte er große Kenntnisse nicht nur in der Heiligen Schrift, sondern auch in der rabbinischen Überlieferung. Über seine säkulare Ausbildung weiß man wenig. Es ist nur bekannt, dass Josel die lateinische Sprache beherrschte und in den humanistischen Studien belesen war.
Josels „politische“ Karriere begann relativ früh in seinem Leben. Schon 1510 wurde er wegen seiner Verdienste bei der Abwendung eines Vertreibungsvorhabens aus Oberehnheim als Vorgänger und Vorgesetzter (Parnos und Manhig) der Juden im Unterelsass gewählt. Josel bekam also sein Mandat von der jüdischen Gemeinschaft und nicht von christlichen Autoritäten. 1515 begegnete er dem Kaiser Maximilian I. mehrere Male, um für die Anliegen seiner Glaubensgenossen einzutreten (Dokument Nr. 1 ). Diese Begegnungen halfen den Juden des Elsass, ein Privileg zu bekommen, das die Verfolgungen gegen sie stoppte (Dokument Nr. 2 ).
Für die 1520er Jahre lässt sich eine Erweiterung und Steigerung des Wirkens Josels feststellen. Seine Tätigkeit beschränkte sich nicht mehr nur auf das Elsass, obwohl dieses Gebiet sein Hauptwirkungsbereich blieb. Josel gelang es in diesen Jahren, vom frisch gekrönten König und späteren Kaiser Karl V. ein Privileg für alle Juden des Reichs zu erhalten. Dies geschah während der Krönungsfeier in Aachen 1520, wie Josel in seinen Memorien berichtet. (Dokument Nr. 3 ) Darüber hinaus sorgte er in verschiedenen Regionen im Reich dafür, dass Ausschreitungen und Verfolgungen gegen die Juden aufhörten. (z.B. verhandelte er während des Bauernkriegs mit den Anführern der Bauern und konnte ihre Erstürmung der Stadt Rosheim abwenden. Zum Dank gewährte die Stadt ihm und seiner Familie daraufhin ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.)
Den Titel eines Befehlshabers der gemeinen Judenschaft im Reich scheint er während des Reichstags 1530 in Augsburg erworben zu haben. Kurze Zeit vor Beginn der Versammlung erwirkte Josel vom Kaiser Karl V. eine Erneuerung des Privilegs, das er von ihm bei dessen Königskrönung zehn Jahre zuvor bekommen hatte (Siehe Ausstellungsraum Karl V. Dokument Nr. 1 ). Dies geschah, nachdem Josel den Kaiser und dessen Bruder (Ferdinand) von der Unwahrheit der Beschuldigungen, die Juden würden sich mit den Türken gegen die Christen verschwören, überzeugt hatte. Nach Beginn der Verhandlungen des Reichstags war Josel mit schweren Klagen über den Wucher der Juden und ihr Unrecht beim Umgang mit christlichen Schuldnern konfrontiert. Josel organisierte ein Treffen der Vertreter der jüdischen Gemeinden im Reich und verabschiedete mit ihnen zusammen eine „Judenordnung“ (Dokument Nr. 5 ), welche die Geschäftsbeziehungen der Juden mit den Christen regeln und aber gleichzeitig moralische Missstände unter den Juden ausräumen sollte. Die sogenannten „Artikel und Ordnung“ wurde zwar auf dem Reichstag nicht mehr berücksichtigt, aber die Vertreter der jüdischen Gemeinden bemühten sich darum, sie in den jeweiligen Wohngebieten umzusetzen, um dadurch das von den christlichen Herrschern verabschiedete, allgemeine Zinsverbot (Reichspolizeiordnung 1530 ) zu umgehen, weil dieses die Lebensgrundlage der Juden schwer getroffen hätte. Vor allem Josel scheint hier einen gewissen Erfolg gehabt zu haben. (Dokumente Nr. 6 , Nr. 7 und Nr. 8 ).
An diesem Reichstag musste Josel noch eine dritte Gefahr abwehren. Antonius Margaritha (Dokumente Nr. 9 und Nr. 10 ), ein Konvertit aus dem Judentum, veröffentlichte rechtzeitig zur Eröffnung der Versammlung eine Schrift, die schwerwiegende Beschuldigungen gegen die Juden erhob. Der Kaiser, der gerade Josels Verteidigung der Juden in der Türkensache angehört hatte, wurde zornig. Josel musste die Beschuldigungen in einer Disputation mit Margaritha vor einer kaiserlichen Kommission erwidern, was ihm auch gelang. Margaritha wurde aus der Stadt vertrieben und Josel bekam vom Kaiser Karl V. eine Erneuerung des Judenprivilegs Kaisers Sigismund (Dokument Nr. 4 ). All diese Aktivitäten und die Tatsache, dass die „Judenordnung“ unter seinem Namen und seiner Autorität verabschiedet wurde, weisen darauf hin, dass Josel in diesem Jahr oberster Repräsentant und Bevollmächtigter der Juden im Reich wurde.
In der Tat begegnet man Josel in Dokumenten der folgenden Jahre immer häufiger als Befehlshaber und „Regirer“ der gesamten Judenschaft im Reich. In diesen Jahren kämpfte Josel für die Sache seiner Glaubensbrüder unter anderem in Sachsen, wo er viel Mühe investierte, um den Ausweisungsbefehl und das Aufenthaltsverbot des Kurfürsten Johann Friedrichs rückgängig zu machen (Dokumente Nr. 13 , Nr. 14 , Nr. 15 und Nr. 16 ), in Hessen, wo das Wohl der Juden – im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Judenordnung des Landgrafen Philipps – durch den Einfluss Matin Bucers gefährdet war, und in Brandenburg, aus dem die Juden vor etlichen Jahren vertrieben worden waren (Dokumente Nr. 18 , Nr. 19 und Nr. 13 ). In diesen Jahren zeigte sich Josel auch als begnadeter Tröster und Ermutiger für seine Glaubensbrüder. Zudem wurde er immer häufiger von allen Ecken des Reichs gerufen, um bei lokalen Problemen zu helfen und Verfolgungen abzuwenden.
In den 1540er Jahren entwickelte sich die Gefahr einer Gesamtvertreibung der Juden aus dem Reich zu einer realen Bedrohung. Unter dem Einfluss von Luthers antijüdischen Schriften (Siehe Ausstellungsraum über Luther ), wurde die Stimmung im Reich – v.a. in den protestantischen Territorien – sehr ungünstig für die Juden. Josel versuchte, mit relativem Erfolg, dem entgegen zu wirken. So konnte er verhindern, dass Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen “ und später auch „Vom Schem Hamphorasch “ in Straßburg gedruckt werden durften, weil sie sonst Unruhen und Ausschreitungen gegen die Juden verursacht hätten (Dokument Nr. 17 ). Darüber hinaus konnte Josel den Vertreibungsplan der lutherischen Fürsten am Reichstag zu Speyer von 1545 abwenden, indem er sich rechtzeitig mit einem Bittgesuch (Dokument Nr. 20 ) an einen hochrangigen Vertreter der Katholiken wandte, der dann die Vertreibung verhindern konnte.
In diesen Jahren konnte Josel seinen größten Erfolg und seine größte Errungenschaft feiern. Es war die reichsrechtliche Sicherung der jüdischen Rechtsstellung durch das Speyerer Privileg Kaiser Karl V. vom 3. April 1544, das 1548 in Augsburg bestätigt und erneuert wurde. Die Brisanz dieses Erfolgs lag darin, dass die Juden in eine heikle Situation gerieten , die durch die Entwicklungen im Reich verursacht wurde. Es waren vor allem die Tendenzen der Territorialisierung aller Bereiche des Rechts und der Ordnung und die damit zusammenhängende Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Ständen um diese Entwicklung, die selbstverständlich auch die Rechtsstellung der Juden betraf. Oft mussten die Juden nun mit der jeweiligen Obrigkeit von Fall zu Fall ihre Lebenssituation neu aushandeln und oft dabei zugleich den Kaiser um Schutz zur Durchsetzung ihrer Rechte angehen (z.B. Dokumente Nr. 11 und Nr. 12 , die einen weiteren Eindruck darüber verleihen, wie breitgefächert Josels Tätigkeit war). Josel erkannte jedoch den Gegensatz zwischen universalen und partikularen Gewalten im Reich, und stellte sich bedingungslos auf die Seite des kaiserlichen Schutzherrn.
So war es in einer Zeit der großen religiösen Spannungen und politischen und sozialen Veränderungen, dass ein außergewöhnlicher Mann sich besonders hervortat, um seine Glaubensgenossen vor drohenden Gefahren zu bewahren. Als Anwalt, Führer, Tröster und Helfer, aber auch als Apologet, Reformer und Lehrer stellte sich Josel von Rosheim fast 40 Jahre lang in den Dienst seiner Glaubensgenossen. 40 Jahre, in denen er das Reich durchwanderte, um vor Kaisern, Königen, Bischöfen, Markgrafen und städtischen Magistraten die Sache seines Volkes zu vertreten, Beschuldigungen verschiedener Art niederzuschlagen, zum Tode verurteilte zu befreien, Ausweisebefehle aufzuheben, Privilegien und Handelserleichterungen zu verschaffen und Verfolgungen verschiedener Art abzuwenden.
Bearbeitung: Avraham Siluk
Über die Verfolgungen der Juden im Elsass werfen diese Auszüge aus Josels Memoiren Licht. Sie stehen in unmittelbaren Zusammenhang mit dem nächsten Dokument (Nr. 2 ). Josel berichtet hier nicht nur über das Unrecht, das ihm und seinen Glaubensgenossen widerfahren wurde, sondern auch über die Bestrebungen, Gerechtigkeit zu erlangen.
Übersetzung:
Im Jahr 5274 (1513/14) wurden die jüdischen Bewohner in Mittelbergheim, und ich unter ihnen, wegen einer falschen Beschuldigung eines Bastards verhaftet. Und sie sperrten uns, acht Personen, in zwei Türmen in Oberehnheim ein. Wir waren dort sieben Wochen lang, bis für uns Recht gesprochen wurde. Und es stellte sich heraus [, dass wir unschuldig waren]. Der Räuber [Ankläger] bereute seine böse Absichten und gestand die Wahrheit, dass wir unschuldig waren. Gesegnet sei Gott, der uns in seiner Güte nicht enttäuschte.
Im Jahr 5275 (1514/15) wurde ich zu unserem Herrn, dem Kaiser geschickt, um Klagen gegen die gleiche Stadt Oberehnheim anzureichen, und auch gegen die Herren von Andlau und gegen den Bischof - da dieser mit ihnen unsere Vertreibung aus dem Land plante. Und aus diesem Anlass wurde ich genötigt, zwei- und dreimal hinzureiten. Und es geschah so, dass eine große Angst an allen Menschen und die Herren (von Andlua) fiel. Sie wurden alle und insbesondere Oberehnheim vorgeladen, um ihre Verteidigung gegen meine Klagen vorzustellen. Der Bischof und die Obrigkeiten von Andlau trafen eine Abmachung mit uns, aber Oberehnheim lehnte es ab, uns zu antworten und sind am vereinbarten Tag nicht vor dem Kaiser erschienen. Wir mussten unseren Unterlassungslohn bezüglich die Menschen aus Oberehnheim sammeln. Der Tag der Abrechnung wird kommen, und Du [Gott] wirst es ihnen heimzahlen, Auge für Auge.
Aus dem Englischen: Avraham Siluk
Privileg Kaiser Maximilien von 1516
Die Juden des Elsass wurden 1476 durch die Schweizer ausgetrieben und trotz der Bitten und Drohungen des Pfalzgrafen Philipps nicht wieder aufgenommen. Erst im Jahre 1500 ließ es die Stadt auf Befehl des Kaisers geschehen, dass zwei Juden von Bischofsheim unter bestimmten Bedingungen sich dort niederließen; ihnen folgten bald mehrere.
Bis 1507 blieben die Juden unbehelligt, als die Stadt Oberehnheim ein Austreibungsdekret gegen sie erließ. Die Juden beschwerten sich bei dem Landvogt und beanspruchten eine gerichtliche Verhandlung. Kaiser Maximilian, der vom Landvogt benachrichtigt wurde, erließ den Befehl, dass die Judenaustreibung rückgängig gemacht werden müsse. Die Stadt missachtete den Befehl des Kaisers und schritt gegen die Juden aus, wobei einige Bürger dem Beispiel folgten und Juden angriffen. Bald begannen auch andere Städte des Elsass Juden zu verfolgen. Obwohl der Kaiser ein Schutzmandat erließ, endeten die Verfolgungen nicht. Die Juden erkannten, dass ihre Rechte nicht beachtet werden, und schickten Josel zum Kaiser, damit dieser ein Ende zu den Ausschreitungen machen würde. Auch die darauf erlassenen Befehle des Kaisers, welche forderten, die Angelegenheit vor Gericht zu klären, wurden missachtet. Josel musste wegen dieser Affäre mehrmals dem Kaiser einen Besuch abstatten (siehe sein Bericht in seinen Memoiren). Seine Bemühungen zeigten bald ihre Wirkung:
Am 4. Dezember 1516 erließ schließlich Maximilian ein Mandat, das die Juden im ganzen Elsass vor Verfolgungen und Vertreibungen schützen sollte. Die Juden sollten demnach in diesem Gebiet weiterhin wohnen dürfen. Das Mandat verbot auch ausdrücklich eine Vertreibung oder überhaupt die Beraubung der Freiheiten der Juden ohne vorherigen gerichtlichen Prozess.
Allerdings hatte auch dieses Mandat keine große Wirkung. Vorübergehend aber endeten die Verfolgungen.
Josel berichtet über die wichtigsten Ereignisse von 1520: Beim Kaiser und die Vertreibungsbedrohungen im Elsass
Dieser Bericht aus Josels Memoiren schildert in aller Kürze, wie Josel vom frischgekrönten Reichsoberhaupt, König Karl V., ein Privileg erhielt, das Rechte und Freiheiten sämtlicher Juden im Reich versicherte. Dass dieses durch Karl V. selbst unwirksam gemacht wurde, wird uns auch in diesem Bericht erzählt. Die Städte Rosheim und die Vogtei Kayserberg bekamen das sogenannte Recht des De non tolerandis Judaeis und sie wollten von diesem Recht auch Gebrauch machen. Zwar datiert Josel diese Ereignisse auf das Jahr 1520 („im gleichen Jahr“). Dies scheint aber ein Fehler zu sein, der dadurch zu erklären ist, dass sich die Episoden tatsächlich innerhalb wenigen Monaten ereigneten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Josel das Privileg erst im November 1520 erhielt und die Städte ihre Freiheiten gegen April 1521. Die Tatsache, dass Josel seine Memoiren 1547 verfasste, unterstützt die These, dass eine Verwechslung der Daten vorliegt.
Es ist zwar eine sich widersprechende Angelegenheit, dass Karl V. den Städten die Vertreibung der Juden gestattete, einige Monate nachdem er den Juden ihre vollen Rechte gewährt hatte. Diese Praxis war aber nicht ungewöhnlich für die Zeit. Immer wenn es um die Juden ging, waren mehrere Interessen (politische, religiöse, wirtschaftliche) im Spiel. Es ist auch anzunehmen, dass Karl V. in der Zeit am Wohlbefinden der Juden nicht besonders interessiert war. Das lag zum einen an der Tatsache, dass der Monarch, der gerade erst zum Kaiser gewählt wurde, seine Macht im Reich noch nicht ausbauen konnte und trotzdem mit schwerwiegenden Problemen, wie der beginnenden Reformation und der Türkengefahr, konfrontiert war. Zum anderen lag es vermutlich an seiner Herkunft aus dem Königshaus in Spanien, das knapp 30 Jahre davor alle Juden aus dem Land vertrieben hatte. Darüber hinaus ging der Vertreibung eine lange Zeit der Verfolgungen voraus, die teilweise protorassistisch motiviert war. Allerdings erkennt man hier eindeutig, dass der Monarch den Juden gegenüber nicht feindselig eingestellt war (Siehe mehr dazu im Ausstellungsraum Karl V. und die kaiserliche Judenpolitik ).
Übersetzung (Nach Fraenkel-Goldschmidt):
Im Jahre 5280 (1519/20), wurde unser Herr, Kaiser Karl [1], zum König gekrönt. [2] Ich ging zu ihm und zu seinen Dienern, um für unser Volk und unser Erbe [3] zu plädieren. Wir (das sind ich und der Mann, der mit mir da war) [4] erhielten flächendeckende Privilegien für ganz Deutschland. Dennoch [5] wurden im gleichen Jahr Freiheiten erteilt, welche die Austreibung der Juden aus Rosheim und aus der Vogtei in Kayserberg verordneten. Mit Gottes Hilfe, gesegnet sei ER, intervenierte ich beim Kaiser und es gelang mir, die Vertreibung aus der Vogtei in Kayserberg zu verhindern, indem die spezifische Freiheit der Vertreibung annulliert wurde. Allerdings wurde die Freiheit [6] der Stadt Rosheim nicht aufgehoben [und auch ihre Entscheidung wurde nicht rückgängig gemacht]. Durch große Anstrengungen und mit großen Schwierigkeiten konnten wir immer wieder eine Verschiebung [7] des Mandats erwirken. Bis heute wissen wir immer noch nicht, [wie die Sache ausgehen wird] und wir können nichts anderes tun, als unserem Vater im Himmel zu vertrauen. ER wird uns erlösen und uns von [unseren] Angreifern retten. Möge dies sein Willen sein. Amen.
[1] Im Text: Karolin
[2] Im Text: yatsa...limlokh; kann auch als „gewählter Kaiser“ verstanden werden.
[3] Nach 5. Buch Mose: „verderbe dein Volk und dein Erbteil nicht“ (mit den notwendigen Veränderungen).
[4] Es ist unklar, wen Josel meint.
[5] Trotz des erteilten Privilegs autorisierte Karl V. die Vertreibungsbefehle, die hier folgen.
[6] Im Text: kiyumim; Rechtsstatuten. Im damaligen Sprachgebrauch Freiheit. Ohne in eine Diskussion darüber zu gelangen, ob das Wort Kiyum ursprünglich „Niederlassungs- und Arbeitsrecht für Juden“ bedeutete, kann man hier mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen, dass die Bedeutung des Worts in diesem Zusammenhang „ein beglaubigtes Dokument“ ist.
[7] Im Text: zemani(n) ahar zemani(n), = noch mal und nochmal (Aramäisch). Hier mit der Bedeutung: Verschiebung nach Verschiebung.
Über die vielfältigen Tätigkeiten Josels:
Folgende Auszüge aus Josels Memoiren berichten über die Ereignisse der Jahre 1530-1. Josel schildert seine Fürsprache-Tätigkeiten beim Kaiser, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Anlässen stattfanden. Seine Bemühungen die jüdischen Rechte zu verteidigen und ihre Anliegen zu vermitteln, waren nach diesen Berichten recht erfolgreich.
Josel lieferte uns verschiedene Zeugnisse über seine Tätigkeiten, die unterschiedliche Aspekte der Ereignisse erläutern. In seinen Memoiren redet er über die Beschuldigung, die Juden würden mit den Türken zusammenarbeiten, und die Klagen wegen Wuchers. In seinem Trostbüchlein hingegen berichtet er von der Anklage, die jüden „hetten den luterischen iren glauben gelert“ und an einer anderen Stelle erzählt er von seiner Disputation mit Antonius Margaritha und seinen Sieg über diesen.
Übersetzung: (nach Fraenkel-Goldschmidt)
Im Jahre 1530 gab es einen großen Schrei aller Nationen, dass nämlich die Juden in konspirativer Beziehung mit den Türken stehen. Solche Verleumdungen erreichten schließlich unsere Herren, den Kaiser [Karl V.] und den König [Ferdinand], gerühmt sei ihr Name, so dass uns das Geleit zu vielen Territorien verboten wurde. Mit der Zustimmung der [jüdischen] Gemeinden breitete ich ein Büchlein der Apologie vor, und mit Gottes Hilfe [präsentierte ich es] den Monarchen in der Stadt Innsbruck. Und Josef fand Gefallen in deren Augen*, da sie gerne unsere Worte der Entschuldigung akzeptierten und alle unsere frühere Privilegien bestätigten**.
Im gleichen Jahr (1530) gab es eine Versammlung aller Fürsten des Reichs und die Adligen sowie zahlreiche Damen, um präventive Gesetze und Regelungen zu verabschieden*** und die Fürsten beabsichtigten das Zinsgeschäft abzuschaffen. Zur gleichen Zeit, mit Gottes Hilfe, stand ich standhaft [gegen die Gegner] und erreichte vom Kaiser eine Erneuerung unserer Privilegien vom Kaiser Sigismund. Die Ankläger wurden zum Schweigen gebracht und da gab es Frieden im Land für eine gewisse Zeit.
Im Jahr 1530/31 waren die Ankläger wieder am Werk und sie verfolgten und bedrängten den Kaiser in Brabant und Flandern – Länder ohne Juden. Ich bewegte mich schnell vor vielen anderen und machte die Reise in diese Länder auf einem Pferd, damit ich mit Gottes Hilfe für unsere Sache plädieren konnte. Ich war am kaiserlichen Hof vom Anfang Adar bis zum ersten Sivan 5291 [18. Feb. - 17. Mai 1531]; Um für die gute Sache zu arbeiten. Obwohl der Krieger Roth Royth wollte mich lebendig schlingen – ich war tatsächlich vor dem Tor des Todes – allerdings schickte mir Gott mit seiner großen Gnade seinen Engel, und rettete mich von seinen Händen und von den Händen all derer, die mir lauerten. Und an diesen Tagen hatte ich Audienz beim Kaiser in seinem inneren Sanctum und sprach ihn über meine Angelegenheiten und er gab mir seine Antwort****...
* Nach Genesis 39:4.
** Siehe Ausstellungsraum zu Kaiser Karl V., Dokument Nr. 1 .
*** Reichspolizeiordnung
**** Es ist anzunehmen, dass Josel dem Kaiser das „Artikel und Ordnung “-Dokument präsentierte. Genauere Angaben sind aber leider nicht möglich.
(Aus dem Englischen: Avraham Siluk)
Die Zehn Artikel, die in Augsburg 1530 beschlossen wurden.
Am Reichstag zu Augsburg 1530 wurden neben religiösen und politischen auch wirtschaftliche Themen diskutiert. Vor allem das Zinsgeschäft stand im Zentrum der Debatte. Das Zinsgeschäft war zu der Zeit auch von vielen führenden Gelehrten wie Martin Luther, Erasmus von Rotterdam und vielen anderen mehr in die Kritik geraten. Jedes Zinsgeschäft wurde mit Wucher gleichgesetzt und als das größte Übel denunziert.
Auch der jüdische Geldhandel stand unter einer massiven Kritik. Zwar waren die Juden zu der Zeit nicht mehr die großen Geldleiher im Reich. Dies übernahmen die großen christlichen Bankgesellschaften der Fugger und Welser, die nun die Fürsten und den Adel mit Anleihen bedienten. Allerdings betrieben die Juden kleinere und zugleich riskantere Geldgeschäfte mit ärmeren Christen, die auch hohe Zinsen erforderten. Dies alles führte zu einem wachsenden Groll gegenüber der Juden und deren angeblichen Wucher.
Am Reichstag 1530 wurde eine Kampagne von einer Reihe von Reichsstädten gegen den Wucher gestartet. Ihre Forderungen waren, das allgemeine Verbot des Wuchers der Juden (jedweden Geldgeschäfts) und die Anhaltung der Juden zur Handarbeit, was allerdings die Praxis des Ausschlusses der Juden aus den Zünften vollkommen ignorierte. Darüber hinaus sollte die Praxis unterbunden werden, wonach die Juden ihre Schuldner nicht vor heimische Gerichte klagten, sondern vor auswärtige, wo letztere kaum Chancen hätten, den Prozess zu gewinnen. Zudem sollten zwielichtige Methoden wie versteckte Anleihen und Zinseszinsen strikt verboten werden. Schließlich warb man gegen das sogenannte „jüdische Hehlerrecht“.
Dieses beruhte auf einem Privileg Heinrichs IV. von 1090 den Juden von Speyer. Demnach war es den Juden gestattet – zum Schutz ihres Handels – gestohlenes aber gutgläubig erworbenes Gut nur gegen Erlangung des Kaufpreises zurückzugeben. Es handelte sich also um Pfände, welche die Juden als Versicherung für ihr verliehenes Geld entgegennahmen. Diese mussten sie dem rechtmäßigen Besitzer nicht zurückgeben, wenn dieser keine Entschädigung dafür zahlte.
Die beiden Ausnahmen – des Zinsgeschäfts und des Hehlerrechts – erregten große Empörung gegen die Juden. Josel, der zum Reichstag angereist war, um Privilegien bei Kaiser Karl V. erneuern zu lassen (siehe Dokument Nr. 4 ), hörte die große Aufregung und entschied sich, etwas zu unternehmen. Er rief Vertreter der jüdischen Gemeinden vom gesamten Reichsgebiet, nach Augsburg zu kommen, um sich zu beraten. Nach langen Besprechungen wurde ein Dokument verfasst, das 10 Artikel beinhaltete, die Missbräuche im Handel zwischen Christen und Juden zu unterbinden versuchte. Die versammelten Vorsteher der jüdischen Gemeinden einigten sich darauf, die Einhaltung der Artikel in ihrem jeweiligen Bezirk zu kontrollieren. Darüber hinaus bevollmächtigten sie Josel, diese Artikel vor den Ständen zu präsentieren.
Leider dauerten die Beratungen der Vertreter der Juden zu lange und der Reichstag endete, nach Verabschiedung der Reichspolizeiordnungen, ein paar Tage später, ohne dass Rücksicht auf dieses Dokument genommen wurde. Die versammelten Judenvorsteher beschlossen nichtsdestotrotz, das Dokument sowohl an die jeweiligen lokalen Herrscher zu überreichen als auch ihren jüdischen Gemeinden zu präsentieren.
Die verabschiedeten Artikel versuchen, eine Antwort auf die Kritik gegen den jüdischen Geldhandel zu geben. Durch Zugeständnisse und vereinbarten Verhaltensänderungen sollten die Christen umgestimmt werden. Es sollte auch dazu beitragen, dass die Juden in Zukunft nicht kollektiv bestraft würden, wenn einer von ihnen etwas verbreche. Gleichzeitig diente das Dokument auch der innerjüdischen Reflexion. Es war also auch eine Selbstkritik an den bisherigen Umgang der Juden mit ihren christlichen Nachbarn. Ähnlich wie Luthers erste Judenschrift bietet also die vereinbarte „Ordnung“ eine Möglichkeit zu einem neuen unbelasteten Umgang der beiden Bevölkerungsgruppen.
Zwar sind einzelne lokale Erfolge bei der Implementierung der Artikel zu vermelden, wie Josels Bemühungen in seinem Wohn- und Hauptwirkungsgebebiet zeigen (Dokumente Nr. 6 und Nr. 7 ). Allerdings konnte das Dokument keine für das gesamte Reich umfassende Gültigkeit erlangen. Und auch dort, wo die 10 Artikel umgesetzt wurden, wurden sie oft von Seiten der Juden wie von Seiten der Christen bzw. christlichen Obrigkeiten übertreten und/oder missachtet (siehe Dokument Nr. 8 ). Deswegen kann auch kaum die Rede davon sein, dass die Beziehungen zwischen Juden und Christen sich verbessert hätten.
Der Versuch der jüdischen Führung – unter der Regie Josels von Rosheim –, die Geschäftsbeziehungen der Juden mit den Christen neu zu ordnen, so dass kein Missbrauch und kein Ärger mehr entsteht und dass dadurch die drakonische Maßnahme des totalen Verbots der Geldgeschäfte der Juden überflüssig gemacht würde, erreichte nicht die gewünschte Wirkung, auch wenn er nicht gänzlich scheiterte.
(bearbeitet von: Avraham Siluk)
Literatur:
Selma Stern, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart 1959.
Chava Fraenkel-Goldschmidt, The Historical Writings of Joseph of Rosheim. Leader of Jewry in Early Modern Germany, Brill-Leiden-Boston 2006.
Aufgaben:
1. Analysieren Sie die einzelnen Artikel. Sind sie eine direkte Antwort auf die Kritik der Stände und Städte oder sind sie aus einer "Eigeninitiative" der Juden als eine Art Selbstkritik entstanden?
2. Kommen die Juden mit diesem Beschluss den Forderungen der Christen ausreichend nach oder gehen sie zu weit und schaden dadurch den eigenen Interessen?
3. Könnte man, ihrer Meinung nach, dieses Dokument als eine "jüdische Judenordnung" ansehen?
Da [..] in Straßburg Bürger der Stadt von den Juden durch übermäßigen Wucher geschädigt und durch Vorladung vor auswärtige Gerichte in große Unkosten gestürtzt wurden, hatte der Rat durch ein offenes Mandat am 16.März 1530 seinen Bürger bei schwerer Strafe verboten, sich mit den Juden in irgend welche Darlehnsgeschäfte einzulassen. Aber werder hatte dieses Verbot des Rats die Bürger zurückgehalten, mit den Juden Geschäfte zu machen, noch war Josels Verordnung vom 17.November 1530 im Stande gewesen, die Vorladungen vor auswärtige Gerichte seitens der Juden abzustellen. Der Rat hatte im Jahre 1534 mehrfach Ursache, hierüber Klage zu führen. Josel suchte in jedem Falle diese Beschwerden beizulegen, selbst durch Zahlungen aus eigener Tasche, um nur den Juden das Geleit zu erhalten. Die Klagen mehrten sich aber, und da Josel am 23. Judei 1534 wieder eine solche über den Juden Jacob von Niederschpfen erhalten hatte, entschloss er sich, "als gemeiner judischeit regierer ... mit rath etlicher anderer mehr juden anstatt und in namen aller judischait in theutschen landen", nachdem er also den Rat noch anderer Führer der deutschen Juden eingeholt, ihre Zustimmung sich gesichert hatte, eine Erweiterung der Augsburger Bestimmungen vorzunehmen.
Während nämlich hier zwar eine Geldstrafe auf eine übereilte Citierung vor ein ausländisches Gericht gesetzt, aber eine solche Ladung an sich doch noch immer möglich war, sollte von nun an jede Streitsache nur vor Meister und Rat und in der Berufungsinstanz nur vor den dreizehn kaiserlichen Kammerrichtern in Straßburg verhandelt werden; von dem Urteil dieser Richter, welche infolge des der Stadt verliehenen privilegium de non appellando vom Reichskammergericht als Berufungsinstanz delegiert waren, sollte es keine Appellation mehr geben. Damit die Verordnung um so eher befolgt werde, bestimmt Josel [...] einmal, dass jeder Jude, der das Straßburger Geleit zu erhalten wünsche, erst schwören solle, sich dieser neuen Verordnung unbedingt unterwerfen zu wollen; sodann solle derjenige, der diesen Eid übertrete, mit dem jüdischen Banne belegt und von jedem Verkehr mit seinen Glaubensgenossen ausgeschlossen werden, bis die Straßburger Obrigkeit wieder zufrieden gestellt sei.
Josel erlässt eine diesbezügliche Bekanntmachung an die Juden, und setzt am 25. Juni 1534 den Rat davon in Kenntnis. Er spricht in seinem Schreiben die Hoffnung aus, dass von jetzt an nur die ungehorsamen Juden von der Stadt mit Verlust des Geleites bestraft, dass aber nicht die anderen darunter zu leiden haben würden.
In Straßburg war man aber der Meinung, dass man zunächst den Bürgern das Verbot des Handelns mit den Juden wieder in Erinnerung bringen solle [...] Wenn aber doch Jemand ... sich mit den Juden in Handelsverbindung einlasse,so könne man in diesem Falle von Josels Obligation gebruach machen.
Zit. nach: Ludwig Feilchenfeld, Rabbi Josel von Rosheim. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter, Straßburg 1898, S. 34ff.
Ähnlich wie im vorherigen Dokument verpflichten sich die Juden, die Bürger in der Region nicht vor ausländische Gerichte zu klagen. Darüber hinaus versprechen sie, gestohlenes Gut, das ihnen übergeben wurde, dem rechtmäßigen Besitzer ohne Zahlung zurückzugeben. Auch hier erkennt man leicht, dass die Verpflichtungen, welche die Juden vereinbaren, sich an die "Artikel und Ordnung" von 1530 orientierten. Dass diese Verpflichtungen nicht immer eingehalten wurden und deswegen immer wieder Klagen an Josel gereicht wurden, zeigt das nächste Dokument (Nr. 8 )
Aufgabe:
1. Dieses Dokument wird in der Literatur als das "zweite ökonomische Dokument" Josels bezeichnet. Vergleichen Sie die Bestimmungen bzw. Verpflichtungen der Juden darin mit den "Artikeln und Ordnung" von 1530. Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede treten auf? Ist dieses Dokument Ihrer Meinung nach eine Verschärfung der vorherigen Bestimmungen?
Dies ist ein Schreiben der zehn verbündeten Städte im Elsass vom 26. Dez. 1540 an Josel, „gemeiner judischeit furstender und parnosen“. Auch hier wird beklagt, dass Juden trotz vorheriger Vereinbarungen und der den zehn Städten verliehenen Rechten christliche Bürger vor fremde Gerichte klagten. Da nun die zehn Städte alte kaiserliche Privilegien für das ‚ius de non evocando‘ hätten, verlangten sie von Josel, dass er ein Ende für diese Ungehörigkeit setzen würde. Auf dieses Schreiben hin begab sich Josel nach Oberehnheim und überreichte dort die „Judenordnung“ von 1530. Damit versuchte er, den Rat zu überzeugen, dass schon diese ein solches Vorgehen seitens der Juden verbieten.
Zur Transkription>
Quelle: Bayrische Staatsbibliothek, Sig. VD 16 M 973
Antonius Margarithas Schrift "Der gantz Jüdisch glaub", Augsburg 1530
Antonius Margaritha war der Sohn eines bekannten und hochangesehenen Rabbis, Samuel ben Jacob Margolis von Regensburg, und der Enkel des ausgezeichneten Talmudgelehrten jacob Margolis aus Nürnberg. Darüber hinaus war der ins Christentum bekehrte Margaritha mit namhaften Prager Juden verwandt. Aufgrund seiner prominenten Herkunft verlieh man seinen Kenntnissen über die jüdische Religion und das jüdische Leben großes Vertrauen. Deswegen erregte seine Schrift über den „gantz Jüdisch glaub“ von 1530 großes Aufehen, sowohl bei den christlichen Lesern, die das Werk mit Begeisterung empfingen (darauf deuten die vielen Auflagen des Werks, die in wenigen Jahren aufeinanderfolgten), als auch bei den Juden, die diese Begeisterung mit Sorge vernahmen.
Ähnlich wie Pfefferkorn mit seinen antijüdischen Schriften, versuchte Margaritha in seinem 1530 in Augsburg erschienenen “Der gantz Jüdisch glaub“, keine objektive und ausgewogene Darstellung des jüdischen Lebens und Glaubens zu beschreiben. Ihm lag vielmehr die Absicht zugrunde, das Judentum als eine unbiblische Religion, die Gefahr für das Christentum und für die christliche Gesellschaft darstellte, zu enthüllen. Dabei charakterisierte er die Juden nicht als fromme, gute Menschen, die dem mosaischen Gesetzt befolgten. Sie würden vielmehr, so Margaritha, den Lehren ihrer Rabbiner gehorchen, die das biblische Gesetz an vielen Stellen verstellt, ihre eigene „Innovationen“ eingeführt und Gottes Wort auf skandalöser Art und Weise falsch ausgelegt hätten.
Aber Margaritha wollte nicht nur die Ausübung der jüdischen Religion kritisieren. Ihre ‚Schädlichkeit‘ für die Christen stand im Vordergrund seiner Ausführungen. Mit zahlreichen Beispielen versuchte er klar zu machen, dass die Juden sich als Herren über die Christen begriffen und dass sie sie von tiefen Herzen hassten. So erklärte er, dass Christen, wenn sie Geld von den Juden liehen, faktisch Sklaven der Juden würden. Dass manche Christen für Juden arbeiteten, und am Shabat ihnen halfen, ihre Gesetzen einzuhalten, machte sie auch zu Dienern der Juden in den Augen Margarithas. Und das war für ihn unakzeptabel.
Margaritha erhob die bereits bekannten Beschudigungen von der Lästerung der Juden. Dass er dabei die jüdischen Gebete ins Deutsche so übersetzte, dass sie als Schmähungen erschienen, verstärkte das Potenzial für Unruhen gegen Juden. Denn nun konnten auch einfache, ungebildete Menschen vom Inhalt der Gebete erfahren und sie tatsächlich als Beleidigung ihres Gottes und Glaubens verstehen. Die Darlegung der jüdischen Gebete als Lästerung und Schmähung zog eine weitere Schlußfolgerung mit sich: Da die Gotteslästerung ein schweres Verbrechen war, übertraten die Juden die Gesetze des Reichs, indem sie ihre Religion praktizierten. Da die Juden, laut Margaritha, auch den Niedergang der christlichen Herrschaft heimlich wünschten, sollte man ihnen ihre bisherigen politischen Status und ihre Privilegien nicht mehr gewähren. Margaritha versuchte also aus seinen theologischen Überzeugungen soziale und politische Konsequenzen für die Juden zu ziehen.
Der Inhalt von Margarithas Schrift wurde dem Kaiser, als er nach Augsburg kam, um am Reichstag dort teilzunehmen, bekanntgemacht. Kurz zuvor hatte er in Innsbruck Josels Verteidigungsrede zugunsten seines Volkes gehört und ihm Privilegien für die gesamte Judenschaft im Reich verliehen. Nun erhielt er von einem gelehrten Täufling die angeblichen Beweise dafür, dass die Juden Christus und den Kaiser selbst verfluchten und die Christen dem Judentum zu gewinnen versuchten.
Der Kaiser verlangte von Josel, der auch nach Augsburg gekommen war, Margarithas Anklagen zu widerlegen. Margaritha hatte in seinem Buch selbst den Wunsch geäußert, seine Beschuldigungen mit den gelehrtesten Juden diskutieren zu dürfen. So fand am 25. Juni 1530 eine Disputation zwischen Josel und Margaritha statt, die vor einer gelehrten Kommission und in Gegenwart des Kaisers, mehrerer Fürsten und anderer Reichsstände getragen wurde. Josel musste sich „dreier Punkte wegen verantworte[n]“, nämlich: dass die Juden Christus und das Christentum schmähten, Proselyten zu machen suchten (das heißt eine jüdische Mission durchzuführen) und danach trachteten, die Obrigkeiten, denen sie unterworfen seien, zu vernichten.
Am Ende konnte Josel die kaiserliche Kommission überzeugen. Diese ließ Margaritha, der nun als einen gefährlichen, Unruhe-stiftenden Denunzianten galt, gefangen nehmen und anschließend aus Augsburg verbannen. Er musste sogar schwören, die Stadt Augsburg nicht mehr zu betreten.
In der Tat verschwand Margaritha seit dieser Zeit aus Süddeutschland. Im Jahre 1531 findet man ihn als Lektor der hebräischen Sprache in Leipzig wieder. Damals erschien auch eine dritte Auflage [seines Werkes], von dem Luther und Bucer in ihren späteren Schriften stark beeinflusst wurden. Vor allem seine Ansicht, dass die Juden nicht einen privilegierten Status gegenüber Christen genießen dürfen, klingt bei den Schriften der beiden Reformatoren an.
Josel erwähnt die Disputation mit Margaritha an mehreren Stellen: In seinem „Trostschrift “, in „Sefer Ha-Miknah“, in seinen Memoiren und in seinen Briefen an den Straßburger Rat von 1543 . Aber abgesehen von Josels berichte sind keine Dokumente über die Disputation überliefert.
A. Siluk
Weiterführende Literatur
Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „der gantz Jüdisch glaub“ (1530/1), Stuttgart 2002.
Selma Stern, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart 1959.
Stephen G. Burnett, Distorted Mirrors: Antonius Margaritha, Johann Buxtorf and Christian Ethnographies of the, in: The Sixteenth Century Journal, Vol. 25, No. 2 (1994), S. 275-287
Zu den Erläuterungen>
Transkription:
S.1 – Titelblatt
Der gantz Jüdisch glaub
mit sampt ainer gründtlichen vnd war-hafften anzaygunge/ Aller Satzungen / Ceremonien/ Gebetten/ Haymliche vnd offentliche Gebreüch [Gebräuche]/ deren sich dye Juden halten/ durch das gantz Jar / Mit schönen vnd gegründten Argumenten wyder iren Glauben. Durch Anthonium Margaritham Hebrayschen Leser der Löblichen Statt Augspurg/ beschriben vnd an tag gegeben.
S.2
Argument. oder innhalt dises Büchleins.
In disem nachuolgende[n] Büchleyn/ findt man klärlich vn[d] gründtlich alle Ceremonien vnd breüch der Juden/ mitt sampt irem gantzem wochen gebet/ darin sye all tag. 100. Lobsprechunge zu Gott thundt/ Das alles durch Anthonium Margarithan/ Hebreyschen Leser in der löbliche[n] Statt Augspurg/ mit der Juden aigen geschrifft vnnd Bucher bezeüget/ Nemlich wye sye sich mit irem essen/ trincken/ geschyrren halten/ wye vnnd wenn sye fasten/ Kinder beschneyden/ Eemach[n] Schaydbrieff/ Auch wie vn wenn sy sich Tauche[n] feyrtag halten/ mitt iren todten vmbgeen/ Auch wie sye Beychetn ec. Auch was auff ire Artzet vnd Ayde zu halen sey/ vnnd zuuor gegen aynem Christen / Von iren kranckhayten vn lastern/ wye sye sich halten so es wyttert. Auch ain wenig angezaigt/ was die Kabala sey/ vnd der groß haylig name Gottes/ wölcher Tetragramaton genennt wert/ in hebreische[n] ... schäm schäl arba osyos/ Auff teütsch der nam [Name] von den Vier Buchstaben/ Auch was auff iren Thalmudt zu halten sey/ was sy für Ceremonien in ire[n] Kirchen haben/ als mit besondern klaydern/ liechter brenen Wie und wenn sye sich bewegen/ auch gar bucken
S.3
Wie wo vnnd wenn sy Christum mit sampt allen denen die im anhangen oder glauben/ verfluchen vnd verspotten/ Auch ain wenig angezeygt/ wyder iren vnleydlichen wucher vnnd mussig gange [Müßiggang]/ Auch auf das letst ain klain gut/ war/ schrifftlich Argument/ wider iren glauben vnd hoffnung der zu kunfft ihres erdichten Moschiach [Messias] vnnd erläsers/vnnd wider haymsuchung vnd versamlung gen Hierusalem/ sonder diß als wirt mit disem Argument vnbgestossen vnd erhalten / das sye in ewigkait/ also in der gefencknus [Gefängnis] zerströwet [zerstreut] vnnd verworffen/ allen völckern zum spott vnd Exempel/ [s]ein müssen/ Wie nemlich am 5. Buch Mosi, z.8, Wölcher aber durch genad berufft wirdt/ das er den waren [wahren] Moschiach der schon kommen ist/ annimpt/ der selb ist on [ohne] zweyffel selig vnd behalten/ wie dann der selben /sey der der zeit Christi vil betufft worden seind/ das sey Got ain eer in ewygkayt Amen.
S.4
Allen gutt glaubhertzigenn Christen wünscht Anthonius Margaritha gnad/ frid vn hail vo Got/ durch vnnsern Herren Jesum Christum.
Nach dem ich vonn vilen zu dickern malen gefragt/ersucht/ vn gebette[t] worden bin/ inen anzuzeigen/ was doch die Juden jetz zu mal für eusserliche Ceremonien/ gebet/ vnd gebreuch in iren Sinagogen vnd versamlungen haben/ bin ich auß dem vn anderm aoch darzu bewegt vnd verursacht worden/ solchen mit samptt allen andern Christlichen menschen/auß götlicher bruderlicher liebe/ hierinnen zu dienen/ vnd solche auch ander dergleichenn frage/ abzustellen/ vnd zuuorauß/ diemweil ich verhoffe/ das mein nach folgend schreiben/ nutzlich vn auch etwas guts bey vile[n] schaffen werde/ vn zuuor auß bey denen die vnb die Juden wonen / hanndlen vnd wandlen / vn auch bey denen die da sprechen/ der Juden wesen sey gut/ die Juden haltten ire gesatz baß dann wir/ vnd dergleichen / hab ich auß billigkeit nit vnderlauffen künden anzüzaigen/ wz heutt zu tags/ der Juden thon vnd lassen seye/ vn
S.5
Solchs alles alle[n] Christglaubige[n] hertzen zu schreiben/ bitte alle Christglaubige hertzen/ wöllen ine[n] also mein schreibe[n] vnd dienst guttigklich befolhen lassen sein/ das ich aber das alles auff das freüntlichst thon/ vn anzaigen künde/ hab ich für mich genomen alles thon vn lassen der Jude[n]/ mit sampt irem Betbüchlin [Gebetsbücher]/ in das teütsch zubringe[n]/ wie im titel nach der lenge angezeygt/ Damit menigklich selbs lesen/ sehe[n] vn versten/ künd vn müg/ wz doch die Juden jetzo für Ceremonien vnd gebet haben vnd wiewol das sy vil gutter gebet/ lob vnd breisungen [Preisungen] zu got thund/ vnd haben/ darinn man spire[n] [=spüren] mag iren eifer zu gott/ aber wol wie Sant Paulus sagt/ nit nach der wissenheit/ darumg es auch ein vnwissent/ blind halßstark volck ist/ die gnad gottes vns durch Christum den warenn [wahren] Moschieach reichlich erzeigt/ nit erkent/ sonder ein besonde[r] gerechtigkeit angericht/ vnd der gerchtigkait gottes nit vnderthon Rom 10. Daher sy auch die geschrifft zu irer verderbu[n]g/ wie Sant Petrus sagt krimen vnd felschlich [fälschlich] außlegen/ auch darnebe[n] mit närrischen wercken/vn vergeblichen aberglaubn sich trösten/ behelffen vnd beschützen/ nach inhalt ires Thalmudts. Fürwar die Apostel habenn vns nicht vergebens gewarnet/ das wir vnns vor den Jüdichen fabeln/ fragen vn wercken hütten solle[n]/ auch Christus selbs spricht. Verbegelich eeren sy mich ec. Wie sy aber/ vnd in was gestalt sye gott eeren in yren menschen satzungen/ will ich ordenlich nach ainander anzaigenn wie im titel ver-
S.6
-haissen/ vnd auch vilmer ander ding/ yeglichs besonder in seiner ordnung/ Zu beschreibe[n] fürgenomen [vorgenommen] habe/ Darauß verhoffe ich alle Christglaubige gut hertz hafftige/ vnd zuuorauß die obgemelten die vmb die Juden wonen/ werden ein sonderlich wolgefallen daran tragen/ aber sollichs nicht der mainung beschriben vnnd verteütscht/ das ich mirs alles liesse gefallen/ sonder darumb/ wie obsteet [oben steht] von der nutzligkeit/ die daruon folget/ vnd zu vorauß denen die mit den Juden practiciern/ auch darumb das man sehe gottes vrteil vnnd zorn an disem volck/ vns zu einem Exempel für die augen gestelt/ an welchem wir lernen solle[n]/ die gnad gottes durch Christum/ nit wie sy veracht[n]/ sonder zu danck an neme [annehmen]/ das got auch vns nit blend /dz wir mit offnen augen wie sy nit sehen kündten/vnnd mit dem hertzen versteen vnd selig wurden/ Dan Sant Paulus spricht zu den Ro.8. Hat got der rechten nattürlichen öscht[?] nit verschont/ wie wurde er dann vnser verschonen/ got wöll vns allenn gnad geben Amen.
Ewer aller Williger diener
Anthoni Margaritha.
S.7 – Rosch-Haschana = Neujahrfest
Darnach gond [gehen] sey zu morgens seer frü alle in weissen klaider wie vor zu kirchen solliche weysse klayder nehmen sie auß Eccle.9. Da Salomon spricht/ In aller zeit sollen deine klaider weyß sein/ dergleiychen nehmen sie ein spruch Zach. 9. Diese srpüche aber reden vonn der vnschuld des Hertzens/ nicht vonn den außwendigen klaydern/ hie man aber sycht was die Juden für Rabinos habend/ wye maysterlich sy die schrifft furen künden/ seind auch als biß vn mittag in der kirchen/ haben vil ceremonien/prennen [brennen] auch seer vil liechter [Kerzen]/ vnd die weil die zehen gepot auß der arch seind/ wye hernach volget/ plasen [blasen] sy das obgemelt widerhorn/ plasen dar-
S.8 – Rosch-Haschana = Neujahrfest
-auß 30. Stimen vnd wenn das horn hell vnd lautt geet [geht]/ vn seyn stym on allen ansto0 klar von sich gibt/ des haben sie für ein seer fast gut zaichen vber sye/ das ihn[en] das jar glücklich gehen werde wo aber das horn nit hell geet/ sonder dem ploser [Schofar] versagt/ vnnd gar nit lautten will/ seind sie fast trawrig/ vnd halten es für ein buß zaichen vber sie.
[Bild]
Nach sollichem vnnd vil langem gepett gond sye heim vnd leben seer wol / wie am abend daruor/ nach sollichem essen gönd irer vil weiber vn man/ auch die kinder die ein wenig erwachssen seind/ an ein fliessendes wasser/ wo sie aber kain fliessend wasser vberkommen künden/ gond sie an ein windigs lüfftigs ort/ heben alle ire klaider auf vnd schütlen sye wol vn vermainen also die süde von inen zeschütlen/vnd in dem schütlen stellen sie sich gegen dem wasser abwartz [abwärts] vom wind/ domit das die sünde im wasser schnell hinab fliessen sollen/ oder der lufft sie bald hinwähen. Solch nerrisch ding nehmen sie auß einem kostlichen spruch Micheä. Er wirt sych abwenden/ das er sych vnser erbarme/ vnd vnser sünde hinab inn die tieffe des mörs werffe ec. wol citiert/ aber vbel verstanden denn man wirfft die sünd nicht also leichtlich von sich/gotes erbarmung nimpts hinn ec.
S.9 – Vorbereitungen zu Yom-Hakippurim = Versöhnungstag
Vn wann sie auß der kirchen gond/ muß ein yegklich mans person jung oder alt/ ein hanen in der hand tragen auch ain yegkliches weibs bilde jung oder alt ein Hennelin/ ayn tragende [schwangere] fraw aber muß ein hanen vnd hennen tragen/ Vnd so sie heim kommen/ nimpt der haußuatter [Hausvater] seinen hanen am erst[n] vnd schlecht in [schlägt ihn] im selbs dreymal vmb das haupt vnnd spricht/ der hane farhin für mich/ dieser kom an mein stat/ diser sey mein verzeyhung/ diser han sol in den tod geen/ vnd ich sol in eyn gätz [gantz] guts leben gehen mit gantzem Israhel Amen. Also spricht er drey mal/ von erst auff sich/ das er im von erst die Sünde verzeyhe/ dernach auff seine kinder/ zu letst auff die eehalte vn frembdlinngen die bey yhm inn seinem hauß seindt.
S.10 – Vorbereitungen zu Yom-Hakippurim = Versöhnungstag
Darnach gond yr ye zwen [je zwei] vnd zwen in der kirchen/ an einn besonder ortt/ da buckt sich der ain nider auff das knü [Knie]/ vnd angesicht/ vnnd schlecht das Häß [Tuch?] vber den kopff/ doch das man im [ihm] kain plosse [bloße] hautt sehe/ So steet der ander vber in [ihn] vnd schlechtt [schlägt] in mit einem riemen 39. Straich/ Dieweil er in also schlecht/ bettet der da geschlagen wirt/ die offne beicht/ vnnd schlechtt sich selbs auch ins hertz. Wann solliches geschehen ist/ steet er auff so legt sych dann der ander an sein statt/ vnd laßt sich auch also schlagen/ doch beissen die füchs aneinander nit hart/ Solliche grosse buß geschicht darumb/ das sye gantz rein vnd on [ohne] sünnde/ an disem langen tag vor gott erfunde [gefunden] werden/ Das sye aber ein ander nur 39. Schleg [Schläge] gebe[n]/ ist im Deut. 25. gegründt...
Transkription: Avraham Siluk
Quelle: Bayrische Staatsbibliothek, Sig. VD16 M 973
Aufgaben:
1. Vergleichen Sie die Aussagen Margarithas mit denen Pfefferkorns. Gibt es Ähnlichkeiten? Was sind die Unterschiede zwischen beiden Autoren?
2. Was fällt Ihnen auf, wenn Sie die Bilder anschauen, die Margaritha in seinem Werk drücken ließ? Was für ein Bild von Juden wird dort vermittelt?
Der Befehlshaber der Judenschaft, Joseph von Rossum [Josel von Rosheim], an Graf Balthasar von Hanau mit der Aufforderung, ein von Junker Wilhelm Weyß entführtes und seiner Familie entfremdetes jüdisches Mädchen zurückzugeben, 18. Juni 1530
Joseph von Rossum bezieht sich bei seiner Intervention ausdrücklich auf das Innsbrucker Judenprivileg Kaiser Karl V. von 1530.
Jeßell, "jüd von Rossüm, gemeyner jüdischen regirer", klagt Graf Balthasar von Hanau, daß dem Oberbringer seines Schreibens, dem Juden Moße, obwohl er Steuer und Zins bezahlt hat und somit mit seiner Familie den gräflichen Schutz in Münzenberg genießt, seine Tochter genannt Bele durch Junker Wilhelm Weyß [Waise von Fauerbach] aus seinem Haus entführt, auf des Junkers Schloß gebracht, dort verschlossen und dem Vater entfremdet worden ist, was Jeßel von Rossum als Landfriedensbruch ansieht. Jüdische Kinder dem Christenglauben zuzuführen widerspricht außerdem kaiserlichem und päpstlichem Gebot sowie dem durch den regierenden Kaiser erlassenen, abschriftlich beigefügten Judenprivileg1, wonach eine Verletzung des vom Kaiser gewährten Judenschutzes mit 50 fl. zu ahnden ist. Jeßel fordert Graf Balthasar auf, dafür zu sorgen, daß dem Juden sein Kind wieder zurückgegeben wird. Falls sich der Junker weigert und etwa auf "neben weyber reden oder des kins redt" beruft, wird Jeßel vor dem Kaiser gegen ihn wegen Burg- und Landfriedensbruch und Verletzung des kaiserlichen Judenschutzes klagen.
Ausf. Papier, aufgedr. Verschlußsiegel abgefallen. Sign.: 86 Hanauer Nachträge Nr. 6000 c.
Zit. nach Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267-1600, Bd. 1, Wiesbaden 1989, S. 261
Transkription:
Wolgeborner genediger Her Eurer Gnadt sy mayn Vnder-/thnigen willigen dinst alle Zeit Zuvoran bereydt Gnediger/ Her irh werdt bericht durch Moße Juden zeigen, diß briefs/ Wiewol er seyn steuher vnd Zinß Euwer Gnadt vnd Euwer/ genaden mitverwanten vßsgericht vnd betzalt, darumb er von/ Eurer Gnadt mitsampt der andern mitverwanten getrost/ vnd gefreyhet ist, zu Mintzenburg wann vnd beschirmbt/ soll sein mitsampt sein weyb vnd kinder haben gethan/ dannocht aber vnd wider solichs alles hat der arst Juncker/ Wylhelm weyß er vnd seyne haußfrau disem gegenwer-/ digem [gegenwärtigen] Mosße seyn ehelich geborene dochter genannt Bele/ von seynem Haus gefürt worden vnd in seyn Schloß ver-/ schlossen vnd mitsambt worden von gedachtn Moße/ deß [?] wider alle natürliche auch geistliche gesatz vnnd/ ordenunng ist iym sein fleysch vnd blut zuverhalten vnd/ beschlissen dan der Landtfriden außen ist, daß man keynich/ vnerkant des Rechtn sein leib oder gudt gewaltigklich/ in schlosser oder Häuser sol enthaltn sunder ir eyner/ den anderen sol lossenn pleyben ec. Zum andern seint/ wir Judenscheit waythers vnd mehr gefreidt von Rö-/ mischer Kay..lich Mayt. Darzu von den stul zu Rom das/ man vnser Kinder von vns zu keyn Krist glauben soll/ infüren [entführen] oder verschlissen ec. Zum drittn hat die/ yzige Romisch Kay.lich Mayt. als vnser aller gnedigst/ Her Ein sundere grosse gnadt vnd freyheiten gemeynen/ Jüdenscheit deutzer Nation gegeben. Sy vnd ire weyber,/ Kinder, Haben güther, Besunder in schutz vnd schirm ge-/ nomen vor solichenn vnd desglichen gewalt zu beschirmen/ wir dan dießelbige glaubwirdige abschrifft Euer/
S.2.
Gnaden hiebey genediglich vernmen werden das Key.lich/ Mayt. Große stroff und peen. Nämlich fünffzig margk/ ledigs golt darüber gesetzt halb in Mayt. Und halb/ gedachtn Juden ec. Des nun Euwer Gnade wolvernemen/ werden gedachtn freyheiten inhalts das Eyn oder inwas/ wörden stants [Stand] er sey,, dieselbige pflichtigk zuhaben vnd/ vns dabey zu schirmen indrostlicher hoffenung so vorge-/dachter Edelman von Ewern Gnaden ermant wurt [wird], Er/ gedachten Moße sein fleyß vnd plut [Fleisch und Blut] zu seynen handen/ widerstellen wurde vnd sol, ec. Zum vierdenn/ Dweil ewerr Gnadt mit sampt eweren Gnaden/ Bruder kinder fermunder als meyneGnedige Hern/ auß gerechten pflicht billich ire Burger mit sampt/ seyner kinder Haben güter zu schirmen schuldig seiy/vnd mit gedachtenn Edelman oder anderen gesatz irs/ eigene vornemen in iren heuser dyssem gegenwardigen/ Mosse sein kindt mit gewalt vorzuhalten, will sich/ Euwer Gnaden sampt vnd sunder eß abgezelte(n) artickeln/ und keyr..liche freyheit mit gedachtm wilhelm weysse/ zuverschaffn das er den gedachtn Moße sein kindt an/ alle irrung wider zuhanden soll bey hermannung/ des burgkfriden auch der landtfriden darzu dize/ die Romisch Kay..lich Mayt freyheit vnd gebir [Gebühr / außgangen im achtzehenstn tag des monats may./ wo sich aber gedacht Edelman aff solichs vnser/ beruffung vnd Ewer Gnaden handelung vnd anzei-/ gung nit wolt gedachtem Mosse seyn kindt zu-/handen stellen vnd villicht mit eß zihen vnd mit/ neben[?] weyber Reden
[Anm. auf der linken Seite: oder des kind Rede]
woltn behelffn des ich mich / nit vrsach dan er der Recht princepall disser/ sach gedachtes kindts wider angezeigthe freyheytn/
S.3
Burgk und Lantfriden in seynem Schloß enthaltn hott,/ darumb er sich nit entschuldigen mag, mußt irh dan als/ von wegen vnd auß beuelch [Befehl] veroden von kay..lich Mayt/ Auch von eyner gemeyne Judenßheit in dissem handell gegen/ gedachtn Junckern mit keyserlichen Rechtn vürnemen/ an ordt vnd Endt, do sich daß gebent darzu umb den/ benfall [Befehl?] in gedachte freyheitn begriffen domit gedacht/ Juncker vnd alle die in disser sach verhafft werden/ Priffen [prüfen] vnd vernemen sollen, das die Judenscheit vnd/ ire Kinder haben guther beschirmbt vnd dermassen/ gegen vns sampt oder sunder nit vurgenomen sol werden, / wie wir dan in deutzer Nation allenthalben im helgn/ Reich fürstthumen vnd herschafftn vß obengezeigtn/ artickeln beschirmbt vnd beschutzt werden vnd solch ge-/walt vnd vurnemens nit gehant worden hirumb/ in Euwer Gnaden sampt vnd sunder meyn vnntherdenige [untertänige] / Bitt von gedachtem Moschiß wegen als Euwer Gnaden/ Bürger ernstlich mit gedachtn Edelman zu handelen vnd/ ins solichs wy gehort vorzuhaltn domit irh als auß/ beuelch [Befehl] nit verursacht wurdt der Romisch Kay..lich Mayt./ oder in irem abwesen parlament anzuzeigen vnd anzu-/ Ruffn, domit gedacht Moschsse die Key.lich freyheitn/ Burgk vnd lantfried priffn mag vnd sol, hab ich/ im bestn solichs gegen Euwer Gnaden angezeigt, domit/ Euwer Gnaden dester Trostlicher gedachtes Mosse kan/ vnd magk schirmen vnd beholffn sein wy angezeigt. / Datum Montags nach Margrethe Anno MDXXX
Gehorsamer Jeßell
Jud von Rossum
Gemeyner Judischen
Regirer*
S.4 (Adressierung)
Dem wolgebronen Hern hern/ Balthasernn Grauen [Grafen] zu hanaw/ vnd Hernn zu Myntzenburgk/ meynem gnedigst herrenn/
Jud belang
* Zwar findet man die Bezeichnung „Regierer“ bei anderen Dokumenten, sowohl von Josel selbst als auch bei solchen, die an ihn gerichtet waren. Allerdings brachte die Verwendung dieses Titels Josel in Schwierigkeiten mit dem Kaiser. Er wurde nämlich angeklagt, weil er den Titel ohne Berechtigung anführte, und musste eine Geldstrafe zahlen.
1 Judenprivileg von Innsbruck, gegeben von Kaiser Karl V., 18. Mai 1530, siehe > Dokument
Auf die ihm am Vortag von Graf Wilhelm von Nassau als hanauischem Vormund zugesandte Klage des Befehlhabers der Judenschaft Josel von Rosheim über die Erhebung ungewöhnlichen Zolls berichtet der hanauische Oberamtmann am 7. April, daß er den Juden bei Strafe befohlen hat, bei Durchzügen durch die Grafschaft Geleit zu nehmen. Er weist darauf hin, daß die Juden von Frankfurt, Friedberg, Gelnhausen und anderen Orten die hanauischen Untertanen "gantz betruglicher weis" und gegen die Reichsordnung "durch ire furlustige practicen mit leihen und andern verbottnen wucherlichen contracten" um viele tausend Gulden gebracht haben, so daß man die armen Leute vor ihnen schützen muß. Auch ziehen seit Jahren zur Zeit der Frankfurter Messe fremde Juden in großer Zahl, darunter viele Berittene mit "fewerbuchsen an iren settel", durch die Grafschaft. Werden sie von den Beamten wegen des Geleits angesprochen, zahlen sie nicht, sondern geben "bose, trotzige und verwenete wort". Bei ihren tags wie nachts erfolgenden Durchzügen bleiben sie nicht auf den Straßen, sondern suchen Nebenwege und umgehen den Zoll.
Josel von Rosheim, dem diese Antwort verlesen wurde, erbittet am 12. April eine Abschrift von Graf Wilhelm. Er weist die Klage über die Durchzüge der Juden zurück und beschwert sich seinerseits, daß einzeln oder zu zweit auf öffentlichen kaiserlichen Straßen durch die Grafschaft reisende Juden gegen ihre Privilegien und den gemeinen Landfrieden zu stark durch das Geleit belastet werden. Bei größeren Gesellschaften von sechs bis acht Personen hält er eine angemessene Geleitsabgabe für angebracht, "damit man ein warzeichen, daß sie sich hetten zu Hannaw anzeigt, oder wo das wehr, und nit dermassen zwen batzen von der personen und bey der weil mehr nach jedes gefallen genomen werden". In Gruppen bis zu vier Personen Reisende oder auf "kleinen klepper" reitende Juden soll man dagegen unbeschwert lassen und ihnen nur den gewöhnlichen Zoll am Hanauer Tor abfordern. Was die Juden zu Frankfurt, Friedberg und Gelnhausen angeht, so sind sie durchaus an der Einhaltung und gerichtlichen Oberprüfbarkeit ihrer Verträge mit hanauischen Untertanen interessiert und keineswegs gewillt, unbillige und dem Herkommen zuwiderlaufende Abschlüsse zu tätigen. Aufgrund der ungewöhnlichen Beschwerungen, die den Juden auferlegt wurden, geht das Gerücht von ihrer beabsichtigten Vertreibung aus der Grafschaft Hanau um, doch vertraut Josel auf die Fortdauer des Schutzes, den die Grafen den Juden als "berumpte milte herren" seit vielen Jahren haben angedeihen lassen und dies um so mehr, als auch der Kaiser die Vertreibung der Juden untersagt hat.
Am 21. April beschwert sich Josel darüber, daß er auf seine Supplik nur "zornige worte und handlung" erfahren hat, so dass er Grund hätte, sich deshalb beim kaiserlichen Kammergericht und seinem Schutzherren, dem Kurfürsten von der Pfalz, zu beklagen. Da er jedoch "alß ein alter" Irrungen zwischen Herrschaft und Untertanen tunlichst vermeiden will und eine friedliche Lösung anstrebt, hat er vorerst nur den kaiserlichen Orator zu Frankfurt um seine Vermittlung gebeten, der ihm mitgeteilt hat, daß Graf Wilhelm von Nassau und der hanauische Oberamtmann zugesagt haben, die Juden mit neuen Beschwerungen zu verschonen. Josel erbittet eine schriftliche Bestätigung und verweist darauf, daß auch die drei Kurfürsten beschlossen haben, die Juden zu schützen und sie "wandlen und passieren" zu lassen.
Sign: 86 Hanauer Nachträge Nr.26169 B1.1-7; vgl. auch die Einträge vom 6. und 22. April 1539 in Protokolle II Hanau A Nr.2a Bd.4/1 B1.66v und 83v.
Zit. nach Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267-1600, Bd. 1, Wiesbaden 1989, S. 344-345
Dieses Dokument ist eine Gegendarstellung aus der Sicht Josels von Rosheim zum Entstehen des Mandats des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen von 1543 .
Kopie der hebräischen Quelle aus: Chava Fraenkel-Goldschmidt, The Historical Writings of Joseph of Rosheim. leader of Jewry in Early Modern Germany, Brill-Leiden-Boston 2006, Plate 8: folio 4, verso.
Der Straßburger Rat verleiht Josel ein Empfehlungsschreiben an den sächsischen Kurfürst. Mit diesem Schreiben sollte sich Josel Gehör beim sächsischen Herrscher verschaffen.
Zum vollständigen Aufsatz von H. Bresslau
Der sächsische Kurfürst Johann Friedrich ordnete 1536 die Ausweisung der Juden aus seinem Territorium und verbot ihnen sogar die Durchreise. Josel von Rosheim wollte für seine Glaubensgenossen eintreten und den Kurfürst von seinen Plänen abzubringen, bzw. diese rückgängig zu machen. Bevor er sich an den Kurfürst wandte, versuchte er, Empfehlungen von verschiedenen Personen und Stellen zu bekommen. Er hoffte , dass der Fürst ihm Gehör schenken würde, wenn er einen guten Ruf und ein großes Ansehen vorweisen konnte. Zu diesem Zweck wandte sich Josel zum einen an den Straßburger Rat zum anderen an die protestantischen Anführer dort, Wolfgang Capito und Martin Bucer, damit diese ihm ihre Unterstützung bekunden. Des weiteren sollten sie Josel bei Luther empfehlen, der bekanntlich dem sächsischen Kurfürst sehr nah stand und großen Einfluss auf diesen hatte. Capito verfasste, mit der ausdrücklichen Zustimmung Bucers, diesen Brief an Luther und bat ihn darum, dass er Josel ein weiteres Empfehlungsschreiben an den Kurfürst verleiht. Sowohl Josel als auch Capito und Bucer gingen davon aus, dass Luther seine Hilfe nicht verweigern würde, da er in seiner Schrift von 1523 die Auffassung vertrat, dass man die Juden freundlich behandeln solle. Allerdings enttäuschte Luther diese Erwartungen. In einem Brief von Juni des gleichen Jahrs lehnte er es ab, Josel zu helfen und beklagte sich stattdessen, dass die Juden seine Schrift dazu missbrauchten, in ihrem Glauben zu verharren. Vom Straßburger Rat hingegen erhielt Josel problemlos ein Emphelungsschreiben am 5. Mai 1537 .
Aus Josels Memoiren erfahren wir, dass Josel den Kurfürst erst 1539 an einer Versammlung der protestantischen Fürsten erreichen konnte. Aus diesem Dokument lernen wir, dass sich Johann Friedrich von seinem Austreibungsbefehl abkehrte, 1543 jedoch seine Meinung erneut geändert hat, und mit einem neuen Mandat die Juden aus seinem Gebiet vertreiben ließ.
Aufgabe:
Was fällt Ihnen an Capitos Sprache auf? Und was lernt man über Martin Bucers Einstellung zu den Juden aus diesem Schreiben? (Hinweis: Beachten Sie Bucers Aussagen in seinem Gutachten für den hessischen Landgrafen Philipp).
Brief Martin Luthers an Joseph von Rossum, in dem er es ablehnt sich beim Kurfürsten für Joseph und die "Jüdischheit" zu verwenden, Wittenberg, 11. Juni 1537
Der Brief Luthers gilt als erster deutlicher Beleg für die grundsätzliche Wendung des Reformators gegen die Judenschaft im Reich und die Aufkündigung jeglicher Koexistenz von Christen und Juden.
Josel wendet sich an den Rat der Stadt Straßburg, damit dieser den Druck von Luthers Schrift "Von den Juden und ihren Lügen " verhindern würde.
Josel fürchtete die unmittelbare Wirkung von Luthers Schrift im Straßburger Gebiet. Ihn wurde Gerüchte erreicht, dass die Menschen die Juden schmähten und gegen sie lästerten und sogar sagten, man solle sie totschlagen. Außerdem drohe man einen Neudruck der Schrift in Straßburg zu veranstalten. Josel bittet den Rath dies nicht zu dulden: er wiederholte, dass er jederzeit bereit sei, gegen Luther oder wer sich dessen unterziehen wolle, für seine Glaubensgenossen einzutreten; Schließlich bittet er die Ratsmitglieder, nicht ungehört auf eines einzigen Menschen Anzeige hin zu verurteilen.
Da der Rat eine Meldung erhielt, dass ein Pfarrer bereits gepredigt habe, man solle die Juden totschlangen, entschied man aktiv zu werden. Denn man nicht gewillt war, diese Konsequenz aus Luthers Lehre ziehen zu lassen. Der Rat beschloss infolge dessen das bereits gedruckte Buch vom Drucker abzufordern und den Druck zu verhindern. Zudem sollte den Predigern verboten werden, Aufruhr zu predigen. [1]
In einem weiteren Schreiben an den Straßburger Rat, das nach dem Erscheinen von Luthers "Schem Hamforasch" verfasst wurde, geht Josel ausführlicher auf die Gefahren ein, die von Luthers Agitation ausgehen. Der Straßburger Rat bleibt konsequent in seiner Entscheidung und verbietet auch hier den Druck von judenfeindlichen Schriften. Josels Bitte, dass der Rat sich für die Juden gegen Luther einsetzen würde, wurde aber abgelehnt. [2]
[1] Vgl. Bresslau, Aus den Straßburger Judenakten, S. 322f.
Josels Trostschrift
Im Zuge der Auseinandersetzung der hessischen Juden mit Martin Bucer und im Zusammenhang der Verabschiedung der hessischen Judenordnung (Siehe Ausstellungsraum zu Philipp des Grußmütigen ) wurde auch Josel von Rosheim tätig. Zunächst war es an der Versammlung der protestantischen Fürsten in Frankfurt (1539), wo er in Disputationen die Juden vor allerlei Beschuldigungen überzeugend verteidigte und auch Bucer konfrontierte, weil wegen dessen Schrift ein Jude von einem Christen angegriffen wurde. Später musste er erneut aktiv werden, als die hessischen Juden sich an ihn wandten, weil ihr Leben wegen Bucers Einfluss an die Herrscher in Hessen unerträglich schwer wurde. Josel verfasste eine Schrift an seinen Glaubensgenossen, in der er Bucers Vorwürfen entgegnete und sie mithilfe des Alten Testaments widerlegte.
Josel wollte mit seiner Schrift seine Glaubensgenossen trösten und sie in ihrem Glauben stärken. Er gab ihnen einige Ratschläge, wie sie mit den Anordnungen, die ihnen auferlegt wurden, umgehen sollten. Darüber hinaus rüstete er sie mit Argumenten, mit denen sie die Grundsätze ihres Glaubens erklären und verteidigen konnten. Schließlich bot die Schrift einen Überblick über die Situation der Juden unter den verschiedenen Völkern und wie die dortigen Juden mit den Nichtjuden umgingen. Dies sollte auch als ein Ratschlag für die hiesigen Juden dienen. Auch in dieser Schrift, wie schon in vielen anderen, übt Josel Selbstkritik aus, und mahnt seine Glaubensgenossen zur Mäßigung beim Handel und beim Zinsgeschäft.
Die Schrift wurde ursprünglich auf Hebräisch verfasst und war den hessischen Juden bestimmt. Später ließ Josel sie ins Deutsch übersetzen, weil Gerüchte aufkamen, dass er mit der Schrift den Protestanten schaden wollte. Diese Übersetzung überreichte er dem Straßburger Rat als Beweis für seine guten Absichten.
Das Originaldokument ist verschwunden. Überliefert ist die übersetzte Schrift, die aber auch nicht vollständig erhalten blieb. Zu den überlieferten Fragmenten hat ein Unbekannter – wahrscheinlich jemand aus dem Straßburger Rat – ein paar Notizen gemacht. Diese hat Breslau veröffentlicht (siehe Trostschrift S. 5 und 6).
Chava Fraenkel-Goldschmidt, The Historical Writings of Joseph of Rosheim, Leader of Jewry in Erly Modern Germany, Brill-Leiden-Boston 2006, S. 340ff.
Ludwig Feilchenfeld, Rabbi Josel von Rosheim. En Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter, Straßburg 1898, S. 122-132.
H. Bresslau, Aus Straßburger Judenakten, in: Zeitschrift für Geschichte der Juden in Deutschland V, (1892), S. 307-334, hier besonders S. 329-330.
Aufgaben:
- Josel berichtet häufig in seiner Schrift von Erfolgen bei Verhandlungen mit christlichen Obrigkeiten. Welche werden hier angeführten?
- Welchen überraschenden Ratschlag gibt Josel seinen Glaubensgenossen (Trostschrift S. 3)? Unter welchen Bedingungen sollte dieser Ratschlag verfolgt werden?
Josel ließ seine Trostschrift ins Deutsche übersetzen und dem Straßburger Stadtschreiber übergeben, damit er vor übler Nachrede gesichert sei, dass in diesem Büchlein keine Schmähungen oder Ehrverletzungen enthalten sind. Er schrieb dem Rat, dass sofern darin etwas gefunden würde, was zu Widerwärtigkeit gereichen könnte, er das abstellen wollte; wenn dies aber nicht der Fall und die Schrift dem Rat nicht zuwider sei, so bitte er vom Rat um ein gnädiges urkundliches Zeugnis. Die Antwort des Stadtschreibers lautete: „die herren so über die examination gesetzt, das zu besichtigen und hieher pringen (?), was es sey, im mögen urkund zu geben“. Ob so eine Urkunde tatsächlich erstellt wurde, ist nicht bekannt.
Zu den Erläuterungen >
Übersetzung:
Hochwürdigster [1] und erlauchtester Kardinal und Legat der Heiligen Römischen Kirche usw., allergnädigster Herr!
Eurer hochwürdigsten Eminenz [2] wir, die hier in Deutschland ein ärmliches Leben zubringenden Juden, mit demütiger Klage dar, auf welche Art und Weise uns von etlichen unseren Verfolgern, namentlich von Martin Luther und seinen Anhängern, größtes Unrecht und Unterdrückung drohen und sie auf diesem Reichstag, den sie zahlreich besuchen, versuchen, sogar andere zum selben [= Luther] hinüberzuziehen und zu ihrer Meinung zu verleiten; daß uns eine von alters her zulässige Weise der Lebensführung untersagt wird, und neue Canones und Bräuche gemäß dem vorgefaßten Urteil der Gnadenbriefe und Bullen, die uns von den römischen Päpsten und Kaisern verliehen worden sind, verordnet und errichtet werden, welche in sehr vielen Absätzen und Abschnitten für uns überhaupt unerträglich sind usw.
Weil wir daher, hochwürdigster und allergnädigster Herr, mit uns vom Heiligen Stuhl gewährten Gunstbezeigungen, Gnadenbriefen und Zugeständnissen versorgt sind, wie Eure hochwürdigste Eminenz aus diesen Umständen [3] wird leicht ersehen können, bitten wir Eure hochwürdigste Eminenz sehr eifrig darum, daß Ihr Euch dazu entschließen möget, uns Armseligen kraft Eurer Milde und Eures Einflusses dort zu helfen, wo die römische kaiserliche und die königliche Majestät nicht davon ablassen, daß wir entgegen deren und der päpstlichen Heiligkeit Bullen, Gnadenbriefe und Siegel unterdrückt werden, und es gestatten, daß gegen eine seit alters her unverbrüchlich befolgte Gewohnheit irgendeine Neuerung geschaffen oder beschlossen wird außer einer, die durch Verordnung eines allgemeinen Konzils gebilligt worden ist, wobei wir hoffen, daß die päpstliche Heiligkeit [sowie] die kaiserliche und die königliche Majestät, unsere allergnädigsten Herren, die alten und verschiedenen uns von den Päpsten und römischen Kaisern zugestandenen Bullen und Gnadenbriefe verteidigen und bewahren werden.
Daher flehen wir um der Liebe des allmächtigen Gottes willen, Eure hochwürdigste Eminenz möge willens sein, uns in dieser [Sache] Eure Hilfe und Gunst zu gewähren, damit wir nicht von dem vorgenannten Luther oder anderen seiner Anhänger nach deren gegen uns feindlich gesinnten Willen entgegen ältester und bis zum heutigen Tage löblicherweise fortgeführten Gewohnheiten unterdrückt werden, und wir bitten darüber hinaus demütig darum, daß Eure hochwürdigste Eminenz unserer Bittschrift huldvoll zustimmen und darauf eine beifällige Antwort geben wolle. Und wir werden stets bereit sein, uns dessen mit jeglichem Dienst und Eifer würdig zu erweisen.
Eurer hochwürdigsten Eminenz
gehorsamste Diener
die in Deutschland lebenden Juden
An Alessandro Farnese, Kardinal[priester] von San Lorenzo in Damaso, Vizekanzler der Heiligen Römischen Kirche
Vorgelegt beim Reichstag zu Worms im Jahre usw. [15]45
[1] Reverendissimus, -a, -um wird in den gängigen Lexika mit hochehrwürdig übersetzt; die Anrede für katholische Geistliche mit Bischofsrang bzw. –weihe ist heutzutage hochwürdigst(er).
[2] Celsitudo, -inis heißt eigentlich Hoheit; die Anrede für Kardinäle ist jedoch seit alters her Eminenz.
[3] Adiunctum, -i wird in den gängigen Lexika mit charakteristisches Zeichen, Eigenheit, (Neben-) Umstand wiedergegeben; da das zugrundeliegende Verb adiungere, adiungo, adiunxi, adiunctum aber auch anfügen, anschließen, beigeben, beifügen bedeuten kann, ist an dieser Stelle mit adiunctum möglicherweise eine Anlage / Beilage zu dem obigen Schreiben gemeint, z.B. Abschriften von päpstlichen und kaiserlichen Gnadenbriefen.
Daniel J. Cohen
Über den Kampf der deutschen Juden gegen die Machenschaften von 1545, sie zu vertreiben. Rabbi Josef von Rosheim und der Appell an Kardinal Farnese.
aus dem Hebräischen übersetzt von Avraham Siluk
Anlässlich des Jubiläums zum 500. Geburtstag Martin Luthers (1983) wurden viele wissenschaftliche und publizistische Publikationen veröffentlicht, die ein breites Spektrum von Aspekten über die Person Luthers und sein Werk, sein Wirken und seinen Einfluss – zu seiner wie zu späteren Zeiten – behandelten. Zudem fanden mehrere Symposien statt und mehrere Ausstellungen wurden organisiert, in denen eine visuelle Darstellung des Lebens und Charakters des großen Reformators präsentiert wurde. [1]
Dem Anlass gemäß wurde Luthers Theologie und deren Entwicklung viel Raum gewidmet. Darunter wurden seine Einstellung zu den Juden und der Wandel in seiner Haltung ihnen gegenüber diskutiert. Dieser Wandel fand zwischen 1523, als Luther seine Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ [2] veröffentlichte, und den 30er und 40er Jahren des Jahrhunderts statt, als er den Juden und dem Judentum mit Hassschriften und diffamierenden Äußerungen begegnete.[3] Diese Diskussionen über Luthers Haltung den Juden gegenüber [4] wurden nicht wenig von der Forschung Heiko Obermanns über die Wurzeln des Antisemitismus [5] beeinflusst – sei es durch die Akzeptanz seiner Thesen oder durch deren Ablehnung. [6]
Zwar hat die Beschäftigung mit Luthers Verhältnis zu den Juden eine lange Geschichte, [7] aber erst zu unserer Zeit schilderte uns Haim Hillel Ben-Sasson die verschiedenen Reaktionen der jüdischen Zeitgenossen Luthers zu dessen Person und Wirken.[8] Nichtsdestotrotz wussten wir bisher kaum etwas darüber, wie die Juden in Deutschland aktiv gegen die Gefahren, die durch Luther und seine Anhänger verursacht wurden, agierten. Zwar wussten wir von den Fürsprache-Tätigkeiten Rabbi Josefs von Rosheim, des Repräsentanten und Bevollmächtigten der deutschen Juden, der anfänglich noch hoffte, dass dank der Reformation eine Veränderung zugunsten der Juden stattfinden würde.[9] Die neue, antijüdische Haltung Luthers und seiner Freunde – die wegen der enttäuschten Erwartung, dass die Juden sich nun bekehren würden, verursacht wurde – zwang Rosheim dazu, mit voller Kraft aktiv zu werden. [10] 1537 versuchte er vergeblich, ein Treffen mit Luther zu organisieren, um diesen darum zu bitten, den Kurfürsten von Sachsen dazu zu überreden, seine Entscheidung, den Juden die Durchreise durch sein Gebiet und die Niederlassung darin zu verbieten, zurückzunehmen. [11] Luthers Groll gegen die Juden, die Feinde des Christentums, wuchs in diesen Jahren und erreichte einen Höhepunkt in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543). Diese Schrift beinhaltete brutale Ratschläge darüber, wie man die Juden behandeln soll und wie man sich ihnen entledigt – dies waren Ratschläge, mit denen er Hundt-Radowsky und seinen Nazi-Erben in Nichts nachstanden – und zwar sollte man die Synagogen und die Häuser der Juden zerstören, sie in Dachböden und Pferdeställen (wie die Zigeuner) wohnen lassen, ihre Gebet- und Lernbücher konfiszieren und ihren Rabbinern mit dem Tod drohen, falls diese weiterhin lehrten. Darüber hinaus sollte man ihnen ihren Schutz durch den Staat entziehen, ihnen den ‚Wucher‘ verbieten, ihre jungen Männer zu körperlicher Arbeit zwingen und schließlich sei es am besten, man vertreibe sie aus dem ganzen deutschen Gebiet, wie die Franzosen, Spanier und Böhmen es schon getan hatten. [12]
Bald genug wurde Rabbi Josef klar, dass die Anführer der Reformation nicht bereit waren, die Existenz der Juden innerhalb des Reiches zu garantieren. Er fasste den pragmatischen Entschluss, den Schutz und das Wohl der Juden unter der Patronage der katholischen Herrscher zu suchen. [13]
Die größten Anstrengungen für das Wohl seines Volkes unternahm Rabbi Josef an Reichstagen, an denen man sich direkt an den Kaiser und dessen Minister wenden konnte, um Bestätigungen oder Erneuerungen für Privilegien zu erbitten. So tat er es auch 1545 während des Reichstags zu Worms, auf dem er mit dem Kaiser eine Abmachung über eine „Hilfe“ bei der Finanzierung des Kriegs gegen Frankreich traf. Folgendes liest man über die Ereignisse dieses Reichstages in Josels Memoiren:
Im Jahre ’45 zog der Kaiser, groß sei sein Ruhm, mit einem mächtigen Heer gegen den König von Frankreich und rückte bis an einen Ort in der Nähe von Paris vor. Aus diesem Anlass gingen Beamten, die mit Vollmacht versehen waren, im Lande umher, um die Juden Deutschlands zur Kriegskontribution zu verpflichten: dreitausend Gulden in vierzehn Batzen pro Gulden und davon vierhundert Kronen zum Privatgebrauch des Kaisers; außerdem noch ein Geschenk von tausend Gulden. Und wir taten drei viertel aus Gold für jede Hundert. Und an diesem Tag, [14] als ich in der heiligen Gemeinde Schu“m [??"?= Speyer, Worms und Mainz; Anm. d. Übers., A.S.] war, wollten alle Minister und Fürsten den Kaiser, gelobt sei sein Ruhm, aufsuchen und die Juden vertreiben, bis ein guter Mann, in Erinnerung geschätzt, aufstand, und sprach, dass dies nicht die richtige Art sei, die Juden zu behandeln, weil es nach der Religion und Tradition geboten war, im Reich Juden leben zu lassen und so tilgte er ihren bösen Plan, aber in den Städten Mainz, Esslingen, Landau hat man die Juden vertrieben und seitdem sind andere Fälle(?) [15]…
Der Vorschlag, die Juden aus dem gesamten Reichsgebiet zu vertreiben, wurde in der Tat durch eine Ständekommission gemacht, die „zur Beratung einer guten und beständigen Polizei“ berufen worden war, damit die Untertanen keinen Schaden wegen Zinszahlungen an die Juden hätten, und damit diese nicht für den türkischen Feind ausspähen würden.[16]
Wenn Graetz diese Affäre in seinem Buch „Die Geschichte der Juden“ behandelt , stützt er sich auf die Notizen Josefs von Rosheim über den Vertreibungsvorschlag aus diesem Reichstag. Seine These ist, dass der „gute Mann“, der sich für das Recht der Juden, im kaiserlichen Gebiet weiterhin leben zu dürfen, eintrat, kein anderer war als der Kardinal Alexander Farnese, der Enkel Papst Paulus III., der Beschützer der Marranen in Portugal. [17] Obwohl Graetz keine Belege für seine These bringt, [18] wiederholt sie Ludwig Feilchenfeld in seinem Buch über Rabbi Josef von Rosheim, [19] während Selma Stern sie in ihrer Biographie über Rosheim nicht beachtet. Sie schreibt lediglich, dass es Grund zur Annahme gibt – nach Rosheims eigenen Aussagen – dass der „gute Mann“ anscheinend ein frommer Katholik war, weil er sich auf die ältere christliche Lehre stützte, die besagte, dass man sich der Juden, wiewohl sie zu ewiger Sklaverei verdammt seien, nicht entledigen dürfe, damit sie durch ihre Existenz und ihre Leiden Zeugnis für die Wahrhaftigkeit der biblischen Prophezeiungen ablegten. [20]
Und da kam das „Lutherjahr“ und mit ihm der Beweis für Graetz‘ These. In einer Ausstellung über das Thema „Luther in Marburg“, die Ende 1983 im Staatsarchiv derselben Stadt gezeigt wurde, wurde eine Kopie des Gesuchs der deutschen Juden an „Alessandro de Frenesio, den Kardinal der St. Laurentius Kirche in Damaso [21] und Vizekanzler der heiligen Kirche in Rom“, „den Gesandten des Papstes“ [22] ausgestellt. Das Erstellungsdatum steht zwar nicht auf diesem in Latein verfassten Dokument, aber auf der Rückseite findet man folgende Anmerkung: „wurde am kaiserlichen Reichstag in Worms 1545 überreicht“. Diese Versammlung war für März desselben Jahres einberufen, aber der Kaiser kam erst am 16. Mai und Farnese selbst traf erst am darauffolgenden Tag ein und blieb bis zum 27. desgleichen Monats in Worms. [23]
In diesem Brief [24] beklagen sich die „Juden, die in Deutschland leben“, über die Gefahr, der sie vonseiten ihrer Verfolger, das heißt von Martin Luther und seinen Anhängern, ausgesetzt seien. Diese nähmen zahlreich an der Versammlung am Reichstag teil und die versuchten, die anderen Teilnehmer von der Richtigkeit seiner Theologie zu überzeugen. Sie strebten danach, so die Juden, Kirchengesetze und bestimmte religiöse Riten zu erneuern, und deswegen forderten sie, unerträgliche Beschränkungen über die Juden zu verhängen. Diese Forderungen jedoch verletzten die Privilegien und Bullen, die Päpste und Kaiser ihnen erteilt hatten. [25] Um ihr Bittgesuch zu rechtfertigen, fügten die Juden Kopien der Privilegien hinzu, die sie von den Päpsten bekommen hatten. Sie betonten zudem, dass auch die Kaiser gegen die Verletzung von erteilten Schutzbriefen, Privilegien und Bullen sowie gegen jedwede Erneuerung seien, die der bestehenden Tradition widerspräche – es sei denn, diese würde in einem allgemeinen Konzil bestätigt. Des Weiteren wird die Hoffnung gehegt, dass der Papst und der Kaiser die Rechte der Juden beschützen würden. Deswegen bitten die Juden Farnese darum, dass er ihnen – in Gottes Namen – Hilfe und Unterstützung gewährt, weil Luther und seine Anhängerschaft voller Feindseligkeit versuchten, sie zu unterdrücken. Am Ende ihres Schreibens bringen die Schreiber die Hoffnung zum Ausdruck, eine positive Antwort zu erhalten.
Wer war also dieser Kardinal Farnese? Es war Alexander, der älteste Sohn Luigis, des Fürsten von Parma, der 1520 geboren wurde. Mit 14 Jahren wurde er durch seinen Großvater, Papst Paulus III. zum Kardinal ernannt. Während seines Lebens erfüllte er mehrere Funktionen im Dienst der Kirche und war Förderer von Gelehrten und Künstlern. Er starb 1589 und wurde in der ‚Il Gesù‘ Kirche in Rom begraben, die er selbst 1568 erbauen ließ. Der Bruder Alexanders, Ottavio, wurde der Nächste Fürst von Parma. Er heiratete 1542 Margarita von Österreich, die außereheliche Tochter Kaiser Karls V. Sein Großvater, der Papst, schickte Farnese zu einer heiklen diplomatischen Mission nach Worms, wo er mit dem Kaiser über die Beteiligung des Papstes im kommenden Krieg gegen die im Schmalkaldischen Bund verbündeten protestantischen Fürsten verhandeln sollte. Darüber hinaus sollte er sich mit ihm über das Konzil besprechen, das im Dezember 1545 in Trient stattfinden sollte. [26]
Josef von Rosheim nennt zwar nicht explizit den Namen des „guten Mannes“, aber es besteht kein Zweifel, dass es Farnese war, der direkt oder indirekt den Vertreibungsplan an diesem Reichstag vereitelte. Unser Dokument wirft also neues Licht auf die komplexen diplomatischen Aktivitäten, welche die Juden im Reich unternommen, um ihre Rechte zu verteidigen. Dies ist ein weiterer Beweis für den aktiven Kampf [der Juden (Anm. d. Übers.)] gegen Luther und gegen den Einfluss seiner Lehre. Damit wird auch derjenigen These widersprochen, die einen Unterschied zwischen Luthers Theologie und den davon hervorgerufenen Folgen nach dessen Tod (1546) machen will. [27]
Und wer hätte der Initiator dieses Bittgesuchs sein können? Wir wissen von keiner anderen Persönlichkeit, welche die Juden in dieser Epoche repräsentiert und oft Denkschriften und Gesuche an den Kaiser, Fürsten und Stadträte verfasst hätte, außer Rabbi Josef von Rosheim. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass auch dieses Gesuch ihm zuzuschreiben ist, und dass er die Hilfe eines Menschen in Anspruch nahm, der im Latein der Renaissancezeit kundig war.
Es bleibt dennoch die Verwunderung darüber, dass Rosheim in seinen Memoiren keinen Hinweis auf diesen Brief und auf seine Rolle in dieser Fürspracheaktivität hinterlässt. Doch auch über andere Aktivitäten, die er schildert, verrät er uns oft seine Rolle nicht. [28] Allerdings lassen sowohl die Argumente, die er in seinem Brief an den Rat von Straßburg schildert, [29] als auch die Berichte aus seinen Memoiren keinen Zweifel über die Identität des Urhebers dieses Schreibens. Dieses Dokument ist also ein weiterer Ausdruck der breitgefächerten politischen Aktivität des Rabbi Josef von Rosheim in seinem Kampf um die physische Existenz seiner Glaubensbrüder im Kaiserreich. Dieser Kampf war, wie Josel in seinen Erinnerungen selbst bezeugte, bis auf wenige Fällen mit Erfolg gekrönt, denn eine Gesamtvertreibung der Juden aus Aschkenas wurde verhindert.
Allerdings gab Rabbi Josef die Fälle, die er erwähnte – die Vertreibungen aus Mainz, Esslingen und Landau – nicht mit Exaktheit wieder. Es kann daran liegen, dass mindestens zwei Jahre vergangen sind zwischen der geschilderten Ereignissen und 1547, der Zeit, in der er diese niederschrieb. Gaertz erinnert, als er Rosheim zitiert, lediglich an die Vertreibungen aus Esslingen und Landau und erwähnt Mainz nicht – wahrscheinlich weil er keine Belege dafür fand. [30] Allerdings fand in Wirklichkeit keine vollständige Vertreibung in Esslingen statt – der Stadtrat lehnte es lediglich ab, die Schutzbriefe der Juden zu erneuern, die nun nach 14 Jahren ausgelaufen waren, und die Juden mussten deswegen die Stadt verlassen. [31]
Die Situation in Landau war anders. Unter dem Artikel ‚Landau‘ in der jüdischen Enzyklopädie in deutscher Sprache, und folglich auch in der englischen Ausgabe, [32] wird zwar die Vertreibung aus dem Jahr 1545 erwähnt. Allerdings findet man keine Erwähnung dafür in Löwensteins Buch über die Geschichte der Juden in der Kurpfalz. [33] Mehr noch, eine Betrachtung der Forschung über die Geschichte der Gemeinde in Landau, die auf die Protokolle der Stadt beruht, beweist unzweideutig, dass zwischen 1541-2 den Stadtjuden zwar einige Beschränkungen im Handel auferlegt und dass im Juli 1547 (also nach Abschluss des Reichstages) Einschränkungen für auswärtige Juden, die in der Stadt Handel treiben wollten, erlassen wurden. Aber weder zu dieser Zeit noch später wurde die Niederlassung der Juden in der Stadt verboten.[34]
Summa summarum: Zweifelsfrei mussten die Juden in mehreren Städten und Territorien in Deutschland eine weitere Verschlechterung ihrer Situation infolge der Reformation erleiden, denn diese führte oft zu Vertreibungen. Rabbi Josef von Rosheim verstand schon 1536, was für eine unruhestiftende Rolle Luther und seine antijüdischen Schriften bei dem Erstarken der Vertreibungstendenz spielten. Er sah in Luther und in dessen Lehre eindeutig einen entscheidenden, negativen Faktor für die Juden im Reich.[35] Es ist wahr, dass seine Rettungsversuche in dieser Epoche gescheitert sind und dass man in den Vertreibungen aus norddeutschen Städten wie Braunschweig [36] und Hildesheim [37] ein Erstarken dieser Tendenz erkennen kann. Dennoch war es sein größter Erfolg, dass er die totale Vertreibung vom gesamten Territorium des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation zu verhindern wusste, und das dank des Erwerbs der Unterstützung des päpstlichen Gesandten, Kardinals Alexander Farnese, des anonym gebliebenen Beschützers der deutschen Juden – ein „guter Mensch, in Erinnerung geschätzt“.
1. Als Beispiel soll die breitgefächerte Ausstellung im deutschen Nationalmuseum in Nürnberg genannt werden. Siehe den prächtigen Katalog: Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers, hrsg. v. M. Bott, Frankfurt a/M 1983. Darüber hinaus siehe Anm. 22.
2. Daß Jhesus Christus eyn geborner Jude sey, Wittenberg 1523, in Luthers Werke, Weimarer Ausgabe (=WA), Bd. 11, S. 314-336.
3. Von den Jüden und jren Lügen. Wittenberg 1543; WA 53, S. 417-552; Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, 1543, WA 53, S. 579-648 u.a.
4. Zum Beispiel an der evangelischen Akademie in Müllheim am Rhein im Februar 1983. Die Diskussionen, an denen auch Juden teilnahmen, beschäftigten sich auch mit dem Verhältnis der protestantischen Kirche zum Judentum im Allgemeinen und in der Hitlerzeit insbesondere. Diese Tagung konnte nur deswegen stattfinden, weil die Organisatoren darauf bestanden, dass man diesem schmerzlichen Thema nicht ausweicht. Alle Beiträge wurden veröffentlicht (siehe unten, Anm. 6).
5. H.A. Obermann, Wurzeln des Antisemitismus, Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981. Vgl. die Kritik von Ben-Zion Dagani, Zion, 1984, S. 427-429; beide Autoren nahmen am Symposion in Müllheim teil (Siehe Anm. 4).
6. Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden: Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderungen, hrsg. v. H. Kremers u.a., Neukirchen-Vluyn 1985.
7. Siehe: Reinhold Lewin, Luthers Stellung zu den Juden, Berlin 1911.
8. Haim-Hillel Ben-Sasson, "?" (= die Juden und die Reformation), Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities, vol. 4, Nr. 5, Jerusalem 1970, S. 62-116.
9. Ebd. S. 94.
10. S. Stern, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart 1959. Vgl. auch E.W. Kohl, Die Judenfrage in Hessen während der Reformationszeit, Jahrbuch der hessischen Kirchengeschichtliche Vereinigungen XXI (1970), S. 87-101.
11. Siehe Stern (Anm. 10), S. 125-133.
12. Lewin (wie Anm. 7), S. 81-84. Vgl. auch W. Maurer, Die Zeit der Reformation, in: K.H. Rengstorf und S.v. Kortzfleisch (hrsg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 375-429, insb. S. 419ff.
13. Ben-Sasson (wie Anm. 8), S. 93-94.
14. D. h. Reichstag.
15. Kracauer, Rabbi Joselmann de Rosheim (Journal de Joselmann), REJ, XVI, 1888, S. 94, Nu. 27. Vgl. Rabbi Josefs Schreiben an den Rat der Stadt Straßburg 1546: “Dann man sollichs in keinem gesatz, göttliche oder weltl., geschribne rechte oder nateurliche vinden kann, das man gegen uns armen on erkant alle rechten das unser sollt nehmen oder von unser wonung us den oberkeiten sollt verjagen. Dann offenbar ist auch war, das auf nechst gehaltenem reichstag zu Wormbs ime 45. Jar vor allen stenden ein umfrag geschehen uf etliche unsere missginer vermeinte, uns armen Deutschland zu verweisen, aber durch die gnod des allmechtigen von cor und fürsten und alle stend und gesandten hochverstendige erkant und usgesprochen worden. das sollichs nit zu thun ist, und wie von alter her ire oberkeit ire juden bei kais. Mt. Und der röm. Reich schutz, schirm und geleit halten mag, von menigl. Unverletzt etc.“, L. Feilchenfeld, Rabbi Josel von Rosheim, Strassburg 1898, Beil. XXI, S. 192-193.
16. Stern (wie Anm. 10) S. 163.
17. H. Graetz, Geschichte der Juden, IX. (18913), S. 302. Die Behandlung dieser Affäre fehlt in den ersten beiden Auflagen des Buchs und wurde erst nach der Veröffentlichungen Kracauers (wie Anm. 15) hinzugefügt.
18. Es ist möglich, dass er sich auf L. von Rankes „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ stützte. Siehe ebd. Bd. IV, Leipzig 18684, S. 273-274.
19. Feilchenfeld (wie Anm. 15) S. 62.
20. Stern (wie Anm. 10) S. 163-164.
21. Die Basilika von St. Laurentius in Damaso ist Teil des ‚Palazzo della Cancelleria‘, der bis heute zum Vatikan gehört.
22. F. Wolff, Luther in Marburg – Ausstellung des Hessischen Staatsarchivs Marburg anläßlich des 500. Geburtstages Martin Luthers, 21.10 -01.12.1983 (Marburger Reihe (19), Marburg/Lahn-Witzenhausen 1983, S. 47, Nr. 84. Ich bin Fritz Wolff, dem Leiter des Staatsarchivs Marburg, dafür dankbar, dass er mich auf dieses Dokument aufmerksam machte, als ich Marburg im Dezember 1983 besuchte, und dafür, dass er dafür sorgte, dass ich eine Kopie davon zugesandt bekomme. Es ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, wie die Quelle in das Grafenarchiv in Waldeck gelangt ist – Wolrad II. war auf jeden Fall an diesem Reichstag anwesend und er erhielt wahrscheinlich seine Kopie von dort.
23. Siehe: P. Kannengießer, Der Reichstag in Worms im Jahre 1545, Strassburg 1891, sowie Ranke (wie Anm. 18) S. 257 und 274 Anm. 2. Leider wurden die Verhandlungen dieses Reichstages noch nicht veröffentlicht.
24. Siehe Anlage.
25. Diese Kopien sind nicht vorhanden. Vermutlich handelt es sich um die Bestätigung des Privilegs, das Papst Martin V. 1418 den Juden in Deutschland, Savoyen und Brüssel erteilte, oder um ein ähnliches Dokument von 1429 – oder vielleicht sogar um die ‚Sicut Judaeis‘ Bulle von 1422. Siehe: M. Stern, Urkundliche Beiträge über die Stellung der Päpste zu den Juden, Kiel 1893-1895, Nos. 9, 21, 31.
26. Siehe: C. T. Frangipane, Memoire sulla vita ed i fatti de cardinale Alessandro Farnese, Rome 1876.
27. Siehe: L. Siegele-Wenschkewitz, „Wurzeln des Antisemitismus in Luthers theologischem Antijudaismus“, in: Die Juden und Martin Luther (wie Anm. 6), S. 355 in ihrer Auseinandersetzung mit Obermann.
28. Siehe Stern (wie Anm. 10) S. 173.
29. Siehe oben Anm. 15.
30. Kracauer (Anm. 15) S. 101 übersetzte: l’electeur de Saxe (obwohl in den handschriftlichen Memoiren Mainz ausdrücklich benannt wird, wie er selbst im Text schreibt). Kracauer wollte damit sagen, dass Rosheim sich in der Tat auf die Vertreibung aus Sachsen bezogen hatte, die schon 1536 stattgefunden hatte, während die Erneuerung des Privilegs 1543 gegeben wurde – das heißt vor dem Ereignis im Reichstag zu Worms von 1545 (Siehe Anm. 11).
31. Stadtarchiv Esslingen, Fasz. 35: R. Overdick, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Juden in Südwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert, dargestellt an den Reichsstädten Konstanz und Eßlingen und an der Markgrafschaft Baden, (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen) XV, Konstanz 1865, S. 77-81.
32. Encyclopaedia Judaica, X, Berlin 1934, Sp. 580; Encyclopaedia Judaica, X, Jerusalem 1970, Sp. 1384.
33. L. Löwenstein, Geschichte der Juden in der Kurpfalz, Frankfurt a/M 1895.
34. H. Heß, Die Landauer Judengemeinde – ein Abriß ihrer Geschichte, Landau 1969.
35. Siehe seine Memoiren (wie Anm. 15), S. 92, Z. 22. Zweifelsohne bekräftigen seine Äußerungen und das Schreiben an Kardinal Farnese die Aussagen L. Siegele-Wenschkewitz (siehe Anm. 27).
36. R. Rieß, „Zum Zusammenhang von Reformation und Judenvertreibung: das Beispiel Braunschweig“, Civitatum Communitas, Studien zum europäischen Städtewesen, Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, Bd. 2, Köln-Wien 1984, S. 630-654.
37. P. Aufgebauer, „Judenpolitik im Zeitalter der Reformation, vornehmlich in Norddeutschland“, Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart, Zeitschrift des Vereins für Heimatkunde im Bistum Hildesheim, LI (1983), S. 27-44, bes. S. 38ff.
Josel beschreibt hier die Ereignisse der Jahre 1545/46 und darüber hinaus aus jüdischer Sicht. Man erkennt eine starke Identifizierung Josels mit den Anliegen des Kaisers, Eine so deutliche Parteinahme für den Kaiser wäre einige Jahre zuvor nicht wahrscheinlich gewesen. Es scheint, als glaubte Josel, dass der Ausgang des ausgetragenen Schmalkaldischen Kriegs das Schicksal der Juden im Reich besiegeln würde.
Die Verfolgungen und die Bedrohung durch die protestantischen Fürsten und Theologen der vergangenen Jahre brachten Josel, wie es scheint, zur Erkenntnis, dass jedweder Annährungsversuch der Juden an die Protestanten zum Scheitern verurteilt war. Er gelangte deswegen zur Überzeugung, dass nur der Kaiser die Existenz und den Schutz der Juden im Reich garantieren konnte. Deswegen setzte er darauf, die Nähe zu ihm zu suchen. Das hat sich auch gelohnt, denn Josel bekam, laut eigener Aussage, ein Privileg von der Sorte, wie wir von keinem anderen Kaiser oder König zuvor erhalten haben. Das Privileg, das Josel erwähnt, ist das große Speyerer-Privileg von 1544. Es überrascht hier zu erfahren, dass das Dokument, obwohl auf den 03.04.1544 datiert, erst 1546 in Regensburg den Juden überreicht worden sein soll.
Dass die Lage der Juden trotz der neuen Privilegien prekär blieb, zeigen uns die Übergriffe der spanischen, kaiserlichen Truppen, die eine weitere Einmischung des Kaisers zugunsten der Juden erforderten. Auch die Abschlussworte des Berichts sprechen davon, dass Gott die Juden zweimal, also vor beiden Konfliktparteien bewahrte und rettete. Mit seinen Beschreibungen vermittelte Josel, wie die Juden die Stimmung im Reich wahrnahmen, die als eine tiefe Unsicherheit charakterisiert werden kann.
Übersetzung (Nach Fraenkel-Goldschmidt und I. Kracauer)
Im Jahre 5306 (1545/6) kam unser Herr, der Kaiser nach Regensburg und befahl alle Fürsten und Herzöge dorthin zu kommen, um am Reichstag teilzunehmen, und ihre Auseinandersetzungen und ihre Streitigkeiten bezüglich Glaubensfragen beizulegen. [1] Obwohl die meisten von ihnen [2] kamen, die zwei Herrscher von Sachsen und Hessen [3], erbitterten und entrüsteten [4] den Kaiser, und sie und ihre Anhänger verhielten sich rebellisch; Sie revoltierten gegen ihn seit einigen Jahren. Inzwischen bemühte ich mich um neue Privilegien [5] und Berechtigungen [6] von der Art, wie wir sie von keinem anderen Kaiser oder König zuvor erhalten haben.
Bereits in Speyer versprachen mir der Kaiser und seine Berater, diese zu erteilen, und während dieses Reichstags [7] zu Augsburg drängte ich die Berater [8], ihr Versprechen zu halten. Und, in der Tat, mit Gottes Hilfe, wurden sie von kaiserlicher Hand niedergeschrieben und mit dessen Siegel versehen. Bald darauf beschloss der Kaiser, Kräfte zu sammeln und einen Krieg gegen die genannten Fürsten zu führen.
Dann kamen die Menschen, deren Sprache man nicht versteht [9] – die Spanier – und hätten die Juden angegriffen [10], wo der HERR nicht bei uns wäre [11], um uns zu helfen, als ich zum großen Minister – Vize zum Kaiser – Namens Granvelle kam, [und ihn darum bat], dass er für uns beim Kaiser um Schutz anflehte und ersuchte, was er auch tat. Er ging zum Kaiser und sprach zu ihm: „Seht, die Juden litten so viele Verfolgungen durch diese [12] Häretiker Lutheraner, und nun kommt euer eigenes Volk, die Spanier [13], und werde sie angreifen, ungeachtet die neuen Privilegien, die ihr ihnen [den Juden] erteilt habt“.
Und der Kaiser erwiderte gnädig: „Es ist ungerecht, die Juden schutzlos da stehen zu lassen. Hier sind geschriebene und unterzeichnete Verordnungen, die es mit der Androhung von Strafen verbieten, dass Soldaten aus meinen Armeen die Juden verletzen oder ihnen Leid zufügen würden, weder mit der Hand noch mit dem Fuß." [14] Darauf wurde der Befehl in allen Gegenden Deutschlands verkündet, dass jeder, der die kaiserliche Anordnung missachten würde, mit dem Tod bestraft werden würde.
Sofort kamen die Spanier zu den Juden, um Frieden mit ihnen zu schließen, und als der Kaiser zum Schlachtfeld mit seiner Armee kam, brachten die Juden [ihnen] Brot und Wein und versorgten die Kräfte mit mehr als fünfzig Wagen und Karren. Die zwei Fürsten, Sachsen und Hessen, hatten, zusammen mit allen deutschen Städten [15] große Truppen. Mehr als 100.000 Fußsoldaten [16] und gerüstete Reiter. [17] Obwohl unser Herr, der Kaiser, gerühmt sei er, nicht so eine große Armee führte wie sie, – ca. 40.000 Mann insgesamt – stand Gott ihm zur Seite, so dass er sie bis zur vollständigen Vernichtung verfolgte. Am Ende nahm er die Fürsten gefangen, die immer noch [18] in seinem Gewahrsam sind.
Und wir riefen die israelische Nation dazu auf, morgens und abends mit starker Stimme zu betten: „Unser Vater unser König“ und das Lied der Einheit [19], und in der heiligen Gemeinde zu Frankfurt [die Juden beteten], dass Gott unseren Herr, den Kaiser und Sein Volk Israel beschütze. Seine Hand ist nicht zu kurz, um die Vielen und die Wenigen zu retten [20]. Der Sieg, den der Kaiser feierte, war im Jahr 5307 (1546/7).
Und Gott vollbrachte Wunder und erstaunliche Taten für uns, dass er die israelische Nation mit seiner Gnade bewahrte und dass es fehlt nicht einer [21] [von den Juden] in diesem großen Krieg. Gott sei gesegnet, der uns nicht enttäuschte mit seiner lieben Güte und uns zweimal [22] von großen Mengen gerettet [23]. Soll Er doch weiter so tun, Amen.
[1] Offenbar fehlt hier ein Wort, wie ‚diskutieren‘ oder ‚debattieren‘.
[2] Fürsten und Stände.
[3] Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp.
[4] Nach Jesaia 63:10.
[5] Das Privileg von 1544
[6] Deutet darauf hin, dass auch Josel während des Reichstags zu Speyer Erneuerungen seiner Rechte als Befehlshaber erhielt.
[7] Im Text: Yom Va’ad. Bezieht sich auf den Reichstag.
[8] Im Text: ha-moshlim – die Berater des Kaisers [...]
[9] Nach 5. Buch Mose 28:49.
[10] im Text: le-hafkir, lit.: „gesetzeswidrig zu handeln“. Wie C. Fraenkel-Goldschmidt in der Einleitung zu diesem Abschnitt bemerkte (S. 295), kann das bedeuten, dass die Spanier die Juden bereits angegriffen haben, oder aber dass die Juden befürchtet haben, das könnte geschehen.
[11] Nach Psalms 124:1.
[12] Im Text: me-hanei (Aramäisch)
[13] Karl V. betrachtete Spanien als seine Heimat.
[14] Genesis 41:44
[15] Die meisten Reichsstädte standen an der Seite des Schmalkaldischen Bundes.
[16] Im Text: anshei regel, eine Übersetzung des deutschen Wort ‚Fußvolk‘.
[17] Im Text: rokhvei barzelot („Eisenreiter“). Sie waren mit Eisenrüstung gewappnet. Beeinflusst vom Vers: „Darum dass sie eiserne Wagen hatten“, Richter 1:19.
[18] Bezieht sich auf die Zeit der Abfassung der Schrift, also 1547.
[19] Das Gebet „Unser Vater, unser König“ wird während der zehn Tage des Büßens [die Zeit zwischen dem jüdischen Neujahr und Yom-Kippur-Fest = Tag der Versöhnung] gesprochen. In manchen Gemeinden auch in Fastenzeiten. Die Lieder der Einheit werden tagtäglich in mehreren Gemeinden und während des Abend-Gottesdienstes des Yom-Kippur-Fest nach dem „Unser Vater, unser König“ Gebet in allen Gemeinden des Aschkenas. Die Absicht hier ist, dass die Juden intensiv beten sollten, vermutlich vom Gefühl geleitet, dass das ihr Schicksal vom Ergebnis des Kriegs bestimmt würde.
[20] Nach Jesaia 59:1: „Siehe, des HERRN Hand ist nicht zu kurz, dass er nicht helfen könne“, und 1 Samuel 14:6: „denn es ist dem HERRN nicht schwer, durch viel oder wenig zu helfen“.
[21] Numerus: 31:49.
[22] Vermutlich meint hier Josel, dass keine der Kriegsparteien den Juden Leid zufügte.
[23] Im Text: hamoni’im, hamoni’im. Die Ausdrucksweise vermittelt die Totalität des Kriegs in Deutschland.

Karl V. von Habsburg war der Enkel von Ferdinand dem Katholischen und Isabell von Kastilien. Die beiden spanischen Herrscher besiegten 1492 die Mauren, eroberten Granada und vollendeten damit die sog. Reconquista. Das Herrscherpaar entschied noch im gleichen Jahr, in dem auch Colombos im spanischen Auftrag Amerika entdeckte, alle Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet zu vertreiben, sofern diese nicht zum Christentum übertraten. Da sein Vater, Philipp der Schöne, in jungem Alter verstorben war und seine Mutter als Geisteskranke galt, bestieg er den Thron bereits 1516 mit lediglich sechzehn Jahren und wurde König und Herrscher von Spanien, Neapel, Sizilien, der Besitzungen in Afrika und der Eroberungen in Amerika. Als sein Großvater väterlicherseits, Kaiser Maximilian I., 1519 starb, erbte Karl, der im gleichen Jahr zum Nachfolger des verstorbenen Kaisers gewählt wurde, die Habsburgischen Lande im Heiligen Römischen Reich: Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain, die habsburgischen Stammlande am Oberrhein und die burgundischen Länder Karls des Kühnen. Gelöscht: zu seinem Herrschaftsgebiet
Die Wahl des spanischen Monarchen verunsicherte die Juden im Reich zutiefst. Denn sie wussten, dass er streng katholisch erzogen worden war und sich als frommer Katholik, in seiner Funktion als Kaiser sogar als den „weltlichen Arm“ der Kirche betrachtete. Der Umstand, dass kein Jude sein Stammland Spanien betreten durfte, und dass dort die Inquisition die verbliebenen, konvertierten Juden zu dieser Zeit noch massiv verfolgte, bereitete den Juden große Sorgen um ihre Zukunft in Deutschland. Die frühere Äußerung des Herrschers zum Reuchlin-Pfefferkorn-Streit schließlich schien diese Befürchtungen der Juden zu bestätigen. Karl schrieb damals an den Papst, dass „wer die Juden begünstige, sich Gottes Strafe zuzieht“.[1]
Schließlich kam der Tag der Königskrönung Karls V. 1520 in Aachen. Die Juden des Reichs schickten ihre Vertreter dorthin, um – wie es damals üblich war – dem neuen Herrscher eine Krönungssteuer (die sog. „Ehrung“) zu überreichen und um neue Privilegien oder die Bestätigung älterer Privilegien zu erlangen. Diese „Ehrung“ folgte dem Grundsatz, der vom König Ludwig von Bayern aufgestellt worden war, wonach die Juden mit Hab und Gut dem König gehörten und deswegen bei der Krönung eine Art fiktiven Loskauf für die Erhaltung ihres Lebens und ihrer Rechte zu zahlen hatten. Traditionsgemäß und traditionsbewusst bestätigte Karl V. Josel und seinem Begleiter die alten Privilegien seines Großvaters Maximilian, die ursprünglich nur den Juden des Elsass galten, und dehnte deren Wirkungsbereich auf das gesamte Reich aus. Darüber, dass der neue König die Krönungssteuer oder andere Zahlungen forderte, gibt es allerdings keine Erwähnung.
Dennoch profitierten nicht nur die Juden von der Großzügigkeit des Königs, sondern auch einige elsässische Städte, die Freiheiten erhielten, nach denen es ihnen erlaubt war, Juden innerhalb der Stadtmauern nicht zu dulden und zu vertreiben. Die elsässischen Juden mussten erneut dem König einen Besuch erstatten und für ihre Rechte plädieren. Karl versprach ihnen dann auch eine Prüfung ihrer Rechte durchzuführen. Damit wurden Vertreibungen verhindert bzw. verschoben (Siehe Josels Bericht über die Ereignisse).
Auf dem Reichstag von Worms 1521, auf dem es vor allem um die Auseinandersetzungen um Martin Luther und die beginnende Reformation ging, schien es, als würde der junge Herrscher in die Fußstapfen seiner Großeltern treten. Die Gewährung der oben erwähnten „Vertreibungsrechte“ und die Bestimmung des Reichstagsabschieds, dass „Juden, die wuchern oder auf Diebesgut leihen, [..] von niemanden gehaust oder gehalten werden, und im Reich keinen Frieden und Geleit haben [sollen]“, dienten in den Augen der Juden als Indizien dafür.
Aber Karl war kein fanatischer Herrscher. Vielmehr genoss er eine humanistische Bildung und war auch seinen jüdischen Untertanen ein gnädiger Herrscher. Aus diesem Grund und aus seinen religiösen Überzeugungen setzte er alte Traditionen fort, wie die der Schutzherrschaft des Kaisers über die Juden. Eine andere Tradition, die Karl fortführte, war die Ernennung eines Reichsrabbiners, der für Recht und Ordnung unter den Juden sorgte – damit war den Juden eine gewisse Autonomie gewährt –, der aber auch den goldenen Opferpfennig von allen Juden eintrieb. Insgesamt unterschied sich die Judenpolitik Karls V. in den ersten Jahren seiner Regentschaft nicht sehr von der seiner Vorgänger. Zwar brachte er den Juden keine besondere Sympathie entgegen. Er verhielt sich aber auch nicht judenfeindlich und betrieb keine restriktive Politik ihnen gegenüber.
1530 kehrte Karl V. nach neun Jahre Abwesenheit ins Reich zurück. Diesmal kam er als erwachsener, machtbewusster und siegreicher Herrscher, der vom Papst in Bologna soeben zum Kaiser gekrönt worden war. Er sah sich vor zwei große Aufgaben gestellt: die Überwindung der durch die Religionsfrage verursachten Spaltung im Reich und die gleichzeitige Bedrohung durch die Türken. Karl wusste, dass er seine Macht im Reich ausbauen musste, um seinen Willen gegenüber den Fürsten durchzusetzen und gleichzeitig deren Unterstützung gegen die Türkengefahr zu sichern. Um seine Strategie zu planen, traf er sich mit seinem Bruder Ferdinand I. und mit seinen Beratern im Vorfeld des schicksalhaften Augsburger Reichstags in Innsbruck. Dort hörte er Josel von Rosheims Verteidigung zugunsten seiner Glaubensbrüder und -schwestern gegen die Beschuldigung, die Juden stünden in einer verschwörerischen Kommunikation mit den Türken, seien also Spione und Verräter. Da Josels Verteidigung ihn überzeugte, gewährte er ihm ein Privileg , das als eine kaiserliche Bestätigung des königlichen Privilegs von 1520 anzusehen ist.
Kurze Zeit später, auf dem Augsburger Reichstag, wurden die Juden mit allerlei neuen Beschuldigungen konfrontiert. Als dem Kaiser eine Schrift von einem bekehrten Juden [2] überreicht wurde, in der die Juden beschuldigt wurden, den Niedergang des Reichs herbeizusehnen und Proselyt [3] zu betreiben, verordnete er eine öffentliche Disputation, in der Josel aufgetragen wurde, diese Beschuldigungen zu widerlegen. Nachdem dieser seinen Gegner, Margaritha, besiegt hatte und dieser versprechen musste, die Stadt nie wieder zu betreten, gewährte der Kaiser der gesamten Judenschaft im Reich ein weiteres Privileg. Es handelte sich dabei um die Bestätigung des Privilegs König Sigismunds von 1415. Karl ermahnte in dieser Privilegserneuerung die Fürsten und städtischen Magistrate, „bei Vermeidung schwerer Strafe und Ungnade, die Bestimmungen der Urkunde zu befolgen, damit die Juden >hinfüro im Heiligen Reiche desto ruhiger sitzen und bleiben mögen<“. [4]
Wie schon 1520 in Worms und 1530 in Innsbruck verlangte der Kaiser auch hier keine Sonderzahlung oder irgendeine finanzielle Versprechen von den Juden. Was ihn zu seiner Entscheidung bewegte, war sein Interesse, die kaiserliche Hoheit über die Juden im Reich als Kammerknechte zu sichern und zu verfestigen. Dies bedeutete zugegebenermaßen auch Steuervorteile für den Kaiser. Aber die Auseinandersetzung mit den Fürsten und Ständen über bestimmte Rechte im Reich stand hier eindeutig im Vordergrund. Karl V. beharrte darauf, dass die Juden schon vom „alten Herkommen des Reichs“ als Knechte der kaiserlichen Kammer galten. Damit trat bei dieser Auseinandersetzung wieder die Traditionstreue des Kaisers zum Vorschein.
Die Kontinuität in der Judenpolitik Karls V. zeigte sich auch in seiner Haltung gegenüber den jüdischen Geldgeschäften. So wie im Reichstagsabschied 1521, wurde auch auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 im Rahmen der Reichspolizeiordnung beschlossen, dass Juden, die wucherische Geschäfte betrieben, nicht geduldet werden sollten. Darüber hinaus sollten Obrigkeiten, die Juden in ihrem Territorium duldeten, über deren Geldgeschäfte wachen. Der Kaiser betrachtete die Frage nach dem Wucher schon immer als eine religiöse Sache. Nach dem kanonischen Recht war es strikt verboten, zu wuchern. Karl V. wollte – wegen seiner katholischen Überzeugungen – den Wucher gänzlich abschaffen, und zwar auch bei den Juden, die ansonsten von dieser Regelung ausgenommen wurden.
So wie bei den oben genannten Privilegien war Karls Judenpolitik auch in den folgenden Jahren von der Steuerfrage losgekoppelt. Der Schwerpunkt lag stattdessen bei der kaiserlichen Schutzherrschaft. Es wurde durch diese Politik eine unmittelbare und überterritoriale Rechtsbeziehung der Juden zum Kaiser konstituiert, obwohl viele Landesfürsten und städtischen Magistrate über Judenregalien verfügten. Es ist unter dieser Prämisse, dass der Kaiser 1541 in einer Bestätigung der beiden Privilegien von 1530 verkündete, dass „die Judischait im Hayligen Reich undt unsern erblichen Fürstenthumben und Landen wohnhaft und gesessen … bey angeregten allen iren Gnden, Freyhaiten, Privilegien undt Briefen, so inen von unsern Vorfaren Römischen Kaysern und Königen, auch uns [und] dem Hayligen Reiche gegeben sein und sie löblichen herbracht haben, mit allen und jeglichen derselben Inhaltungen, Gesatzen, Puncten, Articulen, Meinungen und Begreiffungen gehandthabt, geschützt und beschirmt“ werden solle. [5]
Drei Jahre später, auf dem Reichstag in Speyer, verkündet der Kaiser ein weiteres Privileg zugunsten der Juden, das „bedeutendste[..] dieser Art überhaupt“. Dieses Privileg vom 3. April 1544 , das sich auf eine lange Tradition von Privilegien und Schutzzusagen der Päpste und Kaiser berief, bestätigte alle früheren Privilegien, Freiheiten und Rechte der Juden im Reich, nahm sie in Schutz vor Ritualmordbeschuldigungen sowie Folter, gestattete zum ersten Mal und rechtfertigte das Zinsgeschäft der Juden und versicherte ihnen die freie Religionsausübung und den Erhalt ihrer religiösen sowie gemeinnützigen Einrichtungen. In den folgenden Jahren und Jahrhunderten wurde dieses Privileg immer wieder von den Kaisern bestätigt, was die zentrale Rolle dieser Urkunde für die jüdische Geschichte in Deutschland beweist. Sie wurde nämlich unter Ferdinand I. (1562), Maximilian II. (1566), Rudolf II. (1577), Matthias (1612), Ferdinand II. (1630), Leopold I. (1663) und Karl VI. (1714) bestätigt und erneuert.
Allerdings erzielte das Privileg zu der Zeit seiner Erstellung nicht die gewünschte Wirksamkeit. Bereits am 30. Januar 1548 musste der Kaiser es erneuern, unter der expliziten Bezugnahme auf Beschwerden des Befehlshabers der Judenschaft im Reich, Josel von Rosheim, sodass man davon ausgehen muss, dass dem Befehl des Kaisers keine bzw. nicht ausreichend Folge geleistet wurde. Im gleichen Jahr wurde auf dem Reichstag in Augsburg eine neue Reichspolizeiordnung verabschiedet, in der unter anderem das vereinbart wurde, was Karl in seinem Speyerer Judenprivileg schon beschlossen hatte, dass nämlich das Zinsverbot für die Juden abgemildert werden sollte. Zwar war die Rede nicht von den im oben genannten Privileg gestatteten höheren Zinsen, jedoch wurde zum ersten Mal in einem Reichsgesetz das Recht der Juden auf das Zinsnehmen prinzipiell anerkannt.
Letztendlich fällt es schwer, die Judenpolitik Karls V. zu beurteilen. In den folgenden Jahren wurden die Rechte der Juden nochmals beschnitten, diesmal in Bezug auf ihren Handel mit Schuldscheinen von Christen (1551). [6] Außerdem gewährte der Kaiser ein paar Städten sogenannte privilegia de non tolerandis iudeis (z.B. in Schweinfurt 1555) und damit das Recht auf die Vertreibung der Juden. Es bleibt aber festzuhalten: Karl V. bestätigte den Juden im Reich immer wieder ihre Rechte und Freiheiten und gab ihnen das umfassendste und weitreichendste Privileg von 1544. Dass er diese nicht (zumindest nicht unmittelbar) an steuerliche Vorteile koppelte, zeigt, dass es ihm nicht so sehr um einen finanziellen Profit ging. Wahrscheinlicher erscheint die Annahme, dass der Kaiser aufgrund seiner katholischen Überzeugungen die Juden nicht der Willkür der Zeit und seinen lutherischen Gegnern aussetzen wollte.
(Avraham Siluk)
[1] Stern, S. 61f.
[2] Es handelt sich um Antonius Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“
[3] Der Versuch, Christen ins Judentum überzuführen.
[4] Stern, S. 91.
[5] Zit. Nach Battenberg, 161f.
[6] Das Gesetz aus diesem Jahr verbot den Juden den Handel mit Schuldscheinen christlicher Schuldner.
Literatur:
Battenberg, Friedrich, Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, hg. v. Barbara Dölemeyer und Heinz Mohnhaupt (Ius Commune, Sonderhefte 93), Frankfurt (M) 1997, S. 139-190.
Feilchenfeld, Ludwig, Rabbi Josel von Rosheim. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter, Straßburg 1898
Stern, Selma, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart 1959.
Innsbrucker Judenprivileg Kaiser Karl V. Der Kaiser bestätigt den Juden im Reich auf ihr Bitten ihre Rechte und Privilegien, Innsbruck, 18. Mai 1530
Graf Balthasar von Hanau am 6. August 1530 durch kaiserlichen Boten überbrachter und mit dem Original kollationierter Druck
Nachweis: Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessichen Staatsarchiv Marburg 1267-1600, Wiesbaden 1989, S. 261
Transkript:
Wir Karl der Fünnft von gots gnaden Römischer Keyser zu allen zeyten Merer des Reichs / In Germanien / zu Hispanien / beider Sicilien / Jerusalem / Hungarn / Dalmacien / Croacien / u. Künig / Erzherzog zu Osterreich / Herzog zu Burgundi u. Grave zu Habspurg / Flandern / und Tyrol u. Empieten allen und yeglichen Churfürsten / Fürsten / geystlichen und Weltlichen / Prelaten / Graven / Freyen und Herren / Rittern / Knechten / Landtvogten / Hauptleüthen / Bitzthumben / Vögten / Pflegern / Verwesern / Amptleüthen / Schultheyssen / Burgermeystern / Richtern / Rethen / Burgern / und gemeynden / Und sonst allen andern unßern und des Reichs auch unser erblichen Fürstenthumb und Landen underthanen und getrewen / unnd sonderlich unserm gegenwürdigen und einem yeden künfftigen Landtvogt in under Elsaß so mit diesem unserm brieff oder glaublichen abschrifften davon ersucht und ermant werden / unser gnad und alles guts / Hoch und Erwirdigen / Hochgebornen / lieben freünde / Neuen / Ohemen / Churfürsten / Fürsten / Wolgebornen / Ersamen / Edlen / Andechtigen / und lieben getrewen. Unnd haben gemeyn Jüdischeit allenthalben im heiligen Reiche und unsern Erblichen Fürstenthumben und Landen wonhafft und gesessen / undertheniglich zuerkennen geben / wiewol sie vonn unssern vorfarn Römischen Keysern und Künigen / löblicher gedechtnuß mit vil gnaden und previlegien / begabt / gefreyt und fürsehen sey /So werden sie doch uber und wider solch freyheiten in vil weg beschwert und beleydigt / und dermassen getrungen das denselben freyheiten zu appruch und nachteyl / und ir berurten jüdischeit zu mercklichen schaden gereyhe und reyche /
Und uns darauff demütiglich gebetten / Sie als gekrönter Römischer Keyser / dem sie on mittel underwürffig und zugehörig sein / bey obberurten iren gegeben freyheiten und previlegien zuhandt haben und dawider nit beschweren zulassen /
Dieweyl uns dann gepürt gentzlichen gemeynt ist / die berurt Jüdischeit un sunst eynen jeden bey seinen freyheiten / gnaden und Recht zuhandthaben / zu schützen unnd zu schirmen / haben wir der gemelten jüdischeit all ir freyheiten / gnad / brieff / previlegien und gut gewonheiten / damit sie von weylandt unsern vorfarn am Reich / Römischen Keysern und Künigen / begabt und der in geprauch seind gnediglich Confirmirt und bestet / inhalt diß brieffs darumben autzgangen.
Und gepieten darauff euch allen und yden in sondern / von Römischer Keyserlicher macht / ernstlich und wollen / das ir die gemelten jüdischeit gemeiniglich und sonderlich bey solchen iren freyheiten / gnaden / previlegien / und allen hergeprachten gewonheiten wie obstet / und unser Confirmation auch ordentlichen Rechten umb eins von yeden sprüch und forderung gerüeblich beleyben geprauchen und geniessen lasset / und sie darwider nit dringet / beleydiget noch beschweret / noch des yemants andern zuthun gestattet / sonder dabey von unsern und des heiligen Reichs wegen vestiglich handhabet / schützet und schirmet / damit wir zuhandhabung unser vorfarn freyheiten und unser Confirmation nit geursacht werden / gegen euch mit den penen in denselbenm freyheiten und Confirmation begriffen zu handeln und fürzunemen / Das ist unser ernstlich meynung.
Geben zu Inßbrugk am Achtzehenden tag des Monats Maij.
Nach Christi unsers lieben herren geburt im Fünfftzehenhundert und dreyssigsten / Unsers Keyserthumbs im Zehenden / und unser Reich im Fünfftzehenden Jaren.
CAROLI
Admandatum Cesaree (?)
Catholice Maiestat et (?) propriu
Alexanders Schweiß, subscribsit
Transkribiert von Christian Siekmann
Das Große Judenprivileg Kaiser Karl V., gegeben zu Speyer, 3. April 1544 [> Transkription]
Insert in einer Bestätigung dieser Privilegien durch Kaiser Rudolf II. zu Breslau am 15. Juni 1577, überliefert in einer gleichzeitigen Abschrift eines von der Stadt Frankfurt gefertigten und gesiegelten Transsumpts vom 1. Febr. 1608.
Der historische Kontext:
Der Anlass für die Erteilung des Privilegs war doppelt. Gegen Ende 1543 ereignete sich erneut ein Fall einer Ritualmordbeschuldigung gegen die Juden. 1541 hatte man eine solche Beschuldigung mit Hilfe der Schrift Osianders zurückweisen und damit auch die Verfolgungen gegen die Juden verhindern können. Dieses Mal konnte Josel von Rosheim trotz großer Bemühungen den zuständigen Bischof von Würzburg (wo der Fall sich ereignete) nicht dazu überreden, die gefangenen Juden, die insgesamt 32 Wochen im Gefängnis saßen, zu befreien, obwohl sie sich trotz schwerer Folter nicht schuldig bekannten und auch andere nicht der Tat bezichtigten. Deswegen fuhr Josel nach Speyer, wo der nächste Reichstag stattfinden sollte, um vom Kaiser Briefe zur Entlassung der gesagten Juden zu erbitten. Josel konnte dem Kaiser berichten, dass die Juden trotz der rechtswidrigen Peinigung kein Geständnis ablegten und er trug ihm auch vor, dass es schon mehrere Fälle gegeben habe, in denen die Wahrheit am Ende ans Licht gekommen war, was zur Freisprechung der Juden von diesen erfundenen Beschuldigungen geführt hatte. Schließlich konnte Josel dem Kaiser ältere Privilegien und Bullen von Päpsten wie von Kaisern vorzeigen, die die Juden vor diesen Anklagen in Schutz nahmen. Der Kaiser gab Josel Briefe, mit denen die Freilassung der gefangenen Juden erwirkt werden konnte. Noch wichtiger war, dass der Kaiser erkannte, wie wichtig es war, dass er die Juden wieder unter seine Schutzherrschaft nahm und ihre Rechte bestätigte und verkündete, und zwar in einer unmissverständlichen Sprache.
Der zweite Anlass, der mit dem ersten eigentlich untrennbar verflochten war, war die Veröffentlichung der Schrift Martin Luthers „Von den Juden und ihre Lügen “. Wie Josel schon dem Straßburger Rat darstellen konnte [4], verursachte diese Schrift an vielen Ecken im Reich Unruhen oder zumindest aufrührerische Stimmung gegen die Juden. Nachdem in den Jahren zuvor Blutbeschuldigungen und Vorwürfe wegen Hostienschändungen zurückgegangen waren, schien es, als würden diese ein Wiederaufleben erfahren.
Dass Luthers Schrift(en) [5] mit der Erteilung des Privilegs etwas zu tun hatte(n), lässt sich daran erkennen, dass einige der erwähnten Schutzmaßnahmen, die der Kaiser explizit im Text der Urkunde ausführt, als eine direkte Antwort auf den Maßnahmenkatalog betrachtet werden muss, den Luther in seiner Schrift gegen die Juden gefordert hatte. So mussten z.B. die Synagogen und Lernstuben der Juden vor Verbrennungen und Zerstörungen geschützt werden. Auch das Verbot, die Juden zu vertreiben, muss in Zusammenhang mit der neuen Judenpolitik, die Luther für die protestantischen Länder vorschlug, gesehen werden.
Der Kaiser bekräftigte in diesem Privileg den Status der Juden als Kammerknechte. Damit sollte auch seine eigene Oberhoheit über die Juden im Reich zum Ausdruck gebracht werden. Das Verbot, von den Juden zusätzliche Zölle zu verlangen, wenn diese auf kaiserlichen Wegen reisen, aber auch die Bestimmung, dass Gerichtsprozesse und –urteile nur vom Kaiser selbst geführt bzw. gefällt werden können, deuten auf diesen Anspruch des Kaisers hin. Der Grund dafür, warum der Kaiser den Status der Kammerknechtschaft der Juden hier wieder aufgreift, liegt – neben der Durchsetzung seiner universellen Macht gegenüber der partikulären Macht der Fürsten und Stände – darin, dass das „Institut“ der Kammerknechtschaft seit dem Privileg von 1530 nicht mehr urkundlich erwähnt wurde und im zeitgenössischen Diskurs der Juristen, seit dem Gutachten Johannes Reuchlins außer Gebrauch gekommen war und durch das „Institut“ der civitas Romana ersetzt wurde. Eine Neuformulierung des ohnehin schon bekannten Gegenstands der kaiserlichen Judenschutzpflicht und des Knechtsstatus der Juden erschien aus diesem Grund notwendig.[6]Interessant ist, dass sich auch in diesem Privileg kein Hinweis darüber befindet, dass der Kaiser von den Juden irgendeine Steuer oder andere Zahlungen verlangte. Wenn Josel in seinem Bericht für das Jahr 1545 [7] darüber erzählte, dass die Juden mehr als 3000 Gulden für die Kriegsanstrengungen des Kaisers gegen Frankreich aufbrachten und darüber hinaus dem Kaiser Geschenke im Wert von mehr als 400 Gulden überreichten, dann sind es Anzeichen dafür, dass finanzielle Interessen doch eine Rolle spielten, auch wenn nicht als Bedingung für die Erteilung des Privilegs.
Es zeichnet sich vielmehr eine taktische Vereinbarung zwischen dem Kaiser und dem Befehlshaber der Judenschaft im Reich ab. Die Schilderung, die Josel in seinen Memoiren für die Ereignisse im Schmalkaldischen Krieg in den Jahren 1546-47 lieferte, lassen vermuten, dass tatsächlich ein gewisser Pakt mit dem Kaiser geschlossen wurde, wonach die Juden dauerhaft die Kriegsanstrengungen des Kaisers mit Geld, Speisen oder anderen Mitteln unterstützten, und zwar unabhängig davon, wer der Gegner war. Dafür standen sie in der Gunst des Herrschers und erhielten den weitreichendsten Schutz, den der Kaiser zu bieten hatte. Allerdings muss man berücksichtigen, dass laut dem gleichen Bericht Josels das Privileg von 1544 erst 1546 auf dem Reichstag unmittelbar vor Beginn des Kriegs gegen die protestantischen Fürsten tatsächlich erstellt und erteilt wurde. Ob der Kaiser die Juden in dieser Situation unter Druck setzte und ihre Unterstützung für seine Kriegsanstrengungen verlangte, ist ungewiss. Denn darüber fehlt bisher eine präzise Untersuchung.
[4] Siehe den Brief Josels an den Straßburger Rat 1543
[5] Die Schrift „Vom Schem hamphorasch “ muss hier auch erwähnt werden.
[6] Vgl. Battenberg, S. 164f.
[7] Siehe die Einleitung zum Bittgesuch der Juden an Kardinal Farnese
Aufgabe:
1. Vergleichen sie dieses Privileg mit dem Innsbrucker Judenprivileg. Inwiefern und in welchen Punkten unterscheiden sie sich?
Gruppenarbeit:
2. Die Ausstellung bietet eine große Auswahl an kaiserlichen Privilegien. Wählen Sie drei Privilegien aus unterschiedlichen Epochen aus und vergleichen Sie sie miteinander. Anschließend stellen Sie Ihre Ergebnisse den Bestimmungen des Privilegs von 1544 gegenüber. Ist diese Urkunde tatsächlich die "bedeutendste dieser Art überhaupt"?
Das Große Judenprivileg Kaiser Karl V., gegeben zu Speyer, 3. April 1544 [> Digitalisat]
Insert in einer Bestätigung dieser Privilegien durch Kaiser Rudolf II. zu Breslau am 15. Juni 1577, überliefert in einer gleichzeitigen Abschrift eines von der Stadt Frankfurt gefertigten und gesiegelten Transsumpts vom 1. Febr. 1608.
Wir Rudolff der Ander von Gottes Gnaden / erwehlter Römischer Keyser / zu allen Zeiten Mehrer des Reichs / in Germanien / zu Hungarn / Behaim / Dalmatien / Croatien und Selauonien / u. König / Erzherzog zu Oesterreich / Herzog zu Burgundt / zu Braband / zu Steyer / zu Kärndten / zu Crain / zu Lützemburg / zu Würtemberg / Obern und Nidern Schlesien / Fürst zu Schwaben / Marggraf des H(eiligen) Römischen Reichs zu Burgau / zu Mehrern / Ober und Nider Laußnitz / Gefürster Graff zu Habspurg / zu Tyrol / zu Pfirdt / zu Kiburg / unnd Görtz / und Landgraff in Elsaß / Herr auff der Windischen Marck / zu Portenaw / und zu Salins / und Bekennen öffentlich mit diesem Brieff / und thun kund allermenniglich / daß uns gemeine Jüdlscheit im H(eiligen) Reich / durch ihre Gesandten in glaubwürdigem Schein / underthäniglichen haben fürbringen lassen / ein Privilegium oder Freyheit-Brieff / so ihnen gemeiner Jüdischeit von weyland unserm lieben Anherrn / Keyser Carln dem Fünfften / hochhlöblicher gedächtnuß / miltiglich mitgetheilt und gegeben worden / und von Wort zu Worten hernach geschrieben stehet / und also lautet:
Wir Carl der Fünfft von Gottes Gnaden Römischer Keyser / zu allen zeiten Mehrer des Reichs / König in Germanien / zu Castilien / Arragon / Leon / beyder Sicilien / Hierusalem / Hungarn / Dalmatien / Croatien / Navarra / Granaten / Toleten / Valenz / Gallicien / Maiorica / Hispalis / Sardinien / Corduba / Corsica / Murcien / Siennis / Allgarbien / Algeziern / Gibraltar / der Canarischen und Indianischen Insulen / und der Terrae firmae, des Oceanischen Meers / u. Erzherzog zu Osterreich / Herzog zu Burgundi / Lotrig / zu Braband / zu Steyer / zu Kärndten / zu Crain / zu Limburg / zu Lutzemburg / zu Geldern / zu Calabrien / zu Athen / zu Neopatrien / und zu Würtemberg / und Graffe zu Habspurg / zu Flandern / zu Tyrol / zu Görtz / zu Barcinon / zu Arthois / zu Burgundi / Pfalzgraff zu Hennigaw / zu Holand / zu Seeland / zu Pfirt / zu Kiburg / zu Namur / zu Rossilion / zu Ceritania / und zu Zutpfen / Landgraff in Elsas / Marggraff zu Burgaw / zu Oristani / zu Goriann / und des H(eiligen) Römischen Reichs Fürst zu Schwaben / zu Catalonia / Asturia / Herr in Frießland / auff der Windischen Marck / zu Portenaw / zu Piscaia / zu Molin / zu Salins / zu Tripoli / unnd Mecheln / und Bekennen für Uns und unsere Nachkommen am Reich / öffentlich mit diesem Brieff / und thun kundt allermenniglich / Als Uns / als Römischer Keyser / in allweggezimt und geburt / unsere gemeine Jüdischeit / so in dem heiligen Reich / desselben Fürstenthumben / Graffschafften / Herrschafften / Landen / Stätten und Gebieten / ihre Wohnung und Erhaltung haben / den Fried / Recht / und ihren Privilegien und Freyheiten / damit sie von weyland den heiligen Vättern / den Päpsten / gemeinen Concilien / unsern Vorfahren / Römischen Keysern und Königen seliger und hochlöblicher gedächtnuß / und Uns / auch andern Fürsten und Herren / löblich begabet / gefreyet und versehen seyn / zu schützen / zu schirmen und handzuhaben / und dann jetzo dieselb unser Jüdischeit des H(eiligen) Römischen Reichs / auff diesem unserm gegenwertigen Reichstag zu Speyer / für uns kommen ist / und mit hohen Beschwerden Klagweiß fürbracht / wie etlich au? inen / aber und wider solche ire gegeben und begabten / Päpstliche und Keyserliche Freyheiten / unsern und des Reichs auffgerichten und außgekündten Landfrieden / gülden Bullen / und Keyserlich Reformation / auch aber das sie einem jeden / so einige Sprüch und anforderung zu ihnen zu haben vermeynen / für uns / unserm Keyserlichen Kammergericht im heiligen Reich / oder an enden / da sich solches / ihren Freyheiten
Seite 2:
Freyheiten und Privilegien nach gebürt / Rechtens und fürkommens nie vorgewesen / und noch nicht seyen gewaltiglich / freffentlich / und muthwillig / an ihren Personen / Leiben / Haaben und Gütern / mit Todtschlägen / Rauben / wegführen / außtreibung ihrer häußlichen Wohnungen / Versperrung und zerstörung ihrer Schulen und Synagogen / deßgleichen auch an Gleydten und Zöllen beleydigt und beschwert / auch in ander Weg an iren Leibsnahrung / so sie hin und wider altem herkommen und gebrauch nach / Edlen und Unedlen / in ihren nöthen / auff Trawen und guten Glauben / umb gebürlichen Gewinn außleihen / verhindert und beschädigt werden / also / da? zu besorgen / wo von Uns / als Römischen Keyser / hierinn nicht einsehens geschehen sollte / Das zu letzt auß solchen erfolgen / unnd dahin kommen / daß die Jüdischeit an mehr Orthen im heiligen Reich / Teutscher Nation / nicht allein ihrer Haab und Güter entsetzt / geplündert und aufgetrieben / Sondern auch / ohn alle unsere Rechtlich Erkandtnuß / gefangen / gepeinigt / vertilgt / und umb Leib und Gut kommen würden / Und Uns darauf / als Römischen Keyser / zu dem sie / als ihrem rechten einigen Herrn und Beschirmer auff Erden / ihre Zuflucht und Hoffnung tragen / demüthiglich angeruffen und gebeten / daß wir ihnen hierinnen unsere Keyserliche hülff unnd Miltigkeit mitzutheilen / Sie bei ihren gegebenen Freyheiten / Privilegien / Schutz / Schirm und Eleyd zu handhaben / ihnen dieselbige alle und gleiche insonderheit zu vernewren / zu confirmiren / und zu bestetten / und dieselb unser Jüdischeit / in unsern und deß heiligen Reichs Verspruch / Schutz und Schirm / auch Eleyd und Sicherheit zu empfahen / gnädiglich geruheten.
Wann wir nun gewelter Jüdischeit demüthig anzeigen und bitten gnädiglich vernommen / und Uns als Römischem Keyser / menniglich für gewaltigen Handlungen und Beschwerden zu behüten gebürt und zusteht:
So haben Wir darumb auß den oberzehlten und andern treffentlichen Ursachen / Uns darzu bewegend / und mit wolbedachtem Muth / gutem Raht / unnd rechter Wissen / gemeiner Jüdischeit / alle und jegliche ihre Gnad / Freyheiten und Privilegien / Schutz / Schirm unnd Eleyt / damit sie von den heiligen Vattern und Päpsten / gemeinen Concilien / unsern Vorfahren / Römischen Keysern und Königen / Fürsten und Herren / auch Uns und dem heiligen Reich / gefreyet / begnadet / und versehen seyn / als Römischer Keyser / widerumb gnädiglich vernewert / confirmirt / bestettet / und darzu dieselb unser gemeine Jüdischeit vonm newem in unsern und deß heiligen Reichs Verspruch / Schutz und Schirm genommen und empfangen / und ihnen darzu unser und des Reichs frey Sicherheit unnd Eleyt für Gewalt und zu Recht gegeben / und ferner mit diesen hernach geschriebenen Freyheiten und Gnaden begabt / gefreyet und versehen.
Vernewren / confirmiren / bestetten / nemmen und empfangen / freyen / geben / und thun das alles / wie ob und nachsteht / hiemit von Römischer Keyserlicher Macht / vollkommenheit / wissentlich / in Krafft diß Brieffs / also dass nun hinfüro gemeine Jüdischeit / so in dem heiligen Reich / und desselben Fürstenthumben / Graffschafften / Herrschafften / Landen / Stätten / Märckten / Dörffern oder Weilern / häußlichen wohnen und gesessen seyn / ihre Schulen und Synagogen niemands / was Stands oder Wesens der oder die seyn / versperren / verschließen / noch sie der entsetzen / sondern irer Gewonheit nach / und wie inen das in den heiligen Concilien / und ihren Freyheiten zugeben worden ist / bleiben / und das alles ruhiglich gebrauchen lassen / un inen daran seine Irrung / Bezwang / Eintrag oder Verhinderung thun sol / in keine weiß noch wege.
Ob auch jemands / weß Standes oder Wesens der oder die weren / hinfüran einigen Jüden oder Jüdin / an ihren Leiben / Haaben und Gütern / wider unsern Keyserlichen außgekündten Landfrieden / vergewaltigen / beschädigen / berauben / wegführen / oder fänglich / heymlich oder öffentlich enthalten würde / alsdann ein jede Obrigkeit für
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für sich selbs / oder auff eines jeden anruffen und begeren / nach denselben Thätern / deßgleichen ihren Enthaltern / wo sie die / ihre Leib / Haab oder Güter betreffen mögen / greifen / und gegen denselben umb solch ihr Handlung und That / wie sich nach vermög unser Keyserlichen / außgekündten / hochverpeenten Landfrieden / des Reichs Ordnung und Rechten gebüren würde / mit Ernst procediren und handlen / und was sie also wie obstehet / vornemen und handeln / da? sie damit weder gegen Uns dem heiligen Reich / noch sonst jemand anders gefreffelt oder gehandelt haben / noch jemands darumben zu antworten schuldig seyn.
Es sollen auch hinfüro alle Juden und Jüdin mit ihren / Leiben / Haaben und Gütern / es were in Kriegslauften / oder sonst allenthalben in dem heiligen Reich / ihrer Notthurfft nach / zu Wasser und Land / sicher handlen und wandlen / und von einer jeden Obrigkeit / auff ihr jedes ansuchen / mit notthürfftigem genugsamen Eleyt fürschen / unnd hierinn auch mit Zoll unnd Mautgelt nicht höher oder weiter / dann von unsern Vorfahren / Römischen Keysern / Königen / und Uns hievor auffgesetzt und bestimpt ist / beschwert / gesteigert und belästiget / auch außerhalb der Stätte / Märckte und Flecken / darinn sie gesessen / und wonhafft seyn / oder dardurch sie zu reysen haben / auff gemeiner Strassen / in ihrem ihn und wider ziehen / zu Wasser und Land / Jüdische Zeichen zu tragen nicht schuldig oder verpflicht seyn / noch derhalben von jemands gerechtfertiget werden.
Es soll auch hinfüro kein Jud oder Jüdin / die nach unserer Keyserlichen Krönung in dem heiligen Reich / desselben Fürstenthumben / Graffschaften / Herrschafften / Landen und Gebieten / sonderlich in unsern und deß Reichs Stätten / Märckten / Dörffern und Weilern häußlichen gewohnt haben / und gesessen seyn / oder noch darinnen wohnen und sitzen / von niemands / wer der oder die seyen hoch oder nidern Standes / eygens Willens / noch sonst / ohn unser sonder zulassung und erlaubnuß / nicht außtreiben oder entsetzt werden / sondern nach außweisung und vermögen dieser und anderer voriger Freyheiten / unnd sonderlich unserer Freyheit am achtzehenden Tag des Monats Maij / deß dreyssigsten Jahrs der mindern Jarzahl / nechst verschienen zu Jußprugk1 außgangen / also ruwiglich / sie und ihre Nachkommen / unvertrieben bleiben / sitzen und wohnen sollen und mögen.
Und nach dem auch die Jüden und Jüdin deß mehrern theils in allen deß Reichs Anlagen und Hülffen / mit Leib / Haab und Gut / umb ein viel höhers / dann die Christen / belegt und angeschlagen werden / und aber darneben weder ligende Güter / noch andere stattliche Handtierung / Empter und Handwerck / bey den Christen haben und treiben / davon sie solche Anlagen erstatten / und ihre Nahrung bekommen / ausserhalb deß / so sie von ihren Barschafften zu wegen bringen.
So lassen wir zu / und gönnen denselben Juden und Jüdin / daß sie herwider umb in gleichnuß / und maß und gestalt ihrer Anlagen / damit sie also / wie obsteht / angehalten und belegt werden / ihre Barschafften und Zinß / und sonst zu ihrem Nutzen und Notthurfft / umb so viel desto höher / unnd etwas weiters und mehrers / dann den Christen zugelassen ist / anlegen und wenden / und ihnen solches geduldet werden möge.
Und nach dem Uns gemeine Jüdischeit ferrners zu erkennen geben / wie daß sie von ihren Widerwertigen offtmals beschuldiget werden / daß sie zu ihrer Notthurfft Christen Blut haben müssen / und dadurch umb geschichten und handlung willen / so sie dernhalben an Christen Menschen begehn sollen / nicht auß offenbarer oder wissentlicher That / oder auff genugsame beweisung und anzeig / sondern auß Ursachen verdenckens und Argwohns / oder auff bloß anbringen ihrer Missgönner / unangesehen / daß unsere heilige Vätter und Päpst hierüber erklärung gethan / unnd das zu glauben verbotten / auch weyland unsere lieber Herr /
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Herr unnd Anherr / Keyser Friedrich / löblicher Gedächtnuß / auff solche Päpstliche Declaration insonderheit ernstlich Befehl unnd Gebottsbrieff2 an alle Stände deß Reichs / und etliche derselben insonderheit außgehen / unnd ihnen von solchen fürnemen abzustechen / auch darvor zu seyn / und solches nicht zu gestatten / sondern wo solcher sachen ichts vorhanden / dasselb auf eine Majestät als obersten Herrn unnd Richter / dem gemeine Jüdischeit ohne mittel zugehörig / gelangen zu lassen / ernstlich gebotten hab / auch wider ihre / der Juden / Freyheiten und alt herkommen / zum höchsten beschwert / gefangen / gemartert / vom Leben zu Todt bracht / und ihnen ihre Haab und Güter gewaltiglich genommen werden / Und Wir dann auß solcher Päpstlichen erklärung/ und unsers Uranherrn / Keyser Friedrichs seligen außgangenen Befehlchen2 so vieL BerichTes empfangen / daß solches / so den Jüden also zugemessen wirdt / notthurfft halben nicht seyn muss.
Hierumb / auch auß andern bewegenden Ursachen mehr / setzen und wollen wir / daß hinfüro niemands / was Standes der sey /keinen Juden oder Jüdin derhalben sahen / und ohne fürgehende / genugsame anzeig oder beweisung glaubwürdiger Zeugen / oder befindung der That / peinigen unnd martern / noch vom Leben zum Todt richten soll / Sondern wo dergleichen Klag oder Bezüg für fiele / dasselbig zuvor an Uns oder unser Nachkommen / Römischer Keyser unnd König / als gemeiner Jüdischeit im Reich oberste Oberkeit gelangen lassen / unnd daselbs Bescheid gewarten.
Dem allem nach / meynen / setzen / ordnen declariren unnd wollen Wir / von obberührter Keyserlichen Macht / vollkommenheit / und rechtem wissen / daß hinfüro alle obbestimbte / gemeiner Jüdischeit Freyheiten / Brieff / Privilegien / Gnaden / Schutz / Schirm / Sicherheit / Eleyt unnd Confirmation / in allen und jeglichen Puncten / Articuln / Clausuln / Inhaltungen / Meynugen und Begreiffungen / gantzkräfftig und mächtig / seyn / stett gehalten / und vollzogen werden / in aller maß / als ob die alle und jede insonders von Worten zu Worten in diesem unserm Keyserlichen Brieff geschrieben und begriffen weren / die wir auch hie für gnugsam angezogen und benannt haben wollen / auch gemeine Jüdischeit und ihre Nachkommen / gemeinlich / und sonderlichen die obgeschrieben unser new gegeben Freyheiten / Gnaden / Schutz / Schirm / Sicherheit und Elent haben / dabey bleiben / und weder in gemein oder insonderheit daruber / weder mit Raub / beschädigung / ihrer Leib / Haab und Güter / noch Außtreibung und Beschliessung ihrer Synagogen / noch sonst in ander wege nicht beleydigt / beschwert / belestigt / oder bekümmerrt werden / Sondern sie und ihre Nachkommen / die gerühiglich gebrauchen und geniessen sollen / und mögen / von allermenniglich unverhindert.
Und ob hierüber auß Vergessenheit / und ungestüm anhalten / von Uns / oder unsern Nachkommen am Reich / etwas / das obbestimpter / und diesen unsern Freyheiten zu wider seyn / außgehen / oder gegeben würde: Deßgleichen wo denen zu wider einiger Vertrag / oder anders / ohn unser Wissen und Bewilligung auffgericht / oder fürgenommen were / das alles soll hiewider kein Wirckung / Krafft noch Macht haben / sondern gantz unbündig / unnkräfftig unnd unschädlich seyn / Dann wir solches alles / und jedes besonder / jetzt als dann / und dann als jetzt / auffheben / cassiren / abthun und vernichten in Krafft diß Brieffs.
Und gebieten darauff allen unnd jeglichen Churfürsten / Fürsten / Geistlichen und Weltlichen / Prelaten / Grauen / Freyen / Herrn / Rittern / Knechten / Hauptleuthen / Landvögten / Bitzthumben / Vögten / Pflegern / Verwesern / Amptleuthen / Schultheyssen / Bürgermeistern / Richtern / Rähten / Bürgern / Gemeinden / und sonst allen andern / unsern und deß Reichs Underthanen / und Getrewen / in was Würden / Stands / oder Wesens die seyen / gegenwertigen und künfftigen / ernstlich mit diesem Brieffe / und wollen / daß sie die vorberührte unser
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unser Jüdischeit in gemein / und sonderheit / den obbestimpten Päpstlichen Erklärung / unnd unserer Vorfahren am Reich / und diesen unsern Freyheiten / Privilegien / Confirmation / Schutz / Schirm / Sicherheit unnd Eleyt / gänzlich bleiben / die an ihnen stett und fest halten / deß alles gerühiglich gebrauchen und geniessen lassen / unnd von unsern deß Reichs wegen darben festiglich handhaben / schützen und schirmen / und hierwider nicht thun / und deß jemands andern zu thun gestatten / in keinerley weise noch wege / als lieb einem jeden sey unser und deß Reichs schwere Ungnad / und Straff / unnd dazu ein Peen / nemblich fünffzig Marck löthigs Golds zu vermeiden / die ein jeder / so offt er freffentlich hierwider thete / Uns halb / in unser und deß Reichs Cammer / und den andern halben Theil gemeiner Jüdischeit / oder dem Beleydigten / unablößlig zu bezahlen verfallen seyn soll / ohne gefährde.
Mit Urkundt diß Brieffs besiegelt mit unsern Keyserlichen anhangenden Innsigel / Geben in unser deß Reichs Statt Speyr / am dritten Tage deß Monats Aprilis / nach Christi unsers HERRN und Seligmachers Geburt / fünfftzehenhundert / und im vier und viertzigsten / unsers Keyserthumbs und vier und zwentzigsten / uns unserer Reich im neun und zwenzigsten Jahren.
Und uns darauff demüthiglich angeruffen / und gebetten / daß wir ihnen obgeschriebene Privilegien und Freyheit / als Römischer Keyser zu ernewern / zu confirmiren unnd zu bestetten / in massen auch hievor von weyland unserm lieben Herrn und Vattern Keyser Maximilianen dem Andern / hochmilter unnd Gottseliger Gedächtnuß / beschehen / gnädiglich geruheten.
Deß haben Wir angesehen solch ihr demüthig zimlich Bitt / und darumb mit wolbedachtem Muth / gutem Raht / und rechter Wissen / gemelter gemeiner Jüdischeit im heiligen Reich / obinserirte Keyser Carls Privilegien und Freyheiten / in allen iren Worten / Puncten / Clausuln / Artickeln / Innhaltungen / Meynungen und Begreiffungen / als Römischer Keyser / gnädiglichen ernewert / confirmirt bestett / Erneweren / confirmiren unnd bestetten ihnen die auch hiemit / von Römischer Keyserlicher Macht / Vollkommenheit / wissentlich / in Krafft diß Brieffs / was wir ihnen von Rechts und billigkeit wegen daran zu confirmiren / zu bestetten / und zu ernewern haben / cinfirmiren / bestetten / uund ernewern sollen / und mögen: Unnd meynen / setzen / und wollen / daß obinserirte weyland unsers Herrn Anherren Keysern Carls Privilegien und Freyheiten in allen und jeden ihren Worten / Puncten / Clausuln / Artickeln / Inhaltungen / Meynungen und Begreiffungen / kräfftig unnd mächtig seyn / stett / fest und unverbrüchlich gehalten und vollzogen werden / Unnd sich gemelte gemeine Jüdischeit / in gemein und insonderheit desselben alles ihres Inhalts frewen / gebrauchen / und geniessen sollen unnd mögen / von allermenniglich unverhindert.
Ob auch hieruber auß Vergessenheit / oder auff jemands ungestüm anhalten / von Uns / oder unsern Nachkommen am Reich etwas / das obinserirten Freyheiten zu wider seyn möcht / außgehen würde / Deßgleichen / wo denen zu wider einige Verträg / oder anders / ohn unser Wissen unnd Bewilligung auffgericht / oder fürgenommen weren / oder würden / das alles soll unkräfftig / unbündig / und von Unwürden / und gemelter gemeiner Jüdischeit an obgeschriebenen Privilegien unschädlich seyn / wie wir denn solches alles und jedes hiemit von obberührter unserer Keyserlichen Macht / Vollkommenheit / jetzt als dann / und dann als jetzt / auffheben / cassiren / abthun / vernichten / von Unwürden und Unkräfften erkennen / in Krafft diß Brieffs.
Unnd gebieten darauff allen und jeglichen Churfürsten / Fürsten / Geistlichen und Weltlichen / Prelaten / Grauen / Freyen / Herrn / Rittern / Knechten / Hauptleuthen / Landvögten / Bitzthumben / Vögten /
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Vögten / Pflegern / Verwesern / Amptleuthen / Schultheyssen / Bürgermeistern / Richtern / Rähten / Bürgern / Gemeinden / und sonst allen andern / unsern und deß Reichs Underthanen / und Getrewen / was Würden / Stands / oder Wesens die seyen / gegenwertigen und künfftigen / ernstlich mit diesem Brieffe / und wollen / daß sie gemelt gemein Jüdischeit / in gemein / unnd sonderheit / bei obgeschriebenen Keyser Carols Privilegien und Freyheiten / und dieser unser Keyserlichen Confirmation / Bestettigung und Ernewerung / gerühiglich bleiben / deren unverhindert frewen / gebrauchen / und geniessen lassen / auch von unser und deß Reichs wegen dabey handhaben / schützen und schirmen / und sie daran nich irren noch verhindern / auch hierwider nicht thun / noch deß jemands andern zu thun gestatten / in kein weiß noch weg / als lieb einem jeden sey / unser / und deß Reichs schwere Ungnad und Straff / und darzu ein Peen / nemlich sechtzig Marck löthigs Golds zu vermeiden / die ein jeder / so offt er freffentlich hierwider thete / Uns halb in unser deß Reichs Cammer / un den andern halben Theil gemeiner Jüdischeit / und denen / so hierwider beleydiget würden / unabläßlich zu bezahlen verfallen seyn solle.
Mit Urkundt dieses Brieffs besiegelt mit unsern Keyserlichen anhangenden Innsiegel.
Geben in unser Statt Preßlaw / den fünfftzehenden Tag des Monats Junii / nach Christi unsern lieben HERRN und Seligmachers Geburt / fünfftzehenhundert und im sieben und siebentzigsten / unserer Reich / des Römischen im andern / deß hungarischen im fünfften / und des Behaimischen auch im andern Jahr.
Rudolff.
Vice ac nomine Reuerendissimi Domini, Dn. Archiepiscopi, Archicancellarii & Electoris Moguntini
Ad mandarum Sacrae
Vt Vieheufer. Caes. Mtis proprium
P. Obernburger
Wir der Rath der Statt franckfurt am Mayn thun kundt und hiermit bekennen daß wir einen von dem Allerdurchleuchigstem großmechtigsten und [***] lichsten fursten und herrn, Herrn Rudolfs dem Andern erwehlten Römischen Kayser Zu Allen Zeiten Mehrer deß Reichs und unserm Allergnedigsten herrn, gemeiner im h(eiligen) Reich Allergnedigst gegebene Jüdischeit Confirmation, Brieff und Privilegium welches [***] bels weiß uff Wier Ergamene Blätter geschrieben und mit Ihrer Kayserlichen Maj(estät) An einer guldenen schnur und mit roth in gelb wachs getrucktem anhangendem Insigel versigelt gewesen An Ergamen Schrifften und Kay(serlichen) Insigel gantz unverseht und sonsten durchaus unargwöhnisch gesehen befund.
Auch uff deren Alhir wohnend Jüdischeit Unterthenige Demutige Bitte dieses gegenwertige Transumpt davon so dem original durchauß von worten zu worten gleichlauttendt davon Verfertigen und dessen Allen zu Urkundt unserer Statt Insigel zu ende dieses haben ufftrucken lassen. So geschehen den Ersten Monats Tag February im Sechsehenhundert und Achten Jahre.
Transkription von Christian Siekmann
1 Innsbrucker Judenprivileg Kaiser Karl V. vom 18. Mai 1530
2 Judenprivileg Kaiser Friedrich II., Juli 1236
Das Große Judenprivileg Kaiser Karl V., gegeben zu Speyer, 3. April 1544 [> Transkription]
Insert in einer Bestätigung dieser Privilegien durch Kaiser Rudolf II. zu Breslau am 15. Juni 1577, überliefert in einer gleichzeitigen Abschrift eines von der Stadt Frankfurt gefertigten und gesiegelten Transsumpts vom 1. Febr. 1608.
Regest
Kaiser Karl V. bekundet, daß sich die Juden des deutschen Reiches vor ihm zu Speyer darüber beklagt haben, daß man sie an ihrem Recht, sich gegen Klagen vor dem Kaiserlichen Kammergericht oder den in ihren Privilegien genannten Gerichten zu verantworten, hindert und sie "gewaltigelich, fraventlich und muetwillig an ihren persohnen, leiben, haab und güettern mit tottschlagen, rauben, wegfüren, außtreibung ihrer heußlichen wohnungen, versperung und zerstörung ierer schuellen und sinagogen, deßgleichen an gelaiten und zollen belaidigt und beschwerdt" und sie auf diese und andere Weise am Erwerb ihres Unterhalts hindert. An manchen Orten des Reiches werden die Juden "nit allain ierer haab und güetter entsetzt, geblündert und außgetriben, sondern auch ohne alle unser rechtliche erkhanndtnuß gefangen, gepeiniget, vertilgt und umb leib und guett" gebracht.
Deswegen erneuert Kaiser Karl den Schutz der Juden und bestätigt ihre Privilegien. Niemand soll fortan das Recht haben, ihre Schulen und Synagogen zu schließen, sie aus denselben zu vertreiben oder sie an ihrem Gebrauch zu hindern. Wer immer künftig Jude oder Jüdin dem verkündeten kaiserlichen Landfrieden zuwider am Leben oder an Hab und Gut schädigt, ihn heimlich oder öffentlich beraubt, soll von jeder Obrigkeit und auf Anrufen eines jeden der Landfriedensordnung gemäß gestraft werden. In Kriegs- wie in Friedenszeiten soll jeder Jude das Recht haben, seinen Geschäften im Reich zu Wasser und zu Land nachzugehen, und jede Obrigkeit ist gehalten, ihm Geleit zu gewähren und ihn mit Zoll- oder Mautgeld nicht mehr als herkömmlich ist zu beschweren. Die Juden sind nicht verpflichtet, bei ihren Reisen außerhalb ihrer Wohnorte oder der Orte, durch die sie ziehen, "judische zeichen" zu tragen. Ohne ausdrückliche Zustimmung des Kaisers soll kein Jude von seinem Wohnort vertrieben werden, wie dies bereits das am 18. Mai 1530 zu Innsbruck erlassene kaiserliche Privileg [1] festlegt.
Da die Juden höher besteuert werden als die Christen, im Gegensatz zu diesen aber weder liegende Güter noch "statliche handtierung, ampter oder handtwerkh" haben und die Abgaben nur von dem, "so sy von ieren parrschafften zuwegen bringen", bestreiten können, so wird ihnen gestattet, daß sie "iere paarschafften und zinß ... umb sovill desto höcher und etwaß weitters und mehrers, dann den cristen zuegelassen ist, anlegen". Ohne hinreichende Beweise und Zeugen ist jedem untersagt, die Juden des Gebrauchs von Christenblut zu beschuldigen oder einen Juden deswegen gefangenzunehmen, zu foltern oder hinzurichten, denn diese Verdächtigung wurde bereits durch die Päpste verworfen und durch eine Deklaration Kaiser Friedrichs [2] untersagt. Wo solche Beschuldigungen erhoben werden, sind sie vor den Kaiser zu bringen. Verstöße gegen dieses Privileg werden mit 50 Mark lötigen Goldes geahndet, die halb der kaiserlichen Kammerkasse, halb der geschädigten Judenschaft zu zahlen sind.
Regest zit. nach Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267-1600, Bd. 1, Wiesbaden 1989, S. 393-394
[1] Innsbrucker Judenprivileg Kaiser Karl V. vom 18. Mai 1530.
[2] Judenprivileg Kaiser Friedrich II., Juli 1236 siehe Dokument>
Augsburger Judenprivileg Karl V., auf Klagen des Joseph von Rossum [Josel von Rosheim] unter Bestätigung des Judenprivilegs von Speyer 1544, gegeben am 30. Januar 1548
Als Kaiser Karl V. dieses Privileg bestätigte, befand er sich auf der Höhe seiner Macht. Er konnte in den Jahren zuvor die Grenzen seines Reiches vor einer auswärtigen Gefahr sichern, indem er einen Vertrag mit den Türken abschloss, der den Krieg vorübergehend beendete. Zeitgleich konnte er Franz I. von Frankreich militärisch besiegen und diesen im Frieden von Crépy dazu zwingen, sein Bündnis mit den Türken aufzugeben. Auch nach innen konnte der Kaiser seine Macht festigen und ausbauen. Sein Sieg im Schmalkaldischen Krieg und die Gefangennahme der Anführer der Protestanten, Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen, brachte ihn in eine sehr günstige Position, aus der er auf dem Reichstag in Augsburg 1548 seine kirchenpolitischen Vorstellungen weitgehend durchsetzen konnte. Unter anderem gelang es ihm, „mit der Kircheneinheit und Kirchenreform auch das Verhältnis zu der Judenschaft des Reiches auf der Basis des kanonischen Rechts zu klären“.
Diese Macht schlug sich vor allem in den verabschiedeten Bestimmungen der Reichspolizeiordnung dieses Reichstags nieder, die dann zum ersten Mal das Geldgeschäft auf Reichsebene rechtlich erlaubte. Aber auch die Bestätigung des Privilegs von 1544 kann zugleich als Anzeichen dafür angesehen werden, dass der Kaiser darauf vertraute, dass sein Befehl nun aufgrund der veränderten politischen Situation und aufgrund seiner dazu gewonnenen Macht befolgt würde.
Wortlaut des Privilegs:
Wir Karl der fünft, von Gotts gn. röm. kaiser , zu allen zeiten merer des reichs, in Germ., zu Hisp., baider Sicil., Jherus., Hung., Dalm., Croat. etc. kunig, erzherzog zu Osterr., herzog zu Burg. etc., grave zu Hapsp., Fland. u. Tyrol etc., empieten allen und jegl. churfürsten, fürsten, gaistlichen u. weltl., prelaten, graven, freien, herren, rittern, knechten, hauptl., landvögten, vitzthumben, vögten, pflegern, verwesern, amtl., schulth., burgerm., richtern, räthen, burgern, gemeinden und sunst allen andern unsern und des reichs underth. und getreuen, in was wirden, stadts oder wesens die sein, den diser unser brief od. glaubwird. abschrift davon fürkumt, damit ersucht und ermanet werden, unser gnad und alles guts. Hoch- und ehrwirdigen, hochgebornen lieben freund, neven, ohaimen, churfürsten und fürsten, wolgebornen, edlen, ersamen, andächtigen und lieben getreuen!
Uns hat Josel jud von Rosshaim, unser gemainer jüdisch. im hail. reiche teutscher nation bevelchhaber, clagsweis fürgebracht, wie das etliche juden über und wider ire freihaiten, privilegien, schutz, schirm und glait, damit si von bäpsten, gemainen concilien, unsern vorfarn am reiche, röm. kaisern u. künigen, säliger u. lobt. gedächtnus, uns u. dem hail. reiche gnädigl. begabt und fürsehen weren, auch unsern und des hail. reichs aufgerichten landfriden, und sonder]. auch wider unser kais. mandat, derselben unserer gern. jüdisch. halben auf unserm nächstgehaltenem reichstag zu Speyr des 44. jars1 der mindern jarzal ausgangen, uber das, so ainem jeden, so spruch und vorderung zu inen samtlich oder sonderl. zu haben vermaint, vor uns, unserm kais. cammergericht od. an den enden, da sich dasselb gebüre, rechtens nie vorgewesen und noch nit seien, gewaltiglich, fürneml. auf unser und des hail. reichs strassen, und auch in etl. stetten, märkten und dörfern an iren leiben, haben u. gütern mit mörden, todschlagen, rauben, wegfüren, gefengnus, austreibung irer heusl. wonungen, zerstörung und versperrung irer sinagogcn und schulen, auch an glait- und zollgelt merklichen beschedigt, helaidiget, beschwärt und gestaigert werden. Und wiewol sie etlich aus euch diemütigl. angerufen u. gebeten, gegen denen, so sie also beschedigt und beschwärt, nach vermüg des reichs landfridens, unser schutz, schirm und glaits zu handlen, auch bei iren freihaiten, privilegien, schutz, schirm und glait beleihen und sie darüber obbemelter massen nit dringen oder belaidigen zu lassen, so haben sie doch bei euern ains teils dasselb nit bekommen noch erlangen mögen. Das gemainer jüdisch. zu merkl. beschwärung, schaden und nachtail reichte, und sich des gegen uns abermals höchl. beschwärt und uns darauf diemüt.igl. angerufen und gebeten, gemainer jüdisch. hierin mit unser kais. hilf gnädigl. zu erscheinen, die zu schützen und zu schirmen. Und dieweil uns dann als röm. kaiser gebart, ainen jeden bei recht und seinen habend. freihaiten zu handhaben und vor unbilliebem gewalt zu schützen u. zu verhüten, des auch zu thun genzl. gemaint sein, und darauf die gemelt jüdisch. hievor in unsern u. des hail. reichs schutz und schirm genommen und ine unser u. des reichs freie sicherh. und glait für gewalt u. zu, recht gegeben haben laut unsers briefs, darüber ausgangen:
Demnach gebieten wir euch allen und euer jedem insonders bei vermeidung unser u. des reichs schwären ungnod und straf u. den peenen, in jetz gedachtem unserm schutz, schirm und glaitbrief u. der jüdisch. freihaiten u. privilegien begriffen, von röm. kais. macht ernstl. mit disem brief und wöllen, das ir dieselb unser gern. jüdisch. samentl. u. sonderl.'bei ohbestimten bäpstl., gemainer concilien, aller unserer vorfarn am reiche u. desselben zugethanen fürstenthurnben, grafschaften, hersch., landen, stetten u. gebieten sicher handlen u. wandlen lasset u. darüber ir leib, hab od. güter nicht. beschediget od. belaidiget, auch in gemaine od. sonderh. von iren heusl. wonungen,. schulen u. sinagogen aigenthätlichs fürnemens nit treibet, noch. die zerstöret od. versperret, auch si mit neuem, ungewonl. zoll u. glaitgelt u. sonst in ander weg wider alt herkommen, recht u. billichait nit beschwäret, dringet od. staigert, noch jemands andern zu thun bevelhet, schaffet od. gestattet, auch den thätern, so also dieselb jüdisch. samtl. od. sonderl. wid. des reichs landfriden, unser kais. schutz, schirm u. glait u. disem unserm gebot u. mandat an irem leib, hab od. güte angreifen, vergwaltigen, u. beschedigen wurden, kaine hilf, fürschub . noch beistand, haiml. noch offentl., nit beweiset, in kain weise noch wege, als lieb euch u. ainem jeden seie obberürte peen u. straf zu vermeiden. Das mainen wir ernstl. Mit. urk. ditz briefs besieg. mit unserm kais. aufgetrucktem insieg.
Geben in unser u. d. reichs st. Augspurg am 30. januarii 1548 etc.
Carolus, Ad m. Cass. et Cath. maiest. pr. Jo. Obernburger.
Vt Max. Archidux.
Vt E. A. Berenot.
gedr. mit Siegel, Bez.-Arch. Strassburg, C. 78.
Gedruckt bei: Ludwig Feilchenfeld, Rabbi Josel von Rosheim. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter, Straßburg 1898, Dok. XXIII., S. 195-196
Lit.: Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Bd. I: Von den Anfängen bis 1650, Darmstadt 1990 (2. Aufl. 2000), S. 188-190 (mit sw. Abb.)
1 Das Große Judenprivileg Kaiser Karl V., gegeben zu Speyer, 3. April 1544 > Dokument
In der Politik der frühneuzeitlichen Staaten herrschten einige Vorstellungen von der besten Ordnung der Gesellschaft vor. Diese Vorstellungen trugen zur Herausbildung des Territorialstaates und zur Verfestigung der ständisch strukturierten Gesellschaft bei. Eine der zentralen Vorstellung war die von der guten Polizei.
Mit der guten Polizei sind die Ordnungs- und Polizeigesetzgebungen gemeint, in die die Normen und Regelungen gefasst wurden, welche die Bevölkerung in den Territorien zu einer „sesshaften, ständisch gegliederten, konfessionell homogenen, sozial- disziplinierten Untertanengesellschaft“ formieren sollten. [1] Eine herausragende Rolle spielten hier die Reichspolizeiordnungen (RPO). Sie waren nämlich ein „umfassende[s], reichsweit geltende[s] Polizeigesetz […], das [...] thematisch und inhaltlich den Rahmen für die Polizeigesetzgebung der einzelnen Reichsterritorien und auch der lokalen Ordnungstätigkeit aufzeigte“. [2] Dass die Reichspolizeiordnungen noch innerhalb der konfessionellen Streitigkeiten im 16. Jahrhundert verfasst und verabschiedet wurden, weist auf einen gewissen Konsens hin in Fragen der besten Ordnung für Stadt beziehungsweise Staat und Gesellschaft. Ohne diesen Konsens wäre auch keine Umsetzung und Durchführung der reichspolizeilichen Normen seitens der Obrigkeit zu erwarten gewesen. [3]
Die Reichspolizeiordnung von 1530 war die erste überhaupt, die für das gesamte Reich Geltung beanspruchte. Die folgenden Reichspolizeiordnungen in den Jahren 1548 und 1577 ergänzten sie lediglich. Im Grunde genommen, kann man sagen, dass die RPOen als eine Art „Grundgesetz“ bis zum Ende des Reichs im Jahr 1806 in Kraft blieben. Sie waren „Rechtsgebote und herrschaftliche Pflichten- und Fürsorgeordnungen, die nahezu alle Gesellschafts- und Lebensbereiche eines Gemeinwesens im Hinblick auf die Bewahrung und Herstellung eines Zustandes guter Ordnung einer sozialen Steuerung unterwarfen, aber auch Stabilität, Sicherheit und Wohlfahrt gewährleisten sollten“. [4] In der Vorstellung der Obrigkeiten war die Schaffung der guten Polizei deswegen in der Regel durch die Beseitigung von Störfaktoren und Missständen zu erreichen. [5]
Sowohl die Reglementierung der Geldgeschäfte der Juden als auch ihre Abgrenzung von der christlichen Gesellschaft wurden im Rahmen der RPO als Aufgabe der Obrigkeiten angesehen und behandelt. Deswegen verabschiedeten die auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 versammelten Stände und Fürsten zwei Artikel, die sich mit den Juden befassten. Der erste Artikel (Art. 22) beschäftigte sich mit Kleidungsordnungen, welche eine wichtige Rolle bei der Ausgrenzung zwischen den verschiedenen Ständen spielten. Jeden Stand hatte eine standesgemäße Kleidung zu tragen, die ihn von den anderen unterscheidet. Da man wollte, dass die Juden vom Rest der Gesellschaft unterscheidbar wären, sah man sich dazu genötigt, einen weiteren Paragraph hinzuzufügen, mit dem die Kennzeichnung der Juden festgeschrieben wurde. In der RPO von 1548 jedoch behandelte man die Kleidung der Juden nicht mehr gesondert von der der anderen.
Der zweite Artikel (Art. 27) beschäftigte sich mit den jüdischen Geldgeschäften. Man muss hier anmerken, dass schon Artikel 26 dieser RPO, der insgesamt acht Paragraphe beinhaltete, ausführlich von wucherlichen Geschäften handelte. Auch hier sah man sich jedoch gezwungen, sich mit dem jüdischen „Wucher“ gesondert auseinanderzusetzen. Denn die Juden unterlagen nicht dem kanonischen Wucherverbot. Deswegen war ihnen seit einigen Jahrhunderten die Zinsnahme und soger die Hehlerei [6] gestattet.
Man beschloss Juden, welche wucherten, nicht mehr zu dulden, und diejenigen, die geduldet wurden, sollen durch ihre Obrigkeiten vom Wucher abgehalten werden. Zudem einigte man sich darauf, das Hehlereirecht abzuschaffen. Aus diesen Bestimmungen ist zu entnehmen, dass die Stimmung gegenüber der Juden ungünstig war. Diese Stimmung animierte wiederum Josel von Rosheim, sich der Sache anzunehmen und zusammen mit anderen Vertretern der Juden im Reich ein Dokument zu verabschieden, das die jüdischen Geldgeschäften regeln soll.
Bereits 1532 wurde allerdings das Verbot des Judenwuchers eingeschränkt. Darüber hinaus war ein generelles Verbot der Kreditgeschäfte gleich mit einer Vernichtung der Existenzgrundlage der Juden. Aus diesem Grund stellte Kaiser Karl V. die Reichsstände vor die Wahl, entweder wolle man die Juden aus dem Reich vertreiben, oder sollte man den Reichsständen, die Judenregale besassen, das Recht einräumen, Judenordnung zu erlassen und den Aufenthalt von Juden in den eigenen Territorien zu gestatten auch dann, wenn sie wucherten, solange aber keine Untertanen „jämmerlich beschwert und verderbt“ werden. Man entschied sich für die zweite Lösung und verabschiedete Bestimmungen, die das jüdische Geldgeschäft beschränkte. Danach war es den Juden gestattet, ein Zinssatz von maximal fünf Prozent zu verlangen. Zudem mussten Schuldverschreibungen nur auf Deutsch abgefasst werden und durften an keinen Christen weiterverkauft werden. Lediglich das Hehlereiverbot wurde uneingeschränkt beibehalten. Diese Regelung wurde in der RPO von 1548 festgeschrieben [7] und in den RPO von 1577 ausführlich beschrieben.
Die Wichtigkeit der RPOen für die Judengesetzgebung der Neuzeit lag vor allem darin, einen wichtigen Anstoß für die Judenordnungen der verschiedenen Territorien gegeben zu haben. Dadurch wurde eine rechtliche Besserstellung der Juden erreicht, weil sie nicht mehr einer rechtlichen Willkür ausgesetzt wurden. Dass diese rechtliche Besserstellung nicht immer eine Verbesserung der Lebenssituation der Juden mit sich brachte, zeigen Beispiele wie die Judenordnung Landgraf Philipps von Hessen, die das Leben der Juden dort so erschwerte, dass Josel von Rosheim ihnen eine Trostschrift verfassen musste.
[1] Härter, Recht und Migration, S. 52.
[2] Weber, Reichspolizeiordnungen, S. 13.
[3] Härter, Entwicklung und Funktion, S. 88.
[4] Ebd. S. 63.
[5] Vgl. ebd. S. 42.
[6] Siehe Einleitung zum Dokument: Artikel und Ordnung
[7] Härter, Entwicklung und Funktion, S. 81f. und 126.
Literatur:
Karl Härter, Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 16. Jahrhundert, in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, XX, 1993, S. 61-141.
Härter, Karl, Recht und Migration in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Reglementierung – Diskriminierung – Verrechtlichung, in: Rosmarie Beier- de Haan (Hg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005, Berlin 2005, S. 50-71.
Weber, Matthias, Die Reichspolizeiordnung von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition, Frankfurt (M) 2002.
Aufgabe:
Vergleichen Sie die Bestimmungen der drei Polizeiordnungen (1530, 1548, 1577). Zeichnet sich darin eine Entwicklung zugunsten der Juden, zu deren ungunsten oder gar keine?
Die Bestimmungen der Reichspolizeiordnungen von Augsburg 1548 betreffend Juden
Aufgaben:
Vergleichen Sie die Bestimmungen dieser Reichspolizeiordnung mit dem Judenprivileg von 1544. Gibt es Übereinstimmungen zwischen beiden Dokumenten oder fallen Ihnen eher Unterschiede auf?
Was besagt dies über die Macht des Kaisers und seine Fähigkeit, seine Vorstellungen auf Reichsebene durchzusetzen?

Seit dem 16. Jahrhundert bestand in den verschiedenen Reichsterritorien die Tendenz, die rechtlichen Beziehungen der Untertanen untereinander und zur Obrigkeit zu regeln. Dies geschah über die Erarbeitung von umfassenden Landesordnungen bzw. Polizeiordnungen, mit denen man das zersplitterte, mittelalterliche Recht vereinheitlichte. Diese Ordnungen hingen sehr eng mit der Konsolidierung der sich herausbildenden Territorialstaaten zusammen. Es ging dabei also um „die Herstellung einer einheitsstiftenden Ordnung zur Objektivierung des Willens oder die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Herrschaftsausübung“ oder, anders gesagt, um eine normative Verfassung. Darin musste auch die Frage nach den Juden geregelt werden.
Die Juden galten zu dieser Zeit noch als Kammerknechte des Kaisers und unterstanden deswegen seinem direkten Schutz. Aber schon seit dem späten Mittelalter (14. und 15 Jh.) existierte die Praxis des Judenregals, das heißt die Übertragung der Judenrechte an Territorialherren. Die persönliche Schutzbeziehung wurde durch diese Praxis zunehmend zum Handelsobjekt. Das Judenregal wurde kommerzialisiert und zum Gegenstand politischer Verhandlungen oder zur Legitimation von Ausbeutungsmaßnahmen nutzbar gemacht, da man nur noch die Steuerkraft der Juden zur Aufbesserung der Staatseinnahmen instrumentalisierte. Allerdings verband sich die Praxis der Judenregale immer noch mit der Vorstellung der kaiserlichen Kammerknechtschaft, so dass man sich vor die Aufgabe gestellt sah, die Vielzahl von Einzelschutzbriefen, Privilegien und Statuten, die das Judenrecht bildeten, zu kodifizieren und zu vereinheitlichen. Darüber hinaus musste man das landesherrliche Judenregal sichern und für die Finanzverwaltung nutzbar machen. Das erforderte eine genaue Abgrenzung gegenüber den alten kaiserlichen Schutzrechten. Schließlich sah man sich im Rahmen der „guten Polizei“ dazu verpflichtet, die christlichen Untertanen sowohl in Sachen der Religion als auch in wirtschaftlichen Beziehungen vor der angeblichen Schädlichkeit der Juden zu schützen, so dass eine detaillierte Regelung erforderlich erschien.
Vor allem in protestantischen Territorien trugen die Herrscher und Obrigkeiten Sorge um das „geistliche Wohlergehen und den Lebenswandel der Untertanen und Bürger“. Zum einen versuchte man, die Juden, um ihres Seelenheils Willen, zu einem Übertritt zum Christentum zu bewegen. Zum anderen aber sollten sie in ihrer Religionsausübung beschränkt werden, damit die christliche Gesellschaft von ihnen nicht beeinflusst werden könnte und damit keine Übertritte zum Judentum stattfinden würden. Aus diesem Grund standen Bestimmungen zur Reinhaltung des christlichen Glaubens im Vordergrund der Judenordnungen.
Philipp der Großmutige von Hessen unterhielt eine keineswegs freundliche Beziehung zu den Juden in seinem Gebiet. Allerdings handelte es sich um eine humane Beziehung. Zwar verordnete er 1524, also relativ früh in seiner Regentschaft und noch bevor er sich der Reformation anschloss, dass keine Juden in seinem Territorium leben sollten. (Dokument Nr. 1 ) Dieser Verordnung wurde aber weder von den Juden noch von seinen Beamten Folge geleistet. Auch Philipp selbst drang nicht auf Erfüllung seiner Bestimmungen. Tatsache ist, dass im Jahre 1532 immer noch so viele Juden in Hessen lebten, dass er ein neues Mandat verabschiedete, in dem er eine Duldung der Juden in seiner Landgrafschaft für weitere sechs Jahre unter relativ einfachen Bedingungen gewährte (Dokument Nr. 2 ).
Als diese Frist 1538 abgelaufen war, nahm er die Frage nach der Duldung der Juden wieder auf. Die hessischen Geistlichen hatten schon 1532 Bedenken über die Duldung der Juden erhoben und diese wurden 1538 noch größer. Auch die landgräfliche Kanzlei befürwortete eine Ausweisung der Juden, zumal der Kurfürst von Sachsen Johann Friedrich schon zwei Jahre vorher, am 6. August 1536, den Juden die Ansiedlung in seinem Territorium und sogar die Durchreise durch sein Herrschaftsgebiet verboten hatte. (Siehe Dokument Nr. 9 im Ausstellungsraum über Luther )
Philipp wandte sich am 6. Juli 1538 an seinen Kanzler Feige und bat ihn darum, sich beim Straßburger Jakob Sturm zu erkundigen, wie man mit den Juden dort umginge. [1] Dieser leitete die Frage weiter an Martin Bucer, den Straßburger Reformator, der in Hessen zu dieser Zeit eine wichtige Rolle als Berater und Vermittler in der Täuferfrage und in der Abfassung der Ziegenhainer Zucht- und der Kasseler Kirchenordnung einnahm. Bucer verfasste infolge der Anfrage seinen Ratschlag, „ob Christlicher Oberkait gebüren müge, das sye die Juden vndter den Christen zu wonen gedulden, vnd wa sey zu gedulden, wölcher gstalt und maß“ (Dokument Nr. 3 ). Darin empfahl er dem Landgrafen den Juden eine Duldung zu gewähren. Allerdings sollte er ihnen solche Beschränkungen der religiösen und wirtschaftlichen Ausübung auferlegen, die es deutlich machen sollten, dass sie nicht das Haupt, das heißt die Übergeordneten unter den Untertanen und zwischen den beiden Religionen, sondern der Schwanz (=untergeordnet) seien.
Sein Gutachten legte Bucer einem Gremium von sechs führenden Vertretern der hessischen Geistlichkeit vor, die das Dokument mit ihren Unterschriften segneten und Anfang Dezember 1538 dem Landgrafen überreichten. Philipp Antwortete am 23. Dezember auf den Ratschlag in einem Brief. (Dokument Nr. 4 ) Darin vertrat er eine gegensätzliche Auffassung zu der der Gelehrten. Seiner Meinung nach stünde es nirgends in der Bibel, dass man die Juden diskriminiert halten solle. Vielmehr beklagte er, dass so eine Behandlung der Juden nicht human sei und dass es besser wäre, die Juden zu vertreiben als sie so zu behandeln. Er beabsichtige aber den Juden noch ein bis zwei Jahre einen Aufenthalt zu gewähren, bevor er entscheide, wie er weiter verhandeln wolle. Dem Schreiben fügte er einen Entwurf für eine Judenordnung hinzu, der begutachtet werden sollte. Darin waren im Grunde genommen die Bedingungen aufgelistet, unter denen den Juden die Duldung gewährleistet werden sollte. (Dokument Nr. 5 )
Den Juden in Hessen gelang es, sich sowohl das Gutachten Bucers als auch den Antwortbrief Philipps zu verschaffen. Sie veröffentlichten beide Dokumente, wobei der Brief Philipps als Widerlegung des Ratschlags diente. Gleichzeitig überreichten sie an Philipp den Großmutigen ihre Stellungnahme zum Entwurf der Judenordnung. Damit versuchten sie, ihren Standpunkt zu erläutern und den Landgrafen dazu zu bewegen, manche Artikel zu ändern. (Dokument Nr. 6 ).
Die um die Mitte des Jahres 1539 erlassene Judenordnung (Dokument Nr. 7 ) berücksichtigte dennoch die Wünsche der Juden nicht. Allerdings wurden auch Bucers Hauptforderungen nicht erfüllt. Auch ohne die Erfüllung dieser Forderungen blieb die Situation der Juden infolge der Ordnung schwer genug, zumal Bucer seinen Ratschlag zum Druck gab, nicht bevor er noch einen Brief an einen ungenannten Freund hinzutat, in dem er auf der einen Seite sein Gutachten verteidigte, auf der anderen gegen die Juden scharf polemisierte. In dieser neuen Situation wandten sich die hessischen Juden an Josel von Rosheim, der als Hauptfürsprecher der Juden im Reich galt, damit er ihnen Hilfe leistete. Josel verfasste daraufhin sein „Trostbüchlein“, in dem er die in Bucers Brief erhobenen Vorwürfe gegen die Juden entkräftete und den hessischen Juden Trost und Mut zum Aushalten aussprach. (Siehe den Ausstellungsraum über Josel von Rosheim ).
Die Judenordnung Philipps des Großmutigen gilt, zusammen mit der Ordnung des Kurfürsten Ludwigs V. von der Pfalz von 1515, als eine der ersten umfassenden judenrechtlichen Kodifikationen. Sie war auch der Ausgangpunkt aller späteren rechtlichen Regelungen in Hessen und nahm Einfluss auf deren Gestaltung. Und, obwohl man offensichtlich nicht an ihren Bestimmungen festhielt und diese nicht, wie vom Landgrafen und der Geistlichkeit erwartet, umsetzte, – so klagte Philipp 1543 und verschärfte infolgedessen manche Bestimmungen (Dokument Nr. 8 ) – war diese Judenordnung ein Grund für die Auswanderung vieler Juden aus Hessen. So erfährt man aus einem Edikt von 1545, das dann den Handel mit auswärtigen bzw. ausgewanderten Juden verbietet. (Dokument Nr. 9 )
Obwohl die hessische Judenordnung von 1539 nicht zu den restriktivsten Maßnahmen gehörte, die in diesen Jahren in anderen Territorien und Städten verabschiedet wurden, lässt sich in ihren Bestimmungen die allgemeine antijüdische Stimmung wiedererkennen, die aus Luthers späten Schriften anklang. Die Verschärfungen der Bestimmungen in den folgenden Jahren machen dies noch deutlicher. Nur die Rolle der Juden als Einnahmequelle blieb in den Augen des Herrschers unverändert, wie die Landtagsabschiede von 20. März 1557 (Dokument Nr. 10 ) und 29. Mai 1566 (Dokument Nr. 11 ) veranschaulichen.
Avraham Siluk
[1] Offensichtlich wusste Philipp nicht, dass sich schon 1388 die Juden aus der Stadt vertrieben wurden und dass seitdem kein Jude in der Stadt wohnen oder sogar übernachten durfte.
Literatur:
Friedrich Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt, Wiesbaden 1987.
Martin Bucer, Schriften der Jahre 1538 – 1539, Hrsg. von Robert Stupperich, Gütersloh 1964.
Uta Löwenstein, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg 1267-1600, Bd. 1, Wiesbaden 1989.
Verordnung Landgraf Philipps, u. a. über den Aufenthalt von Juden in den hessischen Ämtern und das Geleit für fremde Juden, Kassel 18. Juli 1524
Späterer Druck: Kleinschmidt 1, S. 47-49 Nr. 13.
Lieber getrewer. (...) Du sollt auch in unserm Ambt keynen Juden wonen lassen, und den Edelleuten, so bey dyr in deynem Ampt oder nahe dabey sitzen, ansagen, das sie sich dergleychen halten, desgleichen auch yren Juden verpieten, sich in unserm Furstemthumb Landen oder Gepieten nicht betreten zu lassen, und denselben unser Sicherheyt und Gleyt aufsagen, und wo du die oder andere gesessen Juden in deynem Ambt ankomest, sie zymlich strafest und zum Lande ausweysest, verloben und verschweren lassest. Doch sollen die Juden, so im Furstenthumb und Gepieten nicht gesessen und sunst unser Strassen brauchen, auf yren gewonlichen Zoll zu passeren Sicherheyt und Gleyt haben one Geverde.
Und hyerauf bevelhen wyr dyr bey denen Pflichten, sollichs alles samptlich und sonderlich, stragks und vest zu halten und zu handthaben, als unser Vertrauen zu dyr steet, in Hoffnung, der Almechtig Gott, so wyr dyß also halten, werde uns und allen unsern Underthanen desto gnediger und barmhertziger seyn.
Datum Cassel montags nach Margarethe anno domini millesimo quingentesimo vicesimo quarto.
Erlass des Landgrafen Philipp von Hessen von 28. Mai 1532, in dem er die Duldung der Juden in seinem Territorium für weitere sechs Jahre ausspricht
Dieses Dokument gehört zur Vorgeschichte des hessischen Judenordnung von 1539. Die Auseinandersetzungen um eine Entscheidung, ob man die Juden in seinem Territorium dulden soll, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, begann kurz, bevor die Gültigkeit dieses Erlasses abgelaufen war.
Wortlaut des Dokuments:
Wir, Philips von Gotsgenaden Landgraue zw Hessen, Graue zw Katzenelnpogen etc., thůn künth vnd bekennen hiemit diessem vnserm briue offentlich gegen meniglichen, das wir allen vnd jeden Jůden, so jn vnserm Fůrstenthůmb, Landen vnd gepieten seßhafftigh, vffs new Sechs jare langh nach dato diess birefs sich anfahendt vnther vns zůenthalten [sich aufhalten], jrer notturft nach hyn vnd widder zwreysen, zw handeln, zw wabern [Hin- und herziehen] vnd zwwandren genediglich gegönth vnd zůgelassen haben.
Thün das hiemit in crafft diess briefs also, das sie fridlich vnther vns wonen, vnd sie niemandts wider recht beleidigen sollen. Darauff hiemit allen vnd jeden vnsern Amptleůthen beuelhendt, ob jnen zwhalten vnd vor gewalt zw schutzen, mitt dem gedinge [unter der Bedingung], das sie sich wuchers enthalten vnd vnsere vnderthane jmselbigen mit vnzimlichen contracten vnd gedingen [Vertrag] mit beschweren sollen. Wa es daruber einer ader mehr thetten, sol dem ader denselbigen weitter nichts dann das außgelauhen Haubtgelt [Kapital] widderůmb zugestelt vnd bezalt werden. Vnd des zw vrkundth haben wir vnser Secrett [Geheimsiegel] wissentlich hieran thůn hencken.
Datum Cassell, Dinstags nach Trinitatis [28. Mai]. Anno dni funffzehenhůndert dreissigh vnd zwey.
Transkription zit. nach: Martin Bucer, Deutsche Schriften, Bd. 7, Schriften der Jahre 1538/9, Gütersloh 1964, S. 377.
Martin Bucers Ratschlag zur Duldung der Juden in Hessen und darauf erlassene Judenordnung, 13. Dezember 1538 - Anfang 1539
Landgraf Philipp von Hessen schickt an Statthalter, Kanzler und Räte zu Kassel am 13. Dezember 1538 die Stellungnahme der hessischen Juden zu Bucers Bedenken hinsichtlich ihrer Duldung. Ihm erscheinen die vorgelegten Artikel "nit ungleichmessig". Er schlägt vor, sofern die Räte keine Einwände haben, die Juden ein oder zwei Jahre zu den von ihnen genannten Bedingungen zu dulden und zu sehen, wie sie sich halten, zumal er erfahren hat, daß die hessischen Juden den Untertanen "mer liebs und guts mit leihen und vorstrecken gethan und weniger wuchers gnommen, dan wol etwa di christen". Auch gibt die Bibel keinen Hinweis, daß man die Juden ganz vertreiben soll.
Am 18. Dezember bestätigen die Räte dem Landgrafen den Empfang der "articul, die judden belangend", die sie den Gelehrten übergeben haben, und übersenden den daraufhin von diesen verfaßten "raitschlag", mit dem sie sich einverstanden erklären. Beigefügt ist ein von sechs hessischen Geistlichen mitunterzeichnetes Gutachten Bucers, in dem sich dieser nach eingehenden juristischen und theologischen Erörterungen für die Vertreibung der Juden ausspricht, im Falle einer Duldung aber strengste Auflagen empfiehlt (Verbot aller Handels- und Leihgeschäfte und des Wuchers, kein Synagogenneubau, keine Glaubensdisputationen mit Christen, aber Besuch christlicher Predigten).
Am 23. Dezember erklärt Landgraf Philipp, daß ihm diese Auflagen zu hart erscheinen, da die Juden unter solchen Bedingungen nicht in Hessen leben können. Er fordert ein neues Gutachten, damit den Juden endlich mitgeteilt werden kann, ob sie bleiben können oder abziehen müssen.
Der darauf verfaßte Entwurf einer hessischen Judenordnung macht in elf Artikeln unter anderem folgende Auflagen: Keine Verpflichtung der Juden durch ihre Rabbiner auf die Gesetze des Talmud, der nur vom Übertritt zum Christentum abhält; kein Synagogenneubau; keine Glaubensdiskussionen mit Christen, ausgenommen besonders dazu ausgewählte Priester; Besuch christlicher Predigten; Kauf und Verkauf von Waren nur in Abstimmung mit den Zünften; kein Wucher; Geldverleih nur unter amtlicher Aufsicht, wenn es sich um mehr als 1 fl. handelt; keine Beamtenbestechung; Ernennung von Juden, die die Einhaltung dieser Ordnung überwachen und Verstöße nach ihren Gesetzen ahnden; Zahlung des Schutzgeldes.
Bucer heißt diese Artikel mit Schreiben vom 27. Dezember gut, betont aber, daß sich die Juden wegen ihres Unglaubens unbedingt den Christen unterzuordnen haben. Man soll ihnen aber den Handel untersagen, da sie sich kein Gewissen daraus machen, die Christen zu betrügen, und das Kaufen und Verkaufen die Leute ohnedies "zu junckern machet auß frembder arbeyt". Statt dessen sollte man eine Arbeit finden und ihnen verordnen, von der sie sich nähren können.
Der Entwurf wird den Juden durch Lazarus mitgeteilt, und sie erklären darauf, daß es ihnen unmöglich ist, "den talhmuth verschweren und eigentlich nach dem gesetz und propheten leben", weil dazu niemand in der Lage ist. Allerdings gibt es in Hessen keinen Juden, der den Talmud versteht oder besitzt. Man wird aber nachforschen lassen, und falls sich doch ein Talmud in Hessen findet, diesen den Gelehrten des Landgrafen übergeben, damit sie selbst beurteilen können, ob etwas Unrechtes darin steht. Die Juden bitten, sie vom Besuch christlicher Predigten freizustellen. Auch die Auflagen hinsichtlich des Geldverleihs erscheinen ihnen so hart, daß auch ein Christ sie nicht halten könnte. Das Verbot der Beamtenbestechung wollen die Juden ein-halten, aber nicht beschwören, denn "bei uns judden nit gebrauchlich ist, in solchen fellen so leichtlich eyde zu thun". Die Juden bitten, ihnen das Schutzgeld nicht zu erhöhen.
Darauf erläßt Landgraf Philipp Anfang 1539 die folgende Judenordnung:
1. Die Juden sollen die christliche Religion nicht lästern und sich ihrerseits an die von Moses und den Propheten gegebenen Gebote halten, auch die Ihren mit keiner "satzunge irer talmudischen lerer, welche dem gesetz und den propheten nit gemeß seien", beschweren, um gutherzige Juden nicht vom Übertritt zum Christentum abzuhalten.
2. Es sollen keine neuen Synagogen gebaut und die alten "mit aller stille" gebraucht werden.
3. Disputation über ihre Religion sollen die Juden nur mit besonders dazu bestimmten Predigern führen.
4. Sie sollen samt Weibern und Kindern zu den besonders dazu bestimmten Predigern kommen, um deren Predigten zu hören.
5. Sie sollen in "zimlicher weise" kaufen und verkaufen, doch nur in Städten und Orten, wo keine Zünfte sind oder die Zünfte sie dulden. Der Preis ihrer Waren ist zuvor durch Beamte, Bürgermeister oder Rat festzulegen.
6. Bei angedrohter Strafe und dem Verlust aller Güter sollen die Juden keinen betrügerischen Handel treiben. Wer solches entdeckt und anzeigt, soll den 10. Pfennig von dem verfallenen Gut erhalten.
7. Wucher ist untersagt. Verleihen sie 1 fl. oder mehr, soll dies nur im Beisein landgräflicher Beamter oder des Rats geschehen. Der erlaubte Zinssatz beträgt 5 % oder soviel wie man den Christen gibt. Nimmt ein Jude höhere Zinsen, soll er die ausgeliehene Summe und die Hälfte seines Besitzes verlieren und mit vier Wochen Turmhaft bestraft werden. Vier-zehn Tage Turmhaft, Verlust des halben Besitzes und der ausgeliehenen Summe sowie einer gleichhohen Summe, die halb dem Rat, halb den landgräflichen Beamten zu zahlen ist, droht, wenn ein Jude einer Frau Geld ohne Wissen ihres Mannes oder einem Mann Geld ohne Wissen seiner Frau und ohne Billigung der Amtleute leiht.
8. Die Juden sollen schwören, daß sie keinen Bürger, Beamten oder Ratsherren bestechen.
9. Die Todesstrafe hat verwirkt, wer ein Christenweib schändet oder beschläft.
10. Die Juden haben sich nach der Herkunft der von ihnen gekauften oder beliehenen Waren genau zu erkundigen, da ihnen bei Erwerb oder Beleihung von gestohlenem Gut die Todesstrafe droht.
11. Auswärtigen Juden ist jeder Handel in Hessen untersagt.
12. Beamte, Bürgermeister und Rat sind gehalten, für die Einhaltung dieser Ordnung zu sorgen.
13. Die Juden können eigene Beauftragte ernennen, die neben den Amtsknechten für die Einhaltung der Ordnung sorgen.
14. Das Schutzgeld wird nach Vereinbarung und Vermögen bezahlt.
Quellennachweis:
Sign.: 3 PA Nr.2923 S.128-132; 17 I Alte Kasseler Räte Nr.80 B1.3-9, 12-36; 86 Hanauer Nachträge d Nr.611.
Druck: Kohls, Judenratschlag S.342-361, 379-390; Druck der Judenordnung: Landesordnungen, Bd.1 S.120-121; vgl. auch Lenz, Briefwechsel, Bd.1 S.59f; Salfeld, Judenpolitik, S.533. Zu den Erneuerungen der Judenordnung 1543 und 1545 vgl. Günther, Bilder aus der hess. Vorzeit, S. 78ff. und Hess. Landesordnungen, Bd.1 S.147, 1545 August 20.
Zům andern/ hat der Herr den Jude dis recht gesetzt/ Deu.. Der frembdling d bey dir ist/ wird ůber dich steigen/ vn immer oben schweben/ du aber wirst herunder steigen/ vnd immer vnden ligen/ Er wird dir leihē/ du wirst im nicht leihē/ er wird das haupt sein/ vnd du wirst der schwantz sein ec. Dis Göttlich recht sollen vnsere Obern an den Juden volnstrecken/ vnd nicht vnderstehē barmhertziger zů sein/ denn die barmhertzigkeit selbst/ Gott der Herr/ wie wol es ein vnbarmhertzigkeit vnnd kein barmhertzigkeit ist/ der wolffen verschonen/ zů schaden der schaff/ Der from(S.11)men armen Christen/ die von Juden vnnd falschen Christen vnbillich beschweret werden/ sollen sich die Oberen/ so ire hierten sein/ erbarmen/ vnnd ihnen vor dem betriegen vnnd beschweren sein/ vngerechter Juden vnd Christen.
Vnd nemlich sollen sie die Juden/ nach Gottes gerechtem vnd barmhertzigem vrtheil/ so sie die bye den Christen gedulden wöllen/ also halten/ das sie nicht ob/ sondern vnder den Christen/ der schwantz bey inen/ vn nicht das haupt sein.
Denn die Juden ia ihres vnglaubens vn verachtung Christi/ sampt dem blůt des Herren/ seiner lieben Aposteln/ vnnd so vieler marterer/ das vff ire eigene beger/ vnd nach billichem urtheil Gottes/ noch auff inen ligt/ vnder rechtgottseligen Oberen entgelten/ vn nicht geniessen sollen/ nů důrffen sie sich aber des berhůmen/ vnd findet sich also inn der that/ das sie vnser Herrn/ vnd wir ire knecht sein/ vnd nicht herwider/ wie es aber der gůtig Gott geordnet hat.
Denn sie durch ire fortheilige leihen/ kauffen vnd verkauffen/ den vnsern das ire also abziehen/ das sie darbey můssig gehen/ Pracht vnd můtwillen mit dem schweis der vnseren/ vnnd fast der ermesten/ treiben/ So halten sie sich auch also/ das weder sie noch ire kinder/ den vnsern knechtlichen dienst thůn/ Wie aber gar offt die vnsere ihnen thůn/ Dan sie von den vnseren immer finden/ die ihnen auff die Sabbath die feüwer machen/ kochen/ waschen/ vnd andere arbeit außrichten.
Vnd wo inen schon das wůchern geweret wird/ vnd allein die grempeley vnnd kauffmans handel zůgelassen/ wie sie geschwind/ vnuerdrossen/ vn vns zůuerforteilen/ on gewissen sein/ ja meinen sie thůn einen dienst dran/ werden sie sich sonder zweiffel also drein schicken/ das sie noch als oben vns/ vnnd nicht vnder vns/ das haupt vnnd nicht der schwantz sein werden,
(S.12) Wie man des zů viel grob Exempel hatt/ bey den Juden inn der Türckey vnd Bolen/ welche die grössesten vn reichesten geldt gewerb/ inn iren händen haben/ So hat man das wol auch an vnsern getaufften Juden zůsehen/ den falscheberhůmbten kauffleüten/ vn wůcherischē wechslern/ die sich mit iren finantzē schier ůber alle stand vnd gewalt erheben/ Kauffmans händel/ wechsel/ vnd andere hantierung sind wol an inē selb gůt/ nutzlich vnd ehrlich/ Wenn die aber soliche leüt treiben die kein Gottsforcht [Furcht]/ oder gewissen haben/ die leüt mit denen sie handlen zů beschweren/ so ist nichts/ das gemeinem volck vnd allen stenden schedlicher vnd verderblicher sey.
Derhalben werden keine Christliche Oberen/ denen die Religion/ vnnd gůt Policey lieb ist/ diesen feinden Christi den Juden/ wo sie die wöllen im volck Gottes gedulden/ einige kauffmans handthierung vnd gremperey gestatten/ weil sie die / als Goltt gebotten/ vnten vnd nicht oben/ zům schwantz vnnd nicht zům haupt/ das ist nach des Herren selbst erklerung/ also halten wöllen/ das sie von den vnsern entlehnen můssen/ vnd nicht den vnsern zů leihen haben.
Ja sie werden inen auch nicht die sauberen vn gewinlichere hanwerck/ vnd nemlich die nicht zů lassen/ da man den werd der wercken/ zů erkentnis/ vnnd auff glauben der werckmeiseter stellen můs/ sondern werden sie verordenen zů den aller nachgůltisten / můheseligsten/ vnd vngewinlichsten arbeiten/ Als da sein der bergknappen arbeit/ graben/ walmachen/ stein vnd holtz hauwen/ kalckbrennen/ schornstein vnnd cloack fegen/ wasenmeister oder schinder werck treiben/ vnd der gleichen.
Denn wie gesagt/ ir recht ist inen von dem barmhertzigen Gott auffgeleget/ das sie bey den Völckern/ bey denen sie wonen/ die vndersten vnd der schwantz sein/ vn am aller hertesten gehalten werden sollen.
(S. 13) Jedoch was man ihnen vor arbeit vn narung verordenet/ dabey sol sie ein Oberkeit trewlich schůtzen/ vnnd alle Christen barmhetzig vnd freündtlich halten/ kein hohn noch spot mit ine treiben/ also/ das sie alles mitleiden vnd liebe bey vns befinden/ Doch das sie wie gesagt/ vnter allen Christen/ vn zům schwantz gehalten werden.
Denn wie den fromen Christen an irer seligkeit noch ehrē nicht schadet das sie die erzeleten vnd andere gröbere/ vnd můheseligere arbeit thůn můssen/ wo sie sich inn den selbigen/ wares glaubens an Christum halten/ Vnd wie die edelen vnnd Burger/ die sich zů solcher groben arbeit/ an diser frommen Christen stadt nicht begeben/ sie aber in solchem nidrigem arbeitseligem thůn/ doch inn aller lieb vnd barmhertzigkeit halten/ derhalben an ihnē wider gebůrende lieb nichts handeln/ Also wird es auch den Juden an irem heil nicht nachtheilig/ sondern mehr förderlich sein/ Auch die ware liebe/ die wir ihnen schuldig sein/ mit nicht verletzen/ das man sie an irem ort/ vn zů irem aller nidrigsten vnd arbeitseligstem thůn/ wie das Gott selbs gebotten/ verordnet/ wo man sie allein in dem selbigen thůn mitleidlich vnd barmhertzig haltet...
Transkription: Avraham Siluk
Quelle: Bayrische Staatsbibliothek München
Es existiert eine empfohlene Edition dieser Schrift mit einer guten Einleitung und interessanten Anlagen: Martin Bucer, Deutsche Schriften, Bd. 7, Schriften der Jahre 1538-9, hrsg. v. Robert Stupperich, Güthersloh 1964, S. 319-394.
Aufgabe:
1) Welche Grundsätze leiten Bucers 'Ratschlag'?
2) Schauen Sie den Antwortbrief des Landgrafen Philipp auf den 'Ratschlag' (Dokument Nr.7). Worin unterscheiden sich die Auffassungen Bucers von denen Philipps? Gibt es auch Übereinstimmungen der Positionen?
Landgraf Philipp der Großmütige antwortete Bucer und den anderen Gelehrten, die den 'Ratschlag' mit verfasst hatten, dass es für die Juden unmöglich wäre, in Hessen weiterhin zu leben, wenn man ihre Vorschläge befolgen würde. Da wäre eine Vertreibung eine sinnvollere und humanere Lösung. Der Herrscher beruft sich auf das Alte und Neue Testament, wenn er schreibt, dass die Heilige Schrift den Christen nicht befehle, die Juden schlecht zu behandeln. Philipp beschloss, die Juden noch zwei Jahre im Land zu dulden und, abhängig davon,wie die Juden sich verhalten, zu entscheiden, ob man sie nicht lieber vertreiben sollte.
Entwurf einer Juden-Ordnung in elf Artikeln:
[fo 1r] Vff diese nachgemelte Articul achtet meyn gnediger fůrst vnnd Herr zů Hessen etc., das die Judenn nach zwey jare lang in seyner fůrstlichen gnaden Landenn zůdulden vnd zů uersuchen sein solt, wie sie sich halten vnnd anlassen wollten. Darnach hette man sich weyther gegen jnen mit lengernn [längerem] dulden oder nicht důlden zůrichten.
Erstlich, das die Judenn mit dem aidt versprechen, bey den jrenn kein lesterunge wider Christum, vnnsern hern vnnd seyne hailige Religionn zůtreiben noch zůgestattenn, sonnder sich des allein zůhalten, das jnenn Moses vnnd die Propheten vorgeben habenn, vnnd das sie aůch die jrenn mit keyner satzung jrer Thalmudischen lerer beschweren, wilch dem gesetz vnnd den Propheten nit gemeß seyen. Damit durch die Thalmudischen gotlose gedicht die Armen, gůthertzigenn jůden vonn vnnser warren Religion nit zum fůrnembstenn abgehalten werden.
Zům andernn, das die juden nirgendt newe Synagogenn vfrichtenn, sonder sich allein der alten vnd vergebaweten mit aller still gebraůchenn.
Zům dritten, das sie aůch versprechenn mit niemandts vonn denn vnssrn von der Religion zů disputiren jn eynigem wegk, dan allein mit denen predigern, die man darzů besonnders verordnen wirdet.
[fo 1v] Zum vierdtenn, das sie zů denn predigenn, die man jnen jn sonderheit verordnen soll, sambt hren weib vnnd kienndernn kommen wollen.
Zům funfften. Sollenn zimlicher weyse kaůffen vnnd verkauffen, doch jn denn Stedtenn vnnd ortern, da kein zunft werenn, ader [oder] da [wo] sie die zůnft leidenn mochten. Doch sollenn sie jr ware nit verteuren, sonder vmb eynenn zimlichenn, pillichtenn pfenning geben, wie es jnenn die beamptenn Burgermeyster vnnd Rath samptlich setzenn wůrden. Vnnd sollenn keyne ware verkauffen, sie haben die dann zůuor durch meins gnedigenn furstenn vnd Hernn beampten, auch Burgermeyster vnnd Rath samptlich schetzen vnnd erkennen lassen, ob sie jnenn ann solchen ortenn zůuerkauffen vnd zůuerhandelen zůstehen mocht ader nicht.
Zům sechstenn. Sollen alle jre Hendel vfrichtig treiben, mit keynem vngepurlichen handel ader vinantz vmbgehen. Wo eyner solchs vberfůre, wůcher ader vnrechte hendel triebe, der soll vonn meynem gnedigenn herrn vnd fůrsten darumb nach gelegenheit vnnd seyner furstlichenn gnadenn geuallens [Gefallen] gestraffet werden. Wurden auch meins gnedigen fursten vnnd herrn Stadthalter vnd Rethe ader seyner furstlichenn gnaden beampten, Burgermeister vnnd Rath jnn Stedten samptlich erkennen, das ein Jůde solche verprechunge gethan hette, so sollenn sie jnen darumb [fo 2r] straffen vnd nit erstet an sein fůrstlich gnade gelangenn lassen, nemblich mit verfallunge [Einziehung] aller seyner guter vnd straffe des thorns [Turms] viertzehenn tage lange. Vnnd der, so solchen falsch von den judenn ausersen [bemerken] vnnd mit grundt anzeiget, soll habenn denn zehenden pfennige von solchen verfallen vnnd verwirckten gůdtern.
Zům siebenndten. Sollen keynen jůdischen gesuch [Darlehen auf Zins] ader wůcher treibenn vnnd die armen leuthe vbernemen. Wurden sie aber eynem eyn, zwew ader drey ader mehr leihen, solch sol gescheen jm beysein der amptleuthe ader amptknecht ader mit wiessen eynes Rath vnnd dauon nach pillicher wirderunge [Schätzung] derselbigen, als vonn aynem hundert eyn jar langk funff guldenn, ader was man sonstet den Christen zůgeben pflegt, gegeben werden.
Wo auch ein jude befundenn wurde, der daruber eynem Christen meins gnedigenn fursten vnnd hern vnderthanen was leyhenn wurde ane [ohne] semptliches vorwissen seyner furstlichen gnaden amptleuthe, burgermeyster vnnd Raths jn Stedtenn, der soll auch vnnachlessig darumb gestraft werden, nemblich mit verlierunge desselbigenn ausgeliehenen gelts vnd nach eynest [noch einmal] souiel herausergebung als desselbigenn vßgeliehenen gelts gewesenn ist, auch straff des thorns vierzehenn tage langk.
[fo 2v] Zum achtenn. Sollenn eynen eydt zů got schweren, keynem Stadthalter, Rath, amptmann, amptknecht, Burgermeyster ader diener noch iren weibern, noch kindern was zů schencken, auch nit eynen eynigen pfenning ader pfennings bey straffe seines leibes vnnd lebenns. Wurde auch ein Jude daruber diesenn genanten beampten ader diener was schencken, der soll on alle gericht vnnd nottrecht derowegen wie trawloser boeswicht am lebenn gestraft werden, damit sie, die beampten, nit also durch gab gestochenn [bestochen] vnnd den Judenn desto er [eher] jr vinantzen, vnpillichenn wůcher vnd vngepůrliche Hendell gestatten vnnd zůsehenn [durchgehen lassen]. Wurde auch derůber [trotzdem] ein beampter geschenck vonn Juden nemmen vnd jre vinantzen ader vngepurliche hendell zůsehen, der soll vonn meym gnedigenn hern auch darůmb vnnachlessig gestraft werdenn.
Zům neunten. Die beampten, auch Burgermeyster vnd Rath sollenn mit vleis darauf sehenn, das sich die Judenn dieser articull also gehaltenn.
Zům zehenden. Will auch meyn gnediger herr jnen zůlassen, das sie sonderliche personen vnter jnen haben, die beneben den amptknechten mit zůsehen, das die Juden sich rechtschaffen vnnd dieser articull gehalten. Wilcher sich aber derenn nit halten wurde, das sie dennselben vnter sich selbst auch nach jrer satzunge straffenn můgenn.
[fo 3r] Zům elftenn. Das sie meynem gnedigen fursten vnd hernn denn schutzpfenninge geben, was sie mit meynen gnedigen hern vberkommen [Übereinkommen] werdenn vnnd sonnderlich eyn yeder, nach dem er vermagk.
[f. 1r] Durchleuchtiger, Hochgeporner Fůrst, E.f.g. sein vnsere arme, schůldige dienste jn aller vnderthenigkeit stets zuuor, Genediger furst vnd her. Es hat E.f.g. vns etzliche articull durch lazarum Juddenn behendigen vnnd libbernn [ausliefern/übergeben] lassen, weß wir vns gehalten ader nitt gehalten sollen jn sich begriffenn. Deß wir jn vnderthenigster dancksagung stehenn. Dieweill aber gnediger her solche gemelte articull vns armen, gemeinen vnnd der schrifft vnerfahrnen Judden etwas beschwerlich [hart/bedrückend], haben wir, die wir jzo zugegen gewesen, vns mit gemelten Lazaro Judden berathen, [der] E.f.g. diesse vnsere vnderthenige antwort vff gemelte rticull E.f.g. gebenn solle. Vffs aller vnderthenigst bittende, sie wollen vnsere Beschwerug [Last], die wir darjnne haben mögenn, genediglich anhörenn vnd auss furstlicher mildigkeit vnd genedigem hohen verstandt dieselben beschwerungen miltern vnd nachpleibenn lassen wöllen.
Den Inhalt deß Ersten articuls belangend, die lesterung Christi zůuerlobenn, wolle[n] wir willig sein. Deß wir aber denn Talmůth [f. 1v] verschweren vnd eigentlich nach dem gesetz vnnd propheten lebenn sollenn mit bestettigung des Eides, ist vns nit woll můglich. Dan wir ader kein mensch, solchs halten magte [können], es wird jnne dann von got gegeben. Zwdem, so ist kein Jůd in E.f.g. fůrstenthumb, der den Thalmůth verstehe, viel weniger schrifftlich bei sich hatt. Derhalben vnser vnderthenig Bitt, mit demselbigen ein zeitlangt gedult zwhaben, wollen wir vor vns möglichen fleiß anwenden, vns zůerforschen, ob ein Jůd jnn E.f.g. gelarthen zůvberlibbern anhalten. Damit dieselbigen gelerten zůsehen haben, was vnpillichs darein begriffen, alsdann williglichen daruon abstehenn woltenn.
Denn andernn articull von der Sinagogenn meldende, wollen wir jn vnderthenigem gehorsam williglich halten.
Denn drittenn articull seindt wir gleichsfalls zwhaltenn willigk.
[f. 2r] Der vierdt articull, die predigt belangendt, ist vns etwas beschwerlich aus vrsachen, die wir jzo nit woll darthwn konnenn. Bitten derhalbenn, vns die offentlichenn, gemeynen predigen frey wollen stehen lassenn, wehm es geliebe, dieselbigen nach gelegenheit, zeitt vnd stett zwbesůchenn.
Desß funfften articuls Inhalt seindt wir gantz willigk, doch mit vndertheniger Bitt, daß vns armen vnsere wahr [Ware] des rechtenn werdt, wie eine andere E.f.g. vnderthann – geschetzt vnd gesatzt werden[n].
Dem Sechstenn articull, meldendt von auffrichtiger handelung etc., seindt wir auch jn vnderthenigkeit zwhaltenn willigh, mit vndertheniger bitt, wo einer ader mehr demselben zwgegen etwas thůn ader handlenn wurde, daß der ader dieselbigenn wie ein ander E.f.g. vnderthan nit höher, dan er verdienet, gestrafft werde.
Denn viien articull ist vnns zwhalten gantz beschwerlich. Dann ye kein christ zw [f. 2v] diessen vnsern zeitten solchs woll halten kann. Derhalbenn auch vnser vnderthenig Bitt, denselbigen articull genediglich zw miltern. Mit vnderthenigster erpiethung, das wir vns jn gemelten articul also schicken wöllen, daß derhalben von vns kein clage gescheen sol. Wo aber derhalbenn clage vber einen ader mehr gescheen wurden, daß der ader dieselbigenn nach gelegenheit der sachen gestrafft werdenn.
Deß achtenn articuls jnhalt seindt wir jnn vnderthenigem gehorsam, auch gantz willigh –ausserhalb des Eides. Dann, Genediger fůrst vnnd her, bei vns Juddenn nit gebraůchlich ist, jn solchenn fellen so leichtlich Eyde zwthůn. Bitten derhalbenn vns mit demselbigen hierjn nitt zwbeschwerenn. Wollen aber darjnn willigk sein, wo vnser einer ader mehr demselbigen articull entgegenn handelen wurden, daß der ader dieselbigen nach jnhalt dieß [f. 3r] achtenn articůls gestrafft werden.
Deß Neundten vnd Zehenden articuls seindt wir von vns auch gantz willigk.
Den Eylften vnd lezten articull seindt wir vermöge aller pillicheit je vnnd allwege willigk gewesen vnd noch. Bitten demnach E.f.g., vns armen zw diessem mall bei diesser erpietůng genediglich zw handthaben vnd zw schůtzenn vnd darůber nit höher dringen lassenn [mehr verlangen]. Dan wir verhoffen, wir habenn vns vff furgegebene articůll zw diessem mall zimlich erpottenn [willig bereit erklärt]. Wollen auch demjhenigen, so wir vns hierjn erpietten vnd erpotten habenn, vffs gleissigst zwhaltenn nachkommen. E.f.g. wollenn vns hieruon tröstliche vnd gnedige antwort widderfahrenn lassenn, seindt wir jn aller vnderthenigkeit zůzerdienen bereidt.
E.F.G.
Armenn Jůddenn
Transkription zit. nach: Martin Bucer, Deutsche Schriften, Bd. 7, Schriften der Jahre 1538/9, Gütersloh 1964, S. 386-387.
Späterer Druck: Kleinschmidt 1, S. 120 f. Nr. 32; danach: Günther, S. 75-79. Nach handschriftlicher Vorlage im StA Darmstadt (verl): Müller, Judenfrage, S. 29-32.
Ordenung unser, Philipsen, von Gottes Gnaden Landtgrave zu Hessen, wie und was gestalt die Juden nun hinfürter in unsern Fürstenthumb, Graveschaften und Gepieten gelitten und geduldet werden sollen.
[1] Erstlichen sollen die Juden unsern Amptleuten, auch den Pfarrherrn yedes Orts, da sie gesessen sein, mit dem Eyde versprechen, bei den iren keyn Lesterunge wider Christum unsern Herrn und seine heylige Religion zu treiben, noch zu gestatten, sonder sich des alleyn zu halten, das inen Moses und die Propheten vorgegeben haben; und das sie auch die iren mit keyner Satzunge irer talmutischen Lerer, welche dem Gesetz und den Propheten nit gemeß seien, beschweren wöllen, damit durch die talmutischen, gottlosen Gedichte die armen, guthertzigen Juden von unser waren Religion nit zum fürnemsten abgehalten werden.
[2] Zum andern sollen sie, die Juden, geloben und versprechen, nirgent newe Synagogen aufzurichten, sonder sich alleyn der alten und vorgebaweten mit aller Stille zu gebrauchen.
[5] Zum fünften sollen [sie] zimlicherweise kaufen und verkaufen, doch in den Stetten und Orten, da keyn Zünfte sein oder da sie die Zünfte leiden. Doch sollen sie ir Wahr nit vertewren, sondern umb eynen zimlichen billichen Pfennig geben, wie es inen unsere Beampten oder Burgermeyster und Rath setzen würden; und sollen keyn Wahr verkaufen, sie seie inen dann zuvor durch unsere Beampten, Burgermeyster oder Rath gesetzt worden.
[6] Zum sechsten sollen [sie] alle ire Händel uffrichtig treiben, mit keynem ungebürlichen Handel oder Vinantzen umbgehn. Wo eyner solches uberfüre und unrechte Händel triebe, den sollen unsere Beampten darumb nach Gelegenheyt und ernstlich strafen, nemlich mit Verfallung aller seiner Güter. Und der, so solchen Falsch sehe von den Juden, am ersten und mit Grunde anzeygt, soll haben den zehenden Pfennig von solchen verfallenen und verwirckten Gütern.
[7] Zum siebenden sollen [sie] keynen judischen Gesuche oder Wucher treiben und unsere arme Leuthe nicht ubernemen. Würden sie aber eynem eynen Gülden, zwen oder drei oder mehr leihen, sollichs solle geschehen in Beisein unserer Amptleut oder Amptknecht oder mit Wissen eynes Raths, und [es soll] davon nach billicher Widernüge derselbigen, als nemlich von eynem hundert Gulden eyn Jar lang fünf Gulden, oder was man sunst den Christen zu geben pflegt, gegeben werden. Würde aber eyn Jude darüber Wucher und Gesuch treiben, so solle er die Hauptsumma seines ausgelihenen Gelts und die Helft aller seiner Güter verfallen haben und darzu vier Wochen mit dem Thurn gestraft werden.
Es soll auch keyn Jude keynem Man alleyn, on Vorwissen seiner Haußfrawen, auch keynem Weibe alleyn, on Vorwissen ires Mannes, und on Beisein unserer Amptleute, Amptknechte oder Burgermeyster und Raths, etwas leihen. Geschehe aber sollichs, so solle derjhenig, so das Gelt entlehenet hat vom Juden, nicht schuldig sein, dem Juden was widerzugeben. Sonder der Jude soll dieselbig Hauptsumma sampt dem halben Teyl aller seiner Güter verloren haben, und darzu noch sovil, als die Hauptsumma desselben gelihenen Gelts gewesen, halb uns und halb den Beampten und Burgermeyster und Rath zu Straf geben, und darzu viertzehen Tage in Thurn gelegt werden.
[8] Zum achten sollen sie eynen Eydt zu Got schweren, keynem Burger, Statthalter, Rathsamptman, Burgermeyster oder Diener oder derselbigen Weibern etwas zu schencken, auch nit eynen eynigen Pfennig oder Pfennigswerth, bei Straf ires Leibs und Lebens, damit unsere Beampten nit also durch Gaabe gestochen und den Juden dester eh ire Vinantzen, unbillichen Wucher und ungepürliche Händel gestatten und zusehen. Würde auch darüber eyner unser Beampter Geschenck von Juden nemen und ire Vinantzen oder ungepürliche Händel zusehen, der sol von uns darumb unnachlessig gestraft werden.
[9] Zum neunten. Welcher Jude eyn Christenweib oder Jungfraw schendet oder beschleft, den sollen unsere Beampten am Leben darumb strafen.
[10] Zum zehenden. Welcher Jude gestolen Gut kauft oder daruff leihet, den sollen unsere Beampten am Leben strafen. Und damit sich der Jude im selbigen versehen könne, so soll er keynem uff etwas leihen oder dasselbig abkaufen, der Jude hab sich dann zuvor erkündigt, woher sollich Gut komme, und ob auch derjenig, so sollich Gut verkaufen oder daruff entlehnen will, sollichs zu thun Macht habe oder nit.
[11] Zum eilften. Es sollen auch unsere Amptknecht, Burgermeyster und Rath gantz und gar keynen außlendischen Juden gestatten oder zulassen, etwas in unsern Landen und Gepieten zu kaufen oder zu verkaufen, weder wenig oder vil.
[12] Zum zwölften sollen unsere Beampten, Burgermeyster und Rath mit Fleiß dar-uff sehen, das sich die Juden diser Artickul also gehalten.
[13] Zum dreitzehenden wöllen wir den Juden zulassen, das sie sonderliche Personen under inen haben, die beneben unsern Amptknechten mit zusehen, das die Juden sich rechtschaffen und diser Articul gehalten. Welcher sich aber deren nit halten würde, das sie denselbigen unter sich selbst auch nach irer Satzungen strafen mögen.
[14] Zum viertzehenden wöllen wir haben, das sie uns den Schutzpfennig geben, weß sie mit uns uberkommen werden, und sonderlich eyn yeder, nach dem er vermag.
Verbum domini manet in aeternum.
Anm.: Ein Druckexemplar hat sich offenbar nicht erhalten. Eine Abschrift befand sich im StA Darmstadt, Abt. 11/2 Nr. 4, mit dem Vermerk: Gedruckt zu Marburg bei Christian Egenolff (Angaben nach Müller, Judenfrage, S. 32).
Aufgabe:
Dieser Ausstellungsraum verfolgt die Geschichte des Zustandekommens der hessischen Judenordnung. Alle Quellen bisher zeigen, wie umstritten in diesen Jahren die Haltung der Protestanten zu den Juden war. Die hier skizzierten Auseinandersetzungen zeigen die Versuche unterschiedlicher Akteure, ihre Vorstellungen in der Judenordnung durchzusetzen. Welche/r der Akteure konnte, Ihrer Meinung nach, Einfluss auf die letztendlich verabschiedete Ordnung nehmen und zu welchem Grad?
Druckexemplar: StadtA Alsfeld, Abt. XIII (= StA Darmstadt, E 3 A Nr. 36/1; Kopie). Späterer Druck: Günther, S 78-80.
Philips von Gots Gnaden Landtgrave zü Hessen (...). Lieben getrewen. Wiewol wir hievor eyn Ordnung der Juden halben, welcher gestalt die in unsern Fürstenthumben und Landen gelitten werden solten, außgehn lassen und euch daruff befolhen, dieselbig Ordenung zu halten und zu hanthaben, so werden wir doch berichtet, das uber das an etlichen Orten in unsern Landen Judden seien, welche sich solcher unser Ordenung gar nit gehalten und also durch die Amptsbevelhaber darinne farlessig gehandelet werden sol, alles derselbigen unser Ordnung zu Verachtunge, unserer christlichen Religion zu Hön und Schimpf, darab wir dan nit gering Mißfallen tragen. Und wöllen uns hiemit die Straf gegen dieselbigen farlessigen Amptleute vorbehalten und euch darbei nochmals bei ewern Eyden und Pflichten, damit ir uns verwant seit, ernstlich bevolhen haben, das ir ob unser Ordenung stracks haltet.
[1] Nemlich und erstlich sollen die Juden sampt iren Weibern und Kindern, so uber acht Jar alt sein, in alle Predige gehn und das Wort Gottes fleissig hören. Und sollen Pfarher, Helfer und Opferman an dem Ort, da die Judden wonen, bei iren Gewissen Achtung daruff geben. Und als oft die Juden, ire Weib und Kindere, die Predig versaumen, dasselb uffzeychnen und es fürter den Amptleuten anzeygen, uff das sich dieselbigen laut voriger Ordenung und dises unsers Bevelhs zu gehalten wissen.
[2] Zum andern solt ir und der Pfarherr bei euch und wer sonst mehr des Verstand hat, alle der Juden Bücher besichtigen, und was ir befindet, das wider unsern christlichen Glauben ist, von Stund an verbrennen. Und an eynem Ort, da der Pfarherr kein Hebraisch kan, muß man die Bücher ghen Marpurg schicken und daselbst dar-von iudiciren lassen. Die Biblia aber sol in keynen Weg verbrennet werden.
[3] Zum dritten solt ir Gelübt und Eyde von den Judden nemen, das sie von unser Religion und Glauben nicht spöttisch reden noch mit yemants darwider disputiren, und sonderlich, das sie Christum, unsern Erlöser, desgleichen Mariam und die Christen nit lestern, verfluchen oder spöttisch von inen reden wöllen.
[4] Zum vierten solt ir daran sein, dz sie gar keynen Wucher nemen, wenig oder vil. Und damit im selbigen nichts ubersehen werde, so sollen sich unsere Amptleuthe darvon fleissig erkündigen. Und welcher Jude, es sei Weib oder Gesinde, im selbigen strafbara befunden würdet, der oder die sollen vierzehen Tage mit dem Thurn, darzu umb zehen Gulden gestraft werden. Solcher zehen Gülden sollen drithalber dem Amptman oder Amptknechte, welcher die Sach straft, und drithalber demjenigen, welcher den Judden angeben würde, bezalt und zugestelt werden, und sonst in allen Puncten unsere Ordenung halten.
[5] Item es sol keyn Jude durch sich oder sein Gesinde in unserm Lande Goldthaler oder silbern Müntz uffwechseln und widerverwechseln oder zerbrechen, Weißpfenninge oder andere gemischste Müntz uffwechseln und damit Wechsel treiben, noch solche in eyniche Müntz liffern oder eynichen Handel damit uben. Welcher aber das hierüber thun würde, der sol an seinem Leib und Leben gestraft werden.
[7] Und damit dise und vorige unsere Ordnunge richtig und starck gehalten werde, so wöllen wir eynen gemeynen Inquisitorem ordenen, welcher zum fürderlichsten in unsern Stetten umbherreiten und daruff sehen und erforschen solle, ob es von Juden und Amptleuten also gehalten werde. An welchem Ort es aber nit also gehalten würde, da soll er den Juden, als obgemelt, von unsernt wegen strafen und dem Amptknecht, was Stands der dan ist, dreissig Gülden zu Buß abheyschen. Gibt er die nit, so sol der Inquisitor solchs an uns pringen; als dan wöllen wir solchen Amptman oder Amptknecht umb das Duppel strafen.
[8] Welche Judden auch gereyd wider unser Ordenung gethon und die nit zusagen mit dem Eyd betewren und daruff eyn Eyd thun wolten, die sollen von Stund an auß dem Lande gejagt werden.
[9] Darumb laßt euch diße und andere unsere Bevelh und Ordenung bei ewern Eyden und Pflichten, damit ir uns, wie obgemelt, zugethon seit, mit Ernst angelegen sein, so lieb euch sei unsere ungnedige schwere und ernste Strafe zu vermeiden. Des wöllen wir euch also verwarnet haben.
[10] [Durchzugsverbot für Zigeuner]
Datum Cassel prima die mensis aprilis, anno a nativitate Christi millesimo quingentesimo quadragesimo tertio.
a Vorlage: starfbar.
Polizeiverordnung Landgraf Philipps, u. a. über den Handel fremder Juden in der Landgrafschaft, Friedewald, 20. August 1545
Späterer Druck: Kleinschmidt 1, S. 146f. Nr. 49.
Philips von Gots Gnaden Landtgrave zu Hessen, Grave zu Catzenelnpogen etc.
Lieben getrewen. (...)1
Zum dritten haben wir glaublichen Bericht, ob sich gleich die Judden unser Ordnung halben auß unsern Landen gethan2, das sie sich under andere Leuthe gewendet, da dannen sie nichtsdestoweniger mit unsern Underthanen handlen und parthieren, welchs wir keynswegs zu leiden gemeynt sein, befelhen demnach euch hiemit in Gnaden gantz ernstlich, das ir zu Stund an allenthalben in unserm Ampt ewer Verwaltung die Versehung thuid, das solcher Judden keyner eynig Handlung oder Parthierung mit unsern Underthanen treib; und da ir darüber etliche betretet, die in Haft ziehet und darumb ungnedig strafet.
Das meynen wir mit allem Ernst und wöllens uns zu euch gentzlich verlassen.
Datum Friedwaldt am zwantzigen Augusti anno domini 45.
1 hier 2 Artikel betr. die Eintragung von Grundstücksveränderungen in die Erbregister und die Kontrolle der Schankstätten auf adeligen Freihöfen.
2 siehe Erläuterungen zur Judenordnung von 1539, Art. 6
Landtagsabschied, u. a. über die Judensteuer, Treysa, 20. März 1557
Ausf. StA Darmstadt, E 2 Nr. 4/2 BI. 219-230, Papierlibell mit 12 Siegeln von Vertretern der anwesenden Ritter.Abschiedt des durchleuchtigen, hochgebornen Fürsten und Hern, Hern Philippsen, Landtgraven zu Hessen, Graven zu Catzenelnpogen etc., unsers g[nedigen] F[ürsten] und Hern, Ritterschaft, Prelaten und Landtschaften der Fürstenthumb zu Hessen und zugehörigen Graveschaften, uff itzt den 16ten Martii anno etc. 57 gehaltenen Landtage zu Treisa, belangende die alle gemeine des Reichs bewilligte Stewer der itzigen Eilenden Huelf widder den Türcken, so sich zu unsers g[nedigen] F[ürsten] und Hern Antheil uff 27 000 Gulden erstreckt, und die Ergentzung des Vorraths, die sich erstreckt uff 10 968 Gulden, alles den Gulden zu 15 Batzen oder 27 Albus.
[...] 1 Haben demnach sich vereiniget, verglichen, bewilligt und verabschiedt, das vorberurte Somma angeschlagen, ufgefordert, gegeben, eingenomen und geliffert werden sollen wie volgt:
[...] 2 Die Juden, sie sitzen unter unserm g[nedigen] F[ürsten] und Hern oder denen vom Adel, sollen zu dissen Stewern also angeschlagen werden, das ein jede Judenperson, sie sei jung oder alt, zu disser Stewer zum ersten ein Gulden erlegen, und di reichen Juden in solcher Anlage den Armen zu Hielf khomen. Im anderm Ziel sol dergleichen ir jeder von hundert Gulden Hauptguts, an was Wahr di immer gelegen, auch ein Gulden, und also uf und abe geben und doch hiermit ir Wucher unbekreftigt sein.
[...] 3 Gescheen und geben zu Treisa am zwentzigsten Martii anno domini 1557.
1 Umfangreiche Vorrede zur Begründung der Türkensteuer; auf den Abdruck wurde verzichtet.
2 Einzelheiten zur Umlage der Steuer unter den christlichen Untertanen der Landgrafschaft.
3 Bestimmungen über die Besteuerung von außerhalb der Landesgrenzen gelegenen Gütern. Daran anschließend Siegelankündigung.
Landtagsabschied, u. a. über die Judensteuer, Treysa, 29. Mai 1566
Ausf. StA Darmstadt, E 2 Nr. 4/2 Bl. 249-260, Papierlibell mit 16 Siegeln der anwesenden Ritter.
Zu wissen. Als der Romischen Key[serlichen] Maj[estat], unser allergnedigister Her, uff itzigem Reichstagk zu Augspurgk durch Churfursten, Fursten und gemeine Stende deß Reichs ein dreifacher Romzug uff acht Monat zur Eylenden, deßgleichen zur Beharlichen Hilf in den dreien nechstvolgenden Jharen, jedes Jars besonder, ein einfacher Romzug uff acht Monat langk, darczu zwen einfache Romzuge zu Underhaltung eczlicher Pferdt, im Warthgeldt bewilliget und sonderlich verabschiedet worden ist, daß ein jede Obrigkeit von ihren Underthanen, geistlich und weltlich, exempt undt nicht exempt, gefreiet und nicht gefreiet, wie Recht und Herkommen were, diese bewilligten Reichssteuren, soviel die zu eines jeden Stands gepuerendem Antheil ertruge, zu erheben und einzupringen gut Fug und Macht haben solten, derwegen der durchleuchtig, hochgeborn Furst und Her, Her Philips der Elter, Landgraf zu Hessen, Grave zu Catzenelnbogen etc., unser gnediger Furst und Her, einen Landtag anhero gehn Treisa außgeschrieben und doruff seiner f [ürstlichen] Gnaden] getrewen Ritterschaft, Prelaten und Landtschaft solchs alles verhalten und gnediglich begeren lassen, uff Wege zu gedencken, wie solche vorgemelte Reichssteur, welche alle zusamen in einer Summa zu seiner f [ürstlichen] G[naden] Antheil ertragen 78 600 Gulden, jeden zu 15 Patzen gerechnet, zum fuglichsten erhoben und einpracht werden mochten; so haben uff beschehenem Furhalt Ritter und Landtschaft sich entlichen vereiniget, verglichen, bewilliget und verabschiedet, daß vorberurte Summa angeschlagen, uffgefordert, gegeben, eingenohmen und geliffert wer-den sol, wie underschidlich hernach volgt:
[…] 2 Die Judden, sie sitzen under unserm gnedigsten Fürsten und Hern oder denen vom Adel, sollen zu diesen Steuren also angeschlagen werden, daß ein jede Juddenperson, sie sei jung oder alt, zu der Eilenden Hilf uffs erst Ziel einen Gulden erlegen, und die reichen Judden in solcher Anlage den armen zu Hulf khommen. Im andern Ziel der Eilenden Hulf sol ihr jeder von hundert Gulden Hauptguts, ahn was Wahr die immer gelegen, einen halben Gulden und also uff und ab geben und doch hirmit ihr Wucher unbecreftiget sein. Zur Beharlichen, dreijherigen Hulf aber soll ein jeder Jud von hundert Gulden Hauptguts neun Albus zu einem jeden Ziel insonderheit erlegen, dregt uff drei Ziehl einen Gulden vom Hundert.
[…] 2 Actum Treisa den 29. Maii anno 1566.
1 Einzelheiten zur Umlage der Steuern unter den christlichen Untertanen der Landgrafschaft.
2 Bestimmungen zur Sicherung der Steuern u.a., Siegelankündigung der anwesenden Ritter.

Thematische Einleitungen und weiterführende Erläuterungen in den Teilkapiteln:
III.11 Die Emanzipation der Juden im Königreich Westphalen 1807-1813
III.12 Die Hepp-Hepp Unruhen 1819: Die Schattenseite der Judenemanzipation
III.13 Deutsch-jüdische Geschichte zwischen Restauration, Revolution und Reichsgründung 1815-1869/71
III.14 Das Beispiel "Roth": Sozialer und wirtschaftlicher Strukturwandel im ländlichen Raum

Ab dem Spätmittelalter war der Rechtsstatus der Juden formal durch das Instrument der Aufnahme in den Schutz, den „Schutzbrief“, gekennzeichnet. Diese Schutzbriefe wurden ganz überwiegend befristet erteilt, im Allgemeinen auf ein bis sechs Jahre, an Einzelpersonen, in der Regel Haushaltsvorstände, die für Familie oder Gesinde hafteten. Daneben wurden auch kollektive Privilegien für ganze Gemeinden oder zumindest Personengruppen vergeben. Die Erteilung des Schutzbriefs geschah gegen Entgelt, regelmäßig wurde dabei den individuellen Lebensverhältnissen entsprechend eine unterschiedlich hohe Jahressteuer festgelegt. Mit Ablauf des Schutzbriefs konnte, musste jedoch nicht, die Aufenthaltsberechtigung erlöschen, was die Ausweisung bedeutete. Jedenfalls bot die Befristung Gelegenheit zu Anhebeung der Steuern oder weiterer Bedingungen. Der individuelle wie der kollektive Schutzbrief gewährten das Wohnrecht und versprachen Schutz gegen Zahlung einer Jahressteuer. Oft wurde darin ausdrücklich die Erlaubnis zur Geldleihe erteilt oder diese, vielfach mit der Festlegung des Zinssatzes und Bestimmungen zum Pfandwesen näher geregelt. Mit der Erteilung des Schutzbriefes erfolgte in der Regel die Aufnahme zum „Judenbürger“, was mit Leistung des Bürgereides und anschließender Eintragung in ein Bürger- oder Amtsbuch verbunden war.
Das Bestreben der sich konsolidierenden Landesherrschaft, alle bestehenden Einnahmequellen zu rationalisiern und damit auch die Nutzung des Judenregals zu sichern, wurde zu einem wesentlichen Motiv für die Ausarbeitung der Judenordnungen, die mit kaiserlichen Privilegien und Ordnungen in Konkurrenz traten. Die im 16. Jahrhundert einsetzenden Bemühungen um den Erlass von Judenordnungen müssen als etwas grundsätzlich Neues angesehen werden. Kaiserliche Ordnungen des Spätmittelalters zugunsten der Judenschaft im Reich trugen im Wesentlichen noch Privilegien- und Schutzcharakter und entsprangen der Initiative der Judenschaft selbst, der an wirtschaftlichem Schutz gelegen war. Eine Sonderstellung nehmen auch die schon im Spätmittelalter häufig anzutreffenden städtischen Judenordnugen ein, die im Rahmen des umfassenden städtischen Satzungsrechts gesehen werden müssen. Je nach Bedürfnis wurden von Fall zu Fall Regelungen getroffen, die das in den Schutzbriefen festgelegte Recht ergänzten, modifizierten oder dort erhaltene Rahmenbestimmungen ausfüllten. Übergreifende theoretische Gesichtspunkte für den Erlass einer Judenordnung waren noch nicht vorhanden.
Dies änderte sich mit den landesherrlichen Judenordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die im Zusammenhang mit dem sich konsolidierenden Territorialstaat gesehen werden müssen. Die erste Gesetzgebungswelle des 16. Jahrhunderts hatte Auswirkungen auf den Rechtsstatus der Juden. In Zukunft konnten sie sich auf eine Reihe von allgemeinen Bestimmungen berufen und diese ggf. gerichtlich durchsetzen. Dazu dürfte im Allgemeinen das bisher überkommene Recht keine ausreichende Handhabe geboten haben. Der Besitz eines Schutzbriefes verschaffte seinem Inhaber das Recht zur Teilhabe an dem jeweils geltenden allgemeinen Judenrecht. Hinzu kam vor allem in den protestantischen Territorien seit der Reformationszeit eine erkennbar werdende Sorge des Landesherrn oder der Stadtobrigkeit um das geistliche Wohlergehen und den Lebenswandel der Untertanen und Bürger. Neben die Sorge für den christlichen Lebenswandel der Untertanen trat das Bestreben, eine Übervorteilung der Einwohner durch angeblich unlautere Geschäftspraktiken der Juden verhindern.
Als wesentliche Beweggründe für die Schaffung landesherrlicher und städtischer Judenordnungen müssen deshalb dreierlei Dinge berücksichtigt werden. Einerseits ging es wie bei allen Landesordnungen der Frühen Neuzeit um eine Kodifizierung und Vereinheitlichung des unsicher gewordenen Rechts, ein Gesichtspunkt, der für das Judenrecht in besonderem Maße galt, da dieses in einer Vielzahl von Einzelschutzbriefen, Privilegien und Statuten festgehalten war und für die landesherrliche Verwaltung oder die Stadtobrigkeit kaum noch überschaubar blieb. Andererseits musste das landesherrliche Judenregal, das zusammen mit anderen Regalien eine wesentliche Funktion bei der Ausbildung der Landeshoheit spielte, in Bestand und Auswirkungen gesichert und für die territoriale Finanzverwaltung nutzbar gemacht werden, was nur durch eine genaue Abgrenzung gegenüber den alten kaiserlichen Schutzrechten und den weiter in Anspruch genommenen Befugnissen aus der kaiserlichen Kammerherrschaft möglich erschien. Und schließlich machte das Schutzbedürfnis der christlichen Untertanenschaft in religiöser und wirtschaftlicher Hinsicht eine möglichst detaillierte Regelung erforderlich, die einen Austausch geistigen Gedankenguts sowie einen freien wirtschaftlichen Marktverkehr unterbinden sollte. Dahinter stand die Angst vor den Auswirkungen der kaufmännischen Geschicklichkeit der Juden, die durch ihre Spezialisierung auf Handel und Gewerbe überterritorialer Verbindungen geschäftlicher und verwandschaftlicher Art mit ganz die moralische Kraft jüdischer Geistesleistungen und ein Eindringen talmudischer Lehre in der Bevölkerung.
Alle drei Beweggründe müssen in ihrer Einheit gesehen werden. Erst dieses komplexe Motivbündel führte zum Typus der neuzeitlichen Judenordnung.
Judenordnung aus dem Jahr 1646 von Amalie Elisabeth Landgräfin zu Hessen
Bei dieser Judenordnung handelt es sich um eine Ordnung, die durch Amalie Elisabeth Landgräfin zu Hessen im Jahr 1646 erlassen wurde - die Ordnung trat jedoch nie in Kraft. Der Inhalt dieser Ordnung wurde dann durch ihren Sohn Landgraf Karl von Hessen-Kassel in die Judenordnung von 1679 aufgenommen und in leicht abgänderter Form in Kraft gesetzt. In dieser Ordnung wurden im Vergleich zu der vorangegangenen Ordnung aus dem Jahre 1539 die Regularien die Lebensbedingungen der Juden betreffend abgemildert. Der Gedanke eines besonderen Schutzverhältnisses zwischen dem Landgrafen und den Juden wird besonders betont und in den ersten sechs Paragraphen der Ordnung ausgestaltet.
Die Ordnung ist in 27 Gliederungspunkte unterteilt:
Von auff- und annehmung der Juden ins LandVon eidlicher verpflichtung der Juden
Von specification jedes Orts gesessenen Juden
Von beherbung frembder Juden und deren straf
Von schutzgelt ins gemein
Von schutzgelt der verheurateten Judenkind
Von wohnung der Juden
Von verhalten der Juden in Religionssachen
Von verhalten der Juden auf die Sonn- Fest- Buß- Bett- und Fasttage
Von strittigkeiten der Juden unter sich wegen ihrer Ceremonien
Von malefiz und peinlichen sachen der Juden
Von eines Beklagten Juden instanz in Bürgerlichen Sachen
Von eines klagenden Juden erster instanz in Bürgerlichen sachen
Von der Juden nahrung und handel
Vom golt- und silberkauff der Juden
Von liefferung eines gewissen silbergelts
Von der Juden künftigem gelt außleihen uff pension/und außfertigung der handschrifften darüber
Von liquidation der von den Juden allbereits außgethaner gelter
Daß die Juden mit ihrem eigenen Gelt oder doch in ihrem eygenen namen handeln sollen
Von verleyhung gelder/so durch Juden an minderjährige und dergleichen Personen beschicht
Von Burgschafft der Juden
Auff mas sachen dem Juden gelt außzuleyhen verbotten
Von anzeigung gestohlener und den Juden zukommener sachen
Auff was sachen den Juden gelt außzuthun zugelassen
Vom abzug eines Juden aus dem Landt
Von zeichen so die Juden an ihren Kleidern tragen sollen
Von Geschenck und corruption der Juden
Transkription des Schutzbriefes für Moses Grieden zu Widdershausen Amt Friedewaldt, ausgestellt durch Landgraf Karl am 11. Mai 1678
Von Gottes Gnaden/Wir CARL Landgraff zu Hessen/Fürßt zu Herßfeldt/Graff zu Catzenenllnbogen/Dietz/Ziegenhain/Nidda und Schauenburg/u. Thun kund hiermit und offentlich bekennende/daß Wir/wiewol mit vorbehalt anderwert Uns beliebiger Verordnung Moses Griedern nach er Widdershaußen Ampts Friedewaldt und also unter Unserm Schutz mit Weib und Kindern daselbst häußlich zu wohnen/uff- und angenommen/doch derogestalt und also/daß sie sich der gemeinen Rechte weniger nicht/also des Reichs constitutionen/ so dann Unserer in Gott ruhenden löblichen Vorfahren dißfals außgegangen und noch hinkünfftig außgehenden Ornungen in allem gemäß verhalten/und leben auch denen zuwieder nicht allein niemand/wer der auch seye/mit übermäßigem Wucher oder anderweitiger ohn ziemlicher Vervortheilung beschweren/sondern auch das jenige an Schutz- oder Silber-Geld/u. was andere in Unserm Land wohnende Juden wohnende Juden zu geben schuldig oder wir ihnen der zeiten Gelegenheit so wol/alß auch der Billigkeit nach/ufflegen werden/gehörig entrichten/auch jetzo alßbalden Zehen Goldgülden zu Inzugs Geldt in Unsere Rentherey Friedewaldt ohnweigerlich erlegen/und daran kein Mangel erscheinen lassen/zumahlen und vor allem aber sollen Sie Unsern einigen Erlöser und Seligmacher Jesum Christum und seinen heiligen Nahmen/auch die Christen nicht verunehren/lästern oder verhohnlachen/sondern sich dessen äussern und enthalten; Dargegenhaben Wir ihnen uffrichtige und denen Juden dieser ends zugelassene Handlung in unserm Lande zu treiben/nachgegeben und bewilliget. Befehlen demnach unsern Beampten zu gedachtem Friedewaldt daß sie obgenannten Juden mit seinem Weib und Kindern zue besagtem Widdershaußen wohnenlassen/Siebiß an Uns vor unrechtem Gewalt schützen/und das gebührliche Schutz- und Silbergeldt und anders einbringen/auch mit Fleiß dahin sehen/daß sie allem und jeden/wie oben vermeldet/sich gemäß verhalten/oder im widrigen fall dieses Unsers Schutzes nicht allein entsetzt/und verlustig gemacht/sondern auch nach Befindung ernst: und ohnnachlässiger Straffe gewärtig sein sollen. Würde sich sonsten begeben/daß sie in andern Unsern ämptern zu thun: So sollen nicht weniger Unsere jedes Orts bestelte Befehlhaber ermahnet und ihnen ufferlegt seyn/in allen ziemblichen Schuld: und andern Sachen/oder da sie uff begebung sonst derosleben Hülffbedürfftig/ihnen darinne die hülffliche Hand billich mässig zu bieten. Urkundlich haben Wir Uns mit eigenen handen unterschrieben/und Unser Fürstlich Secret hieraff trucken und geben lassen. In Unserer Stadt und Vestung. Cassel den 11 tag May des Sechzehnhundert acht und Siebzigsten Jahrs.
Judenordnung von 1679
Die Ordnung wurde von Landgraf Karl zu Hessen im Jahre 1679 erlassen. Sie ist im Staatsarchiv Marburg in mindestens vier Auflagen vorhanden (dreimal in Bestand 91 N Judensachen, einmal in Bestand II A 2 Judensachen). Daraus kann man schließen, dass sie Verbreitung fand. Diese Ordnung soll eine im Jahr 1646 durch die Mutter Karls erlassene, gedruckte, aber nicht veröffentlichte Ordnung „renovieren und revidieren […] verbessern und […] ändern.“ (vgl. Judenordnung von 1646).
Der 18 Textseiten umfassenden Druck ist in 27 Gliederungspunkte aufgeteilt. In den ersten Punkten werden allgemeine Regelungen die Juden betreffend behandelt - etwa die Aufnahme der Juden in das Land, die Verpflichtungen der Juden, das zu zahlende Schutzgeld oder wie die Juden zu wohnen haben. In den darauffolgenden Punkten werden Themen, die das religiöse Verhalten der Juden betreffen verhandelt - etwa im Bezug auf ihren Gottesdienst oder wie sie sich an chrisltichen Sonn- und Feiertagen zu verhalten haben. Darauf folgenden werden die rechtliche Belange im Zusammanenleben zwischen Juden sowie zwischen Juden und Christen geregelt. Weiterhin werden Angaben zum wirtschaftlichen Leben der Juden gemacht.
Die Ordnung ist in 27 Gliederungspunkte unterteilt:
Von auff- und annehmung der Juden ins LandVon eidlicher verpflichtung der Juden
Von specification jedes Orts gesessenen Juden
Von beherbung frembder Juden und deren straf
Von schutzgelt ins gemein
Von schutzgelt der verheurateten Judenkind
Von wohnung der Juden
Von verhalten der Juden in Religionssachen
Von verhalten der Juden auf die Sonn- Fest- Buß- Bett- und Fasttage
Von strittigkeiten der Juden unter sich wegen ihrer Ceremonien
Von malefiz und peinlichen sachen der Juden
Von eines Beklagten Juden instanz in Bürgerlichen Sachen
Von eines klagenden Juden erster instanz in Bürgerlichen sachen
Von der Juden nahrung und handel
Vom golt- und silberkauff der Juden
Von liefferung eines gewissen silbergelts
Von der Juden künftigem gelt außleihen uff pension/und außfertigung der handschrifften darüber
Von liquidation der von den Juden allbereits außgethaner gelter
Daß die Juden mit ihrem eigenen Gelt oder doch in ihrem eygenen namen handeln sollen
Von verleyhung gelder/so durch Juden an minderjährige und dergleichen Personen beschicht
Von Burgschafft der Juden
Auff mas sachen dem Juden gelt außzuleyhen verbotten
Von anzeigung gestohlener und den Juden zukommener sachen
Auff was sachen den Juden gelt außzuthun zugelassen
Vom abzug eines Juden aus dem Landt
Von zeichen so die Juden an ihren Kleidern tragen sollen
Von Geschenck und corruption der Juden
Judenordnung aus dem Jahr 1739, erlassen durch Friedrich, König von Schweden und Landgraf zu Hessen-Kassel
Vgl. die ausgebesserte Judenordnung von 1749.
Editierte Transskription (Randvermerke):
"Was im Landtags-Abschied de anno 1731 der Juden halber enthalten wird erneuert und bestätigt.
1. An denjenigen Orten, woselbst vorhin kein Jude gewohnt, soll auch fürs künftige keiner aufgenommen werden.
2. Die neu recipirt zu werden verlangenden Juden sollen ihrer Aufführung halber und dass sie die publica Praestanda anzuführen im Stande, auch dass die sämtliche Judenschaft davor stehen wolle, von den Judenschaftlichen Vorstehern Attestata beibringen.
3. Vor der Reception sollen auch die Christliche Einwohner ob und was sie dagegen einzuwenden haben von der Obrigkeit befragt und davon wie auch andern Umständen berichtet werden.
4. Ein jeder Schtz suchender Jude soll wenigstens 500 Rthl. [Reichsthaler] im Vermögen haben.
5. Kein Jude soll ohne ausgewürckten Landesherrlichen Schutz-Brief oder von der Renth-Kammer ad interim erteilten Toleranz-Schein im Lande geduldet werden.
Bei Straf der Ordnung vom 16/27. Tag [des] Mai 1735 als welche erneuert und verschärft wird.
Fremde Juden werden zu Zeiten der Jahrmärkte gegen Vorzeigen eines Obrigkeitlichen Passes ohngehindert pass- und repassiret.
6. Alle Juden so über 14 Jahr alt sollen der Landesherrschaft den End der Treue schwören.
Haus-Väter sollen für ihre Kinder und Gesinde haften.
7. Jährlich auf den ersten Tag May sollen von jedes Orts-Obrigkeit eine Specification aller unter ihrem Gerichts-Zwang gesessener Juden-Personen zur Regierung und Renth-Kammer eingeschickt werden.
8. Die Renth-Kammer soll die Direction und Inspection über das Judenschaftliche Wesen im Lande haben.
9. Bettel- und sonst verdächtige Juden sind gar nicht, fremde unverdächtige aber mit Vorwissen der Obrigkeit auf die determinierte zeit zu dulden.
Welchen Juden keinen Zoll bezahlen lönnen werden für Bettel-Juden gehalten und sollen nicht einmal ins Land gelassen werden.
Welcher inländische Schutz-Jude oder Christ hiergegen einen fremden Juden beherbergt und duldet soll in 10 Rthl. Strafe verfallen sein.
Die Juden-Vorsteher müssen auf die sich einschleichenden schutzlose Juden invigilieren und solche der Obrigkeit anzeigen.
Der Leib-Zoll muss jedesmal gelöst werden.
10. Das Schutz-Geld und übrige Landesherrliche Praestanda müssen zur bestimmten Zeit richtig bezahlt werden, sub poena dupli, dagegen werden die Juden mit den Ihrigen wider alle Gewalt geschützt.
11. Die verheirateten Juden-Kinder werden ohne Schutz-Briefe nicht geduldet, auch wie es mit derer Juden-Heirat und Copulationen zu halten.
Wie es mit der Juden Dienstboten zu haltn und dass dieselben wie auch der Juden Juden Kinder, so bei den Eltern sind, gar nicht für sich handeln oder mit ihren respective Brot-Herren und Eltern in gesamtschaftlichem Handel stehen sollen.
Welche Juden-Personen mehr nicht handeln dürfen.
12. Die Schutz-Juden sollen nicht bei Christen wohnen, noch Christliche Gesinde halten außer auf ihren Sabbat.
13. Die Juden sollen auf die Christliche Religion nicht schmähen oder lästern, vielweniger denen, so sich zu der Christlichen Religion bekehret, Feindschaft erzeigen.
14. Wie es mit der Juden Gottesdienst zu halten.
15. Wie sich die Juden auf der Christen Sonn- und Feiertagen zu verhalten haben.
16. Die wegen jüdischer Ceremonien verfallenden Strittigkeiten sollen vom Rabbiner erörtert werden.
Wie es mit den Strafen desfals gehalten werden soll.
Bei der renth-Kammer sollen alle Judenschaftlichen Haupt-Rechnungen abgehört werden.
17. Auf welche Fälle solche dem Rabbiner nachgelassene Cognitio und Decifio nicht zu extendiren.
18. Malefiz und peinliche Sachen sollen vor keinen Rabbiner gebracht und vor demselben abgetan werden.
Juden sollen ncihts was der Obrigkeit zu richten gebührt oder der Obrigkeit anhängig ist unter sich vertragen, noch durch durch den Rabbiner vertragen oder entscheiden lassen.
19. Wie es mit den Personal-Streitigkeiten, besonders Civil- und Schuld-Sachen betreffend, auch mit den Inventarien, Verordnungen, Pactic dotalibus, letzten Willens-Dispositionen etc. gehalten werden soll.
20. Wo der Juden Forum ratione actionum realium sein soll.
21. Wie es zu halten, wenn die Juden einen Christen zu verklagen haben.
22. Den Juden-Weibern und Kindern sollen die Privilegia dotis & illatorum zum Nachteil der Christen nicht angedeihen.
Mutwillige Banquerotten der Handels-Juden sind mit allem Rigueur zu bestrafen.
23. Womit und welcher Gestalt den Schutz-Juden zu handeln verstattet wird.
24. Handels-Juden sollen ihre ordentliche Handels-Bücher halten, welche jedoch gegen Christen keinen halben Beweis ausmachen.
25. Juden sollen alle Wechsel und sonst ins Commercium einschlagende Scheine in Deutscher Sprache mit Deutschen Litteren schreiben und unterschreiben, auch keinen andern Namen als der im Schutz-Brief enthaltene jemals führen.
26. Den Juden wird der Garn-, Häute und Leder-Kauf, auch das Schächten auf gewisse Art nachgegeben.
Das Bierbrauen aber zu feilem Kauf gänzlich verboten.
27. Wie es mit dem Gold- und Silberkauf, auch Geldwechseln und Verschicken, einzurichten.
28. Von der Juden künftigen Geldausleihen auf Pension und Ausfertigung der Handschriften darüber.
Wie es mit den Wechsel-Briefen zu halten [ist].
29. Vom Ausleihen der Juden auf Pfänder.
Juden sollen richige Pfand-Bücher halten.
30. Welchergestalt denjenigen, so unter väterlicher oder anderer Gewalt stehen, von Juden sicher geliehen werden mag.
31. Welche Sachen den Juden Kaufs- oder Leihe-Weise an sich zu bringen verboten sein soll.
32. Wie sich die Juden in Ansehung gestohlener oder überhaupt verdächtiger Sachen zu verhalten haben.
33. Juden sollen keine Feld-Güter so wenig käuflich als auf gewisse Maße unterpfändlich an sich bringen.
34. Von Cession der Juden-Schulden an Christen.
Wie das ordnugswidrige Geldausleihen bestraft werden solle.
35. Wie sich die Juden bei der Handlung, wozu sie ausländisch Geld gebrauchen, verhalten sollen.
Die Schutz-Juden sollen all ihr Vermögen versteuern.
36. Wie sich die Juden bei Contracten mit Ausländern in Ansehung der Sicherheit prospiciren mögen.
37. Juden sollen jede Art ihre Praestandorum zu gesetzter Zeit sub poena dupli abführen.
38. Was die Juden, wenn sie ihren Schutz-Ort verändern, oder gar außer Land ziehen wollen, vorher beobachten und berichtigen sollen.
39. Juden sollen an hierinnen bemeldete Obrigkeitliche personenen, der Weiber, Kinder etc. keine Geschenke geben oder geben lassen; noch weniger diese von jenen dergleichen annhemen, oder ihnen zu gute nehmen lassen."
Ausbesserung der Judenordnung von 1739.
Editierte Transkription (Einleitung und Randvermerke):
"Wir Friedrich von Gottes Gnaden der Schweden, Gothen und Wenden König, [...] Landgraf zu Hessen, Fürst zu Hersfeld, Graf zu Katzenelnbogen, Diez, Ziegenhayn, Nidda und Schaumburg, [...]
Entbieten Allen und Jeden in Unsern Hessischen Fürstenthumen und Landen, auch dazu gehörigen Graf- und Herrschaften unsere Königliche Gnade und fügen denenselben darneben hiermit zu wissen: Nachdem Wir die vorhin ausgelassene Judenordnung zu verbessern und zu erläutern gnädigst gut gefunden. Als ist Unser ernstlicher Wille und Befehl hiermit, dass es derer in Unsern Hessischen Landen befindlichen Juden halber, hinkünftig überall nachfolgendermaßen gehalten werden soll.
1. Juden sollen ohne Schutz-Brief im Lande nicht geduldet werden.
2. In denjenigen Orten, wo vorhin kein Jude gewohnt, soll auch keiner aufgenommen werden.
3. Ein Schutz suchender Jude soll 1) eines inländischen Schutz-Juden ältester Sohn, 2) 25 Jahr alt, und 3) wenigstens 500 Thaler vermögend sein, auch 4) seines guten Wandels halber, und 5) dass die Einwohner des Orts, wohin er Schutz suchet, gegen seine Reception nichts einzuwenden, Attestata, wie nicht weniger 6) von denen Vorstehern beibringen, dass er Praestanda zu praestiren im Stande, und die Judenschaft eventualiter für ihn haften wolle. Juden sollen in denen Städten über Domestiquen nicht halten.
4. Jeder Hausvater muss für seine Kinder und Domestiquen haften.
5. Von denen Beamten muss jährlich eine Juden-Specifikation an die Regierungen und Kanzleien wie auch an die Renth-Kammer eingeschickt werden.
6. Verdächtige oder Bettel-Juden sind gar nicht im lande zu dulden. Fremde unverdächtige abernur auf gewisse Zeit und mit Vorwissen der Obrigkeit. In denen Festungen aber darf kein Jude ohne obrigkeitlichen Schein über nacht bleiben. Insbesondere in der Residenz und Festung Cassel, müssen fremde und einheimische für jede nacht, welche sie darinnen bleiben 1 Ducaten zahlen, wovon jedoch die mit der Post ankommende und mir der folgenden wieder wegreisende ausgenommen. Imgleichen sind hiervon die die Märkte besuchende 4 tage frei.
7. Schutz-Geld und sonstige Judenschaftliche Praestanda müssen zu bestimmter Zeit bei Strafe doppelter Bezahlung, abgeführet werden. Dagegen die juden mit Weib und Kinern für aller Gewalt geschützet und gleich andern Christlichen Untertanen bei Gleich und Recht gehandhabt werden.
8. Es darf keine Judenschaftliche Mannsperson und 25 Jahren, und eine Weibperson und dem 20. Jahre heiraten. Auch sollen die verheirateten Kinder ohne Schutz über 4 Wochen bei ihren Eltern und im lande nicht geduldet werden.Dere Juden Kinder und Dienstboten dürfen für sich nicht handeln, noch mit ihren Eltern und Brod-Herren in Gemeinschaft stehen. Welche Juden-Personen nicht handeln dürfen.
9. Juden sollen bei Christen nicht wohnen, wenn sie andere Gelegenheit haben können, auch keine Christliche Dienstboten im Hause halten. Säugammen werden in höchstem Notfall erlaubt, wie ingleichen die sogenannte Sabbats-Weiber
10. Juden sollen nicht auf christliche religion schmähen.
11. Wie es mit ihrem vermeinten Gottesdienst zu halten.
12. Wie sich die Judem auf derer Christen Sonn- und Feiertage zu verhalten. Denenselben wird erlaubt, wenn sie auf der Reise sein, solche an Sonn- oder Feiertagen fortzusetzen. Dürfen ihre Tote zwar auf die Sonn- und Christliche Fest-Tage, jedoch nicht eher, als wenn aller Chrsitlicher Gottesdienst vorbei ist, begraben.
13. Strittigkeiten in jüdischen Ceremonien-Sachen gehören vor den Rabbiner zur Entscheidung. Wie es desfalls mit den Strafen zu halten. Worauf die Jüdische Ceremonien-Sachen nicht zu extendiren sind.
14. Wie es in Delictis und Malefiz-Sachen zu halten.
15. Die Schlicht- und Richtung, wann ein Jud den andern Actione personali belangt, wird dem Rabbiner ebenfalls bis auf anderweitige Verordnung gestattet.
16. Wie es mit Obsignation und Verfertigung der Inventarien zu halten. Solche sollten jedesmal an die Renth-Kammer eingesadt werden.
17. Bevormungung geschiehet vor den Beamten, von welchen auch alljährlich die Judenschaftliche Vormundschafts-Rechnungen abzuhören. Wie imgleichen alle Jüdische Ehe-Pacta und andere der Juden Erbschaft angehende Instrumenta confirmirt werden sollen.
18. Forum der Juden ratione Actionum realium, wo es sein soll.
19. Den Juden ist erlaubt im Lande aufrichtigen Handel und Wandel mit allerhand Waren öffentlich zu treiben.
20. Der Garn-, Häute- und Lederkauf, auch das Schlachten in ihren Häusern wird denselben ebenfalls auf gewisse Maße verstattet. Müssen aber von allen Wildhäuten, so sie kaufen, gehörigen Orts-Anzeige tun. Und dürfen kein Fleisch pfundsweise verkaufen.
21. Juden müssen alles an sich bringende Bruchgold und Silber zur Münze liefern und dürfen solches außer Landes nicht verpachten, noch durch Einschmelzen und sonsten der Münze entziehen. Auch kein Geld ohne Obrigkeitliche Erlaubnis außer Landes schicken.
22. Juden mögen von großen ausgeliehenen Summen über 20 Taler 6 pro Cent Interesse dergbleichen nehmen. Dürfen aber hierbei keinen Wucher treiben, noch auch anstatt der Geld-Zisen, Frucht, Garn und dergleichen nehmen. Was bei den Schuld-Beschreibungen zu beobachten [sei]. Wenn die ausgeliehene Summa unter 20 Taler, darf davon 8 pro Cent genommen werden. Und gelten alsdann privat Handschriften, so von ein paar Zeugen mit unterschrieben. Wie und welcher Gestalt Wechsel-Briefe gelten sollen.
23. Unerlaubte Cessiones Actionum werden nach den Reichs-Satzungen getraft.
24. Juden müssen alle Contracte und handlungen in ihrem alleinigen Rahmen schließen und keine Gefährde brauchen.
25.Dürfen, wenn sie mit auswärtigen contrahiren, keinen Hessischen Bürgen oder Geldschuldner mit einführen.
26. Sollen, wenn gestohlene oder verdächtige Sachen an sie kommen, davon sogleich Anzeige tun.
27. Strafe des Wuchers.
28. Kein Jude darf, ohne dass er vorher das Abzugs-Geld berichtiget und einen Abschied erlangt außer Landes sich hinweg begeben.
29. Juden sollen keine Feld-Güter, so wenig käuflich als gewisse Maße unterpfändlich, an sich bringen.
30. Auch keine Früchte auf dem Halm kaufen, noch wenn sie jemand vorgestrecket, sich dagegen Früchte, in einem geringeren als Marktgängigen Preise, wieder liefern lassen. Juden sollen keiner Obrigkeit etwas schenken, noch diese das Geringste von ihnen annehmen.
Kaffeetauschverbot aus dem Jahr 1794
In dem Kaffeetauschvrbot aus dem Jahr 1794 wird den Juden bei Strafe untersagt Kaffee gegen Naturalien und nicht gegen Geld abzugeben. Wenn sie sich nicht an dieses Verbot halten, wird ihnen der Schutz verwehrt.
Fruchthandelsbeschränkung aus dem Jahr 1795
In dieser Handelsbeschränkung aus dem Jahr 1795 wird den Juden vorgeworfen, dass sie Früchte "auf Wucher kaufen" und deshalb die Teuerung der Früchte zu verantworten haben. Aus diesem Grunde wird ihnen der Handel mit Früchten bei Strafe untersagt - sie dürfen diese weder kaufen, noch verkaufen. Es wird nur eine Ausnahme gestattet: Für den privaten Gebrauch dürfen weiterhin unter bestimmten Auflagen Früchte gekauft werden.

Das Königreich Westphalen wurde am 15. November 1807 gegründet und umfasste die Gebiete des Kurfürstentums Hessen, des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel, der ehemals preußischen Gebiete westlich der Elbe, den südlichen Teil Hannovers sowie die Bistümer Hildesheim, Paderborn und Osnabrück. Die Gründung dieses neuen Staates ohne jegliche historische Tradition geht auf die Initiative Napoléons zurück, seit 1804 selbsternannter Kaiser der Franzosen, der sich zu diesem Zeitpunkt infolge seiner erfolgreichen Feldzüge auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Der gesamte Süden und Westen des ehemaligen deutschen Reiches standen im Rahmen des Rheinbundes unter französischem Einfluss. Um diese Position zu sichern, entschied sich Napoléon für die Gründung des Königreichs Westphalens, das neben der militärischen Pufferfunktion gegenüber Preußen und Österreich einen politisch-propagandistischen Auftrag erfüllen sollte. Als liberal-aufklärerischer und vorbildlich geführter Modellstaat erhoffte Napoléon den Beweis für die Überlegenheit der fortschrittlichen französischen Gesellschaftsordnung zu erbringen. Vor allem innerhalb des Rheinbundes sollte diese Vorbildfunktion des neuen Staatesgebildes die Ausrichtung der übrigen Rheinbundstaaten an Frankreich und dessen ordnungspolitischen Vorstellungen verstärken und die Stellung Frankreichs in Europa auf diese Weise langfristig sichern.
Dem neuen Staatskonstrukt mangelte es jedoch erheblich an Legitimität. Vor allem die ländliche Bevölkerung zeigte sich weiterhin loyal zu den ehemaligen Herrschern und betrachtete das oktroyierte französische Modell dementsprechend als Fremdherrschaft. Legitimierten die bisher herrschenden Fürsten ihre Macht traditional unter Berufung auf die Zugehörigkeit zu einer weit in die Geschichte zurückreichenden Herrscherdynastie, so waren Napoléon und sein Bruder Jérôme, der zukünftige König des neu geschaffenen Staatsgebildes, darauf angewiesen, die neue Herrschafts- und Gesellschaftsordnung Westphalens auf völlig andere Art und Weise zu rechtfertigen. Im Vorfeld der Gründung des Königreichs Westphalen wurde deshalb auf die Rationaliät der neuen staatlichen Ordnung großen Wert gelegt. Jedem Bürger solle offenkundig werden, dass es sich unter einer Regierung, die auf der Grundlage des Rechts für jeden nachvollziehbare und erwartbare Entscheidungen trifft, viel besser leben lasse als unter der Willkürherrschaft eines an keine Rechtsbeschränkungen gebundenen absolutistischen Herrschers. Am 15. November 1807, dem Tag der Verabschiedung der westphälischen Verfassung, schrieb Napoléon an seinen Bruder: „Quel peuple voudra retourner sous le gouvernment arbitraire prussien, quand il aura goûté les bienfaits d’une administration sage et libérale?“
In diesem Sinn wurde das Königreich Westphalen unter Bezugnahme auf das französische Vorbild als Modell- und Vorbildstaat konstruiert, der durch die rechtliche Etablierung der aufklärerisch-liberalen Prinzipien der französischen Revolution mit den überkommenen Herrschaftssystemen demonstrativ brach. Westphalen erhielt als erster Staat auf deutschem Boden eine geschriebene Verfassung, die tradierte Adelsprivilegien und die Feudalherrschaft abschaffte und die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie die freie Ausübung der Religion einführte. Konsequenterweise bemühte sich die in Kassel sitzende Regierung des Königreichs in diesem Zusammenhang auch um die rechtliche Gleichstellung der ca. 19 000 Juden ihres Staatsgebiets, die in den bisher gültigen Rechtsordnungen immer eine diskriminierende Sonderstellung einnahmen. Ihre Bewegungsfreiheit war ähnlich wie in anderen Ländern Europas eingeschränkt gewesen, sie waren vielerorts hohen Sondersteuern ausgesetzt und ihre Berufswahl und –ausübung wurde in der Regel äußerst streng kontrolliert. Gegen diese Ungleichberechtigung hatten sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts einige Aufklärer gewehrt. Vor allem die auf die Emanzipation der Juden drängenden Schriften des Chrsitian Wilhelm von Dohm hatten im Vorfeld der französischen Revolution große Wirkung entfacht und die Verabschiedung des ersten Emanziaptionsgesetzes der Assemblé constituante in Paris am 27. September 1791 beinflusst, wodurch die Juden Frankreichs die Gleichheit vor dem Gesetz erlangten. An diese Linie schloss auch die neue Kasseler Regierung an. Sie beendete ab 1808 mit einer Reihe von Dekreten die rechtliche Ausgrenzung und etablierte somit die volle Rechtsgleichheit zwischen Juden und der restlichen Bevölkerung (u.a. Emanzipationsdekret von 1808, Dekret über die Eidleistungen von Juden). Doch nicht nur bei der rechtlich-formalen Gleichstellung zeigte die neue Regierung großen Elan. Sie achtete auch auf die Implementierung und Befolgung der Emanzipationsgesetze auf den unteren Verwaltungsebenen (z.B. Schreiben des Justizministers an den Präfekten des Werra-Departements), wobei sie dabei auf Grund einiger Vagheiten in der Emanzipationsgesetzgebung (siehe Art. 2 des Emanzipationsdekrets) und weiterhin fortbestehender antijüdischer Stereotypen nur teilweise erfolgreich war.
Sebastian Haus
Berding, Helmut: Die Emanzipation der Juden im Königreich Westphalen (1807-1813), in: Archiv für Sozialgeschichte 23/1983, S. 23-50.
Ders.: Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modell- und Satellitenstaat (1807-1813), in: Dethlefs, Gerd u.a. (Hg.): Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen, Paderborn 2008, S. 15-29.
Herzig, Arno: Die erste Emanzipationsphase im Zeitalter Napoleons, in: Fremark, Peter u.a. (Hg.): Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, S. 130-147.
Minninger, Monika: Gleichberechtigte Bürger? Zur behördlichen Umsetzung der neuen Judengesetzgebung in den westlichen Distrikten des Königreichs Westphalen, in: Dethlefs, Gerd u.a. (Hg.): Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen, Paderborn 2008, S. 337-355.
In Bezug auf die Artikel 10 und 15 der Verfassung des Königreichs Westphalen setzt dieses Dekret König Jérômes vom 27. Januar 1808 erstmals auf deutschem Boden die volle rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung im Königreich durch (siehe v.a. Art. 1). Diese solle nach Art. 2 nicht nur für die im Königreich lebende jüdische Bevölkerung gelten, sondern auch für die durch das Herrschaftsgebiet Jérômes reisenden Juden. Ferner hebt das Dekret alle bisher für Juden geltende Sonderzahlungen auf (Art. 3), erlaubt unter Berücksichtigung des Code Napoléon die Heirat ohne die Verpflichtung, zuvor eine offizielle Erlaubnis dafür einholen zu müssen (Art. 4), und gewährt den Juden das Recht auf Freizügigkeit sowie auf freie Berufswahl, sofern „sie der Municipalobrigkeit davon gehörige Anzeige machen, und die Zunft- und Handwerksordnungen [...] beobachten.“ (Art. 5).
Allerdings wurden die recht vagen Bestimmungen des Artikels 2 von Seiten der Kasseler Regierung nie durch Zusatzverordnungen präzisiert, woraufhin der Zuzug von Juden in bestimmten Landesteilen weiterhin von Sonderabgaben und Mindesteinkommen abhängig war.
Das Dekret vom 31. März 1808 über die Errichtung eines jüdischen Konsistoriums ist an der von Napoléon eingerichteten französischen Konsistoralverfassung ausgerichtet und regelt das Verhältnis zwischen der jüdischen Glaubensgemeinschaft und dem westphälischen Staat, indem es den Juden einerseits die freie Ausübung ihrer Religion zusichert, sie andererseits aber auch dazu anhält, ihre staatsbürgerlichen Pflichten, wie den Militärdienst, wahrzunehmen. Dabei wird die emanzipatorische Absicht der Kasseler Regierung in der Präambel sehr deutlich. Das Dekret sei unter der Erwägung beschlossen worden, dass "die Juden gleich Unsern andern Unterthanen die freie Ausübung ihres Gottesdienstes genießen sollen" sowie in der Absicht, dass „die Juden nicht eine getrennte Gesellschaft im Staate ausmachen dürfen, sondern, nach dem Beispiele aller Unserer anderer Unterthanen, sich in die Nation, deren Glieder sie sind, verschmelzen müssen.“
Neben der Zusage, ihre Religion ähnlich der christlichen Glaubensgemeinschaften frei ausüben zu dürfen, regelt das Dekret den organisatorischen Aufbau, die Zuständigkeiten des Konsistoriums, wobei sich die Kasseler Regierung bei wesentlichen Entscheidungen ein Mitspracherecht einräumt. Das Dekret greift darüber hinaus teilweise tief in traditionelle Rituale der Juden ein, was seitens der jüdischen Gemeinschaft nicht ohne Protest hingenommen wurde.
Transkription:
"Je vous adresse, Monsieur le Préfet, une réclamation des Juifs Judmann et Wolf Wallach, relative au paîturage commun qui leur est refusé à Neukirchen où ils sont domiciliés.
Ils se plaignent, qu’ils ont déjà été condamnés à une amende de 9 thalers 22 albus, dont ils demandent la remise ; et que si on leur refuse la jouissance du pac[c]age, ce n’est point parce qu’ils sont marchands de bestiaux, puisque des bouchers qui entretiennent jusqu’à 60 à 100 brebis en jouissent paisiblement, mais seulement parce qu’ils sont juifs.
Si le refus n’avait pas d’autre motif, il ne me paraitrait pas fondé, attendu que les juifs sont appellés à jouir dans leurs communes respectives des mêmes avantages que les autres habitan(t)s.
Veuillez bien, Monsieur le Préfet, prendre des informations précises sur l’objet de cette réclamation et les usages particuliers de la Commune, et me les adverser avec votre avis.
Recevez l’assurance de ma parfaite considération.
Le Ministre Simeon"
Übersetzung:
"Ich richte an Sie, Herr Präfekt, eine Beschwerde der Juden Judmann und Wolf Wallach, bezüglich der ihnen verweigerten gemeinsamen Weide in Neukirchen, wo sie wohnen.
Sie beschweren sich, dass sie schon zu einer Strafe von 9 Thalern und 22 Albus verurteilt wurden, deren Aufhebung sie verlangen; und dass, wenn man ihnen die Nutzung der Weide verwehrt, dies nicht deshalb geschieht, weil sie Viehhändler sind, denn davon profitieren Schlachter die bis zu 60 bis 100 Schafe unterhalten, sondern nur weil sie Juden sind.
Wenn die Weigerung kein anderes Motiv hatte, würde sie mir, in Anbetracht der Tatsache, dass Juden dazu angehalten werden in ihren jeweiligen Gemeinden die selben Rechte zu genießen wie die anderen Einwohner, nicht begründet erscheinen.
Ich bitte Sie, Herr Präfekt, genaue Informationen zum Gegenstand dieser Beschwerde und zu den besonderen Vorgängen der Gemeinde zu sammeln und mir sie samt Ihrer Einschätzung zukommen zu lassen."

Während der politischen Umwälzungen der Napoleonischen Kriege hatten die Juden in den unter französischem Einfluss stehenden Gebieten weitestgehend die rechtliche Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerungsmehrheit erhalten. Nach der Niederlage Napoleons und der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815, die mit einer teilweisen Restaurierung vorrevolutionärer Herrschaftsverhältnisse einherging, nahmen viele Herrscher die volle rechtliche Emanzipation der Juden zurück. Juden waren fortan zwar prinzipiell anderen Bevölkerungsgruppen gleichgestellt, wie etwa die kurhessische Verordnung vom 14. Mai 1816 in § 1 festsetzt, sahen sich aber erneut bestimmten rechtlichen Beschränkungen ausgesetzt.
Von einer Rückkehr zu den repressiven Judenordnungen des 18. Jahrhunderts und dem Konzept des „Schutzjudens“ kann allerdings trotz mancher rechtlicher Repression nicht die Rede sein. Mit der Einführung von Verfassungen in zahlreichen Teilstaaten des Deutschen Bundes und dem damit verbundenen rechtlichen Übergang vom Schutzjuden zum jüdischen Vollbürger behielten die Juden Freiheiten und Rechte, die ihnen während der Revolutionszeit zugestanden wurden. So wurden etwa viele Niederlassungsverbote in Städten aufgehoben. Viele Juden konnten davon ökonomisch profitieren und sozial aufsteigen.
Gegen diese Entwicklung entstand im Laufe der Zeit unter Studenten und Angehörigen der Mittelschicht Süd- und Mitteldeutschlands eine Protesthaltung, die sich 1819 in vielen Städten in gewaltsame antijüdische Ausschreitungen entlud. Tiefer liegende Gründe waren die Unzufriedenheit über die sozioökonomischen Veränderungen der Zeit und über die aufkommende jüdische Geschäftskonkurrenz sowie festsitzende antijudaische Vorurteile gegen die Juden. Da die Initiatoren und Teilnehmer dieser Ausschreitungen vielerorts den Hetzruf „hepp hepp“ verwendeten, gingen diese Unruhen als Hepp-Hepp-Krawalle in die Geschichte ein. Die staatlichen Stellen versuchten die Krawalle zu unterbinden, setzten das Militär ein, das zeitweise in jüdischen Wohngegenden patrouillierte, und leiteten Untersuchungen gegen die Initiatoren und Teilnehmer der Krawalle ein (siehe dazu das Vorgehen der kurfürstlichen Regierung gegen den Studenten Valentin Heyn, vermutlich Verfasser eines antijüdischen Flugblattes, in den Dokumenten 9-13). Die Krawalle breiteten sich jedoch sehr rasch von Würzburg ausgehend über Bamberg, Bayreuth nach Mannheim, Frankfurt, Fulda und Marburg bis nach Hamburg aus und verliefen in den verschiedenen Orten nach ähnlichen Mustern: Meist wurden anonyme Flugblätter verteilt, die zur Vertreibung der Juden aus der jeweiligen Stadt aufriefen. Häufig versammelte sich spontan eine Gruppe von aufgebrachten Menschen vor jüdischen Häusern und Geschäften und zerstörte Fensterscheiben. Teilweise wurde auch jüdischen Passanten Gewalt angetan. Die Ausschreitungen waren immer von dem genannten Hepp-Hepp-Hetzruf begleitet, dessen Bedeutung auf mehrere Weisen erklärt werden kann: als Akronym für die Namen der größten biblischen Judenfeinde: Haman, Esau und Pharao; als Akronym für „hierosolyma est perdita“ (Jerusalem ist verloren; eigentl. „sunt perdita“), ein Schlagwort aus den Kreuzzügen (die Juden haben angeblich mancherorts mit „jepjep“ geantwortet: „jesus est perdita“); „Hepp“ als Aufforderung zum Springen, Davonlaufen, vor allem im Umgang mit Tieren, oder als lautmalerische Umschreibung für das Meckern von Ziegen.
Die im Folgenden ausgestellten Dokumente befassen sich mit den Hepp-Hepp-Unruhen in Hessen, vor allem in der Stadt Fulda, in der Mitte August 1819 antijüdische Ausschreitungen ausbrachen. Wie in vielen Dokumenten deutlich wird – unter anderem an einem anonymen Circular an die Bürger Fuldas – betrachteten die anonymen Initiatoren der gewaltsamen Proteste die Krawalle in Würzburg als Fanal für die Vertreibung der Juden aus den Städten. Dass sich die Krawalle in Windeseile von Würzburg nach Fulda und in andere deutsche Städte verbreiteten und dort auf viel Zustimmung und Bereitschaft zur Nachahmung stießen, lässt auf ein allgemeine wirtschaftliche Unzufriedenheit und eine weit verbreitete Judenfeindlichkeit in weiten Teilen Deutschlands schließen. Dass allerdings die staatlichen Behörden die Gewalt gegen Juden nicht unterstützten, sondern im Gegenteil zu verhindern versuchten, zeigen die Protokolle der Fuldaer Polizei. So lässt sich an den verschiedenen Berichten des Fuldaer Polizeidirektors an den Kurfürsten nicht nur im Detail nachvollziehen, welche Form und Verlauf die antijüdischen Proteste in Fulda annahmen und welche Bevölkerungsgruppen sich daran beteiligten. Auch der Versuch der Polizei und des Militärs, die Krawalle einzudämmen und zu beenden, ist dort genau dokumentiert.
Dass die Hepp-Hepp-Unruhen weit reichende Folgen nicht nur für die Sicherheit der Juden selbst, sondern auch für das reibungslose Funktonieren der Wirtschaft im Allgemeinen hatten, zeigen zwei Berichte der Zeitung „Der Korrespondent“ vom 11. September 1819. Dort wird deutlich, dass viele jüdische Händler die Reise zur Messe in das von Hepp-Hepp-Krawallen heimgesuchte Frankfurt scheuten – aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen. Der Erfolg der Messe wurde dadurch geschmälert.
Sebastian Haus
Literatur:
Erb, Rainer/Bergmann, Werner: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860, Berlin 1989.
Heinrich Graetz ist ein bekannter deutsch-jüdischer Historiker des 19. Jahrhunderts. Er wurde 1817 in Xions/Posen geboren und starb 1891 in München. Seit den 1850er Jahren war Graetz als Dozent an mehreren Schulen, später an der Universität Breslau tätig, wo er 1869 von der preußischen Regierung zum Honorarprofessor ernannt wurde. Seine elfbändige „Geschichte der Juden von den Anfängen bis zur Gegenwart“ ist eine der wirkmächtigsten Geschichtsdarstellungen aus dem 19. Jahrhundert. Sie erschien erstmals zwischen 1863 und 1875 und wurde seither mehrmals neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt. Graetz schreibt die Geschichte der Juden nicht als reine Religionsgeschichte, sondern bringt sie in Verbindung mit der Nations- und Vaterlandsidee des 19. Jahrhunderts, wodurch Graetz ein Ideengeber des Zionismus wurde.
Auszug aus Graetz' "Geschichte der Juden":
"[. . .]
Die Gemüter waren damals in Deutschland durch die Ermordung Kotzebues in Mannheim von der Hand des christlich-romantisch überspannten Studenten Karl Sand (23. März 1819) und durch die Gewaltmaßregeln der Regierungen gegen demagogische Umtriebe und Deutschtümelei, die sie früher selbst genährt hatten, sehr erregt. Die Deutschtümler lechzten nach einem Opfer, um an ihm ihre Rache zu kühlen, und da sie den Staatslenkern, den Metternichs, Gentz', Kamptz', die täglich neue Verfolgungen gegen sie ersannen, nicht beikommen konnten, so wurden die hilflosen Juden dazu ausersehen. Eine Reihe brutaler Wutausbrüche, welche den niedrigen Bildungsgrad der mittleren Volksklassen in Deutschland in der damaligen Zeit bezeichnen, erfolgte mehrere Monate hintereinander. Mit dem Hep-Hep-Geschrei gegen Juden tauchte das Mittelalter in seiner grausigsten Gestalt wieder auf; es wurde von der Studentenschaft und dem Kaufmannsstande wieder aufgefrischt.
Den Reigen eröffnete die Stadt Würzburg. Ein neuer Professor wurde (2. August) von der Studentenschaft feierlich eingeholt, und viel Volk hatte sich angeschlossen. Plötzlich wurde ein alter Professor Brendel bemerkt, der kurz vorher zugunsten der Juden geschrieben hatte. Es hieß, er habe dafür von ihnen eine Dose voll Dukaten bekommen. Bei seinem Anblicke erscholl aus dem Munde der Studenten der unsinnige Ruf „Hep-Hep!“ mit dem pöbelhaften Zusatz „Jud' verreck!“ Im studentischen Kauderwelsch sollte das damals zuerst aufgekommene Wort bedeuten: „Jerusalem ist verloren“ (Hierosolyma est perdita!). Brendel wurde verfolgt und mußte sich retten. Den Tumult benutzten brotneidische Kaufleute, welche erbittert darüber waren, daß jüdische Konkurrenten den Kaffee um einige Kreuzer billiger verkauften, und einige andere, welche etwas gegen einen geadelten jüdischen Kapitalisten Hirsch hatten. Eine leidenschaftliche Wut bemächtigte sich der Bevölkerung. Sie erbrach die Kaufläden der Juden und warf die Waren auf die Straße. Und als die Angegriffenen sich zur Wehr setzten und mit Steinen warfen, steigerte sich die Erbitterung bis zur Raserei. Es entstand eine förmliche Judenschlacht wie im Mittelalter, es kamen Verwundungen vor, mehrere Personen wurden getötet. Etwa vierzig Bürger hatten sich an diesem Judensturm beteiligt. Militär mußte zur Dämpfung der Erbitterung herbeigeholt werden, sonst wären die Juden niedergemetzelt worden. Tags darauf stellte die Bürgerschaft die Forderung an die städtische Behörde, daß die Juden Würzburg verlassen sollten. Und sie mußte sich fügen. Mit Trauer verließen etwa vierhundert Juden jeden Alters die Stadt und lagerten mehrere Tage in den Dörfern unter Zelten, einer trüben Zukunft entgegensehend. - Ähnliche Szenen wiederholten sich bald in Bamberg und in fast allen Städten Frankens. Wo sich ein Jude blicken ließ, wurde er mit dem Schimpfnamen „Hep-Hep“, „Jud' verreck“ angebrüllt und mißhandelt.
Für Frankfurt war diese Judenhetze in Franken ein Fingerzeig, wie die Verhaßten gedemütigt werden könnten, sie, die gewagt hatten, einen Prozeß gegen den Senat zu führen, und die einige Beschützer beim Bundestage hatten. So wiederholte sich hier (9.-10. August) ein Krawall; er begann mit dem Hep-Hep-Ruf und mit Zerstören der Fensterscheiben an jüdischen Häusern und steigerte sich zu der Rohheit, alle Juden mit Hohn und Mißhandlung von den Promenaden zu verjagen. Handwerker, Tagelöhner, Ladendiener, von ihren Brotherren heimlich ermutigt, machten, wie zwei Jahrhunderte vorher, zur Zeit Vincenz Fettmilchs, zerstörende Angriffe auf jüdische Häuser. Ganz besonders war es auf Rothschilds Haus abgesehen, dessen Reichtum und Bedeutung in politischen Kreisen den christlichen Patriziern ein Dorn im Auge war. In Paris erschienen zur selben Zeit auf einem von James Rothschild veranstalteten Balle sämtliche Gesandte und diplomatischen Vertreter, und in Deutschland behandelte man die Rothschilds noch wie Trödeljuden. Mehrere vermögende Juden verließen das judenmörderische Frankfurt. Dieser zur Wut gesteigerte Judensturm in Frankfurt, dem Sitze des Bundestages, war den Gesandten nicht gleichgültig. In Rothschilds Koffer waren Gelder des Bundestages zur Sicherheit niedergelegt. Der Vorsitzende, Graf v. Buol-Schauenstein, berief daher eine Konferenz der Mitglieder zur Beratung, und es wurde beschlossen, Bundestruppen aus Mainz zu berufen, da der Stadtmiliz nicht zu trauen sei. Stafetten flogen nach allen Seiten hin. Dadurch machte die Frankfurter Judenhetze in ganz Europa großes Aufsehen. Die Aufregung gegen die Juden dauerte indessen trotz der herbeigezogenen Truppen noch immer fort. Mehrere derselben verkauften daher ihre Häuser, und selbst die Rothschilds trauten dem Frieden nicht und dachten ernstlich daran, Frankfurt den Rücken zu kehren. Sie hätten nach Frankreich oder England übersiedeln müssen; denn in Deutschland waren sie damals nirgends ganz sicher.
Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Nachrichten dieser Judenschlacht in Deutschland, als hätte die Bevölkerung überall nur auf ein Zeichen gewartet, um loszubrechen. In Darmstadt und Bayreuth wiederholten sich (12. August) die Stürme. Aus Meiningen wurden die wenigen Juden vertrieben. In Karlsruhe fand man eines Morgens (18. August) an der Synagoge und an den Häusern angesehener Juden einen Zettel angeheftet mit den Worten „Tod und Verderben den Juden!“ Hier war es der Hofbankier Haber, dessen Reichtum die Bevölkerung zur Wut stachelte. Ein Offizier beschimpfte einen geachteten jüdischen Lehrer am Lyceum öffentlich. Die Hamburger folgten nach (21.-24. August). Die Juden wurden aus den Kaffeehäusern und von der Post mit Hohn und Beleidigungen verjagt, die Fenster ihrer Häuser wurden eingeschlagen. Da sie sich hin und wieder zur Wehr setzten, so bedeutete sie der Senat drohend, sie sollten bei Strafe sich jeder Gelegenheit zum Streit enthalten. In Düsseldorf fand man (28. August) die Haustüren mehrerer jüdischer Häuser durch schwarze Striche und drohende Zettel bezeichnet. Im Badischen, wo Sand die deutschtümelnde Narrheit mit einem Mord besiegelt hatte und die Aufregung der Gemüter noch fortdauerte, war die Erbitterung gegen die Juden so groß, daß kein Jude sich auf den Straßen blicken lassen konnte, ohne beschimpft oder mißhandelt zu werden. In Heidelberg kam es (Anfang Sept.) zu einem Tumulte infolge eines pöbelhaften Auftrittes, der den ritterlichen Charakter der Deutschen in ein wunderliches Licht setzt. Ein Bürger hatte ein jüdisches Mädchen mißhandelt und war von der Polizei verhaftet worden. Alsbald erhob sich fast die ganze Bevölkerung, um den Helden zu befreien und die jüdischen Häuser zu zerstören. Die Hep-Hep-Rufe erschollen in den Straßen; Äxte, Brecheisen, Werkzeuge aller Art wurden wie zu einer Erstürmung zusammengebracht. Die Bürgergarde, welche die Anstürmenden auseinandertreiben sollte, versagte ihren Dienst. Der Stadtdirektor Pfizer, statt den Verfolgten beizustehen. unterstützte die Verfolger. Es wäre Blut vergossen worden, wenn nicht die Heidelberger Studentenschaft, vielleicht durch Berührung mit Frankreich menschlicher gestimmt, angeführt von zwei Professoren, Daub und Thibaut, die Wehrlosen mit eigener Gefahr geschützt hätte. Erst als die bewaffnete Macht einschritt, Patrouillen das ganze badische Land durchschweiften, und jedes Städtchen und jedes Dorf für Angriffe einzelner aus ihrer Mitte auf die Juden verantwortlich gemacht wurde, legte sich allmählich der Judensturm; aber der Haß wurde dadurch nur noch ingrimmiger.
Aus Deutschland flog der Funke des Judenhasses sogar in die Hauptstadt des dänischen Staates, der einige Jahre vorher den Juden das Bürgerrecht erteilt und es nicht wieder zurückgenommen hatte. Die Veranlassung dazu war, daß flüchtige jüdische Kaufleute aus Hamburg sich in Kopenhagen niederließen und andere ihnen nachzufolgen ermutigten. Deswegen regte sich der Brotneid, möglicherweise von deutschen Kaufleuten aufgestachelt. Hier erhob sich indes (Sept.) nur der Pöbel, begann mit Steinwürfen gegen Juden und endete mit Tätlichkeiten und Verwundungen. Die Regierung mußte das Standrecht verkünden. Die Bürger standen dagegen in den wenigen Städten, wo Juden wohnten, diesen bei, und die Prediger verkündeten von den Kanzeln Duldung und Liebe gegen sie. In Deutschland blieben die Diener der Religion beim Anblick der Roheiten stumm oder sahen ihnen gar schadenfroh zu. Angriffe auf Juden hatten sich von Würzburg aus südwärts bis Karlsruhe und nordwärts bis Danzig erstreckt; am häufigsten jedoch waren sie in Bayern und Baden, wo der Judenfresser Fries gewühlt hatte. Damit kein Zug von den mittelalterlichen Judenhetzen fehlen sollte, wurde in einem kleinen bayrischen Orte eine Synagoge gestürmt, und die Gesetzrollen wurden in roher Weise zerrissen. Auch da, wo sich die Faust nicht ballen konnte, donnerte der Mund in kleinen und großen Städten jedem Juden ein Hep-Hep zur Belustigung der Zuschauer entgegen. Die polizeiliche oder soldatische Mannschaft, welche gegen die Stürmer und Schreier einschritt, nahm im Stillen Partei gegen die Juden, und die Regierungen, welche sie schützten, taten es mehr aus Furcht, weil sie hinter dem Judensturme demagogische Umtriebe argwöhnten. Später beriefen sie sich auf diese Gewaltausbrüche, als auf den Volkswillen oder Unwillen gegen die Juden, um ihnen die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vorzuenthalten.
Die höchste Blüte des deutschtümelnden Judenhasses bildet die in der Zeit der Aufregung erschienene Brandschrift „Der Judenspiegel“ (Nov. 1819). Hartwig Hundt, ein Mann von abenteuerlicher Existenz, der, weil er bei einem adeligen Polen Radowsky Hauslehrer war, sich den Adelstitel v. Hundt-Radowsky beilegte und gegen den Adel schrieb, weil er in dessen Reihen nicht zugelassen wurde, forderte geradezu auf, die Juden totzuschlagen. Wahrscheinlich hatten sie sein Raubrittertum nicht nach seiner Erwartung befriedigt. Er nannte sich bescheiden Grattenauer den Zweiten, übertraf aber sämtliche Judenfeinde, welche seit der Erfindung der Buchdruckerkunst von Pfefferkorn, Ortuin Gratius und Dr. Martin Luther an bis auf Rühs, Fries und die Frankfurter Judenfresser, die Demütigung oder Vertilgung der Juden als Herzensangelegenheit behandelt haben. Hundt-Radowsky machte sehr löbliche Vorschläge, welche, wie er sich schmeichelte, die Hep-Hep-Männer befriedigen würden. „Obgleich ich meines Ortes die Tötung eines Juden weder für eine Sünde, noch für ein Verbrechen halte, sondern bloß für ein Polizeivergehen, so werde ich doch nie raten, sie, wie es mir jetzt im andern Falle Mode zu werden scheint, ungehört zu verdammen und zu bestrafen.“ Was denn? Seine Ratschläge waren: „Man verkaufe Israels Kinder an die Engländer, welche sie statt der Schwarzen in ihren indischen Pflanzungen gebrauchen können. Damit sie sich nicht vermehren, sollte man die Männer entmannen und ihre Weiber und Töchter in Schandhäusern unterbringen. Am besten werde es jedoch sein, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer, indem man sie entweder ganz vertilge oder sie, wie Pharao, die Meininger, Würzburger und Frankfurter es gemacht haben, zum Lande hinausjage.“ Selbstverständlich ließ er an den Juden von den ältesten Zeiten an bis auf seine Zeitgenossen kein gutes Haar. Sie seien sämtlich verworfen, „selbst ihre Dichter seien Betrüger und hätten einen kurzen Fuß statt eines langen.“ Der Hep-Hep-Sturm und Hundt-Radowskys Mordpredigten waren die giftige Frucht der Saaten, welche Fichte und Schleiermacher ausgestreut hatten; sie sind schnell und voll genug aufgegangen.
Diese Brandschrift des sogenannten v. Hundt-Radowsky, in der jedes Wort eine Scheußlichkeit ist, wurde von der deutschen Lesewelt gieriger verschlungen als seine schlechten Romane. Erst auf Antrag der Juden wurde sie hier und da von der durch die Karlsbader Beschlüsse allmächtigen Zensur verboten und konfisziert. In Portugal wurde um dieselbe Zeit bei den Cortes ein Antrag eingebracht, die ausgestoßenen Juden wieder zuzulassen und das an ihnen begangene Verbrechen zu sühnen, und in Deutschland rechtfertigten Schriftsteller und Staatsmänner dieses Verbrechen und wünschten, daß es im neunzehnten Jahrhundert wiederholt würde! Hundt stand nicht vereinzelt da mit seinen Vorschlägen zur Vertilgung der Juden, er hatte Gesinnungsgenossen. Ein Deutschtümler aus Frankfurt, der sich der Weiß-Becker nannte, beleuchtete in derselben Zeit (1819) „Das Leben, Dichten und Trachten der Juden“, angeblich nach dem Richterspruch der Vernunft, in Wahrheit aber nach den Eingebungen des blindesten, leidenschaftlichsten Hasses. Wer will alle diese judenfeindlichen, aufregenden Schriften gegen die Juden aus den Jahren des Hep-Hep-Sturmes aufzählen? Bei Besprechung der Tagesfragen, mochten sie auch noch so fern von dem Verhältnis zu den Juden liegen, wurden diese herbeigezogen, um sie zu besudeln. Verherrlichten sie Sand und seine Mordtat an Kotzebue und rühmten sie dessen christliches, religiöses Gefühl, so verfehlten sie nicht, hinzuzufügen, daß „der christliche Haß den Tag des Gerichtes über die Juden, die privilegierten Spießgesellen der Plusmacherei“, herbeirufen würde, auch „wenn kein Schriftsteller je einen Buchstaben zum Nachteile der Juden der Presse“ anvertraut hätte.
[...]"
zitiert nach: http://www.heinrich-heine-denkmal.de/dokumente/graetz-hep.shtml
Arbeitsaufträge:
1. Arbeiten Sie anhand des Dokuments die verschiedenen Krawallformen der Hepp-Hepp-Unruhen heraus: Wie und mit welchen Mitteln gingen die Protestler gegen die Juden vor?
2. Versuchen Sie eine Aussage über die Verbreitung und das Ausmaß der antijüdischen Hepp-Hepp-Krawalle zu treffen.
2. Wie verhielten sich die staatlichen Organe wie Polizei, Militär und Regierungen gegenüber den antijüdischen Ausschreitungen?
3. In den letzten beiden Abschnitten des Textauszuges wird eine antijüdische Brandschrift eines gewissen Hartwig Hundt genannt. Beschreiben Sie die Sprache, die in diesen Brandschriften verwendet wird.
Im Staatsarchiv Marburg ist eine Akte der Polizeidirektion Fulda über die antijüdischen Hepp-Hepp-Ausschreitungen des Jahres 1819 vorhanden, die vor allem die Unruhen in Fulda schildert. Dieser Akte ist der nachstehende Situationsbericht entnommen, an dem sich sehr gut die Vorgänge während der Auschreitungen ablesen lassen.
Transkription:
Verzeichnis der Anzeigen und spuren von Bewegungen und Unruhen wider die Juden im Großherzogthum Fulda, welche seit dem 13. de. M. bis zum 19. desselben Monats bey der hiesigen Polizeidirection gemacht, respective entdeckt worden sind, und der dagegen getroffenen Vorkehrungen.
Am 13ten August
Zeigte der Jude Löb Oppenheimer aus Fulda an, daß der Tagelöhner Ignaz Hack am 10ten d. M. in der Wohnung des Handelsmanns Feurstein dahier gegen ihn geäußert habe: „Du Lumpenhund hast mit Geisen gehandelt und bist jetzt ein reicher Schmarolle; wenn jetzt die Würzburger Beschichte hier loß geht, so spalte ich dir zuerst den Kopf von einander.“
Des Abends um 7 1/2 Uhr wurde die Frau des vorerwähnten Löb Oppenheimer auf der Promenade in der Allee zwei Mal mit einem Stein geworfen und am linken Arm getroffen. Gegen 9 Uhr Abends zeigte der Polizei-Hauptmann Geiß an, daß es in der Judengasse und deren Nähe ungewöhnlich lebhaft sey, daß zahlreiche Trupps junger Leute, Handwerksbursche und dergleichen, auf und ab gingen und von dem Hep, Hep! Rufen gesprochen werde. Der Herr Comandant der Garnison wurde deshalb mündlich um Verfügung der nöthigen Militär-Patrouillen ersucht, dem Polizei-Hauptmanne aber die angemessene Vertheilung und Aufstellung des Polizei-Personals aufgetragen, um bey bedenklicher Anhäufung junger Leute, oder wenn sogar wirkliche Excesse versucht werden wollten, alsbald ins Mittel zu treten, durch Ermahnung zum ruhigen Auseinandergehen und durch etwa nöthige Arretirung.
Am 14ten August
Gingen von verschiedenen Seiten amtliche und Privat-Anzeigen ein, daß man sich an mehreren Orten lebhaft gegen die Juden äußere und Excesse gegen dieselben leicht Eingang finden könnten.
Am 15ten August
Dauerten diese Anzeigen fort, besonders in Beziehung auf junge Leute und auf die gewöhnlichen Kunden der Wirthshäuser. Die deshalb am 13ten d.M. mündlich getroffenen Verkehrungen wurden nun schriftlich wiederholt, und sind bereits dem allerunterthänigsten Berichte vom 17ten d.M. n der Anlage B allerdevotest beygefügt worden.
Am 16ten August
Des Morgens frühe gegen 4 Uhr wurde in der Schmittgasse dahier ein Exemplar des Aufrufs oder Circulars an die Bürger der Stadt Fulda gefunden wovon eine genaue Abschrift mit dem allerunterthänigsten Berichte vom 17ten d.M. und sodann das Original selbst mit dem allerdevotesten Berichte vom 21ten d.M. allersubmissest eingereicht worden. Die Nachforschungen zur Entdeckung des Urhebers oder Verbreiters hatten bisher keinen günstigen Erfolg. Um 8 Uhr Morgens zeigten die Vorgänger der hiesigen Stadtjudenschaft, Meier Epstein und Simon Loser an, daß sie aus vielen Äußerungen des Publicums ähnliche Excesse, wie zu Frankfurt und Würzburg vorgefallen seyen, befürchten mußten und daher um polizeilichen Schutz bitten wollten. Zugleich überreichten sie einen hebräischen Brief des Landjuden-Vorgängers Levi Speier zu Burghaun, worin derselbe eine gleichmäßige Anzeige in Beziehung auf das platte Land machte, und ebenfalls um obrigkeitliche Einwirkung bat: Eine Übersetzung dieses Briefes befindet sich unter der Anlage des allerunterthänigsten Berichts vom 21ten d.M. Es wurden auf diese Anzeigen alsbald die nöthigen Warnungen durch die Beamten, Gassenmeister und Vorsteher der verschiedenen Lehranstalten erlassen, worüber die Anlage C und D meines allersubmissesten Berichts vom 17ten d.M. das Nähere enthalten.Nachmittags zeigte der Polizei-Hauptmann an, daß obige Warnung dringend nothwendig gewesen sey, da bey Bekanntmachung derselben in den Schulen schon von vielen Knaben beäußert worden, daß sie angereizt seyen, in die Judengasse zu gehen und dort Hep Hep! zu rufen, einige auch gleich eingestanden hätten, wirklich so gerufen zu haben. Ferner zeigte derselbe an, daß auch der Flurschütze Schwab heute Morgen in und vor der Krausischen Schanke jenen Ausruf gethan habe; Schwabe wurde alsbald in Arrest gebracht. Die Jüdin Heilbronn gab an, daß sie am Morgen, als sie durch die Löhersgasse gegangen, vor dem hause des Wirthes Konrad Knips mit einem Steine so vor den Kopf geworfen worden, daß sie fast ohnmächtig zur Erde gesunken, und dann noch von einem unbekannten Menschen vor der Thüre des Knips geschimpft worden sey. Abends war viel Bewegung auf den Straßen, Trupps junger Leute und Handwerksbursche auf der sogenannten Tanzhütte, einem öffentlichen Platze in der Nähe der Judengasse. Die Judenvorgänger Meier Epstein und Löser Simon zeigten um 9 Uhr an, daß ein zahlreicher Haufe junger Leute sich bewaffnet bey dem Todtenhofe der Juden außerhalb der Stadt versammelt, und heftige Drohungen gegen die Juden ausgestoßen habe. Der Polizeiwachtmeister wurde deshalb mit einer Militär-Patrouille und mündlicher Instruction hinausgeschickt, referirte hernach aber, daß bei seiner Ankunft am Todtenhofe sich der Haufen schon wieder zerstreut gehabt habe. - Maier Epstein klagte ferner, daß der Sohn des Sattler Oswald ihm, in Beyseyn des Vaters, Hep, Hep! nachgerufen; das der Ladendiener des Kaufmanns Arndt am Kaiser-Rumpf dem Bauer Bolz auf Margarethenhöhe gesagt habe, die Juden würden bis zum nächsten Donnerstag alle for müssen, daß ein Jude aus Wüstensachsen, auf dem Wege nach Fulda von den Bauern in Dipperz gefragt worden, ob er denn nach Fulda ins Feuer gehen wolle? Die Juden hätten sich hier schon in das dritte Stockwerk ihrer Haeuser flüchten müssen. Nach 10 Uhr Abends wurde der Buchbindergeselle Schenk, als er beym Weggehen aus der Kramerschen Schänke in der Judengasse Hep, Hep! gerufen, von dem Polizei-Posten arretirt und dann mit sechs Stunden Arrest bestraft. gegen 11 Uhr war alles ruhig.
Am 17ten August
Kamen noch verschiedene Anzeigen gegen Schulknaben p. wegen jenes Ausrufes ein, welche mit Ermahnungen und nachdrücklichen Warnungen an die vorgeladenen Aeltern geahndet und zugleich die geringen Spuren des Verfassers des gestern gefunden Aufrufs gegen die Juden bey den hiesigen Schreiblehrern, jedoch fruchtlos, verfolgt wurden. Abends spät wurde in Erfahrung gebracht, daß noch ein zweites Exemplar dieses Aufrufs gefunden worden, und zwar ind er Löhersgasse (:Frankfurter Vorstadt:) von einem hiesigen Bierbrauer Namens Kobel. Auch hier ergab sich keine weitere Spur des Verfassers und Verbreiters, da Kobel sowohl all der Finder des ersten Exemplars alle Kenntniß des etwaigen Verfassers oder Verbreiters in Abrede stellten und dieses eidlich erhörten wollten; die Vernehmung der Schreiblehrer hatte eben so wenig Erfolg.
Am 18ten August
War allgemeine Ruhe
Am 19ten August
Kam nur noch zur Anzeige, daß ein kleiner Schulknabe am Stiftsplatze der Ehefrau des Moses Stern Hep, Hep! nachgerufen habe.
Am 20ten bis 24ten August
Allgemeine Ordnung und Ruhe
Arbeitsaufträge:
1. Wie haben die Hepp-Hepp-Krawalle gemäß dem Polizeibericht in Fulda begonnen?
2. Wer nahm an den Ausschreitungen teil? Was könnte bei den verschiedenen Teilnehmern die Motivation gewesen sein, sich an den Ausschreitungen zu beteiligen?
2. Wie reagierte die Polizei bzw. das Militär auf die Unruhen gegen die Juden?
Transkription:
Extract Geheimen Raths Protokolls Cassel den 24ten, August 1819 Der Polizey Director Scheffer zu Fulda berichtet über die daselbst entdeckten Spuren von Unruhen wider die jüdischen Einwohner. Resol: Dient zur Nachricht 2.) Sind die von demselben ergriffenen Maasregeln den sämtlichen übrigen Polizey-Directionen mittelst Abschriftlicher Mittheilung der Beilage B bekannt zu machen Unterschrift P:N: An die Polizey Directionen in Hanau, Marburg und Rinteln ist das Nötige besorgt Geht ad acta am 26.8.19 An die Polizey Direction allhinn Beilage B: Zur Verhütung möglicher Störungen der öffentl. Ordnung und Ruhe ist erforderlich 1. daß heute Abend die Militair-Patrouillen wieder um 9 Uhr ausgehen, als wollten sie zunächst die auf den Strassen befindlichen Soldaten in ihre Quartiere weisen. 2. daß die Patrouillen so lange noch mehrere Menschen auf den Straßen sind, von Viertelstunde zu Viertelstunde oder wo möglich noch öfter ausgehn und ihre Richtung über die Judengasse und sonst wo Zusammenlauf ist, nehmen. 3. daß mit diesen Militair-Patrouillen auf die nächsten Tage fortgefahren werde. 4. daß sämmtliche Polizeidiener bis Mitternacht im Dienst bleiben, dergestalt, daß einer sich auf dem Bureau der zweite beim H. Polizeihauptmann, die übrigen in der Nähe der Judengasse auf den Bohlen und an ähnlichen schicklichen Orten aufhalten. 5. doch muß noch einer für heute Abend bei der Rappschen Tanzmusik seyn, Ordnung halten nothigenfalls arretiren oder die Wache holen und um 10 Uhr Feuerabend bieten resp. bewirken. 6. Wenn größere Trupps zusammenstehn oder gehn, und junge Leute, welche zu den Schulen oder zum Lycee gehören, desgleichen Lehrjungen und Handwerksbusche darunter befindlich sind, so [Seite 2] muß beim ersten Verdacht einer Unruhe besonders wenn Hepp Hepp gerufen oder sonst eine zur Ruhestörung aufregende Äußerung geschieht, jenen jungen Leuten und den Handwerksburschen alsbald befohlen werden sich sofort nach Haus zu begeben, und die übrigen Personen werden gleichfalls dazu aufgefordert. 7. Wird jener Befehl von den Lyceisten Gymnasiasten, Schuljungen Handwerksburschen nicht auf der Stelle durch ruhiges Auseinander- und Weggehen befolgt, so sind die nächsten oder wer sich etwa wörtlich oder thätlich gegen obigen Befehl äußert, alsbald festzunehmen und auf die Wache zu bringen. 8. Diese Maasregeln zur Zerstreuung der bedenklichen Haufen sind jedoch womöglich erst dann anzuwenden, wenn eine Militär-Patrouille von etwa 6 Mann zur Arretirung bereit steht, damit durch obigen Befehl, wenn er nicht alsbald vollstreckt werden kann keine Blöße entstehe. 9. Sollte bedeutendere Widersetzlichkeit erfolgen, so ist nach weiterer Militair-Mannschaft zur nächsten Wache zu schicken, einstweilen aber doch die Festnehmung der heftigsten Ruhestörer so gut als thunlich zu bewirken und dieselben in sicheren Gewahrsam zu bringen. 10. Der H.. General-Commandant der Stadt wäre um Ertheilung der nöthigen Befehle an die Wachen sowohl wegen der von 9 Uhr an ausgehenden Patrouillen als wegen alsbaldiger Verabfolgung [Seite 3] der von der Polizei weiter requirirt werdenden Militair-Hülfe zu requiriren, desgleichen wegen Visitation der geringeren Wirthshäuser und Schenken von 10 Uhr an mit Ausweisung der darin befindlichen Gäste. 11. Besondere Vorfälle während der Zeit, daß der H. Polizeihauptmann dabei anwesend seyn muß, wären mir alsbald zur weiteren Verfügung an(zu)zeigen. 12. Solche Personen besonders Schüler Handwerksbursche pp. welche näheren Verdacht beabsichtigter Unordnung erregen, ohne gerade zu Arrestationen Anlaß zugeben, wären namentlich zu bemerken, um später das geeignete gegen sie eintreten zu lassen. 13. Der H. Polizeihauptmann wird hiernach das Erforderliche besorgen. Fulda, den 15. August 1819 Scheffer Polizeidirector
Arbeitsauftäge:
1. Welche Maßnahmen ergreift der Polizeidirektor gegen die Unruhen gegen die Juden? Wie begründet er das Vorgehen gegen die Unruhen?
2. Wie gedenkt die Polizei mit den Unruhestiftern umzugehen?
3. Versuchen Sie anhand der von der Polizei getroffenen Maßnahmen die Spezifika der Hepp-Hepp-Krawalle auszuarbeiten.
Transkription:
Allerdurchlauchtigster Kurfürst,
Allergnädigster Kurfürst u Herr!
Allerunterthänigster Bericht des Polizeidirectors Scheffer zu Fulda, über die im dasigen Bezirke seit acht Tagen stattgehabten Bewegungen gegen die Juden.
Ein: Königlicher Hoheit verfehle nicht allerunterthänigst zu melden, daß die im hiesigen Polizeidirectionsbezirke seit weniger Woche statt gehabten Bewegungen gegen die Juden, nun aufgehört zu haben, respective beseitiget zu seyn scheinen.
Alsbald nach dem Abgange meines allerdevotesten Berichts vom 17ten v.M. wurde ein zweites Exemplar [Seite 2] des Aufrufes an die Bürger der Stadt Fulda entdeckt, Ein hiesiger Bierbrauer hatte es am 16ten v. M. des Morgens um 5 1/2 Uhr in der Böhersgasse neben einem Fracht Wagen gefunden, dann einigen Bekannten vorgezeigt und hierauf, im Zweifel ob er es verkommen oder an die Polizei abliefern solle, zurück gelegt, bis es ihn am Abend des 17ten v. M. auf erhaltener Anzeige von mir abgefordert wurde, da weder uns der Vernehmlassung dieses Bierbrauers, noch uns die Untersuchung gegen den dresche welcher das erste in meinem allerunterthänigsten Berichte vom 17ten v. M. erwähnte Exemplar gefunden hatte, eine Spur des Urhebers oder der Theilnehmer an der Verfertigung und Verbreitung jenes Aufrufes hervorgegangen ist, und der auch den bei allen Scheiblehrern u Schreibkundigen hiesiger Stadt seither angestellten Erkundigungen rücksichtlich der Handschrift keinen Erfolg gehabt haben: so wage ich es beide Exemplare des unsauberen Products einer erhitzten Bierstube, deren Aeußeres u Styl dem Zwecke vollkommen entsprechen, nebst einem Schreiben des Vorgängers der Landjuden, Michael Levi Speier zu Burghaun über ähnliche Unruhen auf dem Lande anbei für Eure Königlichen Hoheit zur weiteren allerhöchsten Verfügung, allerdevotest zu Füßen zu legen. Seitdem 17ten v. M. ist alles wieder ruhig; auch vom Land her hört man nichts mehr. doch dürfte es nöthig seyn, die Militair Patrouillen noch bis zum nächsten Montag Abend einschließlich fortdauern zu lassen.
In tiefster Unterwürfigkeit erstreben
Scheffer
Fulda d 21 August 1819
Arbeitsaufträge:
1. Von welchem Aufruf an die Bürger Fuldas kann hier die Rede sein?
2. Versuchen Sie anhand dieses kurzen Berichts einige Besonderheiten der schriftlichen Aufrufe zu Hepp-Hepp-Unruhen herauszufinden.
Transkription: Allerdurchlauchtigsten Kurfürst, Der Polizeidirector Scheffer zu Fulda erstattet weiteren allerunterthänigsten Bericht über die entdekten Spuren von Unruhen wider die dasigen Juden, und über den Verfolg der dagegen getroffenen Vorkehrungen Im Verfolg meiner allerunthänigsten Berichte vom 17ten und 21ten d.M. habe Eurer königlichen Hoheit allerdevotigst zu melden, daß numehr jede Spur von Unruhen gegen die hiesigen Juden wieder verwischt ist und das frühere Gift der Würzburger und Frankfurter Vorfälle nicht einmal durch die ähnlichen Nachrichten von Darmstadt und Baireuth wieder aufgeregt werden konnte. die Militair Patrouillen haben seit gestern aufgehört und nur die Polizei Wachen und Posten musten nach meinem allerunterthänigsten dafürhalten noch einige Wachen in und an der Judengasse des Abends von 9 bis 10 Uhr zu belassen seyn, da den ruhig vorübergehend nichts dabei leidet, den Unbesonnenen oder Boshaften eben da durch von etwa aufgeschobenen abgehalten wird. Eure Königl Hoheit
Allergnädigsten Kurfürst u Herr!
Zugleich wage ich es, für den Fall, daß mein allerunterthänigster Bericht vom 17ten d. M. nicht umständlich genug in allerdevotigster Meldung der seit den 13ten d. M. dahier entdekten Spuren von Unruhen wider die Juden und den dagegen getroffenen Vorkehrungen gewesen wären, anbey nachträglich noch ein specielles Verzeichnis hierüber Eurer königlichen Hoheit allersubmistigst zu Füße zu legen und ersterbe in tiefster Unterwürfigkeit
Scheffer
Fulda, den 21ten August 1819
Arbeitsaufträge:
1. Was berichtet der Polizeidirektor Scheffer dem Kurfürsten in diesem Brief?
"Der Korrespondent von und für Deutschland" wurde 1804 gegründet und wurde in Nürnberg verlegt. Nürnberg als Handelsstadt verschaffte dem "Korrespondent" den Vorteil, über die vielen Handelsreisenden sehr leicht an überregionale Informationen heranzukommen. Zudem verfügte die Zeitung über ein europaweites Briefkorrespondentennetz, was die Informationsdichte weiter erhöhte. "Der Korrespondent" hatte zwischen 1829 und 1880 zwei jüdische Chefredakteure. 1890 wurde "Der Korrespondent" in "Generalanzeiger für Nürnberg" umbenannt, der heutigen Nürnberger Zeitung.
Transkription:
Kassel, 7. Sept. Auch in hiesiger Residenz hat vor einigen Tagen unter dem Schuz der Nacht ein kleiner Erzeß gegen die Juden Statt gehabt. Ein Haufe Menschen versammelte sich plözlich des Abends auf dem Königsplaze vor dem Hause des jüdischen Bankiers Aron Gand und begrüßte denselben mit dem bekannten Losungsworte, ganz so, wie angesehenen und vornehmen Personen ein Vivar gebracht zu werden pflegt. Weder den Soldaten von dem benachbarten kölnischen Thore noch den herbeieilenden Polizeidienern wollte es gelingen, ein Mitglied der verwegenen Gesellschaft handfest zu bekommen. In dem jüdischen Hause fand man während dieses Vorfalls für gut, sogleich alle Lichter auszulöschen. Der jüdische Bankier hat sich den andern Tag bei der Polizeidirection über diesen Vorfall beklagt und um Schuz für die Zukunft gebeten. Dieser ist demselben so wie seinen übrigen Glaubensgenossen zugesichert, jedoch auch den Juden Bescheidenheit empfohlen worden. Seit der Zeit bemerkt man mit Vergnügen, daß die hiesigen Juden in ihrem Betragen, wo sie mit Christen zusammentreffen, äusserst vorsichtig sind.
Frankfurt, 3. Sept. Die Messe will noch immer nicht an Lebhaftigkeit gewinnen. Viele auswärtige Juden scheinen, aus Besorgnis vor der Wiedererneuerung von Unruhen, weggeblieben zu seyn. In der That war das Gerücht in Umlauf, die Messe werde Gelegenheit darreichen, einen neuen Aufstand gegen die Juden zum Ausbruch zu bringen. In der Ferne war die Größe der gegen die Juden hier Statt gehabten Erzesse sehr übertrieben worden, wie die noch vor dem Beginnen der Messe von allen Seiten eingelaufenen Handelsbriefe darthun. Nicht wenige Juden des Auslandes, die bisher Jahr aus Jahr ein die Frankfurter Messe bezogen, hielten es, unter den Statt habenden Umständen, für rathsam, bevor sie ihre Reise antraten, bei ihren Handelsfreunden hier an Ort und Stelle anzufragen, ob sie mit Sicherheit kommen könnten und während ihres hiesigen Aufenthaltes für ihre Person und ihr Eigenthum nichts zu besorgen haben dürften, und ob ihnen gleich in dieser Hinsicht die beruhigendsten Zusicherungen ertheilt worden waren, so scheint übertriebene Furcht dennoch Viele, besonders solche, welche weite hin- und Herreisen zu unternehmen hatten, davon abgehalten zu haben. Da die fremden Juden hier auf den Messen bedeutende Einkäufe zu machen pflegen, so ist ihr Ausbleiben bei den Meßgeschäften allerdings merklich, und die Klage über Mangel an Einkäufern unter den gegenwärtigen Umständen wohl nicht grundlos. Die Verhältnisse und das Verfahren der Juden sind es indessen nicht allein, welche die Geschäfte auf der diesjährigen Messe verderben. Die für den Handeln und Verkehr überhaupt so nachtheiligen gegenwärtigen Konjunkturen zeigen ihre Wirkungen in diesem Jahre noch weit auffallender, als im vorigen. In den Niederlanden legt der große Transitzoll dem freien Handel und der Schifffahrt auf dem Rhein beträchtliche Hindernisse in den Weg. Preussen, dessen gebiet sich von einem Ende Norddeutschlands bis zum andern ausdehnt, hat sich mit einem Gurt von Douanen gegen das übrige Deutschland umgeben, so daß die Waaren, welche aus den preussischen Provinzen kommen, oder dieselben berühren, der preussischen Regierung steuerbar werden, ohne daß, wenn sie für das Ausland bestimmt sind, ein Rufzoll vergütet wird. Der preussische Zolltarif ist zugleich so beträchtlich, daß die Kaufleute und Fabrikanten, im Fall des Nichtverkaufs ihrer Waaren auf der Messe, nicht im Stande sind, dieselben wieder zurückzuführen, daher es vorziehen müssen ,sie selbst mit Nachtheil loszuschlagen, um sich nur nicht in der Nothwendigkeit zu befinden, von Neuem die preussische Douanenlinie zu betreten. Dazu kommt nun noch, daß auch andere deutsche Regierungen gegen die preussische Douanengesetze Repressalien in Anwendung gebracht haben, und an ihren Grenzen gegenwärtig dem preussischen Zolltarif gleiche Abgaben und Transitogebühren erheben lassen, so daß eine Waare, ehe sie zur Frankfurter Messe an Ort und Stelle kommt, so vielfachen Taxen und Abgaben bei der Berührung verschiedener Gebiete unterworfen ist, daß für den Handelsmann, bei der Ungewißheit des Absatzes, immer bedeutendes Risiko vorhanden ist. Die diesjährige hiesige Messe zeigt auf eine recht in die Augen springende Weise die Nachtheile, welche aus dem Mangel an allgemeinen, den innern freien Verkehr begünstigenden Maßregeln und Anordnungen entspringen. Das Hausiren der Juden ist diesmal auf der Messe verboten. Sehenswürdigkeiten sind diesmal wenig auf hiesiger Messe, Sie reduzieren sich fast auf einen ungeheuer fetten Ochsen. Da der Wollgraben bisher zum Lokal für die Schaubühnen und Buden, in welchen dergleichen Sehenswürdigkeiten gezeigt wurden, diente, diese Gegend der Stadt aber zu nahe dem Judenquartier ist, und die Versammlung vieler Menschen an diesem Orte neue Erzesse befürchten ließ, so hat man es vorgezogen, das Aufschlagen der Schaubühnen und Buden dort nicht zu gestatten, und die Erlaubnis denen, die darum nachsuchte, zu versagen. Und da es zu diesem Behuf kein anderes Lokal gibt, so sehen sich die Meßfremden diesmal des Vergnügens, das ihnen sonst mancherlei Sehenswürdigkeiten hier gewährten beraubt. Man sagt zwar, daß dieß gegen die Meßfreiheit sei, aber höhere Rücksichte, welche die Aufrechthaltung einer ungestörten öffentlichen Ruhe während der Meßzeit bezwecken, scheine diese Maßregel nothwendig gemacht zu haben.
Arbeitsaufträge:
1. Beschreiben Sie anhand des Berichts aus Kassel die Atmosphäre gegenüber den Juden.
2. Aus Frankfurt wird über den Verlauf einer Messe berichtet. Wie wirken sich die Hepp-Hepp-Krawalle auf das Verhalten der jüdischen Händler aus. Und welche Auswirkungen müssen die Krawalle auf den Erfolg der Wirtschaftsmesse gehabt haben?
Transkription:
Übersetzung eines Briefs d.d. Burghaun am 16ten August 1819 von Michel Levi Speyer an Loser Simon zu Fulda Burghaun d. 16. Aug. 1819 Nach die Ausbrüche zu Würzburg u. Frankfurt, mag es nun seyn wie es will, so kann ich Ihnen nicht genug schreiben, was unter dem Pöbel für eine Unsicherheit gegen die Juden überhaupt entstanden ist, und ich muß Ihnen versichern, daß auch davon Unglücke her rühren, indem der Aufstand zu groß ist, vermuthlich werden Sie ebenfalls gehört und auch schon überzeugt haben, ich finde es also für sehr nothwendig, wenn Sie eine Vorstellung an das Polizei-Collegium fertigen lassen namens der Landjudenschaft und zwaar: daß die ausgesprengte Thatsachen mit Würzburg und Frankfurt nicht an dem wäre, u. ein jeder in seinem Schutz wie zuvor gehandhabt würde, daß also niemand im Lande sich beigehen lasse, davon Gebrauch oder Anlaß gg. Juden zu machen, insbesondern jedes Polizei-Amt besonders darauf zu wachen u. alle üble Ausdrücke gegen Juden genau zu untersuchen u. einzuberichten habe u. die Strafe gewärtigen, im öffentl. Intelligenzblatt bekanntmachen zu lassen.
Dann werden alle Gefahren aufhören.
Michel Levi
Vorgänger der Landjudenschaft
Für die richtige Uebersetzung der Judenvorsteher
Simon Loeser
Arbeitsaufträge:
1. Was berichtet der Landjudenvorgänger zu Beginn des Briefes?
2. Wovon erhofft sich der Landjudenvorgänger eine Verbesserung der Lage?
Die Polizeiakte zu den Hepp-Hepp-Unruhen umfasst nicht nur die Aufzeichnungen der Polizei und deren Schriftverkehr mit der kurfürstlichen Regierung in Kassel, sondern auch einige anonyme Rundschreiben oder Flugblätter, die zwecks Beweisaufnahme den Akten beigelegt wurden. Im nachstehenden Dokument handelt es sich um einen Aufruf zu antijüdischen Unruhen in Fulda. Der Verfasser des Dokuments ist nicht bekannt. Siehe auch die Flugblätter in Dokument 9.
Transkription:
Circular An die Bürger der Stadt Fulda
Man ersucht hiermit die Bürger der Stadt Fulda diesen so angemessenen Erfolg die Juden betreffend, zu vollführen, als Mann sieht nunmehr ein wie wohl die Bürger der Stadt Frankfurt u Würzburg handelten daß sie ihre Betrüger u Juden vertrieben[.] so halten wir für gut uns diese Gelegenheit zu Nutz zu machen und sie ebenfalls hinaus zu prügeln. Unsere Zahl so sich dazu verstanden hat beläuft sich auf [Seite 2] 250 und wird jeden tag Stärker, es wird nun dem Ausführen unseres Plans ein ganz unbekanntes Signal gegeben werden, wo wir wie anderseitig alle Bürger der Stadt auffordern sich an uns anzuschließen um unser Vorhaben auch gut vollführen zu können. NN
Arbeitsaufträge:
1. Was beabsichtigt dieses Flugblatt?
2. Welche Bedeutung haben die antijüdischen Ausschreitungen in Würzburg und Frankfurt für den Verfasser?
3. In welcher Sprache wird in diesem Dokument über die Juden geredet?
Die hier vorliegenden Flugblätter wurden vermutlich von Valentin Heyn verfasst, der in Treysa wohnte und in Marburg studierte. Sie liegen einer Resolution in den Polizeiakten bei, die zur weiteren Überwachung Heyns auffordert. Heyn wurde im Oktober 1819 der Universität verwiesen (siehe Dokumente 11 und 12), auf Grund seiner Mitgliedschaft in einer "geheimen Verbindung". Vermutlich ist damit der hier genannte "rothe Bund" gemeint.
Transkription:
Flugblatt 1:
den 18ten October wird hep, hep' gegeben, der Schauplatz ist in allen Strassen.
Flugblatt 2:
Nachricht.
Gewisse Umstände zwingen uns den Hundstagen der Juden eine Galgenfrist zu gestatten.
Furchtbar und alles vertilgend wird alsdann der Würgeengel ueber Euch schweben wie an jenem Tage zu Jerusalem.
So beschlossen im rothen Bunde im October M.D.C.C.C.X.IX. [1819]
Arbeitsaufträge:
1. Zu was rufen diese Flugblätter auf?
2. Wie wird in diesen Flugblättern über Juden geschrieben?
3. Der Verfasser dieser Flugblätter war wohl der Student Valentin Heyn. Wie erklären Sie es sich, dass auch gebildete Schichten für antijüdisches Gedankengut empfänglich waren?
Der Hintergrund dieser Resolution der kurfürstlichen Regierung in Kassel sind vermutlich die in Dokument 9 ausgestellten Flugblätter, die zu antijüdischen Auschreitungen aufrufen. Verfasser dieser Flugblätter ist wahrscheinlich der in dieser Resolution genannte Marburger Student Valentin Heyn. Die angeforderte Stellungnahme des Senats der Universität Marburg finden Sie in Dokument 11.
Transkription:
Extract Geheimen Rathsprotokolls
Cassel den 8ten October 1819
Allerunterthänigster Bericht der Special-Untersuchungs-Commission über die Resultate der gegen den Studiosum juris Valentin Heyn aus Treysa eingeleiteten Untersuchung.
Resol: der academische Senat zu Marburg, welchem die Untersuchungs-Acten mitgetheilt worden, hat sich fordersamst, mit Remission derselben, über die Bestrafung des Heyn, und ob dessen ... Aufenthalt in Marburg nicht von verderblichen für die übrigen Studierenden sey, gutachterlich zu äußern.
[Unterschrift]
1. Wie beurteilen Sie das Bemühen der Kasseler Regierung um Aufklärung im Fall Heyn, wenn man davon ausgeht, das Valentin Heyn an den Hepp-Hepp-Unruhen beteiligt war? Warum könnte die Kasseler Regierung in solch einem Fall gegen Heyn vorgehen?
Dies ist ein Auszug aus den Akten des Rektors der Universität Marburg aus dem Jahr 1819. Die Regierung in Kassel hat den Senat in einer Resolution vom 8. Oktober 1819 zu einer Stellungnahme im Fall des Studenten Valentin Heyn aufgefordert. Im vorliegenden Dokument kommt der Senat dieser Aufforderung nach. Es ist der Entwurf eines Berichts über einen Senatsbeschluß vom 18. Oktober an den Kurfürsten. Darin spricht sich der Senat der Universität in einem Ausschlussverfahren gegen den Studenten Valentin Heyn, von dem vermutet werden kann, an den Hepp-Hepp-Unruhen beteiligt gewesen zu sein, für das Consilium Abeundi (lat. für "der Rat, wegzugehen") aus. Das Consilium Abeundi war eine offizielle, vom Senat oder Rektorat einer Universität zu fällende Bestrafung für Studenten im 18. und 19. Jahrhundert. In der Zeit der Restauration waren unter anderem Mitgliedschaften in Studentenverbindungen oder Burschenschaften strafbar.
Transkription:
Zum Senatsbeschluß vom 18. October 1819
der academische Senat zu Marburg berichtet allerunterthänigst über die Bestrafung des Studiosus Juris Heyn und über dessen verderblichen Einfluß auf die übrigen Studierenden bei längerem Aufenthalte in Marburg.
Zu Folge des an uns ergangenen allerhöchsten Befehls vom 8. October zum Bericht. über die Bestrafung des Studiosi Juris Valentin Heyn aus Treysa und über dessen etwa verderblichen Einfluß auf die übrigen Studierenden bei längerem Aufenthalte in hiesiger Stadt, haben wir diesen wichtigen Gegenstand in zweien derhalb veranstalteten außerordentlichen Sitzungen unter genauer durchsicht der Untersuchungsacten, welche wir beikommend allerunterthänigst zurücksenden, in gemeinsame Erwägung gezogen und beeilen uns allerunterthänigst gutachtlich uns zu äußern.
Der Studiosus Heyn, dessen äußerliches Betragen während seines hiesigen Aufenthalts in Absicht und Fleiß, Höflichkeit, Müßigkeit, Bescheidenheit, und Eingezogenheit, soviel uns bekannt geworden ist, keinem Tadel hier unterworfen gewesen war, hat sich, wie die vorliegenden Untersuchungssachen zeigen der Theilnahme an geheimen Verbindungen und eines genauen Umgangs mit mehreren für die gute Ordnung und öffentliche Zucht wirklich gefährlichen Individuen des Auslandes höchst verdächtig gemacht. Indessen sind wir, auch bei der gewissenhaftesten Prüfung der vorliegenden Acten, und bei all der großen Umsicht und Trefflichkeit, womit die allerhöchsten ... gegen denselben verhängte Untersuchung eingeleitet und ausgeführt worden ist, nicht im Stande einen überführenden Beweis oder gar ein wirkliches Eingeständniß selbsteigenen Theilnahme an der Ausführung und Vollziehung verbrecherischer Handlungen aufzufinden, auf der hier vorliegenden Untersuchungsacten lediglich Theilnahme an einer geheimen Verbindung mit Individuen, die sich als gefährliche Feinde der bürgerlichen Ordnung ausgewiesen haben.
[Ob nun gleich nach dieser durch die stattgefundene Untersuchung hinreichend begründete thatsache nach unserem Ermessen an der Strafbarkeit des Inculpaten kein Zweifel seyn kann, da alle academischen Gesetze die Theilnahme an jeder durch die allerhöchsten Landesgesetze nicht autorisierten geheimen Verbindung jedem Studierenden ohne Ausnahme verbieten; und obgleich die hier vorliegenden Untersuchungsacten angeben, daß der Inculpat vorzugs weise bei seinem Aufenthalte zu Giesen theilnehmer an geheimen Verbindungen und mit höchst vedächtigen Menschen in Verkehr gewesen, bei hiesigen Aufenthalte dagegen sich frühzeitig von jenen Verbindungen und Menschen zurückgezogen habe, so müssen wir doch nichts desto weniger denselben für strafbar ansehen, und erlauben uns deswegen allerunterthänigst hier die Äußerung, daß derselbe die Austoßung von der hiesigen Universität durch das Consilium abeundi verwirkt habe. ]
da der Inculpat wegen seiner Verdächtigkeit für die academischen Disciplinarbehörden bei lämgerem Aufenthalt auf hiesiger Universität wenigstens einen Gegenstand steter Besorgnisse und der mühevollsten Aufmerksamkeit auf allen seinen Schritten abgeben würde, und es auch ... [unleserlich]... nicht mit Sicherheit verhängt werden kann, ob nicht die längere Gegenwart eines solcher Verbindungen und Bekanntschaften überwiesenen Menschen auf hiesiger Universität für die übrigen Studierenden von verderblichem Einflusses über kurz oder lang seyn müsste, so halten wir die baldige Entfernung des Incuplaten von hier für ein Semest der moralischen Sicherheit der hiesigen Studierenden als auch unserer eigenen Beruhigung sehr förderliches Mittel, welches durch das vorhin angegebene Consilium abeundi sich sehr bequem darbietet [letzter Halbsatz durchgestrichen und am Rand eingefügt: und hat deshalb der gesamte academische Senat den besagten Studiosus juris Heyn aus Treysa des Consili abeundi würdig erkannt.]
Arbeitsaufträge:
1. Was wird dem Studenten Heyn vorgeworfen?
2. Was wird dem Studenten Heyn vom Senat zu Gute gehalten? Mit welcher Begründung spricht sich der Senat dennoch für das Consilium Abeundi aus? Um was wäre der Senat in erster Linie besorgt, wenn Heyn weiterhin in Marburg bleiben würde?
Zur Einordnung dieser Resolution siehe die Dokumente 9, 10 und 11.
Transkription:
Extract Geheimen Rathsprotokolls
Cassel den 29ten Oktober 1819
No. 40
Antrag des academischen Senates zu Marburg, dem Studioso juris Valentin Heyn aus Treysa,wegen Verdachts an bürgerlicher Ordnung gefährlichen Verbindungen Antheil genommen zu haben, das consilium abeundi zu ertheilen.
Resol: Fiat.
2) Ist dem Polizei-Direktor von Hanstein in Marburg hiervon Nachricht zu geben, um den Studiosum Heyn genau zu surveilliren, und anzuzeigen, wenn und wohin derselbe von Marburg abgegangen sey.
[...]
Arbeitsaufträge:
1. Womit bestraft die Kasseler Regierung den Studenten Heyn?
2. Womit beauftragt die Kasseler Regierung die Marburger Polizei?
Zur Einordung dieses Dokuments siehe die Erläuterungen zu den Dokumenten 9-12.
Transkription:
Allerhöchste Resolution
Cassel den 13n November 1819
Der Polizey-Direktor zu Marburg
berichtet allerunterthänigst: daß der mit dem consilio abeundi bestrafte Studiosus Heyn sich von Wetter nach Treysa begeben habe.
Resol: Ist dem Ober-Polizey-Direktor von Manger hiervon zu dem Ende Nachricht zu geben, um den erwähnten Studenten Heyn unter strenge surveillance zu stellen, und, falls derselbe Treysa verlassen sollte, davon unverzüglich allerunterthänigste Anzeige zu thun.
[Unterschrift]
Arbeitsaufträge:
1. Worüber berichtet der Marburger Polizeidirektor und womit beauftragt die Kasseler Regierung die Marburger Polizei?

Die Geschichte der deutschen Juden zwischen dem Wiener Kongress 1815 und der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 ist eine ambivalente Zeit voller Fortschritte und Rückschläge.
In der Restaurationszeit nach der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress, im Vormärz sowie in der Phase bis zur Reichsgründung 1871 war die jüdische Emanzipation stark an die Erfolge und die Durchsetzungskraft der liberalen Bewegung gebunden. Während der Restauration wurde in vielen deutschen Teilstaaten die von den französischen Besatzern eingeführte rechtliche Emanzipation der Juden wieder rückgängig gemacht. Die rechtliche Stellung der Juden blieb allerdings immer ein Anliegen des aufstrebenden liberalen Bürgertums, die in ihren politischen Forderungen auch immer wieder auf die Gleichstellung der Juden drangen. Die liberale Bewegung selbst war auch durch die Beteiligung jüdischer Bürger gekennzeichnet. So focht beispielsweise der jüdische Rechtsanwalt Gabriel Riesser in der Revolution von 1848 an der Seite von christlichen Liberalen für die Durchsetzung der politischen Vorstellungen des Liberalismus. Riesser kämpfte als Abgeordneter des Paulskirchenparlaments für die Aufnahme der Gleichstellung der verschiedenen Konfessionen in die neu zu schaffende Verfassung und konnte damit eine Mehrheit seiner Kollegen überzeugen. Riesser ist auf Grund seiner Biographie auch ein gutes Beispiel dafür, dass viele Juden im 19. Jahrhundert einen beachtlichen sozialen Aufstieg trotz widriger Umstände bewältigen konnten. Riesser wurde 1859 der erste jüdische Obergerichtsrat in Deutschland.
Allerdings sollen individuellen Erfolgsgeschichten nicht darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin – wie die Beispiele der Abgeordneten Mohl und von Linde zeigen – viele Vorbehalte gegen die Juden im liberalen Bürgertum existierten. Denn das Eintreten vieler Liberaler für die Rechte der Juden bedeutete nicht die Auflösung aller Probleme des deutsch-jüdischen Zusammenlebens. Die Ideen des Liberalismus waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng mit der Idee der Nation verbunden. Die enorme dynamische Kraft, die von der Nationsidee ausging, spornte viele Philosophen, Schriftsteller und Politiker an, über die Bedeutung, den Inhalt und die Grenzen der deutschen Nation nachzudenken. Diese Definitionsversuche grenzten nicht selten die Juden als inneren Feind der deutschen Nation aus, wogegen sich aufrichtige jüdische Nationale wie Gabriel Riesser wehrten, ohne jedoch eine Mehrheit überzeugen zu können. Die Nationsidee - vor allem im späteren Nationalismus - blieb bis in das 20. Jahrhundert immer ein Grundproblem der Integration der jüdischen Minderheit in die deutsche Gesellschaft.
Zudem waren die Juden trotz aller Gleichstellungsversuche im ganzen 19. Jahrhundert weiterhin eine ausgegrenzte Minderheit. Antijüdische Vorurteile waren sehr weit verbreitet. Vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten zeigten sich nicht nur die breite Land- und Stadtbevölkerung immer wieder offen für antijüdisches Gedankengut und vereinzelt stattfindende gewaltsame antijüdische Aufstände (Auch die Revolutionszeit im Jahr 1848 war von antijüdischen Ausschreitungen begleitet). Auch einige der großen Intellektuellen jener Zeit waren von Vorurteilen gegenüber den Juden beinflusst. Als Beispiel soll hier Karl Marx herangezogen werden, der sich in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ aus dem Jahr 1843 mit der Möglichkeit der jüdischen Emanzipation auseinandersetzt und dabei von festen jüdischen Verhaltensweisen ausgeht, die im Großen und Ganzen den zeitgenössischen Stereotypen entsprechen. Marx bringt die Juden somit in Verbindung mit den wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit, d.h. in seinem Fall mit der langsamen Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Da er diese Entwicklung auf Grund seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen allerdings positiv bewertet, da er den Kapitalismus im Übergang zum Sozialismus als ein notwendiges Stadium der historischen Entwicklung begreift, wäre es verquer, Marx als einen großen Feind der Juden bezeichnen zu wollen.
Dennoch zeigt auch das Beispiel Karl Marx, wie weit Vorurteile gegenüber den Juden verbreitet waren. Es wundert daher nicht, dass mit dem Scheitern der Revolution 1848 auch die volle rechtliche Gleichstellung der Juden rückgängig gemacht wurde. Erst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes konnte die Emanzipation der Juden rechtlich festgeschrieben werden. Dass die Juden damit jedoch gesellschaftlich noch lange nicht in ihrem Status als kulturelle Minderheit toleriert wurden, sollte der Aufstieg des modernen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen, der alte Vorurteile aufnahm und sie in einen biologistischen Rassismus übersetzte, wodurch die Juden im Kaiserreich trotz rechtlicher Gleichstellung weiterhin eine stigmatisierte Gruppe blieben.
Im Folgenden werden nun nochmals die wechselhafte Geschichte der rechtlichen Gleichstellung der Juden in einem Teilstaat des Deutschen Bundes, dem Kurfürstentum Hessen, eingehender erläutert.
Die rechtliche Stellung der Juden in Kurhessen 1814-1866
Nach der Völkerschlacht bei Leipzig und dem damit zusammenhängenden Ende des Königreichs Westfalen kehrte Kurfürst Wilhelm I. nach Kassel zurück und setzte eine auf die landgräfliche bzw. kurhessische Gesetzgebung zurückgreifende umfassende Restaurationspolitik in Gang, die zahlreiche, vom westfälischen König Jérôme verabschiedete Reformen rückgängig machte. Wilhelm I., der habituell weiterhin einem absolutistischen Herrschaftsverständnis verhaftet blieb, war sehr bemüht, möglichst alle Spuren der aus seiner Sicht illegitimen westfälischen Gesetzgebung zu beseitigen. Dies betraf neben der Restauration vorrevolutionäre Verwaltungsstrukturen und Wirtschaftsordnungen auch die im Königreich Westfalen eingeführte rechtliche Gleichstellung der Juden, die durch eine Verordnung aus dem Jahr 1816 über „die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger“ zurückgenommen wurde. Sie hob die Gleichstellung der Juden wieder auf, da eine "nicht vorbereitete unbedingte Gleichstellung" der Juden "hinderlich" sein könne für das "Wohl" der jüdischen wie der nicht-jüdischen Bevölkerung (Präambel). Vor allem der Berufsgruppe der jüdischen Nothändler, worunter man in erster Linie Viehhändler und Geldverleiher verstand, wurde die Rechtsgleichheit entzogen.
Allerdings kann man von einer reinen Rückkehr zum status quo ante, das heißt zu den rein restriktiven Judenordnungen des 18. Jahrhunderts, nicht sprechen. Die Juden sind, abgesehen von den (zahlreichen) Ausnahmen der Verordnung, der übrigen Bevölkerung rechtlich gleichgestellt (§ 1). Hinter dieser ambivalenten Politik, die einerseits die Juden rechtlich gleichstellt, Teile der jüdischen Bevölkerung andererseits aber weiterhin zahlreichen Restriktionen unterwirft, steht eine bestimmte erzieherische Motivation, die auf die „Verbesserung“ der Juden durch Heranführung derselben an ein bürgerliches Leben abzielt. In Regierungskreisen war man der Ansicht, dass die Juden aus historischen Gründen in eine Situation geraten sind, die ihnen nicht erlaube, ein bürgerliches Leben zu führen.
In einem von Kurfürst Wilhelm in Auftrag gegebenen Gutachten von 1814, der sich mit der Frage beschäftigte, wie „die Juden bessere Menschen und nützliche Mitglieder des Staates“ werden könnten, konstatierten die Autoren, dass die Juden, „sichtlich verdorbener als andere Nationen“, charakterlich „mehr zu Wucher und Hintergehung“ neigend, in die Rolle von „Unglücklichen“ geraten seien, die „kein Vaterland haben“ und deren „Tätigkeit allenthalben beschränkt ist“ und „an deren Tugend nicht geglaubt wird, für die es fast keine Ehre gibt“. Die Juden seien nur deshalb als Mensch und Bürger so verderbt gewesen […]“, weil man ihnen die Bürgerrechte versagt habe. Um die Situation der Juden zu ändern, sei es Pflicht jeder Regierung, „die Mittel aufzufinden, die Juden zu besseren Menschen und nützlichen Bürgern zu bilden“.
Ziel der die Juden betreffenden Sondergesetzgebung des Kurfürsten war somit die gesetzlich herbeigeführte und auf das Individuum ausgerichtete Angleichung des jüdischen Lebens an bürgerliche Lebens- und Arbeitsformen, wobei dabei eine bestimmte Idee von „Bürgerlichkeit“ und „Bürgertum“ als normsetzendes Leitkriterium diente. In diesem Sinn sollte den Juden beispielsweise die Ausübung unbürgerlich geltende Berufe (Nothandel) erschwert und gleichzeitig Anreize gesetzt werden, die als erzieherisch wertvoll geltenden Tätigkeiten wie Handwerk oder Landwirtschaft zu ergreifen (§ 1,15-17). In dem bereits zitierten Bericht von 1814 heißt es dazu: „Die stillsitzende Lebensart und der ruhige Fleiß“ des Handwerkers sei „dem unruhigen Umherschweifen des handelnden Juden […] seiner Begierde nach Gewinn […]. Zugleich wird die harte Arbeit, die gröbere […] Nahrung des Handwerkers auch auf seine physische Konstitution einen vorteilhaften Einfluss haben.“
Diese Zielsetzung, die "Verbesserung“ der Juden durch Verbürgerlichung, wird auch in den Debatten des kurhessischen Landtags um das Gesetz „zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten“ 1832 erkennbar, das nach Art. 29 der neuen kurhessischen Verfassung die Rechte der Juden regeln sollte, nachdem man sich bei der Ausarbeitung dieser Verfassung nicht zu einer vollen rechtlichen Gleichstellung der Juden durchringen konnte. In den Debatten zu diesem die Juden betreffenden Sondergesetz blieb die Mehrheit der Abgeordneten der Verbesserungsstrategie und der damit zusammenhängenden Einteilung der Juden in zwei Klassen verhaftet, den „Schacherjuden" und den "achtungswürdigen Juden", wodurch die seit 1816 bestehende Rechtsungleichheit fortgeschrieben wurde. Nach Aussage eines Abgeordneten war damit folgendes Strategie verbunden: Die „ausgezeichneten Juden", worunter man diejenigen Juden zählte, "die an Geist, Gemüt und Charakter ebenso vortrefflich seien als die vortrefflichsten unter den Christen", "müßten den Schacherern als Ideal hingestellt werden, es müßten für diese letzteren verschiedene Grade, an welchen stufenweise gewisse Rechte zu erwerben seien, bestimmt und alle durchlaufen werden, ehe sie den christlichen Staatsbürgern gleichgestellt würden.“ Das betreffende Gesetz von 1833 übernimmt dementsprechend weitestgehend die Bestimmungen von 1816.
Volle Rechtsgleichheit erreichten die Juden Hessen-Kassels erstmals im Gesetz zur Religionsfreiheit von 1848, das den Genuss der bürgerlichen Rechte erstmals seit der Restituierung Kurhessens 1814 nicht vom Glaubensbekenntnis abhängig machte. Allerdings wurde diese Regelung bereits in der Verfassung von 1852 wieder rückgängig gemacht, wodurch die Juden Kurhessens erst nach der Annexion des Kurfürstentums durch Preußen in einem Gesetz des Norddeutschen Bunde von 1869 voll gleichberechtigt wurden, ohne dass weiterhin eine bestimmte Berufsgruppe von der Gültigkeit der Bürgerrechte ausgeschlossen wurde.
Sebastian Haus
Literatur:
Brenner, Michael et. al: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Emanzipation und Akkulturation 1780-1871, München 1996.
Kropat, Wolf-Arno: Die Emanzipation der Juden in Kurhessen und in Nassau im 19. Jahrhundert, in: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen (Hg.): Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983, S. 325-349.
Schimpf, Dorothee: Emanzipation und Bildungswesen der Juden im Kurfürstentum Hessen 1807-1866, Wiesbaden 1994.
Schwarz, Anke: Jüdische Gemeinden zwischen bürgerlicher Emanzipation und Obrigkeitsstaat. Studien über Anspruch und Wirklichkeit jüdischen Lebens in kurhessischen Kleinstädten im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2002.
Auszüge aus dem Gutachten:
(…) Die drückende Verfassung, in der die Juden noch gegenwärtig in den meisten Staaten leben, ist ein Überbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurteile der finstersten Jahrhunderte, und aus der unglücklichen Geschichte der Israeliten folgt, wie sie nur deshalb als Menschen und Bürger so verderbt gewesen sind, weil man ihnen die Rechte beider versagt hat. Die Religion der Juden enthält keine dem bürgerlichen Verein mit andern Religionsverwandten widersprechende Grundsätze, ihre göttlichen Gebote stimmen mit den Geboten der Gerechtigkeit und Menschenliebe überein, und, auch ohne der Meinung dieses hohen Ursprungs des mosaischen Gesetzes zu erwähnen, kann man sich leicht davon überzeugen, dass dasselbe die richtigsten Grundsätze der Sittenlehre, der Gerechtigkeit und Ordnung enthalte. (…)
Allein die Meinung, das Verfahren mit den Juden sei eine notwendige Folge ihres Charakters, ruht auf einer unrichtigen Logik, denn die politische Herabwürdigung derselben hat erst ihre sittliche bewirkt, und nun wechselt man die Wirkung mit der Ursache und führt das Übel, welches die bisherige fehlerhafte Politik hervorgebracht hat, zur Rechtfertigung derselben an. Man kann zugeben, dass die Israeliten sittlich verdorbener sind als andere Nationen, dass sie sich einer verhältnismäßig größern Zahl von Vergehen schuldig machen als die Christen, dass ihr Charakter mehr zu Wucher und Hintergehung im Handel gestimmt, ihr Religionsvorurteil trennender und ungeselliger ist, aber dies alles ist eine notwendige Folge der drückenden Verfassung, in welcher diese unglücklichen Menschen leben. (…)
Sind es nun die Einrichtungen in den Staaten, die den Juden den Geist einhauchten, dessen sie gegenwärtig angeklagt werden, ist es die Einschränkung der Gewerbfreiheit, ihrer Tätigkeit, nach welcher sie vom Ackerbau, von Zünften, von der Verteidigung des Vaterlandes ausgeschlossen, nur allein vom Handel, welcher mehr als irgendeine andere Beschäftigung zu Betrug und Hintergehung anreizt, sich zu nähren gezwungen werden, ist diese Verfassung die wahre Quelle ihrer Verdorbenheit, so ist es auch auf der einen Seite ebensosehr Pflicht der Regierungen, dem Unterdrückten nicht weiter die Folgen der Unterdrückung zur Last zu legen, als auf der andern Seite leicht, die Mittel aufzufinden, die Juden zu besseren Menschen und nützlichen Bürgern zu bilden.
Die Mitglieder der Regierung trennen sich in Ansehung ihrer Hauptansicht über den vorliegenden Gegenstand in zwei Teile:
Die erste Meinung geht dahin, den Juden gleiche Rechte mit den übrigen Staatsbürgern zu erteilen, jedoch nur unter gewissen Einschränkungen und Bedingungen.
Die zweite Meinung bezweckt, nur einzelnen, Wohlverdienten, bürgerliche Rechte zu bewilligen.
Bei weitem die Mehrzahl der Mitglieder ist der erstern Meinung zugetan, nur abweichend voneinander in Ansehung einzelner Einschränkungen und Bestimmungen.
Als zweckmäßige Mittel, die Verfassung der Juden zu verbessern, können angeführt werden: Erteilung gleicher Rechte mit allen übrigen Untertanen, vollkommene Freiheit der Beschäftigungen und Mittel des Erwerbs, Gestattung selbst des Ackerbaus, Zulassung zu jeder Kunst und jeder Wissenschaft, selbst zu öffentlichen Ämtern; Sorge für sittliche Bildung und Aufklärung bei den Juden und für die Minderung der Vorurteile und lieblosen Gesinnungen bei den Christen, völlig freie Religionsausübung und Schutz im Besitz ihrer eigenen Gesetze.
Diese Mittel sind in neuern Zeiten von mehreren großen und kleinen Staaten in Europa, selten aber ohne einige Einschränkung angewendet worden. (…)
Der Handel raubt den Sitten ihre Reinheit. Wo der merkantilistische Geist der herrschende ist, das werden alle moralischen Handlungen und Tugenden ein Gegenstand des Handels und die kleinsten Gefälligkeiten, selbst Pflichten der Menschlichkeit, werden um Geld verkauft. Um der nachteiligen Richtung, welcher dieser beinahe ausschließliche Erwerbzweig der Juden ihrer sittlichen Kultur gegeben hat, möglichst bald Einhalt zu tun, wird es nicht hinreichen, ihnen den Weg zu allen übrigen bürgerlichen Beschäftigungen zu öffnen, sondern eine gewisse Leitung hierin wird sicherer zum Ziel führen. Man wird daher suchen müssen, die Juden vorerst von der Beschäftigung des Handels abzuziehen und die Einwirkung desselben dadurch zu schwächen, dass man ihnen Veranlassung gibt, diejenige Art des Erwerbes vorzuziehen, welche am meisten einen entgegengesetzten Geist und Gesinnungen einzuflößen fähig ist. (...)
Zitiert nach der Transskription von Gerhard Hentsch, in: ders., Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen IV), Wiesbaden 1979, S. 123 - 147. (StAM 16 Min.d.Innern, Rep. XIV, Kl.1, Nr.1, vol.1)
Die Verordnung "die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger betreffend" vom 14. Mai 1816 bestätigt auf den ersten Blick die rechtliche Gleichstellung der Juden, die zwischen 1807 und 1813 im Königreich Westphalen durchgesetzt wurde (vgl. Emanzipationsdekret von 1808). § 1 hebt die bisher geltenden und in dieser Verordnung nicht weiter bestätigten rechtlichen Sonderbestimmungen für Juden auf (vgl. Judenordnung von 1739) und erteilt den Juden die gleichen Rechte und Verpflichtungen wie allen anderen Einwohnern des Kurfürstentums. Diese Bestimmungen werden allerdings durch die folgenden Paragraphen erheblich eingeschränkt, denn, so die Begründung in der Präambel, eine "nicht vorbereitete unbedingte Gleichstellung" der Juden könne "hinderlich" sein für das "Wohl" der nicht-jüdischen Bevölkerung sowie der Juden selbst. So beschränkt § 11 den Kauf von Häusern. § 15 der Verordnung legt fest, dass die in ihr enthaltenden Bestimmungen für diejenigen Juden keine Gültigkeit haben,"welche mit einer Erlaubniß zu dem Nothhandel versehen" sind. Diese Berufsgruppe, in erster Linie Vieh- und Geldhändler, ist fortan weitgehender rechtlicher Einsckränkungen unterworfen, die auch in Judenordnungen des 18. Jahrhunderts üblich waren (Ausschluss von Bürgerrechten, Heiratsverbot, detaillierte Meldepflicht, Einschränkungen der Freizügigkeit etc.). Vgl. z.B. Judenordnung von 1739.
Die rechtliche Stellung der Juden im Kurfürstum wird in der Verfassung von 1831 vor allem von § 29 berührt. Dort heißt es, dass die "Verschiedenheit des christlichen Glaubensbekenntnisses" keinen Einfluss habe auf den "Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte" und dass die "besonderen Verhältnisse" der Juden "gleichförmig für alle Gebietstheile durch ein Gesetz geordnet werden" sollen, was nun auch die Gebiete um Hanau und Fulda einschloss.
Im Entwurf dieses Paragraphen war das Wort "christlich" noch nicht enthalten. Erst auf Druck einer Mehrheit der Abgeordneten in der verfassungsgebenden Versammlung wurde die oben genannte, auf die christliche Bevölkerung begrenzte Formulierung gewählt, wodurch einerseits die verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte uneingeschränkt nur für Katholiken und Protestanten galten und wodurch andererseits die exzeptionelle Rechtsstellung der Juden weiterhin aufrechterhalten wurde. Wie im zweiten Teil des § 29 gefordert, sollte eine gesonderte Gesetzgebung die rechtliche Stellung der Juden regeln. Für eine vorbehaltslose rechliche Gleichstellung der Juden mit der christlichen Bevölkerung war die verfassungsgebende Versammlung mehrheitlich somit nicht bereit. Vgl. das "Gesetz zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten" vom 29. Oktober 1833.
Zum historischen Kontext, siehe den Kommentar zu Dokument 13. Zu Person Riessers siehe den Kommentar zu Dokument 12.
„Uns vorzuhalten, dass unsere Väter vor Jahrhunderten oder vor Jahrtausenden eingewandert sind, ist so unmenschlich, als es unsinnig ist. Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und, weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf eine Heimat; wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimatlos. Oder will man im Ernste die ursprüngliche fremde Abkunft gegen uns geltend machen? Will man zivilisierte Staaten auf das barbarische Prinzip der Autochthonenschaft zurückführen? Diese Fragen bedürfen keiner Antwort ... (...)
Die kräftigen Klänge deutscher Sprache, die Gesänge deutscher Dichter haben in unserer Brust das heilige Feuer der Freiheit entzündet und genährt, der Hauch der Freiheit, der über die deutschen Gaue zog, hat unsere schlummernde Freiheitshoffung geweckt, und manche frohe Aussicht ist ihnen seitdem schon geworden. Wir wollen dem deutschen Vaterlande angehören; wir werden ihm allerorten angehören. Es kann und darf und mag von uns alles fordern, was es von seinen Bürgern zu fordern berechtigt ist; willig werden wir ihm alles opfern, – nur Glauben und Treue, Wahrheit und Ehre nicht; denn Deutschlands Helden und Deutschlands Weise haben uns nicht gelehrt, daß man durch solche Opfer ein Deutscher wird.“
Aus: Julius Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, Teil V, Frankfurt 1927/1932, S. 29f.; zitiert nach: http://www.gabrielriesser.de/frameset_intro_02.html
Arbeitsaufträge:
1. Wie begründet Riesser seine Meinung, Juden gehörten entgegen vielen zeitgenössischen Mainungen doch der deutschen Nation an?
Nach § 29 der neuen kurhessischen Verfassung von 1831 sollte ein Gesetz die Rechte der Juden regeln. Die diesbezüglichen Debatten im kurhessischen Landtag fanden im Mai 1832 statt. In diesen Diskussionen wird zum einen deutlich, wie die Juden von den bürgerlichen Abgeordneten wahrgenommen wurden. Man teilte die Juden in zwei „Klassen“ ein, in "Schacherjuden" und "achtungswürdige Juden", wobei diese Teilung anhand von klassischen stereotypen Distinktionskriterien vorgenommen wurde. Zum anderen werden in diesen Debatten die Absichten und Zielsetzungen einer gesonderten Gesetzgebung für die jüdische Bevölkerungsgruppe sichtbar: Ziel war die „Verbesserung“ der jüdischen Bevölkerung, die „Verbürgerlichung“ der Juden, die durch eine emanzipatorische Gesetzgebung bürgerlicher Denk- und Verhaltensweisen annehmen sollten.
Einerseits sprach man sich folglich also für eine stärkere Gleichberechtigung der Juden aus, da jede Beschränkung des jüdischen Lebens ihnen die Möglichkeit verwehre, volle Rechtsgleichheit zu erlangen. Man erklärte sich einverstanden, „den achtungswürdigen Juden, die an Geist, Gemüt und Charakter ebenso vortrefflich seien als die vortrefflichsten Christen, gleiche Rechte mit unserem Volk einzuräumen“. Andererseits dürfe dies allerdings nicht für die so genannten „Schacherjuden“ gelten. Die „ausgezeichneten Juden müßten den Schacherern als Ideal hingestellt werden, es müßten für diese letzteren verschiedene Grade, an welchen stufenweise gewisse Rechte zu erwerben seien, bestimmt und alle durchlaufen werden, ehe sie den christlichen Staatsbürgern gleichgestellt würden.“
Das daraufhin mehrheitlich verabschiedete Gesetz vom 29. Oktober 1833 erkannte den Juden grundsätzlich die volle Rechtsgleichheit zu, legte aber gleichzeitig den „Schacherern“, den so genannten „Nothändlern“, weiterhin gesonderte Restriktionen auf.
Entwurf eines "Gesetzes zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse" der in Kurhessen lebenden Juden als Nachtrag zur Vollziehung des §29 der Verfassungs-Urkunde von 1831.
Vgl. dazu die Verhandlungen im kurhessischen Landtag und das Gesetz zur gleichförmigen Ordnung vom 29.10.1832.
Quelle: StA. Marburg 16 Min.d.Innern Rep.XIV Kl.l Nr.3 vol.II
Zit. nach: Gerhard Hentsch, Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen, Wiesbaden 1979, Dok. C, S. 153-159
Euer Hoheit habe ich die Gnade, meine Ansicht über das Gesetz, welches hinsichtlich der Israeliten zu erlassen sein wird, untertänigst vorzutragen. Weit entfernt, Euer Hoheit einen solchen Antrag ehrerbietigst vorzulegen, welcher die Juden in ihrer bürgerlichen Existenz in diejenigen beschränkenden Zustände zurückzuführen bezweckt, in welchen sie in früheren Zeiten gehalten wurden, geht meine Ansicht nur dahin, daß die Regulierung der Verhältnisse der Juden sich in den durch die Verfassungsurkunde vorgezeichneten Grenzen zu halten habe, gegen deren Ausdehnung so erhebliche Gründe vorhanden sind.
Es scheint mir hiernach nur darauf anzukommen, den Sinn der betreffenden Bestimmungen der Verfassungsurkunde richtig darzustellen. Indem der § 29 von den "den Israeliten bereits zustehenden Rechten" redet, welche "unter den Schutz der Verfassung gestellt sein" sollen, leuchtet es ein, daß unter diesen bereits zustehenden Rechten nur solche Verhältnisse gemeint sein können, welche vor der Verfassungsurkunde bestanden haben. Wenn nun diese Rechte durch ihre Stellung unter den Schutz der Verfassung unzweifelhaft einer fortwährenden Anwendbarkeit zugewiesen werden, so ergibt sich hieraus, daß, um den wahren Sinn des erwähnten § 29 außer Zweifel zu setzen, es nötig wird, eben jene vorhinnigen Verhältnisse der Israeliten, wie solche für einen Teil des Kurstaates durch die Verordnung vom 14. Mai 1816 geordnet sind, gehörig festzustellen.
Der Eingang dieser Verordnung besagt, daß die eigentümliche Verfassung der Israeliten sowohl für deren sittliche Bildung als für den Verkehr mit den übrigen Untertanen nachteilige Folgen hervorgebracht habe, daß aber eine unbedingte Gleichstellung mit jenen ebensowenig rätlich sei. Der erste Paragraph erteilt hierauf in seinem ersten Abschnitte den Israeliten unter den weiter folgenden Bestimmungen und Einschränkungen gleiche Rechte mit den übrigen Untertanen, erklärt im zweiten Abschnitte als Folge hiervon die für die Juden bestandenen besonderen Gesetze und Vorschriften für aufgehoben und hebt sodann ebenwohl als Folge aus jener neuen Anordnung hervor, daß den Juden nunmehr auch "alle Nahrungszweige als Feldbau, Handwerke, Betrieb von Manufakturen und der ordentliche Handel gestattet seien."
Als besondere Einschränkungen kommen nur Bestimmungen über Güter und Häuserbesitz sowie die Art der Benutzung jener vor, jedenfalls ist aber ferner im Vergleich zu den christlichen Untertanen eine weitere Beschränkung in der Vorschrift enthalten, daß mit dem Betriebe der Viehmäkelei, des Leih-, Trödel- und Hausierhandels die eingeräumten bürgerlichen Rechte neben anderen Nachteilen verloren gehen, während christliche Untertanen, ohne einer solchen Einbuße ausgesetzt zu sein, auch auf die eben bezeichnete Weise sich nähren dürfen.
Würde man nun zu der Frage übergehen, welche weiter nicht besonders in der Verordnung von 1816 genannten Rechte den Israeliten durch dieselbe erworben seien, zu welcher Frage noch besonders die in der Oberschrift des Gesetzes sich findende Bezeichnung der Juden als Staatsbürger hinweiset, so erhält man hierauf schon dadurch eine Antwort, wenn man sich vergegenwärtigt, wie überhaupt den Untertanen im allgemeinen keine politischen Rechte zustanden, die auf irgend eine Art den Gang des Gouvernements zu modifizieren geeignet gewesen seien.
Im allgemeinen hatte nämlich 1816 niemand die Befugnis, sich in irgendeiner Art besondere Ansprüche auf eine Amtsstelle beizulegen, so wie auch ferner niemand an der Landstandschaft teilzunehmen hatte, der nicht - abgesehen von Ritterschaft und Prälaten - Mitglied der Magistrate landtagsfähiger Städte oder aber Ortsschultheiß war. Letztere hatten die Beamten nach ihrem Ermessen zu bestellen und die Magistrate wurden durch Cooptation der Mitglieder ergänzt. So gab denn die durch die Verordnung von 1816 den Juden erteilte Befugnis, Gewerbe und Ackerbau zu betreiben, an und für sich keine politische Stellung im Staate, allein wenn auch im allgemeinen jeder Untertan eine Staatsstelle erhalten oder in jene kommunale Funktionen eintreten konnte, so existierte doch ein 1816 noch nicht offiziell aufgehobenes Hindernis für die Juden, um in den fraglichen Beziehungen gleiche Hoffnungen wie andere Untertanen hegen zu dürfen. Sie mußten nämlich als von allen öffentlichen Ämtern, auch den obengenannten, deshalb an und für sich ausgeschlossen betrachtet werden, weil durch die Religions-Assekurationsakte vom 28. Oktober 1754 und den Landtagsabschied vom 11. Januar 1755 das protestantische Glaubensbekenntnis für ein Erfordernis zur Bekleidung von Staatsstellen erklärt worden war. Gab es zwar seit 1813 einige Abweichungen von dieser Regel, so war solche doch nirgends zurückgenommen, und man konnte sich daher auf eine allgemeine Gleichstellung mit den übrigen Untertanen nicht berufen, um daraus herzuleiten, daß diese gleichgestellte Klasse nun für ebenso berechtigt anzunehmen sei wie die für besonders und ausschließlich befähigt erklärten.
Die Gleichstellung der Juden mit den übrigen Untertanen bedeutete daher nicht so viel, daß für jene auch nun die Fähigkeit, in öffentlichen Beziehungen hervorzutreten, bestehen sollte, welche von den übrigen Untertanen nur besonders des-falls Ausgezeichneten zukam, und so bleibt denn in der Tat von jener Gleichstellung nur dasjenige übrig, was als Folge derselben in dem § 1 der Verordnung ausgesprochen ist, nämlich Wegfallen der besonderen die Juden ausschließlich betreffenden Vorschriften und Zulassung der Juden zu bürgerlichen Nahrungszweigen.
Wenn man die Veränderungen, welche im ganzen Staatsorganismus durch die Verfassungsurkunde hervorgebracht sind, betrachtet, so dürfte die Nachweisung nicht schwierig sein, daß die besonderen Rechte, welche den Untertanen durch diesselbe erteilt sind, auf die Juden nicht bezogen werden können.
Die Verfügung des § 22 der Verfassungsurkunde kommt hier hauptsächlich in Betracht, welche enthält, daß ein jeder Staatsangehöriger der Regel nach auch Staatsbürger, somit zu öffentlichen Ämtern und zur Teilnahme an der Volksvertretung befähigt sei. Dieser neue Grundsatz würde, wenn keine weitere Bestimmung in der Verfassungsurkunde sich fände, auch die Juden mit umfassen, allein der weiter folgende § 29 zeigt, daß sich derselbe auf die Juden nicht bezieht. In diesem Paragraph wird zunächst der vorhin bestandene Unterschied hinsichtlich der Fähigkeit zu öffentlichen Ämtern aufgehoben und den Bekennern jedes christlichen Kirchendogmas der Genuß der staatsbürgerlichen Rechte in der Weise zugesichert, daß die Verschiedenheit der Bekenntnisse keinen Einfluß auf den Genuß jener Rechte haben soll.
Wenn nun darauf die weitergegebene Bestimmung folgt, daß die den Israeliten bereits zustehenden Rechte unter den Schutz der Verfassung gestellt sein sollen, so kann dies, wenn man die oben dargestellte Beschaffenheit der den Israeliten eingeräumlen Rechte erwägt, nur den Sinn haben, daß diese Rechte nicht auf sonst zulässige Weise sollen entzogen werden, anderenteils aber auch nicht in der für die Untertanen im Allgemeinen geschehenen Normierung des persönlichen Rechtszustandes enthalten sein sollen.
Die Israeliten hatten vorhin im Vergleich zu anderen Untertanen keine besonderen, diesen nicht auch zustehenden Rechte, sie waren im Gegenteil im Durchschnitt weniger berechtigt und so erscheint denn das Verhältnis, welches durch die Verordnung von 1816 [entstand], nur im Vergleich zu dem früheren Zustande, worin die Juden sich befanden, als Rechte verleihend.
Enthalten zwar auch die §§ 49 und 50 Zusicherungen des Schutzes der Verfassung für besondere Rechte, woraus ein Zweifel gegen eine Interpretation entnommen werden könnte, so verschwindet ein solcher doch, wenn man erwägt, daß es sich in diesen Paragraphen von Vorrechten im Vergleich zu anderen Untertanen handelt, während die Juden nur das Recht teilweiser Gleichstellung mit Beibehaltung teilweiser Beschränkung respektive Zurücksetzung gegen andere Untertanen für sich anführen können.
Es ergibt sich auch von der Seite die Richtigkeit dieser Auslegung, daß, wenn der § 22 der Verfassungsurkunde die Juden mit umfassen sollte, von bereits zustehenden, unter den Schutz der Verfassungsurkunde zu stellenden Rechten gar keine Rede hätte sein können, weil jedes besondere Rechtsverhältnis der Israeliten mit Ausnahme der die Nothändler betreffenden Ausschließung aufgehört haben würde. Außerdem verleiht der erwähnte § 22 nur "der Regel nach" allen Untertanen staatsbürgerliche Rechte, so daß in demselben keine Nötigung liegt, diese Verleihung als absolut allgemein und keine Klasse der Untertanen davon ausgenommen zu betrachten.
Das zu entwerfende Gesetz muß sich nun ohne Zweifel an die Bestimmungen der Verfassungsurkunde anschließen, es soll nur eine Vollziehung derselben sein und erscheint nur dann als verfassungsmäßig, wenn es dasjenige ausspricht, was die Verfassungsurkunde wollte. Es kann dasselbe mithin nur eine Ausdehnung der Verordnung vom 14. Mai 1816 auf alle Landesteile zulässigerweise enthalten.
Der Rechtszustand, welchen ein Teil der Israeliten erworben hatte, ist durch die Verfassungsurkunde in der Art gesichert, daß eine Verringerung der Befugnisse, welche dadurch gegeben sind, im Wege der gewöhnlichen Gesetzgebung nicht eintreten kann, allein auch nur diese Befugnisse und keine weiteren will die Verfassungsurkunde allen Israeliten des Kurstaates erteilt wissen. Es folgt hieraus, daß denselben keine Teilnahme an der Volksvertretung gebührt, sie auch zu Staatsämtern nicht für befähigt gehalten werden können. In jener Hinsicht ist noch zu bemerken, daß, wenn man ihre Befähigung zur Teilnahme an der Volksvertretung annimmt, man auch die Möglichkeit einräumen muß, mag dieser Möglichkeit viel oder wenig Wahrscheinlichkeit zur Seite stehen, daß dieselben zu Abgeordneten gewählt werden können. Auch daß solche in großer Zahl dazu erwählt werden könnten, ist als rechtlich möglich zu denken, und es muß auch die Folge eines solchen Ereignisses alsdann ins Auge gefasst werden, wenn es sich von dauernder Gründung einer Staatseinrichtung handelt. Unsere Staatsverfassung hat sich nun von der christlichen Grundlage nicht so weit entfernt, daß nicht darin eine nur Christen zukommende Funktion den Landständen für einen, wenn auch seltenen Fall, vorbehalten wäre.
Es ist dies die im § 134 der Verfassungsurkunde den Landständen zugewiesene Einrichtung des Gebrauchs des dem Landesherrn zu-stehenden Rechts der unmittelbaren Ausübung der Kirchengewalt über die evangelischen Glaubensparteien, wenn der Landesherr zu einer anderen als evangelischen Kirche übergeht. Daß hierüber Juden nicht urteilen dürfen, ist klar, und daß somit auch eine Einrichtung rechtlich nicht möglich sein kann, welche Juden zu desfallsigen Urteilern in Oberzahl den Landständen beigesellen können.
Was hiernach an dem Gesetze verändert werden muß, ergibt sich von selbst.
Allein auch der weitere, die Ehe zwischen Christen und Juden als gesetzlich zulässig aussprechende Satz kann wohl nicht bleiben, weil eines Teils der Staat ein christlicher ist und sich, wie schon gesagt, in seiner durch die Verfassungsurkunde bewirkten Einrichtung von dieser Grundlage nicht entfernt hat, wie vorhin erwähnt und gezeigt wurde, und anderen Teils der Staat in seinen Gesetzen nicht Erscheinungen möglich machen darf, welche den einzelnen folgeweise in die kränkendste Lage versetzen, Juden in seiner Verwandtschaft haben zu müssen, wovor im Gegenteil ein Schutz in den Gesetzen bereitet sein muß.
Daß die christliche Grundlage in der Verfassungsurkunde sich findet, lehrt der zehnte Abschnitt derselben ganz unzweideutig, indem man es für nötig gehalten hat, darin, also in die Staatsverfassungsbestimmungen, Vorschriften aufzunehmen, welche besondere Verhältnisse der christlichen Kirche betreffen. Mit dieser christlichen Grundlage der Staatsverfassung steht der § 7 des Entwurfs geradehin im Widerspruch, indem die Bestimmung:
"Die Ehen zwischen Christen und Israeliten werden von Seiten des Staates nicht gehindert,"
einen Gegensatz dahin stillschweigend sanktioniert, daß der Staat etwas als rechtsbeständig behandeln wolle, was daneben als dem Widerspruche von Seiten der Kirche ausgesetzt, angenommen wird.
Es berührt dieser Punkt insbesondere noch das weite Feld der hohlen Ideen über den Staat, vor welchen viele das Leben, wie es ist, nicht zu erblicken vermögen. Ich werde die Auseinandersetzung und Widerlegung jener Ideen hier nicht nötig haben und voraussetzen dürfen, daß es eigentlich den Absichten Euer Hoheit völlig entspricht, wenn das Bisherige beibehalten und zur Eingehung einer Ehe zwischen Christen und Juden keine Dispensation erteilt wird.
Was die oben berührte andere Seite des Rechtszustandes der Israeliten betrifft, so scheint mir in dem Gesetzentwurf, von dem ich einen mit den ständischen Abweichungen versehenen Abdruck hierneben untertänigst beifüge, nur die Abänderung nötig, daß die Erteilung der vollen staatsbürgerlichen Rechte herausgelassen und eine Dispensationsbefugnis hinsichtlich der Zulassung zu Staatsämtern eingeführt wird.
Indem ich die weitere Erwägung dieser Sache, wobei es wieder in Frage steht, ob den modernen Ideen eine neue Konzession gemacht oder ein Rest wohlerwogener Anordnungen früherer Zeiten beibehalten werden soll, den weisen Absichten Euer Hoheit in tiefster Ehrfurcht anheimstelle, habe ich die Gnade zu verharren
als Euer Hoheit untertänigster, treugehorsamster, pflichtschuldigster
[gez. Unterschrift]
Textkommentar:
Karl Marx verfasste die Schrift „Zur Judenfrage“ in der zweiten Hälfte des Jahres 1843. Sie wurde erstmals im Februar 1844 in den gemeinsam von Marx und Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht. In ihr setzt sich Marx mit zwei Aufsätzen des Junghegelianers und Religionskritikers Bruno Bauer auseinander. „Zur Judenfrage“ entstand in eine Zeit, in der sich Marx nach und nach von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dem sogenannten Junghegelianismus um Bruno Bauer und Max Stirner abwendete, um unter Einfluss der nationalökonomischen Studien Adam Smiths und David Ricardos seine eigenen philosophisch-ökonomischen Grundsätze zu entwickeln. In verschiedenen Schriften dieser Zeit (Die heilige Familie, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Die deutsche Ideologie) überwindet Marx Hegels idealistische Vorstellung vom Staat als das über allen Partikularinteressen stehende Sittlich-Allgemeine und geht dazu über, statt der Politik vornehmlich den beobachtbaren gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, den Produktionsverhältnissen, sein Interesse zu widmen. Den Staat begreift Marx genauso wie die Religion nur noch als Ausdruck oder Ableitung dieser sozialen Verhältnisse.
Der Junghegelianer Bruno Bauer beschäftigte sich in zwei Aufsätzen aus dem Jahr 1843 mit den Möglichkeiten der jüdischen Emanzipation. Karl Marx setzte sich noch im gleichen Jahr mit Bauers Überlegungen auseinander. Im ersten Teil von "Zur Judenfrage" stimmt er zunächst einigen religionskritischen Aussagen Bauers zu; doch geht Bauer ihm noch nicht weit genug. Seine zentrale Kritik an Bauer ist, dass er die „Judenfrage“ nur als religiös-theologische Frage verstehe und ihre weltlich-materielle Dimension völlig missachte. Nach Marx bestehe in der modernen Organisation von Gemeinwesen ein tiefer Widerspruch zwischen der Sphäre der zwischenmenschlichen Interaktion, der bürgerlicher Gesellschaft mit ihren Bürgerrechten (droits de l’homme), und dem öffentlich-rechtlichen Sphäre des politischen Staates mit seinen Staatsbürgerrechten (droits du citoyen). Letzterer habe sich zwar von seinem Vorgänger, dem christlichen Staat emanzipiert, indem er nun jedem gewisse Rechte, u.a. Religionsfreiheit, gewähre. Allerdings wurde damit die Religion nur ins Private verschoben, die politische Emanzipation vom christlichen zum politischen Staat sei deshalb nicht als generelle menschliche Emanzipation (von der Religion etwa) zu verstehen. Die Judenfrage müsse nach Marx in diesem weltlichen Kontext gesehen und gelöst werden, im Kontext des Verhältnisses von politischer zur allgemein menschlicher Emanzipation. Allgemein menschliche Emanzipation lasse sich nur durch die Überwindung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft erreichen.
Auszüge aus "Zur Judenfrage":
"[...]
II.
»Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden«. Von Bruno Bauer. (»Einundzwanzig Bogen«, pag. 56-71.)
Unter dieser Form behandelt Bauer das Verhältnis der jüdischen und christlichen Religion, wie das Verhältnis derselben zur Kritik. Ihr Verhältnis zur Kritik ist ihr Verhältnis »zur Fähigkeit, frei zu werden«.
Es ergibt sich:
»Der Christ hat nur eine Stufe, nämlich seine Religion zu übersteigen, um die Religion überhaupt aufzugeben«, also frei zu werden, »der Jude dagegen hat nicht nur mit seinem jüdischen Wesen, sondern auch mit der Entwicklung der Vollendung seiner Religion zu brechen, mit einer Entwicklung, die ihm fremd geblieben ist.« (p. 71.)
Bauer verwandelt also hier die Frage von der Judenemanzipation in eine rein religiöse Frage. Der theologische Skrupel, wer eher Aussicht hat, selig zu werden, Jude oder Christ, wiederholt sich in der aufgeklärten Form, wer von beiden ist emanzipationsfähiger? Es fragt sich zwar nicht mehr: Macht Judentum oder Christentum frei? sondern vielmehr umgekehrt: Was macht freier, die Negation des Judentums oder die Negation des Christentums?
[...]
Wir versuchen, die theologische Fassung der Frage zu brechen. Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondre gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben? Denn die Emanzipationsfähigkeit des heutigen Juden ist das Verhältnis des Judentums zur Emanzipation der heutigen Welt. Dies Verhältnis ergibt sich notwendig aus der besondern Stellung des Judentums in der heutigen geknechteten Welt.
Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden.
Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden,
Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit.
Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein wurde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andrerseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.
Wir erkennen also im Judentun ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß.
Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.
[…]
Es ist dies kein vereinzeltes Faktum. Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.
»Der fromme und politisch freie Bewohner von Neuengland«, berichtet z.B. Oberst Hamilton, »ist eine Art von Laokoon, der auch nicht die geringste Anstrengung macht, um sich von den Schlangen zu befreien, die ihn zusammenschnüren. Mammon ist ihr Götze, sie beten ihn nicht nur allein mit ihren Lippen, sondern mit allen Kräften ihres Körpers und ihres Gemüts an. Die Erde ist in ihren Augen nichts andres als eine Börse, und sie sind überzeugt, daß sie hienieden keine andere Bestimmung haben, als reicher zu werden denn ihre Nachbarn. Der Schacher hat sich aller ihrer Gedanken bemächtigt, die Abwechslung in den Gegenständen bildet ihre einzige Erholung. Wenn sie reisen, tragen sie, sozusagen, ihren Kram oder ihr Kontor auf dem Rücken mit sich herum und sprechen von nichts als von Zinsen und Gewinn. Wenn sie einen Augenblick ihre Geschäfte aus den Augen verlieren, so geschieht dies bloß um jene von andern zu beschnüffeln.«
[…]
Der Widerspruch, in welchem die praktische politische Macht des Juden zu seinen politischen Rechten steht, ist der Widerspruch der Politik und Geldmacht überhaupt. Während die erste ideal über der zweiten steht, ist sie in der Tat zu ihrem Leibeignen geworden.
Das Judentum hat sich neben dem Christentum gehalten, nicht nur als religiöse Kritik des Christentums, nicht nur als inkorporierter Zweifel an der religiösen Abkunft des Christentums, sondern ebensosehr, weil der praktisch-jüdische Geist, weil das Judentum in der christlichen Gesellschaft selbst sich gehalten und sogar seine höchste Ausbildung erhalten hat. Der Jude, der als ein besonderes Glied in der bürgerlichen Gesellschaft steht, ist nur die besondere Erscheinung von dem Judentum der bürgerlichen Gesellschaft.
Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.
Aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.
Welches war an und für sich die Grundlage der jüdischen Religion? Das praktische Bedürfnis, der Egoismus.
Der Monotheismus des Juden ist daher in der Wirklichkeit der Polytheismus der vielen Bedürfnisse, ein Polytheismus, der auch den Abtritt zu einem Gegenstand des göttlichen Gesetzes macht. Das praktische Bedürfnis, der Egoismus ist das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und tritt rein als solches hervor, sobald die bürgerliche Gesellschaft den politischen Staat vollständig aus sich herausgeboren. Der Gott des praktischen Bedürfnisses und Eigennutzes ist das Geld.
Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.
Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel.
[…]
Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen.
[…]
Die Veräußerung ist die Praxis der Entäußerung. Wie der Mensch, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen weiß, indem er es zu einem fremden phantastischen Wesen macht, so kann er sich unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses nur praktisch betätigen, nur praktisch Gegenstände erzeugen, indem er seine Produkte, wie seine Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die Bedeutung eines fremden Wesens - des Geldes - verleiht.
Der christliche Seligkeitsegoismus schlägt in seiner vollendeten Praxis notwendig um in den Leibesegoismus des Juden, das himmlische Bedürfnis in das irdische, der Subjektivismus in den Eigennutz. Wir erklären die Zähigkeit des Juden nicht aus seiner Religion, sondern vielmehr aus dem menschlichen Grund seiner Religion, dem praktischen Bedürfnis, dem Egoismus.
Weil das reale Wesen des Juden in der bürgerlichen Gesellschaft sich allgemein verwirklicht, verweltlicht hat, darum konnte die bürgerliche Gesellschaft den Juden nicht von der Unwirklichkeit seines religiösen Wesens, welches eben nur die ideale Anschauung des praktischen Bedürfnisses ist, überzeugen. Also nicht nur im Pentateuch oder im Talmud, in der jetzigen Gesellschaft finden wir das Wesen des heutigen Juden, nicht als ein abstraktes, sondern als ein höchst empirisches Wesen, nicht nur als Beschränktheit des Juden, sondern als die jüdische Beschränktheit der Gesellschaft.
Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist.
Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“
Zitiert nach: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_347.htm; siehe auch: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Werke, Bd. 1, Berlin-Ost 1976, S. 347-377, hier S. 371-377 (Auszüge).
Arbeitsaufträge:
1. Der Junghegelianer Bruno Bauer fasst gemäß Marx die Judenfrage als religiös-theologische Frage. Wie positioniert sich Marx dazu? Wie versteht er die Judenfrage?
2. Wie beschreibt Marx die „wirklichen Juden“? Welche Tätigkeiten, Eigenschaften und Bestrebungen weist er ihnen zu?
3. Für was stehen diese Eigenschaften des „wirklichen Juden“?
4. Was ist nach Marx die Judenemanzipation? Was ist dagegen die gesellschaftliche Emanzipation vom Judentum und zu was führt diese?
5. Diskutieren Sie, ob Karl Marx anhand dieses Textes als judenfeindlich bezeichnet werden kann. Achten Sie auf den zeitlichen Kontext.
Sebastian Haus
Obwohl die Revolution 1848 viele emanzipatorische Hoffnungen erfüllte und einige Juden während der Revolution als Abgeordnete in der Paulskirche eine bedeutsame Rolle in der politischen Öffentlichkeit einnahmen, waren die Ereignisse der Jahre 1848/49 auch häufig von antijüdischen Ressentiments begleitet. Durch die neue Pressefreiheit entstanden zahlreiche neue judenfeindliche Zeitschriften, die den antijüdischen Stimmungen ein Sprachrohr gaben. Es blieb jedoch nicht nur bei sprachlichen Diffamierung der jüdischen Bevölkerung. Örtlich begrenzt sind auch spontane Gewaltakte gegen die Juden überliefert. Häufig wurden die Tumulte durch Gerüchte ausgelöst, die Lebensmittelpreise seien durch jüdische Händler künstlich verteuert worden - was auf den sozioökonomischen Hintergrund und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im unmittelbaren Vorfeld der Revolution verweist. Juden wurden von vielen von der Wirtschaftskrise bedrohten Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern als Personifikation des hereinbrechenden wirtschaftlichen Wandels betrachtet. Viele der Mittel- und Unterschicht sahen sich mit einer existenzbedrohenden Lage konfrontiert, wodurch de Hemmschwelle für Gewalttaten gegen Juden immer weiter sank. Wie diese Ausschreitungen abliefen und wie die Juden reagierten, zeigt beispielhaft ein Bericht aus dem württembergischen Baisingen:
„Mächtige wurden gestürzt und das Gesindel erhob sich und viele jüdische Gemeinden in diesen Ländern wurden vielfach misshandelt. Auch wir, die jüdischen Einwohner des Dorfes Baisingen, kamen in große Not. Es war das Gerücht, dass die christlichen Einwohner benachbarter Dörfer uns überfallen, berauben und misshandeln wollen.
In der Nacht auf den dreizehnten März waren wir ängstlich, ein jeder in seinem Hause, da kamen hiesige Christen und warfen in zehn Häusern von Juden die Scheiben ein. Nachtwächter sahen es mit an und halfen dazu.
(Sieben ledige christliche Burschen aus einem Nachbardorf drohten Gewalt an. Kein ansässiger Christ solidarisierte sich mit den Juden.)
In der Nacht auf den letzten Tag von Pessach, dieses ist auf den 25. April, rotteten sich ungefähr vierzig christliche Einwohner des Ortes zusammen, sie waren teils geheiratet, teils noch ledig und begannen damit, dass sie zuvörderst die von uns bestellten jüdischen und christlichen Wächter aus der Strasse verjagten und dann hingingen und in den meisten Häusern der Juden die Türen einschlugen und die Läden der Fenster erbrachen. Sie waren mit schweren Steinen, großen und kleinen Prügeln, mit Äxten und Beilen bewaffnet. Sie warfen durch die zerschlagenen Fenster in die Wohnungen und riefen: Geld oder Tod! (... )
(Die Ausschreitenden) trafen die Hausfrau, die längst taub geworden, und verwundeten sie gefährlich am Kopfe; sie ist indes wieder geheilt von ihren Wunden. Bei dieser Gelegenheit wurden auch in der nahe stehenden Synagoge Fenster zerschlagen und Steine und Prügel hineingeworfen. (...)
Zu dieser Zeit war es ruhig am Orte. Wir gingen aus unseren Häusern bewaffnet mit Äxten, Hämmern, Beilen und dergleichen und blieben auf der Strasse beisammen, um einem möglichen Überfalle vereint abzuwehren. Noch vor Tag gingen jedoch drei von uns zu dem Schultheissen und verlangten von ihm ein Schreiben an das königliche Oberamtsgericht. Über das, was diese Nacht sich ereignet. Der Schultheiss willfahrte, und so gingen denn zwei dieser Männer, Herr Hirsch Kiefe, Kirchenvorsteher, und Vorsänger und Schullehrer Michael Hirsch mit Tagesanbruch an Ort und Stelle sich zu begeben und für unseren Schutz Sorge zu tragen und Anstalt zu treffen (...)
Wir dürfen nicht unterlassen zu erwähnen, dass die öffentliche Stimme, die laut wurde, ganz zu unseren Gunsten war und dass die christlichen Einwohner dahier von ihren Glaubensgenossen, den katholischen und von den lutherischen Christen in der Gegend sehr getadelt wurden. (...)
Man hatte den Großherzog von Baden zur Flucht genötigt und wollte auch für Württemberg Republik ausrufen; allein die Besseren im Volke ermannten sich, und die Regierungen wurden wieder mächtig, wie es war vor dem März des Jahres 1848.
In diesen Jahren unter der Regierung unseres guten Königs Wilhelm der Erste wurden den Untertanen viele Rechte und Freiheiten von den Regierungen eingeräumt, und die Juden erlangten in vielen deutschen Staaten dieselben Rechte wie die anderen Einwohner.“
Aus: Abraham Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, in: Leo Baeck Bulletin 52/1976, S. 88-93; zitiert nach: http://www.gabrielriesser.de/frameset_intro_02.html
Arbeitsaufträge:
1. Zeichnen sie die Ausschreitungen gegen die Juden in Baisingen nach.
2. Wie reagierte die Öffentlichkeit auf die Ausschreitungen?
3. Wie versuchten sich die Juden der Gewalttätigkeiten zu erwehren?
"Meine Herren! Es ist mir gemütlich schwer geworden, diesen Antrag zu stellen; ich aber halte ihn für eine heilige Pflicht gegen das deutsche Volk. Es gibt gewiss kein größerer Unglück – wir Alle werden es mit größter Teilnahme fühlen – es gibt gewiss kein schmerzlicheres Unglück, als sein Vaterland verloren zu haben. Dieses Unglück ist das der über die ganze Welt zerstreuten Israeliten (Eine Stimme aus dem rechten Zentrum: Nein!) Erlauben Sie mir, die Israeliten gehören vermöge ihrer Abstammung, das wird Niemand ableugnen, dem deutschen Volk nicht an. Und sie können demnach ganz und vollkommen niemals angehören. (Oh!) Nicht ihre Religion ist es, die sie daran verhindert, sondern die Unmöglichkeit der Familienvermischung ist es, und diese Unmöglichkeit hat allerdings einen religiösen und einen kirchlichen Grund. (…)
Ich will damit keineswegs sagen, dass die Gemeinsamkeit der Sprache, dass die Gemeinschaft des Landes nicht die Israeliten bis zu einem gewissen Grade zu Deutschen macht; aber vollständig können und werden die Israeliten zu einem deutschen Stamme wegen dieser historisch gegebenen Verhältnisse und allerdings auch der religiös-gegebenen niemals werden.
Wenn es sich nur von den politischen Rechten handelte. So wäre die Frage viel einfacher. Gewiss niemandem wird es einfallen, das aktive und passive Wahlrecht der Israeliten beanstanden zu wollen. Wir werden uns im Gegenteil nur freuen, wenn Israeliten, - wie dies ja häufig der Fall ist, – so sehr das Vertrauen des deutschen Volkes geniessen, daß sie das deutsche Volk zu seinen Vertretern wählt. (...)
Wenn wir heute alle Schacher- und Sack-Juden, alle israelitischen Viehversteller, alle mit wucherlicher Aussaugung der armen Bauern beschäftigten Juden für vollberechtigte Staatsbürger erklären, so wird jene nachteilige Einwirkung auf das deutsche Volk damit keineswegs verwischt, vielmehr gewinnen dieselben dann nur ein freieres Feld, um ihre nachteilige Einwirkung auf das deutsche Volk recht ungehindert und vollkommen betreiben zu können. Wir wollen human sein gegen die Israeliten, unsere erste Pflicht ist gegen das deutsche Volk.
Ebenso schädlich wirken die unteren Klassen des jüdischen Volkes im Detailhandel. Die einzelnen Gesetzgebungen haben zum Teil sehr zweckmässige Gesetze erlassen, so wirken namentlich die in meinem besondern Vaterlande diesfalls erlassenen Gesetze sehr wohltätig, welche dahin gehen, die Israeliten vom Schacherhandel und vom Wucher abzulenken, und ihn zu einem ordentlichen, ehrlichen Gewerbe und zur Landwirtschaft anzuhalten. (...)
Aber der Hauptgrund der von mir erörterten Übelstände liegt gleichwohl in ganz anderen Verhältnissen: er liegt darin, dass der israelitische Volksstamm sich mit dem deutschen Volke nicht verschmilzt, sich mit demselben nicht identifiziert und nicht identifizieren kann, vermöge seiner religiösen Verhältnisse (...)
Das ganze Leben, die ganze Richtung und Beschäftigung der Israeliten in den unteren Volksschichten ist eine volksverderbliche (...). Den alten Juden in den unteren Volksschichten machen sie nicht anders, und je mehr man ihn von allen Fesseln befreit, um so leichter wird er es haben, das Volk auszubeuten.“
Aus: Riesser/Mohl, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung, hrsg. von Franz Wigard, Bd. 3, Frankfurt 1848, S. 1754 – 1757; zitiert nach: http://www.gabrielriesser.de/frameset_intro_02.html
Arbeitsaufträge:
1. Warum können die Juden nach Mohl nicht dem deutschen Volk angehören? Als was begreift Mohl die Juden folglich?
2. Welche Argumente sprechen gemäß Mohl gegen die volle Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung?
3. Inwiefern in Mohls Argumentation von Vorurteilen geprägt?
In diesem Auszug aus einer Rede in der Nationalversammlung nimmt der jüdische Abgeordnete Riesser leidenschaftlich zur Forderung seines Vorredners Mohl nach einer weiteren Ausgrenzung der Juden Stellung. Riesser wurde 1806 in Hamburg als Sohn traditionelle gläubiger jüdischer Eltern geboren. Er promovierte 1826 an der Universität Heidelberg in Rechtswissenschaften, konnte aber trotz seiner hervorragenden Leistungen keine höheren Positionen im Staatsdienst einnehmen, da dies den Juden zu diesem Zeitpunkt weitestgehend verwehrt blieb. Riesser, selbst ein Opfer jüdischer Ausgrenzung im Vormärz, kämpfte fortan publizistisch für die Emanzipation der Juden. Während der Revolution 1848/49 wurde Riesser als Abgeordneter des Herzogtums Lauenburg ins Paulskirchenparlament gewählt und avancierte dort sehr bald zu einem sehr prominenten Redner und Verfechter der bürgerlichen Freiheitsrechte. Dass er unter den Abgeordneten hohes Ansehen genoss, zeigt seine Wahl zum Parlamentsvizepräsidenten im Oktober 1848. Einige Monate später war er Mitglied der Delegation, die Friedrich Wilhelm IV. von Preußen ohne Erfolg die Krone anbot.
Gabriel Riesser ist ein Beispiel dafür, wie in den Jahren 1848/49 zahlreiche jüdische Liberale an der Gestaltung der Revolution und an der Durchsetzung einer konstitutionellen Monarchie in prominenter Weise mitwirkten. Sie trugen damit selbst dazu bei, die Emanzipation Stück für Stück erkämpft zu erkämpfen, obwohl noch knapp zwei Jahrzehnte vergehen mussten, bis in einem Gleichstellungsgesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 die volle rechtliche Gleichstellung der Juden erreicht wurde.
„Meine Herren! (...) Ich nehme das Recht in Anspruch, vor Ihnen aufzutreten im Namen einer seit Jahrtausenden unterdrückten Klasse, der ich angehöre durch Geburt, und der ich – denn die persönliche Überzeugung gehört nicht hierher – ferner angehöre durch das Prinzip der Ehre, das es mich hat verschmähen lassen, durch einen Religionswechsel schnöde versagte Rechte zu erwerben (Bravo!) Im Namen dieser unterdrückten Volksklasse gegen gehässige Schmähungen vor Ihnen das Wort zu ergreifen, dieses Recht nehme ich in Anspruch (Stimmen: Sehr gut!) Der geehrte Vorredner hat seinen Antrag in eine Unwahrheit gefasst: Er will nämlich den israelitischen Volksstamm durch Ausnahmsgesetze von dem für alle gleichen Rechte ausgeschlossen haben. Sie haben nun durch einen feierlichen Beschluss (im Juli 1848 die Sorben) den nicht deutschredenden Volksstämmen, die in Deutschland leben, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Rechte, Gleichheit alles Dessen, was den Deutschen Deutschland teuer macht, zugesichert. Sollen wir Juden es für unser Unglück erachten, daß wir deutsch reden? Sollen wir darum schlechter behandelt, soll die Freiheit uns vorenthalten werden dürfen, weil wir nicht in die Kategorie nicht deutsch redender Volksstämme gehören?“
(Riesser erinnert an die Kämpfe der Deutschen gegen die Slawen, zu denen die Sorben gehören, und setzt von diesen die Juden als „schwache Religionspartei“ dagegen ab.)
Können Sie „einer Klasse, die keine Nationalität haben will, die ihnen von ihren Feinden aufgebürdet wird, die deutsch denkt und fühlt, mit Misshandlungen entgegentreten, und zu ihrem Nachteil Ausnahmsgesetze bestehen lassen, während sie andererseits alle Ausnahmsgesetze vernichten, und dem gleichen Recht, dem gleichen Gesetz anheim stellen, alle Schäden der Gesellschaft zu heilen?“
(Riesser weist auf Petitionen und Beschlüsse von Provinzparlamenten für die Gleichstellung der Juden in Preußen hin.)
„Die Handlungen, die den Juden verboten werden, müssen auch dem Christen verboten sein. Was volksverderblich und volkswirtschaftlich nachteilig sein soll, müssen sie in ein Gesetz bringen, das von dem religiösen Bekenntnis unabhängig ist. Sie müssen den Trödelhandel und die Geschäfte mit dem Landmann, die sie für nachteilig halten, verbieten oder eigentlich den Landmann für unmündig erklären. (...)
Ich selbst habe unter den Verhältnissen der tiefsten Bedrückung gelebt, und ich hätte bis vor kurzem in meiner Vaterstadt nicht das Amt eines Nachwächters erhalten können. Ich darf es als ein Werk, ich möchte sagen, als ein Wunder des Rechts und der Freiheit betrachten, dass ich befugt bin, hier die hohe Sache der Gerechtigkeit und Gleichheit zu verteidigen ohne zum Christentum übergegangen zu sein (...) Ich glaube nicht, dass es möglich ist, gleiche Rechte zu geben für aktive und passive Wählbarkeit, für das hohe Werk der Gesetzgebung, so lange noch die verletzendsten Ausnahmegesetze in niederen Sphären bestehen. (...)
Die Juden werden immer begeisterte und patriotische Anhänger Deutschlands unter einem gerechten Gesetz werden. Sie werden mit und unter den Deutschen Deutsche werden. (...) Glauben Sie nicht, dass sich Ausnahmegesetze machen lassen, ohne daß das ganze System der Freiheit einen verderblichen Riss erhalten, ohne daß der Keim der Verderbnis in dasselbe gelegt würde. Es ist Ihnen vorgeschlagen, einen Teil des deutschen Volkes der Intoleranz, dem Hasse als Opfer hinzuwerfen; das werden Sie nimmermehr tun, meine Herren.“
Aus: Riesser/Mohl, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung, hrsg. von Franz Wigard, Bd. 3, Frankfurt 1848, S. 1754 – 1757; zitiert nach: http://www.gabrielriesser.de/frameset_intro_02.html
Arbeitsaufträge:
1. Moritz Mohl sieht Juden nicht aus Deutsche an, obwohl sie in Deutschland leben. Wie positioniert sich Riesser dazu?
2. Riessers Widersacher Mohl hat vor allem eine aus seiner Sicht typische jüdische Wirtschaftsweise im Blick, „den Schacherjuden“, die dem deutschen Volk schade. Aus diesem Grund lehnt er die Gleichstellung der Juden ab. Was entgegnet ihm Riesser?
3. Vor welchen Folgen warnt Riesser, wenn sich die Nationalversammlung entscheiden würde, die rechtliche Ausgrenzung der Juden beizubehalten?
Mit dem Aufkommen der Nationsidee Ende des 18. Jahrhunderts und mit der raschen Ausbreitung nationalen Gedankenguts im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zur Formierung nationalistischer Strömungen im Kaiserreich war immer die Frage verbunden, wer genau zu einer Nation dazu gehöre und wie sich eine Nation gegenüber Nichtangehörigen zu verhalten habe. Meist wurde diese Frage nicht mit Toleranz des Anderen bzw. der nicht dazu gehörigen Minderheit beantwortet, sondern vielmehr mit Ausgrenzung und Diffamierung, was vor allem die Juden immer wieder erleben mussten. Dass einer relativ großen religiösen Minderheit in einem weitgehend christlich geprägten Kultur auch gewisse Grundrechte zustehen, war im 19. Jahrhundert keineswegs Konsens. Über den Ort der jüdischen Minderheit im deutschen Volk wurde heftig diskutiert. Nicht wenige Zeitgenossen plädierten im 19. Jahrhundert für eine totale Angleichung der Juden an die deutsche Kultur ohne Rücksicht auf deren kulturelle Eigenheiten.
Auch das Paulskirchenparlament beschäftigte sich mit dieser Frage. Der fraktionslose Abgeordnete Justin von Linde versuchte in einer Rede die Frage zu beantworten, ob die Juden eine eigene Nation sein.
„Den einzigen staatsrechtlichen Grundsatz, der bezüglich der jüdischen Konfession zur Sprache kam, nämlich der: ob die Juden in Deutschland eine besondere Nation darstellen oder nicht? muss ich beantworten mit Nein. Denn es gehört zur Nationalität nicht nur ein Volk, welches seine Sprache fortspricht die es früher gesprochen hat; sondern es gehört noch eine weitere Reihe von Bedingungen dazu, Grund und Boden, ein eigenes Land, und das hat das jüdische Volk nicht, also es repräsentiert im deutschen Volke keine Nationalität, sondern nur eine Secte, was daraus folgt, daß, wenn ein Jude von dem Judentum zu einer anderen Confession übertritt, alle diese Schranken fortfallen, was sonst nicht möglich wäre, wenn diese Schranken durch die Nationalität geboten wären.“
Aus: Von Linde, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung, hrsg. von Franz Wigard, Bd. 3, Frankfurt 1848, S. 1754 – 1757; zitiert nach: http://www.gabrielriesser.de/frameset_intro_02.html
Arbeitsaufträge:
1. Versuchen Sie Lindes Nationsbegriff zu definieren.
2. Diskutieren Sie die sozialen und kulturellen Spannungen, die aus der Nationsidee vor allem hinsichtlich Toleranz und Minderheitenschutz entspringen können. Versuchen Sie auch aktuelle Bezüge herzustellen.
Während die Gültigkeit der Staats- und Bürgerrechte in der kurhessischen Verfassung aus dem Jahr 1831 noch von der Bekenntnis zum christlichen Glauben abhängig war, so wurde diese rechtliche Beschränkung im Revolutionsjahr 1848 gesetzlich abgeschafft. "Die Ausübung aller bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte [...] ist von dem Glaubensbekenntnisse unabhängig", heißt es in Art. 2.
Die kurhessische Verfassung machte die im kurhessischen Gesetz zur Religionsfreiheit von 1848 eingeführte Rechtgleichheit der Juden wieder rückgängig. Die Staats- und Bürgerrechte waren fortan wieder vom "christlichen Glaubensbekenntnisse" abhängig. (§ 20).

Originalbeitrag von Annegret Wenz-Haubfleisch
Die Entwicklung bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert
Das Dorf Roth bildete zusammen mit Argenstein und Wenkbach das sogenannte Schenkisch Eigen, ein Gericht, das den Schencken zu Schweinsberg unterstand. Bereits 1332 hatten diese von Kaiser Ludwig d. Bayern das Privileg erlangt, in ihrer Stadt Schweinsberg vier Juden ansiedeln zu dürfen (HSTAM Urk. 134 Nr. 4). Wie andere landsässige Adelsfamilien erlaubten sie Juden spätestens in der Frühen Neuzeit die Niederlassung auch in ihren Dörfern. In einem Türkensteuerregister von 1594/95 lassen sich im „Eigen“ erstmals sieben Juden nachweisen, die zusammen 200 Gulden versteuerten (HSTAM 74 Nr. 47).
Mitte des 18. Jahrhunderts lebten in Roth, das damals etwa 350 Einwohner zählte, rund 38 Juden in neun Familien, was einem Bevölkerungsanteil von rund 10 Prozent entsprach. Im Raum Marburg folgte Roth unmittelbar auf Schweinsberg, wo ungefähr 44 Juden lebten. Im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl besaß das kleine Dorf an der Lahn zu dieser Zeit sicher mit Abstand die größte jüdische Gemeinde. Bekannt sind diese Zahlen aus der sogenannten Judenstättigkeit von 1744, einer die gesamte Landgrafschaft – mit Ausnahme der ehemaligen Grafschaft Hanau – betreffenden landesherrlichen Erhebung, die zugleich Bestimmungen darüber traf, welche Juden im Lande bleiben und welche dieses verlassen mussten. Die Erhebung zielte darauf, die weniger wohlhabenden Juden zu identifizieren und rigoros des Landes zu verweisen. Im Falle Roths durften nur zwei jüdische Familien am Ort verbleiben (siehe Dok. 1) Vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist wenig über die Lebensumstände der Rother Juden bekannt. Genauere Aufschlüsse liefert die aus steuerlichen Gründen erfolgte Katasteraufnahme von 1773, der die Vermessung der Gemarkung und Anlage einer Katasterkarte 1766/69 vorausging (Dok. 3.0 und zwei Ausschnitte). Ausweislich dieser Quellen lebten in Roth zwei jüdische Familien mit Hausbesitz und zwei Bettelweiber. Die beabsichtigte Ausweisung der Juden war also tatsächlich durchgeführt worden. Die Häuser sind identifizierbar, sie lagen nebeneinander, wobei an eines eine Synagoge angebaut war. Weitere Immobilien besaßen diese Juden nicht; gemäß den Judenordnungen von 1739 und 1749 (siehe Raum 10, Dok. 4 und 5) war es ihnen ja auch verboten, „Feldgüter“ zu kaufen.
Das 19. Jahrhundert
Demographische Entwicklung
Unter napoleonischer Herrschaft (1807-1813) erlangten Juden die bürgerliche Gleichstellung, die auch die Freizügigkeit in der Wahl des Wohnortes beinhaltete (siehe Raum 11, Dok. 2, Art. 5). Das Aufenthaltsrecht wurde also nicht mehr durch einen landesherrlichen Schutzbrief oder Toleranzschein erworben und reglementiert. Für die Rekonstruktion der demographischen und sozialen Entwicklung ist Art. 15 der Verordnung zur Einrichtung eines Konsistoriums von 1808 wichtig, schrieb dieser den Juden doch vor, feste Nachnamen anzunehmen (siehe Raum 11, Dok. 4). Die Gewohnheit, als Nachnamen den jeweiligen Vatersnamen dem Vornamen hinzuzusetzen, mussten sie folglich aufgeben. Dadurch entstanden in der jüdischen Bevölkerung erstmals feste Familiennamen.
Von dem erwähnten Recht, den Wohnort frei wählen zu dürfen, machten Juden in Roth in napoleonischer Zeit mehrfach Gebrauch, ließen sich nieder und heirateten in die bestehenden beiden Familien ein. Nach dem Ende des Königreichs Westphalen, als der kurhessische Staat die bürgerliche Gleichstellung der Juden wieder einschränkte, erneut kontrollierend und reglementierend in die jüdischen Angelegenheiten eingriff und hierzu Übersichten der jüdischen Einwohner anlegen ließ, können wir jedenfalls vier jüdische Ehepaare mit Kindern in Roth nachweisen (Dok. 2.0). Geburts-, Heirats- und Sterberegister, die die jüdischen Gemeinden zwischen 1824 und 1874 zu führen hatten und für Roth vollständig erhalten sind, lassen die demographische Entwicklung nachvollziehen, die ausgesprochen dynamisch war. 1864 zählte die jüdische Gemeinde Roth 55 Mitglieder bei einer geschätzten Einwohnerschaft von etwa 500, so dass der Anteil von 10 Prozent des Jahres 1744 in etwa wieder erreicht wurde. Auch in dieser Zeit war die Rother jüdische Gemeinde, relativ betrachtet, eine der größten im damaligen Kreis Marburg. Die Entwicklung einer Familie bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert ist beispielhaft anhand einer Stammtafel veranschaulicht (siehe Dok. 2.2). Die Anzahl der Familien verdoppelte sich auf acht und blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts konstant. Die Familien hatten jedoch wesentlich weniger Kinder.
Die demographische Entwicklung der Juden in Roth und im Kreis Marburg lag im Trend der Zeit. Das dauerhafte Niederlassungsrecht „schuf die Voraussetzungen für eine Stabilisierung der jüdischen Minderheit im Rahmen der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung“ (Battenberg, Juden, S. 277). In Städten und Dörfern in allen Teilen Hessens nahm die Zahl der jüdischen Einwohner kräftig zu bis in die 1870er Jahre des 19. Jahrhunderts. Danach hielt die Vermehrung nicht mehr mit der des christlichen Bevölkerungsanteils Schritt, so dass der jüdische Anteil prozentual sank. Ein weiteres Moment war die Verstädterung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Stärker als die übrige Bevölkerung zog es die Juden in die Städte.
Wirtschaftliche Entwicklung
Wie bereits erwähnt, bestand im 18. Jahrhundert das strikte Verbot, landwirtschaftlich nutzbare Liegenschaften zu erwerben. Demzufolge besaßen die beiden jüdischen Familien in Roth nicht einmal ein Gärtchen, sondern lediglich ihre Wohnhäuser und ein kleines zugehöriges Höfchen. Der kurhessische Staat liberalisierte diese Beschränkungen Zug um Zug. Bereits aufgrund der Kurhessischen Verordnung "die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger betreffend" vom 14. Mai 1816 erhielten Juden die Möglichkeit, landwirtschaftliche Flächen zu erwerben, allerdings durften sie diese in den nächsten zehn Jahren weder veräußern, noch an Nicht-Juden verpachten (siehe Raum 13, Dok. 2, § 10). Das "Gesetz zur gleichförmigen Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten", vom 29. Oktober 1833 enthält keine Beschränkungen des Immobilienverkehrs für Juden mehr. Dieser war im Übrigen erst durch die 1832 erfolgte Ablösung der Grundlasten, die sog. Bauernbefreiung, vollständig liberalisiert worden. Ferner hatten Juden bereits 1816 Zugang zu allen Erwerbszweigen erhalten, also auch zu Handwerk und Landwirtschaft (siehe Raum 13, Dok. 2, § 1).
Diese Regelungen waren jedoch nicht Ausdruck einer besonders liberalen Haltung, sondern der kurhessische Staat verfolgte die Absicht, die Gleichstellung der Juden mit quasi erzieherischen Maßnahmen zu verbinden, sie von dem mit Misstrauen beäugten Geldverleih und von Handelsgeschäften abzubringen und sie den als Basis des Staates idealisierten Handwerken und der Landwirtschaft zuzuführen. Überdies schuf er innerhalb der Juden eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“, kam die Gruppe der sog. Nothändler, die sich von bescheidenen Handelsgeschäften wie Viehhandel im Kleinen, Trödel und Handel mit Faustpfändern ernährte, doch nicht in den Genuss der bürgerlichen Rechte (siehe Raum 13, Dok.2, § 15).
In Roth (wie auch in den anderen Orten der Region) lässt sich beobachten, dass die jüdischen Familien von ihren neuen Rechten, sich im Immobilienverkehr zu betätigen, sogleich Gebrauch machten. Mit einer Ausnahme erwarben alle Familien rasch ganze Gehöfte mit entsprechenden Nebengebäuden und angrenzenden Gärten. Außerdem stiegen zwei dieser Familien sogleich in den Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen ein (Dok. 3.3 bis 3.5), im Laufe des 19. Jahrhunderts erwarben alle außer einer Familie Acker- und Weideland. Dabei zeigt sich, dass Äcker und Wiesen nicht zur Grundstücksspekulation gekauft wurden, offenbar auch nicht verpachtet wurden, sondern durchaus selbst bestellt und innerhalb der Familien vererbt wurden, wie die Auflassung von Isaak Höchster an seinen jüngeren Sohn Herz von 1839 zeigt (Dok. 3.5). Dazu hielten manche Juden auch einen kleinen Viehbestand (Dok. 3.6).
Aber wurden sie dadurch zu Bauern? Die Antwort lautet eindeutig nein. Der Umfang der landwirtschaftlichen Flächen blieb vergleichsweise gering, wenn auch bei manchen größer als in sozial schwachen christlichen Familien des Dorfes (Dok. 3.6). Ihr Haupterwerb, der aus Berufsstatistiken der Zeit hervortritt, war der Handel (mit Vieh, Textilien, Kurzwaren; Dok. 4.0-4.2) sowie die Metzgerei (siehe Dok. 2.0). Dem Handwerk wandten sich Rother Juden überhaupt nicht zu, was andernorts jedoch durchaus der Fall sein konnte. Es lässt sich also festhalten: sie nutzten die neuen Möglichkeiten im Immobilienverkehr, um „Nebenerwerbsbauern“ zu werden.
Auch hier lagen die Rother Juden im Trend der Zeit. Der kurhessische Staat erreichte sein „Erziehungsziel“ bis auf wenige Ausnahmen nicht. Die Juden blieben bei ihren althergebrachten Gewerben. Aus den Beobachtungen folgt aber doch: Vielen Landjuden ging es im 19. Jahrhundert wirtschaftlich so gut, dass sie in der Lage waren, Gehöfte und landwirtschaftlich genutzte Flächen zu erwerben. Dieser Landbesitz und die gehaltenen Tiere bedeuteten eine zusätzliche wirtschaftliche Absicherung, die Existenz stand also nun auf mehreren Füßen. Ein solches Wirtschaften war im Übrigen typisch für die christliche Bevölkerung von Roth. Es gab zahlreiche Familien, die von der Landwirtschaft und einem Gewerbe lebten, anders als die Juden zumeist von einem Handwerk.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die jüdische Gemeinde Roth im 19. Jahrhundert eine ausgesprochen dynamische demographische Entwicklung nahm, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar etwas stärker wuchs als der christliche Anteil. Die Zahl der Familien verdoppelte sich dabei von vier auf acht. Prozentual gesehen erreichte sie bei weitem den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Altkreis Marburg (d.h. ohne Kirchhain). Die erweiterten Möglichkeiten wirtschaftlicher Betätigung nutzten die Juden, indem die meisten von ihnen Land erwarben, wahrscheinlich auch selbst bewirtschafteten und damit ihren Wohlstand vergrößerten, ohne dass diese Aktivitäten auf dem Agrarsektor ihr Haupterwerb wurden. Von Anfang an bestand eine klare soziale Differenzierung zwischen den einzelnen jüdischen Familien. Zwei Familienverbände – Höchster bzw. Höxter und Stern – standen über Jahrzehnte an der Spitze der sozialen Leiter.
Literatur
Battenberg, J. Friedrich, Juden und Antisemitismus, in: Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 1. Bevölkerung, Wirtschaft und Staat in Hessen 1806-1945, hrsg. von Winfried Speitkamp (Veröff. der Hist. Komm. für Hessen, Bd. 63), Marburg 2010, S. 275-291.
Demandt, Karl E., Die hessische Judenstättigkeit von 1744, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 23, 1973, S. 292-332.
Greve, Barbara, Der Ackerbau der Israeliten. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der kurhessischen Judenemanzipation, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 97, 1992, S. 107-126.
Hentsch, Gerhard, Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. IV), Marburg 1979.
Kropat, Wolf-Arno, Die Emanzipation der Juden in Kurhessen und Nassau im 19. Jahrhundert, in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. VI), Wiesbaden 1983, S. 325-349.
Übersicht über die in der Landgrafschaft Hessen (ohne Hanau) lebenden Juden
Mit der von Demandt edierten und so bezeichneten Judenstättigkeit liegt eine gedruckte, „personell spezifizierte Generalübersicht über die hessische Judenschaft vor der Emanzipation“ (Demandt, S. 293) vor, allerdings ohne die erst 1736 im Erbgang an Hessen gefallene Grafschaft Hanau. Sie besteht aus drei Teilen. Teil A listet die Haushaltsvorstände namentlich auf, die mit ihren Familien in den jeweiligen Orten wohnen bleiben durften, Teil B diejenigen Haushaltsvorstände und die gesamten zur Familie gehörenden Mitglieder, die das Land unmittelbar verlassen mussten, und Teil C die noch unverheirateten männlichen Juden, die zunächst wohnen bleiben durften, jedoch bei einer geplanten Heirat unverzüglich auszuwandern hatten. Die zwei ersten Teile folgen in ihrer Gliederung der damaligen Verwaltungseinteilung nach Classen, Städten und Ämtern. Am aussagekräftigsten ist Teil B, da zu den Haushaltsvorständen auch die Namen der Ehefrau und der Kinder angegeben sind, sicher um deren Verbleib nach der Ausweisung besser kontrollieren zu können. Die gesamte hessische Judenschaft (ohne Hanau) wird aufgrund dieses Verzeichnisses auf rund 4000 geschätzt (Demandt, S. 293, Anm. 6). Die Einteilung der Generalübersicht nach Verwaltungsbezirken vermittelt einen raschen Überblick darüber, wo Juden schwerpunktmäßig siedelten.
Die untenstehend gebotene tabellarische statistische Übersicht für die „XI. Classe: Marburg. Loehn-Strohm“ zeigt die Verteilung der jüdischen Familien im Umkreis von Marburg und welchen eindrucksvollen Umfang die jüdische Siedlung in Roth hatte, denn es folgt an dritter Stelle gleich hinter Schweinsberg und Marburg. Prozentual gesehen lag der Bevölkerungsanteil bei etwa 10 Prozent. Nur zwei Familien durften allerdings wohnen bleiben.
Orte der Classe XI. Marburg, | Anzahl Juden (teils hochgerechnet: pro HH 4 Personen) |
Schweinsberg | 44 |
Marburg | 40 |
Roth | 38 |
Frankenberg | 30 |
Nordeck | 24 |
Kirchhain | 24 |
Holzhausen | 24 |
Treis Lumda | 20 |
Goßfelden | 20 |
Rauschenberg | 16 |
Hatzbach | 16 |
Gemünden | 16 |
Halsdorf | 14 |
Lohra | 12 |
Allna | 12 |
Frankenau | 11 |
Betziesdorf | 8 |
Wohra | 4 |
Wittelsberg | 4 |
Wetter | 4 |
Rosenthal | 4 |
Ockershausen | 4 |
Niederasphe | 4 |
Langenstein | 4 |
Josbach | 4 |
Grüßen | 4 |
Fronhausen | 4 |
Ebsdorf | 4 |
Bürgeln | 4 |
Altengronau | 1 |
Summe | 418 |
Annegret Wenz-Haubfleisch
Heiraten von Meier Höchster und Blümchen Stern sowie Herz Höchster und Gitel Stern, 1842-43
Gemäß der Verordnung vom 30.12.1823 (Sammlung kurhessischer Gesetze, Bd. 4, 1823-1826, Jahr 1823, Nr. XII, S. 87-97), die die gemeindlichen Verhältnisse der Juden in Kurhessen regelte, waren diese verpflichtet, sogenannte Synagogen-Bücher in zwei Exemplaren zu führen, in die sie alle in der Gemeinde vorgekommenen Geburten, Trauungen und Sterbefälle nach einem bestimmten Schema einzutragen hatten. Dafür zuständig waren die Rabbiner und Gemeindeältesten bzw. Vorsänger (§ 18).
In Roth wurden diese Zivilstandsregister bis zur Einführung der Standesamtsregister in Preußen 1874 geführt, liegen also für 50 Jahre geschlossen vor. Sie wurden hier von dem jeweiligen Gemeindeältesten geführt. Da Roth mit Fronhausen und Lohra eine Synagogengemeinde bildete, enthalten die Bücher auch Einträge für diese beiden Gemeinden.
Die beiden von dem Gemeindeältesten M[eier] Höchster vorgenommenen Heiratseinträge lauten:
„Den 9ten August 1842 verheirathet Gemeindeaeltester und Handelsmann Meier Höchster von hier, 28 Jahr alt, mit dessen Brauth Blümchen Stern von hier, 23 Jahr alt, Herz Stern, Handelsmann, dessen Ehefrau Marjana Stern, beide Eltern der Brauth, Isaac Höchster, Handelsmann, und dessen Ehefrau Jette Höchster, beide Eltern des Bräutigams, sämtlich von hier.“
„Den 16ten August 1843 verheirathet Handelsmann Herz Höchster, 28 Jahr alt, und dessen Brauth Gitel Stern, 22 Jahr alt, Isaac Höchster, Handelsmann, und dessen Ehefrau Jette Höchster, Bräutigams Eltern, Handelsmann Herz Stern und dessen Ehefrau Marjana Stern, der Brauth Eltern, sämtlich von hier.“
Die Brüder Meier und Herz Höchster gründeten zwei Familienzweige Höchster, die in der Folgezeit ihren Namen unterschiedlich schrieben und sich so voneinander abgrenzten. Der Familienzweig des Herz wählte die Schreibweise Höxter. Beide Familien blieben in Roth ansässig und entwickelten sich zu einem großen Familienverband (siehe die Stammtafel der Familie Höchster, Dok. 2.2.).
Annegret Wenz-Haubfleisch
Aufstellung über die persönlichen und gewerblichen Verhältnisse der in Roth lebenden jüdischen Familien, 1816/17
Mit der Verordnung vom 14. Mai 1816 hatte der kurhessische Staat die jüdische Bevölkerung in zwei Klassen eingeteilt, in Staatsbürger und Nothändler. Nur die Staatsbürger, worunter diejenigen fielen, die ihren Familien ein gutes Auskommen sichern konnten, erhielten nämlich die weitgehende staatsbürgerliche Gleichstellung. Diejenigen, die hierzu nicht in der Lage waren, weil sie sich von kleinen Handelsgeschäften ernährten, fielen in die Kategorie der Nothändler und wurden in ihren Rechten stark eingeschränkt (siehe Raum 13, Dok. 2: Kurhessische Verordnung vom 14. Mai 1816, "die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger betreffend", § 15 ). Zur Feststellung ihrer sozialen Situation mussten alle jüdischen Haushaltsvorstände vor dem jeweiligen Amtmann entsprechende Erklärungen abgeben. Diese wurden aufgezeichnet, ferner Tabellen über die familiäre Situation gefertigt und diese Unterlagen der Judenschaftlichen Kommission eingereicht. Die Tabellen sind eine wichtige demographische Quelle, die erste nach dem Ende des Königreichs Westphalen. Ferner sind sie aussagekräftig für die Erwerbstätigkeit der Juden. In Roth gab sich keiner der Haushaltsvorstände als Nothändler aus.
Die Akte enthält Aufzeichnungen über die Juden im Amt Fronhausen. Hier sind nur die Auszüge über Roth dokumentiert. Sie beginnt mit einem Protokoll über die Erklärung der Juden in Bezug auf die Verordnung vom 14. Mai 1816, geschehen am 28. Juni 1816.
Erklärung von Isaac Höchster:
„Isaac Höchster von Roth erklärte, sein verstorbener Vater habe Meyer Isaac geheisen und ein Toleranzschein gehabt. Er wäre willens, dessen Familienamen wieder anzunehmen für sich und seine Nachkommen und sich künftig Isaac Meyer zu nennen. Er habe bisher den Viehhandel im Grosen, so wie die Schlachterey betrieben und wolle in so fern ihm dieser Nahrungszweig noch ferner verstattet, von denen durch die Verordnung vom 14ten May d.J. zugesicherten bürgerlichen Gerechtsamen und Vortheilen als Staatsbürger Gebrauch machen.“
Folgt Unterschrift in Deutsch als: „Isac Meier“
In der Folge wurde doch der Familienname Höchster beibehalten, vermutlich weil dieser offiziell in der westphälischen Zeit angenommen worden war.
Erklärung von Marcus Waescher:
„Marcus Wäscher von Roth überreichte allergnädigstes Receptions Rescript vom 25ten Juli 1815 und erklärte: daß seine Frau Sara zum Kramhandel und Ellenwaaren, sowie Caffee und Zucker durch das vorgezeigte Concessions Rescript Kurfürstlicher Oberrenthkammer d[e] d[ato] Cassel den 25ten Juni 1814 auf 3 Jahren die gnädige Erlaubnis erhalten und hieervon, so wie vom Viehhandel sich auch künftig zu nähren und von dem Nothhandel keinen Gebrauch zu machen willens sey.“
Folgt Unterschrift in Deutsch
Erklärung von Seligmann Bergenstein:
„Seligmann Bergenstein von Roth erklärte: Er habe mehrere Jahre als Knecht im Einland gedient, wäre aber gebürtig von Laihgestern Amts Langgöns im Großherzoglich Hessischen und habe im Jahre 1807 Reitz Meyer die Tochter vom verstorbenen Meyer Isaac zu Roth geheuratet, wo er auch damals während der Westphälischen Verfassung recipirt worden. Er hätte sich bisher vom Schlachten des Viehs ernährt auch zuweilen einiges Vieh eingekauft. Wenn ihm Letzteres nicht mehr gestattet werden könne, so müste er von der Schlachterey sich allein zu ernähren suchen. Vom Nothhandel wolle er keinen Gebrauch machen.“
Folgt Unterschrift in Deutsch
Erklärung von Herz Stern:
„Herz Stern von Roth erklärte: die Scheele Stern zu Roth habe ihn, wie dem Amt bekannt sey, an Kindes Statt angenommen und er, so wie seine Frau seyen durch Cameral Rescript vom 27ten Juli 1815 in Roth Förmlich recipirt worden. Die Scheele Stern wäre zum Kramhandel und Ellenwaaren durch die vorgezeigten Cameral Rescripte vom 12ten May 1814 auf drey Jahre concessionirt und nährten sie sich hiervon, so wie von der Schlachterey. Er sey willens, von denen der Judenschaft zugesicherten Vortheilen gleich den vorhergehenden Comp...ten Gebrauch zu machen.“
Folgt Unterschrift in Deutsch
Schreiben des Amtmanns Strohmeyer von Fronhausen, mit dem er die Tabellen übersendet, vom 2. März 1817:
Juden wollen keinen Nothandel treiben.
„Der einzige Nahrungszweig für die Juden auf dem Land ist die Krämerey, Schlachten und Viehhandel. Letztern haben die bisher wegen der im Ausland gehaltenen Viehmärckte im hiesigen Amt theils im grosen und theils auch im kleinen betrieben. Das hiesige Amt grenzt an drey Landesherrschaften, wo von allen Seiten sich fremde Handelsleute und besonders Juden einschleichen. Würde man nun den im Amt wohnenden Juden allen Viehhandel untersagen, so wäre die Folge davon, daß die Einwohner nur mit ausländischen Handelsjuden treten und gegen diese bey den einländischen Gerichten keinen Schutz oder Rechts ... suchen könten.“
Es folgen Tabellen mit Angaben zur familiären Situation.
In Roth leben:
Meyer [Höchster], Isaac, 38 J.
Ehefrau: Gend, 26 J., aus Rabenau
Kinder: Meyer (2 J.) , Hirsch (0,5 J.), Ettel (8 J.), Geile (6 J.)
„Der verstorbene Vater ist mit einem Toleranzschein versehen gewesen und der Sohn während der Westphälischen Verfassung recipiert“. Beruf: „Viehhandel und Schlachtung“
Bergenstein, Seligmann, 49 J.
Ehefrau: Reitz, 34 J.
Kinder: Abraham (10), Meyer (8), Simme (5), Ettel (2), Brindel (14 Tage)
Bergenstein wurde in Leihgestern im Amt Langgöns geboren, Reitz und die Kinder in Roth. Seligmann lebte seit 11 Jahren in Roth. Über ihn heißt es: „hat vorhin als Knecht im Einland gedient und während der Westphälischen Zeit die Tochter vom Meyer Isaac zu Roth geheuratet.“ Beruf: „Schlachtung“.
Stern, Herz, 26 J.
Ehefrau Merjam, 20 J.
Kinder: Hennel, ¾ J.
Stern wurde in Breidenbach im Amt Gladenbach geboren, seine Frau in Lohra, das Kind in Roth. Stern lebt seit 22 Jahren in Roth. Von ihm heißt es: „Ist von der Witwe Scheile Stern zu Roth an Kindes Statt angenommen und durch Cameral Rescript vom 27. Juli 1815 recipirt worden.“ Beruf: „Kramhandel im Kleinen und schlachten“.
Waescher, Marcus, 29 J.
Ehefrau Sara, 36 J.
Kinder: Rahen (sic!), 1 J.
Waescher wurde in Ziegenhain geboren, seine Frau in Roth; er wird als Einländer bezeichnet, da er aus dem Kurfürstentum Hessen stammte. Von ihm heißt es: „Hat die Tochter des Meyer Isaac zu Roth geheuratet und ist nach Cameral Rescript vom 25. Juli 1815 allergnedigst recipirt worden.“ Beruf: „Krämerey und Viehhandel – arm.“
Annegret Wenz-Haubfleisch
Die zuverlässigsten Quellen für die Stammtafel der Familie Höchster/Höxter sind die von 1824-1874 in der Synagogengemeinde Roth geführten Geburts-, Heirats- und Sterberegister, sodann die Register des Standesamts Fronhausen (ab 1874, die hier aber nur vereinzelt herangezogen wurden) sowie die auf dem jüdischen Friedhof in Roth noch vorhandenen Grabsteine. Vor 1824 entstandene Quellen, wie die Akte Best. 33b Nr. 115 (siehe Dok. 2.0) enthalten kaum exakte Angaben, sondern es muss auf Geburts- oder Sterbedaten zurückgeschlossen werden.
Die Tafel zeigt, dass in den Familienzweigen Höchster/Höxter v.a. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Kinder geboren wurden und sie sich weit verzweigte. In der fünften Generation vereinigten sich die beiden Zweige wieder, da Herz Höchster Mathilde Höxter in erster Ehe heiratete.
Von dem Familienzweig Höchster in Roth haben nur zwei Mitglieder den Holocaust überlebt. Irwin Höchster, der Sohn von Herz und Mathilde geb. Höxter, und Trude, die Tochter von Herz aus der Ehe mit Bertha geb. Wertheim. Beide haben Kinder und Enkelkinder, die in den USA leben.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Das Verzeichnis enthält eine namentliche Aufstellung aller 75 grundbesitzenden Einwohner Roths. Der Grundbesitz wird mit seinem Flächeninhalt erfasst, unterschieden nach stellbarem Land (Äckern), Wiesen sowie Waldung und Trieschern (Ödland). Ferner wird erhoben, wie viele Pferde, Ochsen, Kühe, Rinder und Kälber, Schweine, Schafe und Ziegen gehalten werden. Außerdem wird erfasst, ob der Grundeigentümer ein eigenes Haus und auch eine Hofreite, also einen Hof mit Nebengebäuden, besitzt und ob das Grundeigentum mit Hypotheken belastet ist. Schließlich wird festgehalten, ob sich der Eigentümer von der Bewirtschaftung seines Grundbesitzes ernähren kann. Unter „Bemerkungen“ hat der Bürgermeister regelmäßig festgehalten, welchem (zusätzlichen) Erwerb der jeweilige Grundeigentümer nachgeht.
In der Tabelle werden sieben jüdische Grundeigentümer aufgelistet, die Zahl der Haushaltsvorstände hat sich also seit 1817, als vier Familien nachweisbar waren, fast verdoppelt (siehe Dok. 2.0). Man kann also sagen, die zweite Generation ist erwachsen geworden, und jeweils mehr als ein Sohn ist im Dorf verblieben. In Roth leben Haune Stern (Nr. 5), Meier Höchster (Nr. 6), Abraham Bergensteins Witwe (Nr. 35), Baruch Nathan (Nr. 43), Marcus Wäscher (Nr. 49), Joseph Bergenstein (Nr. 69) und Bonfang Stern (Nr. 72).
Von diesen sieben jüdischen Grundbesitzern verfügen alle über ein Haus und Hofreite, aber nur Haune Stern (Nr. 5) und Baruch Nathan (Nr. 43) auch über Landbesitz. Haune Stern ist der älteste Sohn von Herz Stern, der 1832 ein großes Gehöft (siehe Dok. 3.4) und immer wieder landwirtschaftlich nutzbare Flächen gekauft hat. Haune besitzt Land im Umfang von 5 Kasseler Ackern und Wiesen im Umfang von einem Acker. Dazu hält er eine Kuh. Der Bürgermeister vermerkt, dass er sich nicht ausschließlich von der Landwirtschaft ernährt, sondern zugleich als Handelsmann betätigt. Der jüngere Bruder Haunes, Bonfang (Nr. 72), besitzt hingegen kein Land und kein Vieh, sondern lebt ausschließlich vom Handel.
Laut Dok. 3.5 hat Isaak Höchster seinem Sohn Herz umfangreichen Landbesitz vermacht. Herz taucht in dieser Statistik deshalb nicht auf, weil er bereits 1852 verstarb. Seine Ehefrau Giedel ehelichte daraufhin Baruch Nathan aus Lohra, der in der vorliegenden Statistik als Eigentümer dieses Besitzes, nämlich von 9 Kasseler Ackern Land und einem Kasseler Acker Wiesen, geführt wird (Nr. 43). Wie Haune Stern hält auch er eine Kuh. Herz Höchsters Bruder Meier, der kein Land geerbt hat, besitzt nach wie vor keine landwirtschaftlichen Liegenschaften, hält aber eine Ziege. Die übrigen, Abraham Bergensteins Witwe und Joseph Bergenstein sowie Marcus Wäscher, halten ebenfalls jeweils eine Ziege. Alle männlichen Juden betätigen sich als Handelsleute.
Verfolgt man die Grundbesitzentwicklung anhand der Kataster weiter, so erwerben alle jüdischen Familien mit Ausnahme der Familie Wäscher im Laufe des 19. Jahrhunderts landwirtschaftliche Flächen, wobei die Familienzweige der Sterns und der Höchsters/Höxters hierin am erfolgreichsten sind.
Schaut man sich die Besitzverhältnisse in der Aufstellung insgesamt an, so ist festzustellen, dass die beiden Juden zwar eher zu den kleinen Landbesitzern zählen, der Umfang jedoch nicht untypisch ist für Roth, wo es viele Einwohner mit geringem Landbesitz gibt, die zusätzliche Erwerbsquellen für ihren Lebensunterhalt benötigen. Diese betätigen sich allerdings mehrheitlich als Handwerker (Schuhmacher, Korbmacher, Schmied, Maurer, Küfer etc.), daneben als Tagelöhner.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Isaac Höchster überträgt seinen Hof und seine Ländereien seinem jüngeren Sohn Herz, 21. Mai 1839
Am 21. Mai 1839 schließen Isaac Höchster, 61 Jahre, krank und schwach, aber bei gutem Verstand, und sein Sohn Herz Höchster, 22 Jahre, folgenden Auflassungsvertrag, mit dem Isaac Herz Folgendes abtritt:
§ 1
A. Immobilien
1. Karte D Nr. 139: 5 ½ Ruthen. Ein einfaches Haus, an Andreas Keil und Georg Schönhals gelegen, mit dem Stall und der darüber erbauten Stube und mit allem, was in den Gebäuden erd-, nied- und nagelfest ist. Der Stall wird zudem mit allem übertragen, was sich dort an Heu, Stroh, Holz und dergleichen befindet.
Ferner wird der folgende umfangreiche Besitz an Äckern, Wiesen und Gärten übertragen:
Lfd. Nr. | Karte, Parzelle | Größe - Original | qm | Nutzung | Bemerkung |
2 | E, 1126 | 8 ¾ r | 140 | Hopfenland | |
3 | F, 51 | ¼ A, 40 r | 1240 | Erbland | |
4 | F, 253 | 16 r | 256 | dito | |
5 | D, 606 | ¼ A, 26 ½ r | 1024 | dito | |
6 | D 140 | 1 r | 16 | Gärtchen beim Haus | |
7 | E, 1084 | 11 r | 176 | Erbwiese | |
8 | gestrichen | ||||
9 | D, 169 | 6 r | 96 | Erbgarten | |
10 | D, 170 | 15 ½ r | 248 | dito | |
11 | E, 693 | ¼ A, 16 3/8 r | 862 | Erbmedumsland | |
12 | E, 207 | 10 ¼ r | 164 | Erbwiese | |
13 | E, 692 | 20 ¼ r | 324 | Erbmedumsland | |
14 | D, 498 | 3/8 A, ½ r 3/8 A, ½ r (sic!) | 908 | Erbland | |
15 | D, 665 | ¼ A, 20 r | 920 | Erbland | |
16 | D, 543 | 36 r | 576 | Erbland | |
17 | D, 501 | ¼ A, 36 r | 1176 | Erbland | |
18 | D, 323 | ¾ A, 1 r | 1816 | Erbland | |
19 | D, 244 | 8 r | 128 | Erbland | |
20 | E 801 E 802 | ½ A, 3 1/8 r | 1250 | Erbland | |
21 | E, 693 | ¼ A, 3/8 r | 606 | Medumsland | |
22 | D, 232 | 14 ½ r | 232 | Erbland ... Krautland | |
22 (sic!) | - | 30 r | 480 | ein kürzlich von Georg Wolf aus Argenstein gekaufter Garten auf’m Krautland, worüber die Währschaft noch nicht ausgestellt wurde | |
23 | D, 243 | 8 r | 128 | Erbgarten | |
Summe | 12766 |
B. Mobilien und Hausgeräte
Übertragen werden aus der unteren Stube die Uhr und die Messinglampe, sämtliche hölzerne Gerätschaften in den Gebäuden mit Ausnahme von drei Kästen, von denen jedes der unverheirateten Kinder einen bekommen soll, ferner zwei Betten, nämlich das des Vaters und das auf der neuen Stube über dem Stall.
„C. Den Wagen, Pflug, Egge mit sämtlichem Zubehör.“
„D. Zwei Fahrkühe.“
Alles dieses wird im Wert mit 1200 Gulden Frankfurter Währung angesetzt.
Die Positionen C und D belegen, dass die Familie Ackergeräte sowie zwei Kühe, die man unter ein Joch spannen konnte, besaß, also Ackerbau betrieb.
In den folgenden Paragraphen folgen Bestimmungen über die Herrschaftsausübung, solange Isaac Höchster lebt (§ 2), und die Ausbezahlung der Geschwister, unter denen ein Anteil von 600 Gulden aufgeteilt werden soll (§ 3). Ferner sollen die Geschwister, solange sie unverheiratet sind, freies Wohnrecht erhalten (§ 4).
Abkürzungen der Flächenmaße und Umrechnung in heutige Maße:
A – Casseler Acker: 1 Acker = 150 Ruthen = ca. 2400 qm
r – Ruthen: 1 Ruthe = ca. 16 qm
Annegret Wenz-Haubfleisch
Herz Sterns erworbenes Gehöft mit Gärten, 1832
Herz Stern lebte mit seiner vielköpfigen Familie in dem Haus, an das die Synagoge angebaut war (siehe Dok. 3.0, Ausschnitt 1). Als dieses im Herbst 1832 mitsamt der Synagoge durch einen Brand eingeäschert wurde, überließ er der Synagogengemeinde Roth das Grundstück für den Neubau einer Synagoge und erwarb selbst als erster der Rother Juden einen richtigen Bauernhof mit Stall und Scheune sowie angrenzenden Gärten in zentraler Lage an der Hauptstraße.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Der Gastwirt Ludwig Geißler und seine Ehefrau Martha geborene Geißler aus Wolfshausen verkaufen folgende Immobilien in Roth an Herz Stern:
- Ein Haus, Scheune, Stallung und Hofreithe, an Balthasar Geißlers Erben zu Wolfshausen und an Conrad Webers Erben gelegen, im Umfang von 30 Ruthen. Es ist die Parzelle 147 auf der Karte D.
- Einen Erbgarten beim Haus mit einem Flächeninhalt von ¼ Casseler Acker und 3 Ruthen, Parzelle 145 auf Karte D.
- Ein Erbgärtchen von 4 ½ Ruthen hinter der Scheune, Parzelle 104 [verschrieben, es handelt sich um 144] auf Karte D.
Die Immobilien werden erblich mit allen Lasten und Nutzungen erworben für 1312 Gulden Frankfurter Währung. Das Kaufgeld ist sogleich zahlbar und der Besitz und die Nutzung gehen alsbald auf den Käufer über. Beide Seiten bitten um gerichtliche Bestätigung.
Flächenmaße und Umrechnung in heutige Maße:
Casseler Acker: 1 Acker = 150 Ruthen = ca. 2400 qm
Ruthen: 1 Ruthe = ca. 16 qm
Annegret Wenz-Haubfleisch
Auf der Freiherrlich Schenck zu Schweinsbergischen Konferenz wird beschlossen, das Wohnhaus des Amtsdieners von Roth meistbietend zu verkaufen, und der Rother Amtsschultheiß mit der Versteigerung beauftragt.
Durch Ausschreiben werden der Termin bekannt gemacht und folgende Bedingungen erlassen:
- Verkauf des Hauses mit allem Zubehör und was darin erd-, band-, wand- und nagelfest ist, d.h. mit allem, was fest mit dem Gebäude fest verbunden ist
- Verkauf gegen Barzahlung; das Kaufgeld kann gegen gerichtliche Hypothek mit 5 Prozent Zinsen belastet werden.
- Zuschlag an den Meistbietenden mit Vorbehalt der Genehmigung durch den Landrat und Erbschencken
- Der Meistbietende bleibt an sein Gebot gebunden.
- Sobald der Zuschlag erteilt ist, übernimmt der Meistbietende das Haus mit allen Lasten.
Durch Glockenschlag werden der Versteigerungstermin nochmals bekannt gegeben und die Kauflustigen zusammengerufen. Die Bedingungen werden verlesen und der Versteigerungstermin eröffnet. 26 Gebote werden abgegeben, beginnend mit 60 Gulden. Seligmann Bergenstein erhält bei 200 Gulden den Zuschlag. Oft wird in kleinen Schritten von 1 Gulden geboten, Bergenstein legt jedoch mehrfach höhere Gebote vor, ist also offenbar an dem Haus sehr interessiert. Am 26.07.1815 wird der Zuschlag von dem Freiherrn Schenck zu Schweinsberg bestätigt.
Das Haus befindet sich auf der Karte D und trägt die Nr. 12. Es liegt an der Lahn gegenüber der Mühle (Nr. 13 - siehe Dokument 3.0, Ausschnitt 2).
Annegret Wenz-Haubfleisch
Im Rahmen einer landesweit durchgeführten Reform der Steuererhebung, bekannt als sog. Steuerrektifikation, wurden in der Landgrafschaft Hessen-Kassel erstmals alle Liegenschaften parzellengenau vermessen, Katasterkarten darüber gefertigt und die Besitzverhältnisse samt steuerlichen Verpflichtungen nach Eigentümern geordnet in den sog. Lager-, Stück- und Steuerbüchern, Vorläufern der modernen Kataster, fixiert. Auf diese Weise erfahren wir erstmals von jüdischem Besitz in Roth und dessen Lage. Die Karte blieb Jahrzehnte in Gebrauch, wurde in Rot korrigiert und ergänzt, ebenso wurde das mehrere Bände umfassende Kataster stetig fortgeschrieben. Erst in preußischer Zeit erfolgte eine neue Karten- und Katasteraufnahme.
Wir sehen, dass sich der jüdische Hausbesitz 1766/69 in Ortsrandlage befand (Ausschnitt 1) und in unmittelbarer Nachbarschaft des großen Amtssitzes des schenckischen Verwalters. Diese Lage dürfte kein Zufall sein, wenngleich aufgrund fehlender Quellen genauere Schlussfolgerungen nicht möglich sind. Es handelte sich um einfache Häuser ohne weiteres Zubehör wie Scheunen, Ställe oder Gärten. Da Juden zu dieser Zeit keine landwirtschaftlichen Flächen erwerben durften, waren solche Nebengebäude auch nicht notwendig. An das rechte Haus war die Synagoge angebaut, also nicht wie heute ein frei stehendes Gebäude.
Ausschnitt 2 der Katasterkarte zeigt uns, wo die mittlerweile vier jüdischen Familien um 1815 lebten. Es handelte sich immer noch um einfache Häuser. Allerdings war die Familie Höchster bereits an die Hauptstraße gezogen und hatte gegenüber von ihrem Wohnhaus (Nr. 139 auf der Karte) das nicht mehr genutzte Schencksche Brauhaus erworben, das ihr als Stall diente (siehe Dok. 3.1). Familie Bergenstein konnte 1815 Hausbesitz in der Nähe der Mühle erwerben (siehe Dok. 3.2). Interessant ist auch hier, dass beide erworbenen Immobilien ehemals schenckischer Besitz waren.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Ausweislich des Katasters erwarb Isaak Höchster 1813 für 334 Gulden von dem Organisten George Schönhals ein einfaches Haus, angrenzend an Besitz von Andreas Rühl und George Schönhals. Seine Lage war auf Karte D (Blatt 4), und es trug die Parzellennummer 139. Seine Größe betrug 5 ½ Ruthen, was in etwa 88 Quadratmetern entsprach.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Die gewerblichen Verhältnisse der Juden unterlagen ständiger staatlicher Kontrolle zum einen wegen der Überwachung der Nothändler, die in ihren staatsbürgerlichen Rechten schlechter gestellt waren, zum anderen, um zu sehen, ob sich Juden tatsächlich verstärkt Ackerbau und Handwerk zuwandten. Die statistischen Erhebungen enthalten rein demographische Daten und sehr differenzierte Aufschlüsselungen der gewerblichen Verhältnisse.
Sie zeigen: Die Rother Juden leben in der überwiegenden Mehrzahl von unterschiedlichen Handelstätigkeiten, wobei der stehende, also von einem Landen aus betriebene Kramhandel, Handel im Umherziehen und Viehhandel eine gewisse Dominanz besitzen. Nur in den Statistiken 1853 und 1860 tauchen Juden in der Landwirtschaft auf. 1853 betreiben vier Juden eine Landwirtschaft mit Hilfe christlicher Dienerschaft oder Tagelöhner, 1860 zwei Juden. Erstere statistische Angabe will nicht recht zu der Landwirtschaftsstatistik von 1857 passen (siehe Dok. 3.6). 1858 arbeiten zwei Juden in einem Handwerk.
In verschiedenen Statistiken tauchen Juden im Gesindedienst auf; vermutlich sind dies unverheiratete Mädchen, die bei anderen Juden im Haushalt arbeiten.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Die gewerblichen Verhältnisse der Juden unterlagen ständiger staatlicher Kontrolle zum einen wegen der Überwachung der Nothändler, die in ihren staatsbürgerlichen Rechten schlechter gestellt waren, zum anderen, um zu sehen, ob sich Juden tatsächlich verstärkt Ackerbau und Handwerk zuwandten. Die statistischen Erhebungen enthalten rein demographische Daten und sehr differenzierte Aufschlüsselungen der gewerblichen Verhältnisse.
Sie zeigen: Die Rother Juden leben in der überwiegenden Mehrzahl von unterschiedlichen Handelstätigkeiten, wobei der stehende, also von einem Laden aus betriebene Kramhandel, Handel im Umherziehen und Viehhandel eine gewisse Dominanz besitzen. Nur in den Statistiken 1853 und 1860 tauchen Juden in der Landwirtschaft auf. 1853 betreiben vier Juden eine Landwirtschaft mit Hilfe christlicher Dienerschaft oder Tagelöhner, 1860 zwei Juden. Erstere statistische Angabe will nicht recht zu der Landwirtschaftsstatistik von 1857 passen (siehe Dok. 3.6). 1858 arbeiten zwei Juden in einem Handwerk.
In verschiedenen Statistiken tauchen Juden im Gesindedienst auf; vermutlich sind dies unverheiratete Mädchen, die bei anderen Juden im Haushalt arbeiten.
Annegret Wenz-Haubfleisch
Die gewerblichen Verhältnisse der Juden unterlagen ständiger staatlicher Kontrolle zum einen wegen der Überwachung der Nothändler, die in ihren staatsbürgerlichen Rechten schlechter gestellt waren, zum anderen, um zu sehen, ob sich Juden tatsächlich verstärkt Ackerbau und Handwerk zuwandten. Die statistischen Erhebungen enthalten rein demographische Daten und sehr differenzierte Aufschlüsselungen der gewerblichen Verhältnisse.
Sie zeigen: Die Rother Juden leben in der überwiegenden Mehrzahl von unterschiedlichen Handelstätigkeiten, wobei der stehende, also von einem Landen aus betriebene Kramhandel, Handel im Umherziehen und Viehhandel eine gewisse Dominanz besitzen. Nur in den Statistiken 1853 und 1860 tauchen Juden in der Landwirtschaft auf. 1853 betreiben vier Juden eine Landwirtschaft mit Hilfe christlicher Dienerschaft oder Tagelöhner, 1860 zwei Juden. Erstere statistische Angabe will nicht recht zu der Landwirtschaftsstatistik von 1857 passen (siehe Dok. 3.6). 1858 arbeiten zwei Juden in einem Handwerk.
In verschiedenen Statistiken tauchen Juden im Gesindedienst auf; vermutlich sind dies unverheiratete Mädchen, die bei anderen Juden im Haushalt arbeiten.
Annegret Wenz-Haubfleisch

Thematische Einleitungen und weiterführende Erläuterungen in den Teilkapiteln:
IV 16 Juden im Kaiserreich: Zwischen Emanzipation und modernem Antisemitismus
IV 17 Die Böckel-Bewegung. Antisemitismus zwischen Rassismus, Sozialprotest und Modernekritik
IV 18 Der "Berliner Antisemitismusstreit" (1879-1881) und der " Verein zur Abwehr des Antisemitismus" (VAA) (Bsp. Marburg 1891/92)
IV 19 Jugendbewegung und Antisemitismus vor 1914
IV 20 Jüdischer Alltag und Synagogengemeinden in Kaiserreich und Republik

Mit der Reichsgründung 1871 waren deutsche Juden gleichberechtigte Bürger. Nicht überwunden waren Ressentiments und Vorbehalte, die sich weiterhin in Antijudaismus, Antisemitismus oder latenter und offener Diskriminierung zeigten. Geforderte und vollzogene Assimilation und Antisemitismus bilden die beiden Pole, zwischen denen sich das Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen im Kaiserreich bewegt. Es gab auf der einen Seite die Bereitschaft eines Teils der jüdischen Bevölkerung zu einer völligen Übernahme der dominanten protestantisch-liberalen Kultur bis hin zum Religionsübertritt, auf der anderen Seite nahm die Ausgrenzung und Diffamierung aller Juden zu, die sich spätestens seit den 1870er Jahren mit rassistisch-völkischem Denken verbindet.
Einzelne Juden rückten nun in hohe gesellschaftliche Positionen auf, zum Teil in Verwaltung, manchmal auch im Universitätsbetrieb, wenn auch seltener mit ordentlichen Professuren. In wachstumsorientierten Industriezweigen sowie im Verkehrs- und Transportwesen waren Juden als Unternehmer tätig. Auch bei Erfindungen und technisch verwertbaren Entdeckungen war der Anteil jüdischer Persönlichkeiten hoch, so in den Naturwissenschaften. In der Physik formulierte Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie. Es gab sehr viele jüdische Bankiers, Rechtsanwälte, Ärzte und Künstler.
Politisch und gesellschaftspolitisch gab es unter den jüdischen Verbänden entgegengesetzte Richtungen auf, die einerseits für Zuwendung zur modernen Gesellschaft und starke Assimilation eintraten, andererseits die Traditionen des Glaubens zu konservieren suchten. Eine Dachorganisation war der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ab 1893, der die Assimilation an die deutsche Gesellschaft vertrat.
Daneben kam auch als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland wie auch in anderen Teilen Europas der Zionismus nach Theodor Herzl auf, der im Deutschen Reich durch die Zionistische Vereinigung für Deutschland eine Vertretung fand.
In der ersten Krise des Kaiserreichs wurden alte antijüdische Ressentiments reaktiviert und neue antisemitische Zuschreibungen formuliert. Der „jüdischer Geist" wurde von Antisemiten gleichgesetzt mit allen negativen Auswirkungen der Modernisierungsprozesse, zum Teil auch mit Kapitalismus und Ausbeutung. Der Historiker Heinrich von Treitschke warnte 1879 vor dem angeblich großen jüdischen Einfluss in der Gesellschaft: „Die Juden sind unser Unglück“, schrieb er unter anderem. Damit löste er den Berliner Antisemitismusstreit aus.
Die erste antisemitische Partei gründete der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker in den Jahren 1878/9. Die Christlich-Soziale Arbeiterpartei, umbenannt in Christlich-Soziale Partei nahm dabei die Position eines traditionellen christlichen Antijudaismus ein. Von 1881 bis 1896 schloss sich die Partei der Deutschkonservativen Partei an, deren Programm („Tivoli-Programm“ 1892) die Forderung nach „christlicher Obrigkeit und christlichen Lehrern“ aufstellten und den Kampf gegen den „zersetzenden jüdischen Einfluß“ auf die Tagesordnung setzte.
Den größten Zulauf erreichten die antisemitischen Parteien, die sich in ihrer Vielzahl oft spalteten und neu zusammenschlossen, bei den Reichstagswahlen 1893, als sie mit 2,9 Prozent der Stimmen 16 Mandate erringen konnten. Obwohl die antisemitischen Parteien später an Einfluss verloren, bekannten sich Vereine und Verbände offen zum Antisemitismus. In hessischen Raum war die Bewegung um Otto Böckel zeitweilig sehr erfolgreich.
Ideologisch waren die Parteien und Bewegung mit sozialdarwinistischem Gedankengut neu aufgestellt. Sie fanden die rassistische Begründung des Antisemitismus bei Gobineau auf, im deutschen Sprachraum bei dem Philosophen Eugen Dühring, der seit 1881 entsprechend publizierte.
Udo Engbring-Romang
Programm der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei, 1881
Die Christlich-Sociale Arbeiterpartei war vom Hofprediger Adolph Stoecker (1835-1909) gegründet worden, um der Sozialdemokratie Anhänger abspenstig zu machen.1881 wurde die Partei in Christlich-Sociale Partei umbenannt, da die Zielgruppe Arbeiter nicht erreicht wurde. Das war die endgültige Wendung zum Antisemitismus.
Von 1881 bis 1893 und von 1898 bis 1908 war Stoecker Abgeordneter des Reichstags für den Wahlkreis Siegen-Wittgenstein-Biedenkopf im Reichstag, u.a. anderem als Vertreter der Deutschkonservativen Partei.
s. auch
Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin. Zwei Reden in der christlich-socialen Arbeiterpartei gehalten von Adolf Stöcker, Berlin 1880 (Rede von 1879)
Bernhard Förster (* 31. März 1843 in Delitzsch; † 3. Juni 1889 in San Bernardino, Paraguay) war ein antisemitischer Publizist, vormalig Gymnasiallehrer, der sich in der „Berliner Bewegung“ engagierte. Er gilt gemeinsam mit Max Liebermann von Sonnenberg, Ernst Henrici und seinem Bruder Paul Försteals Initiator der Antisemitenpetition.
Mit Max Liebermann von Sonnenberg gründete er 1881 den Deutschen Volksverein.
Förster, der als Anhänger Richard Wagners auftrat, war verheiratet mit Elisabeth Nietzsche, der Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche.
Nach den eher bescheidenen Erfolgen in der deutschen Politik, wanderte er 1886 nach Paraguay aus, und mit deutschnationalen Gesinnungsgenossen die Siedlerkolonie „Neu-Germania“ (Nueva Germania) zu gründen, mit der er scheiterte.
1889 beging Förster in San Bernardino Selbstmord.
Publikationen von Bernhard Förster
- Das Verhältniss des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, Vortrag, Berlin 1881
- Der Vegetarismus als ein Theil der socialen Frage, Hannover 1882
- Parsifal-Nachklänge. Allerhand Gedanken über deutsche Cultur, Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft von Mehreren empfunden, Leipzig 1883 (späterer Titel: Richard Wagner in seiner nationalen Bedeutung und seiner Wirkung auf das deutsche Culturleben)
- Deutsche Colonien in dem oberen Laplata-Gebiete mit besonderer Berücksichtigung von Paraguay. Ergebnisse eingehender Prüfungen, praktischer Arbeiten und Reisen, 1883-1885, Naumburg a. S. 1886
- Die deutsche Kolonie Neu-Germanien in Paraguay. Aufruf, Bedingungen und Rathschläge für Ansiedler. Nebst Karte der Kolonie. Leipzig 1887
Bericht über eine Rede von Bernhard Förster zur Judenfrage in Kassel, 16. September 1881, aus einer Kasseler Tageszeitung.
Eingeleitet wird der Artikel mit dem Hinweis, dass etwa 500 Personen anwesend waren, "Handwerker, Kaufleute. Lehrer, Beamte, fast keine Juden u[nd] Socialdemokraten. [...] Der Vortrag, oft von lautem und anhaltendem Beifall unterbroche, brachte des Neuen nicht viel, war sonst aber anständig u[nd] sachlich u[nd] gegen 10 Uhr beendet."
Verfügung der Kgl. Regierung zu Kassel an sämtliche Kreis- und Stadtschul-Inspectroen bzw. Inspicienten betr. Verpflichtung der Lehrerschaft zur Unterbindung antijüdischer Schmähungen von Seiten der Schuljugend, 21.10.1891
In der Verfügung heißt es: "Es ist in der letzten Zeit mehrfach vorgekommen, daß israelitische Erwachsende und Kinder von christlichen Schülern öffentlich in ihrer Eigenschaft als Juden geschmäht und verhöhnt worden sind. Nach den stattgefundenen Ermittelungen haben es einzelne Lehrer nicht blos an der gebührenden Bestrafung der Schulkinder fehlen lassen, sondern sogar hier und da durch ihre eigene unvorsichtige Haltung einer in solchen Auftritten sich kundgebenden unchristlichen Lieblosigkeitt Vorschub geleistet, was wir als Schulaufsichtsbehörde vom pädagogischen Standpunkte aus entschieden mißbilligen müssen."
Lt. Weisung der Schulaufsichtbehörde ist den unterstellten Lehrern in der nächsten amtlichen Lehrerkonferenz "zur Pflicht zu machen, daß sie solchem für die Schulzucht schädlichem Treiben überall mit Entschiedenheit entgegentreten und zugleich ... mit dem eigenen Beispiele christlicher Duldsamkeit gegen Andersglaubende, der ihnen anvertrauten Schuljugend vorangehen."
Statistik zum Schulbesuch in Preußen, 1905, veröffentlicht in Nr. 1, Jahrgang 1905 der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden.
Von 1905 bis 1908 wurde die Zeitschrift von Arthur Ruppin geleitet, herausgegeben vom "Bureau für Statistik der Juden" in Berlin.
Artikel von Arthur Ruppin: "Das Wachstum der jüdischen Bevölkerung in Preußen", in der Zeitschrift Zeitschrift zur Demograhie und Statistik der Juden, Juni 1905, mit tabellarischen Übersichten für die Jahre 1875 bis 1904
Auszüge aus Eugen Dühring: "Die Judenfrage als Frage des Racencharacters", 5. Auflage 1901
1881 erschien Dührings Kampfschrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort zum erste Mal. Er beschrieb die „Judenfrage“ als eines unaufhebbaren Rassenfragen: Das Judentum sei der Feind aller Kulturvölker, deshalb müssten diese sich zur Wehr setzen.
Hier ist das Vorwort und ein Auszug aus dem V. Kapitel dokumentiert
Eugen Dühring (* 12. Januar 1833 in Berlin; † 21. September 1921 in Babelsberg), Philosoph und Nationalökonom
Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig und Wien 1896
Auszüge, zit. nach Nachdruck Manesse-Verlag, Zürich 1988, S. 7ff.
Vorrede
Der Gedanke, den ich in dieser Schrift ausführe, ist ein uralter. Es ist die Herstellung des Judenstaates. Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden, und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf.
[...]
Einleitung
[...]
Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten. Den großmütigen Willen zeigten sie ja, als sie uns emanzipierten. Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch
hinwandernde Juden eingeschleppt. Wir ziehen natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die Verfolgung. Das ist wahr, muß wahr bleiben, überall, selbst in hochentwickelten Ländern—Beweis Frankreich—, solang die Judenfrage nicht politisch gelöst ist. Die arme Juden tragen jetzt den Antisemitismus nach England, sie haben ihn schon nach Amerika gebracht.
Ich glaube den Antisemitismus, der eine vielfach komplizierte Bewegung ist, zu verstehen. Ich betrachte diese Bewegung als Jude, aber ohne Haß und Furcht. Ich glaube zu erkennen, was im Antisemitismus roher Scherz, gemeiner Brotneid, angeerbtes Vorurteil, religiöse Unduldsamkeit — aber auch, was darin vermeintliche Notwehr ist. Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse, wenn sie sich auch noch so und anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird.
Wir sind ein Volk, ein Volk.
Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manche Orten sogar überschwengliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns, den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrien; oft von solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande waren, als unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine Machtfrage, wie alles im Völkerverkehre. Ich gebe nichts von unserem ersessenen guten Recht preis, wenn ich das als ohnehin mandatloser einzelner sage. Im jetzigen Zustande der Welt und wohl noch in unabsehbarer Zeit geht Macht vor Recht. Wir sind also vergebens überall brave Patrioten, wie es die Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns in Ruhe ließe...
Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.
[...]
Allgemeiner Teil
DIE JUDENFRAGE
Die Notlage der Juden wird niemand leugnen. In allen Ländern, wo sie in merklicher Anzahl leben, werden sie mehr oder weniger verfolgt. Die Gleichberechtigung ist zu ihren Ungunsten fast überall tatsächlich aufgehoben, wenn sie im Gesetze auch existiert. Schon die mittelhohen Stellen im Heer, in öffentlichen und privaten Ämtern sind ihnen unzugänglich. Man versucht, sie aus dem Geschäftsverkehr hinauszudrängen: «Kauft nicht bei Juden!»
Ich glaube, der Druck ist überall vorhanden. In den wirtschaftlich obersten Schichten der Juden bewirkt er ein Unbehagen. In den mittleren Schichten ist es eine schwere dumpfe Beklommenheit. In den unteren ist es die nackte Verzweiflung.
Tatsache ist, daß es überall auf dasselbe hinausgeht, und es läßt sich im klassischen Berliner Rufe zusammenfassen: «Juden raus!»
[...]
Nun gibt es freilich Gegenden, wo die verzweifelte Juden sogar aufs Feld gehen oder doch gehen möchten. Und da zeigt sich, daß diese Punkte — wie die Enklave von Hessen in Deutschland und manche Provinzen Rußlands — gerade die Hauptnester des Antisemitismus sind.
[...]
Unser heutiger Antisemitismus darf nicht mit dem religiösen Judenhasse früherer Zeiten verwechselt werden, wenn der Judenhaß auch in einzelnen Ländern noch jetzt eine konfessionelle Färbung hat. Der große Zug der judenfeindlichen Bewegung ist heute ein anderer. In den Hauptländern des Antisemitismus ist dieser eine Folge der Judenemanzipation. Als die Kulturvölker die Unmenschlichkeit der Ausnahmegesetze einsahen und uns freiließen, kam die Freilassung zu spät. Wir waren gesetzlich in unseren bisherigen Wohnsitzen nicht mehr emanzipierbar.
[...]
Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden. Wir haben alle menschlichen und sachlichen Mittel, die dazu nötig sind.
[...]
DER PLAN
Der ganze Plan ist in seiner Grundform unendlich einfach und muß es ja auch sein, wenn er von allen Menschen verstanden werden soll.
Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen.
Das Entstehen einer neuen Souveränität ist nichts Lächerliches oder Unmögliches. Wir haben es doch in unseren Tagen miterlebt, bei Völkern, die nicht wie wir Mittelstandsvölker, sondern ärmere, ungebildete und darum schwächere Völker sind. Uns die Souveränität zu verschaffen, sind die Regierungen der vom Antisemitismus heimgesuchten Länder lebhaft interessiert.
Es werden für die im Prinzip einfache, in der Durchführung komplizierte Aufgabe zwei große Organe geschaffen: die Society of Jews und die Jewish Company.
Was die Society of Jews wissenschaftlich und politisch vorbereitet hat, führt die Jewish Company praktisch aus.
Die Jewish Company besorgt die Liquidierung aller Vermögensinteressen der abziehenden Juden und organisiert im neuen Lande den wirtschaftlichen Verkehr.
Den Abzug der Juden darf man sich, wie schon gesagt wurde, nicht als einen plötzlichen vorstellen. Er wird ein allmählicher sein und Jahrzehnte dauern. Zuerst werden die Ärmsten gehen und das Land urbar machen. Sie werden nach einem von vornherein feststehenden Plane Straßen, Brücken, Bahn bauen, Telegraphen errichten, Flüsse regulieren u sich selbst ihre Heimstätten schaffen. Ihre Arbeit bringt den Verkehr, der Verkehr die Märkte,
Märkte locken neue Ansiedler heran. Denn jeder kommt freiwillig, auf eigene Kosten und Gefahr. Die Arbeit, die wir in die Erde versenken, steigert des Wert des Landes. Die Juden werden schnell einsehen, daß sich für ihre bisher gehaßte und verachte Unternehmungslust ein neues dauerndes Gebiet schlossen hat.
[...]
Die Juden, welche sich zu unserer Staatsidee bekennen, sammeln sich um die Society of Jews. Diese erhält dadurch den Regierungen gegenüber die Autorität, im Namen der Juden sprechen und verhandeln zu dürfen. Die Society wird, um es in einer völkerrechtlichen Analogie zu sagen, als staatsbildende Macht anerkannt. Und damit wäre der Staat auch schon gebildet.
Zeigen sich nun die Mächte bereit, dem Judenvolke die Souveränität eines neutralen Landes zu gewähren, so wird die Society über das zu nehmende Land verhandeln. Zwei Gebiete kommen in Betracht: Palästina und Argentinien. Bemerkenswerte Kolonisierungsversuche haben auf diesen beiden Punkten stattgefunden. Allerdings nach dem falschen Prinzip der allmählichen Infiltration von Juden. Die Infiltration muß immer schlecht enden. Denn es kommt regelmäßig der Augenblick, wo die Regierung auf Drängen der sich bedroht fühlenden Bevölkerung den weiteren Zufluß von Juden absperrt. Die Abwanderung hat folglich nur dann einen Sinn, wenn ihre Grundlage unsere gesicherte Souveränität ist Die Society of Jews wird mit den jetzigen Landeshoheiten verhandeln, und zwar unter dem Protektorat der europäischen Mächte, wenn diesen die Sache einleuchtet. Wir können der jetzigen Landeshoheit ungeheuere Vorteile gewähren, einen Teil ihr Staatsschulden übernehmen, Verkehrswege bauen, die ja auch wir selbst benötigen, und noch vieles andere. Doch schon durch das Entstehen des Judenstaates gewinnen die Nachbarländer, weil im großen wie im kleinen die Kultur eines Landstriches den Wert der Umgebung erhöht.
PALÄSTINA ODER ARGENTINIEN?
Ist Palästina oder Argentinien vorzuziehen? Die Society wird nehmen, was man ihr gibt und wofür sich die öffentliche Meinung des Judenvolkes erklärt. Die Society wird beides feststellen.
Argentinien ist eines der natürlich reichsten Lände der Erde, von riesigem Flächeninhalt, mit schwacher Bevölkerung und gemäßigtem Klima. Die argentinische Republik hätte das größte Interesse daran, uns ein Stück Territorium abzutreten. Die jetzige Judeninfiltration hat freilich dort Verstimmung erzeugt; man müßte Argentinien über die wesentliche Verschiedenheit der neuen Judenwanderung aufklären.
Palästina ist unsere unvergeßliche historische Heimat. Dieser Name allein wäre ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk. Wenn Seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln. Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müßte. Für die heiligen Stätten der Christenheit ließe sich eine völkerrechtliche Form der Exterritorialisierung finden. Wir würden die Ehrenwache um die heiligen Stätten bilden und mit unserer Existenz für die Erfüllung dieser Pflicht haften. Diese Ehrenwacht wäre das große Symbol für die Lösung der Judenfrage nach achtzehn für uns qualvollen Jahrhunderten.
Schlußwort
[...]
Noch einmal sei das Wort des Anfangs wiederholt: Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben. Wir sollen endlich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat ruhig sterben. Die Welt wird durch unsere Freiheit befreit, durch unseren Reichtum bereichert und vergrößert durch unsere Größe. Und was wir dort nur für unser eigenes Gedeihen versuchen, wirkt machtvoll und beglückend hinaus zum Wohle aller Menschen.
... Nordamerika ist im Sinne der Materialbeschaffung heute das glücklichste Land, denn es findet fast alle Rohstoffe in seinem Schoße; Deutschland ist im Verhältnis zur Ausdehnung seiner Industrie das unglücklichste. Je mehr die Industrie zur Weltwirtschaft neigt, je mehr die fernsten Küsten zum Markt der Rohstoffe beitragen müssen, desto gefährlicher wird die Geringfügigkeit unseres Anteil s am Landbesitz der Welt.
In frühern Zeiten glaubte man, Kolonien seien nützlich als Tributstaaten oder als Abladestätten der Übervölkerung oder als Absatzgebiete. Heute erkennen wir, daß sie meist mehr kosten als bringen, daß Auswanderung unerwünscht ist, und daß kolonialer Absatz umstritten ist, wie jeder andere Absatz; deshalb sind wir leicht geneigt, . . . den Wert überseeischen Besitzes zu unterschätzen. Bald werden wir erkennen, daß jedes Stück der Erde als Substanz wertvoll ist; denn auch das geringste besitzt oder erzeugt irgendein Rohmaterial; und ist es nicht das unmittelbar verwendbare, so dient es zum Austausch.
Die letzten hundert Jahre bedeuteten die Aufteilung der Welt. Wehe uns, daß wir so gut wie nichts genommen und bekommen haben! Nicht politischer Ehrgeiz und nicht theoretischer Imperialismus rufen diese Klage aus, sondern beginnende wirtschaftliche Erkenntnis. Die Zeit naht eilend heran, in der die natürlichen Stoffe nicht mehr wie heute willige Marktprodukte, sondern heiß umstrittene Vorzugsgüter bedeuten; Erzlager werden eines Tages mehr gelten als Panzerkreuzer, die aus ihren Gängen geschmiedet werden.'
Schon heute wäre die Hoffnung irrig, als könnten fremde Kolonien uns so gut bedienen wie eigene; als könnten Deutsche in Marokko so gut Bergbau treiben wie Franzosen. Jeder Kenner auswärtiger Industrien weiß, was fremde Landesaufsicht, fremde Gesetzgebung, fremde Transportbahnen, Häfen, Finanzen und Konkurrenzen bewirken und verhindern können. Wir wer-den Käufer bleiben statt Produzenten eigenen Rechts zu sein, und es wird kaum einer Periode künftiger Exportzölle bedürfen, um uns diese Schwäche fühlbar zu machen, sobald die steigende Konsumkraft der Welt beginnt, die ersten Rohstoffe einzuengen.
Seit Bismarcks Scheiden betreibt Deutschland nicht mehr aktive auswärtige Politik, weil Preußen nicht von staatsgeschäftlichen Talenten, sondern von verdienstvollen Beamten geführt wird, und weil das Volk, im Gewinnen befangen, seine Staatssorgen nicht ernst nimmt. Wir bemühen uns, der Welt klarzumachen, daß wir gesättigt sind, daß wir keine Wünsche haben, und je mehr wir reden, desto mehr mißtraut man uns und schiebt uns verwegene Pläne unter, weil man nicht begreifen kann, daß wir unsere eigene Notdurft und unser eigenes Begehren nicht kennen. Es wird Zeit, daß wir es kennenlernen und daß wir unumwunden bekennen und aussprechen: ja, es ist wahr, wir haben Nöte und Bedürfnisse. Wir können nicht in einem Menschenalter hundert Millionen Deutsche mit den Produkten einer halben Million Quadratkilometer einheimischen Bodens und einer afrikanischen Parzelle ernähren und beschäftigen, und wir wollen nicht der Gnade des Weltmarktes anheimfallen. Wir brauchen Land dieser Erde. Wir wollen keinem Kulturstaat das seine nehmen, aber von künftigen Aufteilungen muß uns so lange das nötige zufallen, bis wir annähernd so wie unsere Nachbarn gesättigt sind, die weit weniger Hände und unendlich mehr natürliche Güter haben.
Auf diese Sprache kann nichts erwidert werden, denn das Argument der Rohstoffe ist unwiderleglich wahr. Gelingt es uns, glaubhaft zu machen, daß wir unsere Nachbarn nicht expropriieren wollen – und von unserer Friedens-liebe dürfte man nachgerade bis zu den Eskimos überzeugt sein– so erwächst den Kulturnationen die ernste, wohlverstandene, eigene Sorge, uns aus einer Verlegenheit zu helfen, die ungestillt zu einer dauernden europäischen Gefahr werden müßte. Es ist einfach unmöglich, daß man uns fernerhin von allen Geschäften mit jenem Sarkasmus ausschließt, der nicht unberechtigt war, solange wir uns in sogenanntem Desinteressement nicht genugtun konnten.
Zu den künftigen nützlichen Unterhaltungen in dieser Richtung, die vor allem mit England zu führen sind, gehört ein Gegenstand, der nur scheinbar abseits von diesen Erwägungen liegt, und verschiedenen europäischen Nationen gleichmäßig nahegeht: er betrifft das beispiellose Kuriosum der internationalen Politik, die Monroedoktrin. Eine mißverstandene Präsidentenbotschaft sperrt nach hundert Jahren ohne Gegenleistung und ohne Gegenpflicht einen Südkontinent zugunsten nordamerikanischer Einwirkung, während es den Vereinigten Staaten gestattet bleibt, sich in aller Welt festzusetzen. An die Stelle dieser engen Kasuistik muß in gegebener Zeit die wirtschaftlich notwendige und gerechtfertigte Lehre treten: daß kein Territorium der Erde von einer Macht dauernd und selbständig sequestriert werden darf, die nicht imstande ist, seine Boden- und Oberflächenschätze im Dienst der Allgemeinheit nutzbar zu machen. Die Erde ist nicht groß und nicht reich genug, um den Luxus selbständiger Halbzivilisationen auf Kosten der Weltproduktion zu gestatten.
Aber wie dem auch sei; selbst wenn eine künftige Zeit, eine glücklichere Politik und ein klareres Erkennen uns einen gerechteren Anteil an der Erbschaft der Welt gewährt als unser jetziger Pflichtanspruch: die Zeit der großen Erwerbungen ist für Deutschland verpaßt. Da wir eine gewaltsame Neuverteilung der Lose nicht ersehnen dürfen, so müssen wir mit dem Gedanken rechnen, daß wir auf absehbare Zeit und in weitem Umfang eine zwangsweise kaufende und notgedrungen handelnde Nation bleiben.
So besteht die Verdopplung der Gefahr: neben der Erschwerung des Kaufs die Erschwerung der Zahlung, die Entwertung des Zahlungsmittels, des Ausfuhrguts.
Mit Ausnahme von England, das in glänzender Isolation die Irrtümer der Jahrhunderte zu überdauern pflegt, frönen alle Wirtschaftsstaaten dem Hochzoll. Das Prinzip der Warenhemmung, das in Form der Binnenzölle vernichtet werden mußte, um vor hundert Jahren den Landeswirtschaften Raum zu schaffen, beherrscht heute die Weltwirtschaft... .
Eine Periode des Schutzzolls war für die jüngern Wirtschaftsländer nötig; in einzelnen, vor allem in Amerika nach der Gesetzgebung Mc Kinleys, hat sie Wunder gewirkt. Mit Recht hat man 'diese Wirkung dem Schutz der Treibhausscheiben verglichen: die zarte Pflanze erstarkt, der Baum sprengt die Enge. Unsere Industrie entwächst von Tag zu Tag dem Bedürfnis des Schutzes: aber in dem Maße, wie sie nach außen wirken will, wird ihr fühlbar, daß nicht sie allein aus dem Mittel der Hegung Nutzen zog.
Von uns und Amerika haben die Völker gelernt; Zollmauern sind längs jeder Landesgrenze getürmt und erhöhen sich alljährlich, und im Innern der Staaten werden nationalistische Kräfte in den Dienst des Geschäftes gezogen, um den letzten Zufluß von Auslandsgütern abzudämmen.
Dieser friedliche Krieg der Nationen bietet der Zukunft Deutschlands schwerere Gefahren als irgendeine Waffendrohung. Er entwertet unser Zahlungsmittel, er zwingt uns auf die Dauer, teuer zu kaufen und billig zu verkaufen, und somit unentgeltliche Arbeit für das Ausland zu leisten. Es ist kein Zweifel, daß unsere Gegner Kenntnis dieser Lage haben, denn sie unterstützen jede nationalistische Importhetze und verengern so das Netz der wirtschaftlichen Einkreisung, nachdem die politische Einkreisung zur Unzerreißbarkeit gediehen ist. Um so weniger würden sie erstaunt sein, wenn wir es wagten, die Lage anzuerkennen und durch gerechte Ansprüche ihre Folgerungen zu ziehen.Es ist weder durchführbar noch wünschenswert, daß wir zum sogenannten Freihandel zurückkehren; vor allem können und dürfen wir nicht ohne Gegenseitigkeit der Leistung uns zoll-technisch entblößen. Aber die Blütezeit der Hochzölle ist in der Welt vorüber; das werden über lang oder kurz alle wirtschaftlich tätigen Nationen empfinden. Ein Abbau der Mauern wird geschehen, sonst fallen alle Vorteile dem Lande zu, das nichts zu kaufen und nichts zu zahlen braucht: Amerika.
Ein schweres Hemmnis wird die Tendenz der freien Bewegung in Deutschland finden, denn hier ist das Gebäude des Hochzolls in der Agrarpolitik verankert, die gleichzeitig eine der Grundlagen des preußischen Feudalismus bildet.
Man geht bei uns von der Ansicht aus, daß der hegemonische Staat die Kräfte seiner Führung und Verteidigung nur aus den Schichten des Grundbesitzes ziehen könne, und stellt sich daher die Aufgabe, den landwirtschaftlichen Großbetrieb, der in seiner heutigen Konstituierung und Belastung mit der Weltkonkurrenz nicht Schritt halten kann, auf gesetzgeberischem Wege seinen Besitzern zu erhalten. Dies geschieht durch eine weitgreifende Zoll- und Einfuhrregelung, die sich auf alle Agrarprodukte erstreckt, und manche um nicht viel weniger als die Hälfte des Auslandpreises belastet... .
So steht der Gefahr der wirtschaftlichen Erstickung ein Hochzollsystem zur Seite, das in den Interessen des Großgrundbesitzes, somit in der mächtigsten Quader des preußischen Regierungsbaus verankert ist. An einer Gesetzgebung, die ihren Urhebern Kopf für Kopf Renten von Tausenden, Zehntausenden und Hunderttausenden bedeutet, ist nicht zu rühren. Mithin ist, selbst für den Fall, daß der Abbau der industrialen Hochzölle sich allmählich vollzieht, eine wirtschaftliche Freundschaft mit allen Ländern überwiegenden Agrarexportes in absehbaren Zeiten ausgeschlossen.
Es bleibt eine letzte Möglichkeit: die Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang oder kurz die westlichen Staaten anschließen würden. Früher als wir, beginnen einzelne unserer Nachbarstaaten, die nicht über unsern gewaltigen Binnenkonsum verfügen, die Unbilden der wirtschaftlichen Isolation zu spüren. Ihre Industrien fristen ihr Da-sein auf der engen Grundlage nationaler Syndikate, die sich durch Preisverteuerung im Inland für den Mangel an Ausdehnungskraft und selbständiger technischer Entwicklung entschädigen. Die industrielle Zukunft gehört der schöpferischen Technik, und schöpferisch kann sie nur da sich betätigen, wo sie unter frischem Zuströmen menschlicher und wirtschaftlicher Kräfte sich dauernd im Wachstum erneuert. So wie die einstmals vorbildliche Maschinenindustrie der Schweiz die Führung an die Länder größern Konsums abtreten mußte, so folgen heute zahl-reiche Industrien der deutschen Vormacht; aber wir werden dieser Erbschaften nicht froh; auch uns wäre es besser, wenn wir manche Naturkraft, manche begünstigte Produktionsstätte und manchen unerschlossenen Verbrauchskreis unsrer Nachbarschaft in das Netz einer allgemeinen Wirtschaft einbeziehen dürften.
Die Aufgabe, den Ländern unserer europäischen Zone die wirtschaftliche Freizügigkeit zu schaffen, ist schwer; unlösbar ist sie nicht. Handelsgesetzgebungen sind auszugleichen, Syndikate zu entschädigen, für fiskalische Zolleinnahmen ist Aufteilung und für ihre Ausfälle Ersatz zu schaffen; aber das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht überlegen wäre, und innerhalb des Bandes würde es zurückgebliebene, stockende und unproduktive Landesteile nicht mehr geben. Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. . . . Was . . . die Nationen hindert, einander zu vertrauen, sich aufeinander zu stützen, ihre Besitztümer und Kräfte wechselweise mitzuteilen und zu genießen, sind nur mittelbar Fragen der Macht, des Imperialismus und der Expansion: im Kerne sind es Fragen der Wirtschaft. Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.
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Die Integration des Kurfürstentums Hessen in das Königreich Preußen nach dem deutsch-deutschen Krieg 1866 läutete in der kurhessischen Wirtschaft umfassende Veränderungen ein, die die Lebensbedingungen der weitgehend agrarisch geprägten hessischen Bevölkerung nachhaltig verändern sollten. Durch die Einführung einer liberal-kapitalistischen Wirtschaft und die Anbindung an die neu entstehenden Eisenbahnnetze wurde die hessische Landwirtschaft in den nationalen Markt integriert und brachte diese darüber hinaus in Konkurrenz zur ausländischen landwirtschaftlichen Produktion. Neue Steuern des preußischen Staates drückten zudem auf die Einkommen der kurhessischen Bauern.
Nach der Wachstumsboom der 1860er Jahre, in der die gesamte deutsche Wirtschaft inklusive der Landwirtschaft in atemberaubenden Tempo expandiert war, verschlechterten sich die ökonomischen Bedingungen der hessischen Landbevölkerung nachhaltig infolge der wirtschaftlichen Krisen der 1870er und 1880er Jahre. Der so genannte „Gründerkrach“ 1873, der die Wirtschaft des Kaiserreichs in eine große Krise stürzte, bewirkte zusammen mit der anhaltenden Konkurrenz zu billigen Getreideimporten aus Russland und den USA einen starken Rückgang der Getreidepreise. Unter diesem Preisverfall litten vor allem viele Kleinbauern Hessens, die mangels ökonomischer Alternativen starke Einkommensverluste hinnehmen mussten und teilweise in die Armut abglitten. Notwendige Rationalisierungen der landwirtschaftlichen Produktion zur Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit wurden dadurch nur erschwert. Viele Bauern konnten ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft nicht mehr bestreiten und mussten sich verschulden um die wirtschaftliche Misere überstehen zu können.
In dieser ökonomischen Krisensituation, die bis in die 1880er Jahre anhielt, wuchs die Angst vor sozialem Abstieg. Der wachsende Unmut richtete sich zunächst sehr diffus und unspezifisch gegen alle Erscheinungsformen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, das heißt unter anderem gegen die kapitalistische Marktwirtschaft und den Steuer- und Rechtsstaat. Zu einer der wirkmächtigsten Projektionsflächen des bäuerlichen Unbehagens gegenüber den genannten Modernisierungsprozessen avancierte der - tatsächliche oder imaginierte - „Wucher“ mit Kredit- oder Sachanleihen, die viele, teils hoch verschuldete Bauern als die zentrale Ursache ihrer Krisensituation betrachteten. Den Getreide-, Vieh- und Kredithändlern wurde vorgeworfen, sich mittels unehrlicher Verkaufsstrategien auf Kosten der armen Landbevölkerung über die Maßen zu bereichern. Ob dieser Vorwurf zutraf oder nicht spielt in der retrospektiven Betrachtung eine eher geringere Rolle, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der breiten zeitgenössischen Wahrnehmung das Wucherproblem das zentrale sinnstiftende Erklärungsmuster für die schwierigen wirtschaftlichen Umstände lieferte. Dass der „Wucher“ ein Grundproblem der Zeit darstellte, war ein schichtübergreifender Konsens, so dass viele Hessen sich von einem Vorgehen gegen den Wucher eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhofften. Somit war die Wucherdebatte kein Reflex auf tatsächliche Wucherei, sondern eher Folge des Zusammenpralls zweier Wirtschaftsweisen: zwischen dem sich durchsetzenden, kreditbasierten Kapitalismus und dem in vorkapitalistischen Denkmustern verharrenden Wirtschaften der damaligen hessischen Bauern. Dabei war die weitverbreitete Kritik am Wucher schon vor Böckel meist antisemitisch aufgeladen, da Juden überproportional häufig im Handel und Bankgewerbe arbeiteten und darüber hinaus generell eine derjenigen Bevölkerungsgruppen waren, die auf Grund günstiger soziostruktureller Vorrausetzungen wie hoher beruflicher Mobilität oder großem Bildungsstreben vom wirtschaftlichen Wandel profitieren konnten.
Der generelle Unmut der Bauern über die wirtschaftlichen Veränderungen wurde zunächst allerdings politisch nicht kanalisiert. Es gab bis Ende der 1880er Jahre keine tatsächliche, parteiliche oder genossenschaftliche Interessensvertretung der hessischen Bauern. Der Bezirk Marburg-Frankenberg-Kirchhain, der spätere Wahlkreis Otto Böckels, wurde durch die Konservativen dominiert, die in Form von informellen Wahlvereinen oder Honoratiorenverbänden organisiert waren und nicht parteilich im modernen Wortsinn. Im Vorfeld von Wahlen traten die Kandidaten traditionell nur sehr distanziert mit der Wählerschaft in Kontakt. Die Interessen, Sorgen und Nöte der bäuerlichen Bevölkerung in Marburger Raum wurden deshalb nur bedingt auf nationaler Ebene vertreten. In dieses politische Vakuum stieß ab Mitte der 1880er Jahre der Marburger Bibliothekar Otto Böckel und seine antisemitische Bewegung.
Otto Böckel, geboren 1859 in Frankfurt/Main als Sohn eines Bauunternehmers, studierte ab 1878 zunächst Jura in Marburg und Leipzig, später Germanistik und Neuere Sprachen in Gießen. 1883 nahm er eine Stelle als Hilfsbibliothekar an der Universitätsbibliothek Marburg an. Seine frühesten Veröffentlichungen beschäftigten sich vor allem mit volkstümlichen Studien zu Volksdichtungen, Volksgesängen und Volkssagen im hessischen Raum. Das Volkslied sei nach Böckel ein besonderer Zugang zum „Gefühlsleben der Naturvölker, d.h. aller derjenigen Stämme, die der Kultur noch ferne stehen und im unmittelbaren Zusammenhange mit der Natur leben.“ Diese Suche nach dem weit zurückliegenden, reinen und unschuldigen Leben der Menschen in völligem Einklang und Gleichschritt mit der Natur ist in Böckels Büchern zur Volksdichtung eng verbunden mit einer Kritik an der seinerzeit einbrechenden Moderne. In seiner Liedersammlung „Deutsche Volkslieder aus Oberhessen“ schreibt Böckel im Vorwort: „Tief drin in den Gebirgen, wo die Dampfpfeife der Eisenbahnen noch nicht ertönt […], wo noch Treue und Ehrlichkeit, wo noch Wohlhabenheit und strenge Sittlichkeit unter dem Bauernstande wohnt, da leben Volkslieder […] noch immer bei dem Landmanne.“ Die hier durchklingende sozialromantische Sehnsucht nach dem vormodernen, harmonischen Landlebens des Bauern, drückt ein damals weitverbreitetes Unbehagen gegenüber den hochkomplexen Veränderungsprozessen der hereinziehenden industriegesellschaftlichen Moderne aus, die die traditionellen bäuerlichen Lebensstile durch den Zwang zur Lohnarbeit oder zur beruflichen Mobilität unter großen Veränderungs- und Rationalisierungsdruck stellten und die Bauern somit aus ihren gewohnten lebensweltlichen Zusammenhängen rissen. Böckel formuliert diesen Ängste vor Veränderung und Entwurzelung wie folgt: „Überall da, wo Eisenbahnen entstehen, wo Fabriken emporblühn, wo der Bauer den Anbau seiner Äcker vernachlässigt und, höheren Gewinns wegen, zur Fabrikarbeit herabsteigt; überall da, wo der Viehhandel und Fruchthandel zum Monopol des Juden geworden ist, wo die Sucht zur Auswanderung einreißt, wo die Güterausschlachtung im großen Stile betrieben wird […]; überall da sterben Volkssitte und Volkslied unmittelbar dahin.“
Wie dieses letzte Zitat schon andeutet, ist die Kritik an Industrialisierung und Moderne mit einem stark antisemitischen Moment verbunden. Dass dieser Aspekt keine Erfindung der Böckelschen Gedankenwelt ist, wurde oben schon angedeutet. Jedoch war Böckel einer der ersten im deutschen Kaiserreich, die den Antisemitismus zum politischen Programm erhoben und ihn in Wahlkämpfen propagandistisch einsetzten. Der Antisemitismus wurde zu einem sinnstiftenden Element der Böckelschen Protestbewegung, indem er die verschiedenen Aspekte des bäuerlichen Sozialprotestes, die Kritik an Wucher und Überschuldung, an Marktwirtschaft und an den politischen Eliten, miteinander verband und der Protestbewegung somit einen identitätsstiftenden Kohärenzfaktor verlieh.
Böckel trat erstmals Mitte der 1880er Jahre auf die politische Bühne. Mit verschiedenen Artikeln in antisemitischen Politblättern wie der „Wucherpille“ oder dem „Reichsgeldmonopol“ machte er sich im regionalen Rahmen schnell einen Namen. 1887 trat er schließlich zur Reichstagswahl an und forderte den amtierenden Reichstagsabgeordneten, den Konservativen Karl Grimm, im Wahlkreis Marburg-Frankenberg-Kirchhain heraus. Böckel führte einen sehr unüblichen Wahlkampf. Er reiste schon Monate vor der Wahl von Dorf zu Dorf, hielt zahlreiche Reden, organisierte Veranstaltungen und verteilte zahlreiche politische Flugschriften und anderes Werbematerial. Mit diesem sehr volksnahen und modern geführten Wahlkampf besiegte Böckel den konservativen Gegenkandidaten mit 56,6 % der Stimmen relativ deutlich. In den folgenden Jahren konnte Böckel seine Stellung weiter festigen. Er gründete Mitte 1887 eine eigene Zeitung, den „Reichsherold" mit angebundenem Verlag, 1889 eine eigene Partei, die „Antisemitische Volkspartei“, die 1891 in „Antisemitische Reformpartei“ umbenannt wurde, sowie 1890 einen bäuerlichen Interessenverband, den antisemitischen „Mitteldeutschen Bauernverein“, dessen Vorsitzender er wurde. Dieses Netzwerk an Organisationen war stark auf seine Person zugeschnitten, institutionalisierte den Kontakt mit den Wählern und sicherte ihm somit die dreimalige Wiederwahl 1890 , 1893 und 1898 .
Betrachtet man sich die Überlieferungen aus jener Zeit, die dem Staatsarchiv Marburg im Nachlass Böckels vorliegen, so werden die Besonderheiten des politischen Antisemitismus der Böckel Bewegung sehr gut deutlich. Letztlich oszillierte Böckels antisemitisches Politikprogramm zwischen drei diskursiven Elementen: zwischen einem anti-elitären, bäuerliche Interessen ansprechenden Sozialprotest, einer Kritik an den zeitgenössischen Modernisierungsprozessen und einer säkularisierten, rassistischen, mit nationalistischen Tönen vermischten Judenfeindlichkeit, die vielen Bauern eine simplifizierende und personifizierende Erklärung ihrer - anonymen Strukturveränderungen entspringenden - Krisensituation anbieten konnte.
In vielen von Böckel verfassten oder verteilten Broschüren nimmt der rassistische Antisemitismus eine sehr prominente Stellung ein. In seinen bekanntesten Schriften, „Die Quintessenz der Judenfrage“ und „Die Juden, die Könige unserer Zeit“ (letztere erreichte eine Gesamtauflage von ca. 1,5 Millionen Exemplaren), hielt er immer wieder zentral fest, dass die „Judenfrage“ von existentieller Bedeutung für das deutsche Volk sei, da sich die Juden nicht konstruktiv am Zusammenleben der Deutschen beteiligen, sondern in ihrem Denken und Handeln kollektiv auf die Verarmung und Zerstörung des deutschen Bauernstandes hinwirken würden. Nach Böckel sei die 1869 gesetzlich eingeführte Emanzipation der Juden zum Scheitern verurteilt, da die Befürworter der Emanzipation nicht berücksichtigten, dass die „Judenfrage“ keine religiöse Angelegenheit sei, sondern eine „Rassenfrage“. Böckel verstand Emanzipation also nicht als eine durch den Staat zu gewährleistende Rechts- und Chancengleichheit, sondern als ein „völliges Aufgehen“ der fremden Rasse „im fremden Staatskörper“ (Quintessenz, S. 3). Emanzipation in diesem Sinn ist ein einseitiger Prozess der Homogenisierung, in dem jüdische Besonderheiten durch die Angleichung an die normsetzende deutsche Volkskultur überwunden werden müssen. Dieser Prozess müsse nach Böckel aber zwangsläufig scheitern, da die Juden aufgrund ihrer Fremdartigkeit zum Deutschsein nicht befähigt seien, „weil sie vor wie nach trotz Emanzipation sich nicht von ihrem Hange zum Schachern emanzipiert und zur Arbeit gegriffen haben“ (Quintessenz, S. 3). Das sei durch die Tatsache zu erklären, dass die Juden eine fremde Rasse sind: „Der Schlüssel zur Judenfrage liegt in dem Umstand, daß die Juden eine fremde Race sind, die anders denkt, anders fühlt, anders handelt, als wir […]. Völker und Staatsmänner, die nicht mit den in der Natur begründeten Raceverhältnissen rechneten, gingen an diesem Mißverständniß zu Grunde. Ein solches Missverständnis war die Judenemanzipation. Man glaubte stillschweigend annehmen zu können, daß ein Jude ein Deutscher sei oder werden könne“ (Könige ihrer Zeit, S. 9). Die Juden müsse man deshalb, so fordert Böckel weiter, einer Fremdgesetzgebung unterstellen und die Judenfrage mit folgender Formulierung in die Verfassung aufnehmen: „Es gibt in Deutschland zwei verschiedene Nationen: Deutsche und Juden; erstere sind die Herren des Landes, letztere sind Gäste, die zwar das Gastrecht, niemals aber das Recht der Herren besitzen dürfen“ (Könige ihrer Zeit, S. 3). Geschehe dies nicht, und könne man dem zerstörerischen Treiben der Juden keinen Einhalt gebieten, so drohe der Untergang des deutschen Bauernstandes, des Grundpfeiler s"eines gesunden Staatswesens“ (Könige ihrer Zeit, S. 6). Dass erste Anzeichen dieses Untergangs schon zu erkennen sind, versucht Böckel mit Hilfe statistischen Materials auszuführen. Demnach sei die jüdische Gefahr allgegenwärtig. Auf der nationalen Ebene gehe eine besondere Gefahr von der jüdischen Presse und dem „Börsenjuden“ aus, die danach strebten, ganze Völker zu unterjochen: „Man klagt über die schlechten Zeiten, über die Stockung der Geschäfte; wer anders trägt die Schuld daran, als die Juden, in deren Händen das Besitzthum von tausenden deutscher Kleinkapitalisten durch die Börse aufgestaut worden ist? Deutschland leidet an Herzverfettung. Die Juden haben das Geld, das Blut des sozialen Körpers in ihren Händen und es ist nur zu natürlich, daß Stillstand und Verwesung in allen Theilen des sozialen Körpers eintritt“ (Quintessenz, S. 18). Zudem treibe auf regionaler Ebene der sogenannte „Landjude“ - „faul“ und „parasitär“, von Natur aus nicht zur ehrlichen produktiven Arbeit der deutschen Bauern neigend - die unschuldigen Landwirte mittels Wucher, Kredit- und Hypothekenschwindel in den Ruin.
Dieses Niedergangsnarrativ, das den deutschen Bauern infolge jüdisch-kapitalistischer Ausbeutung und „Güterschlächterei“ in einer existenziellen Notlage wähnt, taucht auch immer wieder in antisemitischen Gedichten, Bildergeschichten und Karikaturen der Zeit auf (vgl. "Vaterlandsklänge" , "Die Bauernwürger" und das "Skizzenbuch der Wahrheit" ). Die elementare Botschaft ist dabei immer dieselbe: Für die Bauern liege im jüdischen Wucher die größte Gefahr, da dadurch „der ehrliche, arbeitende Bauernstand fortwährend von einer Rasse fremder Schacherer ausgebeutet […] wird. Der deutsche Bauer ist ehrlich und arbeitsam, der Jude verschmitzt und faul“ (Quintessenz, S. 6). Wer also etwas gegen Juden unternehme, der beseitige den Wucher und damit die zentralen Gründe für die ökonomischen Schwierigkeiten der Bauern. Christlicher Wucher, ein Mangel an ökonomischer Flexibilität oder an Kenntnissen über die kapitalistische Wirtschaftsweise seitens der hessischen Bauernschicht wurden nicht thematisiert. Der Bauer war in Böckels Argumentation ein wohlmeinendes und unschuldiges Opfer jüdischer Ausbeutung.
Diese stark vereinfachte Weltsicht schien der bäuerlichen Bevölkerung in Hessen sinnhafte und entlastende Interpretamente zum Verständnis ihrer komplexen ökonomischen Krisensituation zu liefern. Die Personifizierung der krisenhaften Entwicklungen in den Juden lenkte ab vom Modernisierungs- und Anpassungsdruck, der auf der deutschen Landwirtschaft jener Jahre lastete. Böckel war auf diese Weise im Stande, das Potential an unzufriedenen Wählern im Wahlkreis Marburg politisch zu mobilisieren. 1887 gaben ihm 7411 von 13105 Wahlberechtigten, die an der Wahl teilnahmen, ihre Stimme; 1890, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, erhielt Böckel gar 8739 von 13507 Stimmen.
Allerdings würde man die Böckel-Bewegung missverstehen, wenn man sie nur auf ihre antisemitische Agitation beschränken würde. Wie eben ausgeführt, war der Antisemitismus Böckels eng verflochten mit einer Kritik am Kapitalismus, was auf zwei weitere Dimensionen seines Denkens und Handelns verweist, die Modernekritik und den Sozialprotest. Unterstützt durch seine Partei, dem dazugehörigen Publikationsorgan, dem „Reichsherold“, und dem mitteldeutschen Bauernverein versuchte Böckel auch mit verschiedenen Selbsthilfeinitiativen die Not der Bauern unmittelbar zu lindern. So organisierte der Mitteldeutsche Bauernverein rechtliche Beratungsstellen für Bauern, organisierte Infoveranstaltungen zu Fragen der Landwirtschaft und ermutigte zur Gründung von örtlichen Produktions-, Kredit- und Konsumgenossenschaften nach dem Vorbild der Raiffeisenvereinigungen in Westfalen, um die Abhängigkeit von fremdem Kapital und Zwischenhandel zu verringern. Nach diesem Prinzip sollten sich die Bauern solidarisieren und gemeinsam die Auswüchse der wirtschaftlichen Misere bekämpfen, indem sie sich beispielsweise gegenseitig Geld liehen. Ein „judenfreier Viehmarkt“ 1890 in Langgöns sollte den „jüdischen Wucher“ umgehen und Bauern ohne die Vermittlung von Zwischenhändlern zusammenführen. Im Reichstag setzte sich Böckel Anfang der 1890er Jahre in den Debatten um eine Novellierung des Antiwuchergesetzes für härtere Strafen und eine Umgestaltung der Strafrechtssprechung ein. Nicht an der Einzelfallgerechtigkeit orientierte, professionell ausgebildete Strafrichter, sondern aus der Bevölkerung zusammengestellte Schwurgerichte sollten den Wucher der Volksgerechtigkeit unterziehen: „[…] der Wucher ist ein Verbrechen das gegen die Volksmeinung sich vergeht und gegen die Volksanschauung […]. Die Volksmeinung ist der einzige berufene Richter über das Vergehen des Wuchers“.
Diese Politik Böckels blieb immer anti-elitär bzw. anti-konservativ ausgerichtet. Darin drückt sich zum einen der Sozialprotest Böckels aus, da er vor allem den Konservativen vorwarf, nicht die Sache der Wahlbevölkerung zu vertreten: „Unser Parlamentarismus schmachtet unter dem Druck der politischen, abgelebten Parteien. Konservativ, liberal, ultramontan, freisinnig – alle diese Parteischlagwörter müssen fallen; der nationale Gedanke muß weiter lebendig werden im Volke, die Wahl in Marburg, wo der Antisemit durch eigene Kraft sämmtliche [sic] Parteien geschlagen hat, ist in diesem Sinne epochenmachend“ (Quintessenz, S. 21). Zum anderen hatte Böckels umfassende Gesellschafts- und Parteienkritik pragmatische Gründe. Seine größten politischen Konkurrenten im Marburger Wahlkreis waren konservativ. Darüber hinaus waren Teile der intern sehr zerstrittenen hessischen Antisemiten, wie die deutsch-soziale Partei Max Liebermanns von Sonnenberg, dazu bereit, mit den Konservativen zusammenzuarbeiten, was Böckel nicht unterstützen konnte, da er von einer unabhängigen, aus dem Volk hervorgehenden antisemitischen Mittelstandspartei träumte: „Von rechts bis links, nirgends ist eine Partei, die wir als wahre Volks- und Mittelstandspartei begrüßen könnten. Alle Parteien haben ihre Hintergedanken und ihre egoistischen Zwecke. Darum immer hinweg mit ihnen!“ (Quintessenz, S. 23).
Böckels unabhängiges, stark auf seine Person zugeschnittenes Vorgehen war bis Mitte der 1890er Jahre sehr erfolgreich. Er besetzte durch eine volksnahe, klar an bäuerlichen Interessen ausgerichtete Politik ein politisches Vakuum im Raum Marburg. Das kulturpessimistische Programm schien den Unmut vieler hessischer Wähler anzusprechen und gab diesem erstmals eine konkrete politische Repräsentation.
Dieselben Gründe allerdings, die diesen Erfolg Böckels möglich machten, führten letztlich auch zu seinem Niedergang. Neben persönlichen Ursachen wie Böckels mangelnde Flexibilität und starre Ausrichtung seiner Organisationen auf ihn selbst, trugen eine Reihe von überindividuellen Gründen dazu bei, dass sich die Wähler schon bei der Wahl 1893, bei der Böckel in die Stichwahl musste, spätestens aber gegen Ende der 1890er Jahre von ihm abwandten. So begannen beispielsweise die Konservativen Böckels neuen Wahlkampfstil zu adaptieren, sie inkorporierten antisemitische Elemente in ihr politische Programm (Tivoli-Parteitag 1892) und konnten angesichts einer starken nationalen Partei im Rückhalt effizienter vorgehen als die allein auf Böckel zugeschnittene Antisemitische Reformpartei. Die ebenfalls antisemitische, aber weniger sozialreformerisch ausgerichtete Deutsch-Soziale Partei Max Liebermanns erzielte beachtliche Erfolge in Oberhessen und verhinderte so die Ausdehnung der Böckel-Bewegung gen Süden. Des Weiteren konnte Böckels Mitteldeutscher Bauernverein unter seiner Führung trotz großem Mitgliederzulauf kaum handfeste Erfolge aufweisen und bekam durch zahlreiche nicht dezidiert antisemitische Genossenschaftsverbände wie die Raiffeisenkooperationen erhebliche Konkurrenz. Die antisemitischen Genossenschaften gerieten so erheblich unter Druck, gingen Bankrott oder fusionierten mit Raiffeisengenossenschaften. Existierten 1887 noch keine einzige Raiffeisengenossenschaft in Böckels Wahlkreis, so waren es 1895 schon 27. In dieser Situation und nach internen Streitigkeiten um die antisemitische Ausrichtung des Bauernvereins wurde Böckel 1893 gezwungen, seinen Vorsitz niederzulegen. Der Bauernverein ging kurz darauf im konservativen „Bund der Landwirte“ auf. Der Böckelschen Agitation wurde somit nach und nach der Boden entzogen, da das Raiffeisennetz die Böckelschen Protestwähler wirkungsvoll bei der Anpassung an den wirtschaftlichen Wandel unterstützen konnte. Das Vakuum, das er zwischen 1887 und 1893 besetzt hielt, wurde immer umkämpfter, und letztlich konnte sich Böckels Programm nicht auf Dauer durchsetzen. Er büßte den politischen Rückhalt in seinem Unterstützerkreis ein, trat bei den Wahlen 1903 und 1907 aus finanziellen Gründen nicht an und verlor die Wahl 1912 gegen einen Kandidaten der Deutsch-Sozialen Partei mehr als deutlich.
Sebastian Haus
Literatur:
Bieber, Hans-Joachim: Anti-Semitism as a Reflection of Social, Economic and Political Tension in Germany 1880-1933, in: Bronsen, David (Hg.): Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, S. 33-77.
Geyer, Martin H.: Die Sprache des Rechts, die Sprache des Antisemitismus: „Wucher“ und soziale Ordnungsvorstellungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Dipper, Christof u.a. (Hg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 413-429.
Gräfe, Thomas: Antisemitismus in Deutschland 1815-1918. Rezensionen, Forschungsüberblick, Bibliographie, Norderstedt 2007.
Mack, Rüdiger: Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887-1894, in: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen (Hg.): Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983, S. 377-407.
Mai, Gunther: Sozialgeschichtliche Bedingungen von Judentum und Antisemitismus im Kaiserreich, in: Ders. u.a. (Hg.): Judentum und Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1984, S. 113-136.
Peal, David: Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen. The Rise and Fall of the Böckel Movement, New York 1985.
Ders.: Jewish Responses to German Antisemitism: The Case of the Böckel Movement, 1887-1894, in: Jewish Social Studies 48/1986, S. 269-282.
Pfahl-Traughber, Armin: Antisemitismus, Populismus und Sozialprotest. Eine Fallstudie zur Agitation von Otto Böckel, dem ersten Antisemiten im Deutschen Reichstag, in: Aschkenas 10/2000, S. 389-415.
Toury, Jacob: Antisemitismus auf dem Lande: Der Fall Hessen 1881-1895, in: Richarz, Monika/Rürup, Reinhard (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997, S. 173-188.
1859
| Geburt Otto Böckels am 2. Juli in Frankfurt/Main als Sohn des Steinmetzen Gustav Böckel und seiner Frau Anna, beide evangelisch.
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1878-1882
| Studium der Jurisprudenz, Germanistik und neuere Sprachen in Marburg, Heidelberg und Gießen.
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1882
| Promotion an der philosophischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg zu einem Thema aus der mittelalterlichen französischen Dichtung.
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1883-1887
| Bibliothekar an der Marburger Universitätsbibliothek.
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1885
| Veröffentlichung der „Deutschen Volkslieder aus Oberhessen“.
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ab 1885
| Publizistische Tätigkeit in den antisemitischen Zeitungen „Wucherpille“ und „Reichsgeldmonopol“.
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1887
| Gründung der antisemitischen Wochenzeitung „Reichsherold“ (Auflage 1892: 30.000 Exemplare). Veröffentlichung der antisemitischen Schrift „Die Juden, Könige unserer Zeit“. Kandidatur für den Reichstag im Wahlkreis Marburg-Frankenberg-Kirchhain: Wahlgewinn im ersten Wahlgang mit einem Stimmenanteil von 56,6 %.
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1889
| Veröffentlichung der „Quintessenz der Judenfrage“
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1890
| Gründung der „Antisemitischen Volkspartei“, ab 1891 „Antisemitische Reformpartei“. Gründung des bäuerlichen Interessenverbandes „Mitteldeutscher Bauernverein“. Wiederwahl Böckels bei den Reichtagswahlen mit einem Stimmenanteil von 64,8 % im ersten Wahlgang.
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1893
| Böckel wird nach verbandsinternen Streitigkeiten gezwungen, den Vorsitz im Mitteldeutschen Bauernverein niederzulegen. Wiederwahl Böckels bei den Reichtagswahlen: Er verpasst im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit mit eine Stimmenanteil von 48,6%; Sieg in der Stichwahl gegen den konservativen Herausforderer mit 68,9 % der Stimmen.
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ab 1897
| Böckel nimmt zwischen 1897 und 1899 aus finanziellen Schwierigkeiten eine Stelle beim konservativen „Bund der Landwirte“ an, eine früher von ihm bekämpfte Organisation.
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1898
| Reichstagswahl: Böckel erhält im ersten Wahlgang nur 25,5 % der Stimmen; gewinnt aber Stichwahl mit 52,8 % gegen den konservativen Kandidaten und zieht abermals in Reichtag ein.
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1903-1912
| Rückzug ins Privatleben; weitere volkskundliche Forschungen: 1906 Veröffentlichung der „Psychologie der Volksdichtung“.
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1912
| Erneute Kandidatur zum Reichstag im Wahlkreis Marburg-Frankenberg-Kirchhain; Niederlage im ersten Wahlgang mit nur 13,8 % der Stimmen.
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1923
| Otto Böckel stirbt am 17. September in Michendorf im Alter von 64 Jahren.
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1930er Jahre
| Nationalsozialisten stilisieren Böckel zu einem frühen Vorläufer ihrer Bewegung.
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„Das Skizzenbuch der Wahrheit“ aus einer Berliner „Spezialbuchhandlung für antisemitische Literatur“ wurde wie die „Bauernwürger“ nicht von Otto Böckel verfasst oder herausgegeben, gibt aber in den darin enthaltenen Karikaturen ebenso deutlich die Ideologie Böckels wieder. Die Karikaturen unterstützten zeichnerisch die Pamphlete der antisemitischen Bewegung, indem sie die schriftlichen Schmähungen der Juden durch eine eindeutige Bildersprache ergänzten. Vor allem die vielen Früher-Heute-Gegenüberstellungen lassen keinen Zweifel daran, wen die Autoren für den wahrgenommen wirtschaftlichen Untergang des Mittelstandes verantwortlich machten.
- Betrachten Sie sich alle Karikaturen und vergleichen Sie sie miteinander. Welche gemeinsamen zeichnerischen Merkmale in der Darstellung der Juden fallen Ihnen dabei auf? Welches Bild der Juden soll durch diese Karikaturen entstehen? Mit welchen Mitteln wird dies zeichnerisch umgesetzt?
- Betrachten Sie sich die Gegenüberstellung Handwerk "Früher – Heute" und arbeiten sie die zentralen Unterschiede zwischen Früher und Heute heraus. Welche Gründe für den Niedergang des Handwerks legt diese Zeichnung nahe?
Sebastian Haus
Die 1885 im Marburger Elwertverlag veröffentliche Liedersammlung „Deutsche Volkslieder aus Oberhessen“ ist eine von mehreren volkskundlichen Büchern Böckels, die er im Laufe seines Lebens veröffentlicht hat. Gemeinsames Thema dieser Arbeiten ist das Volkslied oder die Volksdichtung der Landbevölkerung des 19. Jahrhunderts. Böckel glaubte, dass sich im Volkslied der wahre „Volksgeist“ bzw. das deutsche „Volksthum“ am Reinsten ausdrücke. Die Böckelsche Vorstellung vom „Volk“ entspricht weitestgehend dem zeitgenössischen nationalistischen oder völkischen Begriff vom Volk als einem homogenen, von fremdenartigen Einflüssen bewahrten, in sich reinen und starken Ganzen. Der Hauptträger des Volksgeistes ist nach Böckel der Bauernstand, der in seinen Schriften sehr verklärt wird. Das Lebensideal, das Böckel beschreibt, ist das in völligem Einklang mit der Natur befindliche bäuerliche Landleben, dessen zentrale Elemente Sittlichkeit, Ruhe und Harmonie noch unberührt sind von den fremden, umwälzenden und entwurzelnden Prozessen der modernen Industriegesellschaft. Diese Werte und Merkmale des im bäuerlichen Leben sich ausdrückenden Volksgeistes könne man dadurch bewahren, so Böckel, indem man die mündlich überlieferten Volkslieder sammele.
Die in Böckels volkstümlichen Schriften zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht nach Ordnung und Einfachheit des Bauernlebens spiegelt eine gewisse Verunsicherung und Zukunftsangst gegenüber den zeitgenössischen wirtschaftlichen wie sozialen Veränderungen wieder. In dem ausgewählten Auszug wird diese Verbindung zwischen der sozialromantischen Verklärung des bäuerlichen Landlebens und der Kritik an Moderne, Industrialisierung und gesellschaftlichem Wandel besonders deutlich.
Arbeitsaufträge:
- Das Volkslied drückt bei Böckel etwas ganz bestimmtes aus. Für was steht das Volkslied?Welchen Gefahren ist das Volkslied nach Böckel ausgesetzt? Welche historischen Veränderungen könnte er damit meinen? Wie bewertet er diese Veränderungen?Wie wird der Bauer in diesem Textausschnitt dargestellt? Für was steht der Bauer und sein Lebensstil?Suchen Sie die Stelle in dem Textausschnitt, in dem von den Juden gesprochen wird. In welchem Zusammenhang bezieht sich Böckel auf die Juden? Mit was bringt er die Juden in Verbindung bzw. was repräsentieren die Juden? Und welches Bild muss von den Juden so letztlich entstehen?
Sebastian Haus
Das vorliegende Exemplar der „Juden, die Könige unserer Zeit“ wurde 1887 in Marburg veröffentlicht und ist der Nachdruck einer Rede, die Böckel 1886 in Berlin anlässlich eines Treffens des deutschen Antisemiten-Bundes hielt. In dieser Phase war Böckel an der Universitätsbibliothek Marburg angestellt, machte aber schon durch Vorträge und Artikel in antisemitischen Zeitschriften politisch auf sich aufmerksam. Da Böckel 1887 zum ersten Mal zur Reichstagswahl im Wahlkreis Marburg-Frankenerg-Kirchhain antrat, ist anzunehmen, dass Exemplare dieser politischen Kampfschrift auf Wahlkampfveranstaltungen Böckels zu erwerben waren. Nach Rüdiger Mack soll ihre Gesamtauflage bei 1,5 Millionen Ausgaben gelegen haben.
Im Zentrum von „Die Juden, die Könige unserer Zeit“ steht der rassistische Antisemitismus Böckels. Die „Judenfrage“, die die Politik bisher auf dem Weg der Emanzipation lösen wollte, werde nach Böckel solange nicht an existenzieller Bedeutung verlieren, solange man sie nicht als „Rassenfrage“ begreife. „Der Schlüssel zur Judenfrage liegt in dem Umstand, daß die Juden eine fremde Race sind, die anders denkt, anders fühlt, anders handelt, als wir“ (S. 9). Deshalb müsse man die Juden einer Fremdgesetzgebung unterstellen. Geschehe dies nicht, so bestehe die Gefahr der „Verjudung“ Deutschlands.
- Warum stellt Böckel die „Judenfrage“? Was ist seiner Meinung nach an Juden so gefährlich?
- Was ist an Böckels Antisemitismus rassistisch? Suchen sie Stellen im Text, die die rassistische Ausrichtung der Böckelschen Judenfeindlichkeit belegen können (v.a. S. 7, 9-11).
- Wie glaubt Böckel die „Judenfrage“ lösen zu können? Worin liegen die Unterschiede zur Emanzipation der Juden?
- Auf Seite sechs und sieben beschreibt Böckel seinen Weg in die antisemitische Bewegung. Kann man dieser Darstellung glauben schenken? Oder dient diese Darstellung eher einem anderen Zweck? Wenn ja, welchem?
- Was meint Böckel mit dem Titel „Die Juden, die Könige unserer Zeit“? (v.a. S. 10-15)
Sebastian Haus
Die Zeitung „Der Reichsherold“ war das zentrale Presseorgan der antisemitischen Böckel-Bewegung in Kurhessen. Sie wurde von Otto Böckel Anfang 1887 gegründet. Eine Probenummer wurde im Januar 1887 publiziert. Die oben vorliegende, erste reguläre Ausgabe erschien am 4. Februar 1887, einige Wochen vor den Septennats-Wahlen (Wahlen, bei denen der zu wählende Reichstag über das für sieben Jahre gültige Militärbudget abstimmen muss) zum deutschen Reichstag am 21 Februar, bei denen Otto Böckel erstmals als Sieger hervorging. Im Frühjahr 1892 erreichte die Zeitung reichsweit eine Auflagenzahl von 11.000 Exemplaren. Die letzte in Marburg gedruckte Ausgabe erschien am 21. Dezember 1894.
Der Reichsherold, der zu Beginn wöchentlich, später zweimal wöchentlich erschien, richtete sich in erster Linie an die ländlich geprägte Bevölkerung im Umkreis Marburgs. Er diente Böckel als wichtiges Medium zur Erläuterung seiner politisch-programmatischen Vorstellungen. Inhaltlich finden sich dort dieselben Argumentationsfiguren und Narrative wie in den in dieser Zeit erschienenen Broschüren Böckels. Der Reichsherold lieferte in seiner Verbindung von Modernekritik, Antisemitismus und antikonservativen Sozialreformismus leicht zugängliche Deutungsmuster für die Komplexität der damaligen wirtschaftlichen Krisensituation. In verschiedenen Rubriken wurde der „jüdische Wucher“ als die größte Gefahr des bäuerlichen Landlebens angeprangert, „der Jude“ zum Urheber der industriegesellschaftlichen Zerstörung der vormodernen bäuerlichen Harmonie erklärt, und die Bauern zur Gründung von Produktions- und Konsumgenossenschaften aufgefordert, um dem Anpassungsdruck des landwirtschaftlichen Strukturwandels zu entgegnen.
Im Reichsherold finden sich verschiedene Typen von Artikeln. Neben sehr allgemein gehaltenen Berichten über die angeblichen Machenschaften des schädlichen Judentums und tagespolitischen Stellungnahmen zu wichtigen Ereignissen im Kreis Marburg und im Reich, druckte der Reichsherold auch Reichstagsreden von Böckel ab, führte am unteren Rand eine Reihe, in der fiktive, meist antisemitische Geschichten veröffentlicht wurden, und informierte im hinteren Teil der Zeitung die Bauern über praktische Fragen und Probleme der Landwirtschaft. Im Vorfeld von wichtigen Wahlen war der Reichsherold für Böckel ein wichtiges Instrument zum Gewinn von Wählerstimmen.
Arbeitsaufträge:
- Arbeiten Sie anhand des Wahlaufrufs der deutschen Antisemitenpartei die wichtigsten politischen Forderungen des Reichtagskandidaten Otto Böckels heraus.
- Lesen Sie den Artikel „Die Güterschlächterei in Hessen“ und beantworten Sie folgende Fragen: Wie beschreibt Böckel den „Landjuden“ und sein Vorgehen gegen die Bauern? Warum und wodurch sind nach Böckel die „hessischen Bauern gute Antisemiten“ (S. 2)? Was versteht Böckel unter der „Güterschlächterei“? Welches Schreckensszenario malt Böckel letztlich an die Wand, wenn man den Juden nicht Einhalt gebiete?
Die „Quintessenz der Judenfrage“ ist neben „Die Juden, die Könige unserer Zeit“ das umfangreichste Pamphlet Otto Böckels, in dem die wichtigsten Elemente und Zusammenhänge seines antisemitischen Gedankengebäudes dargestellt sind. Die vorliegenden Auszüge sind der 1889 im Reichsheroldverlag erschienen sechsten Auflage entnommen. Gleich auf Seite zwei ist das politische Programm Böckels und seiner Wochenzeitung Reichsherold aufgeführt. Darin wird die enge Verknüpfung von sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen mit antisemitischen Parolen deutlich. Im Haupttext versucht Böckel mit einer Vielzahl von Statistiken den Beweis zu führen, dass die „Judenfrage“ von existenzieller Bedeutung für die deutsche Bevölkerung sei. Die rechtliche Emanzipation habe die Juden nicht dazu gebracht, an der ehrlichen „produktiven Arbeit“ des „deutschen Volkes“ teilzunehmen: „Das nennt man Emanzipation. Arbeit für den Deutschen, Verdienst ohne Arbeit für den Juden“ (S. 4). Stattdessen würden die Juden durch ihre Tätigkeiten in allen Sphären der deutschen Wirtschaft (der „Landjude“, der „Kaufmannsjude“, die „Judenblätter“, Juden in der Literatur, der „Börsenjude“) „den Wohlstand und das Glück der Nationen“ (S. 6) schädigen. Gegen Ende unterzieht Böckel das politische System des Kaiserreichs einer heftigen Kritik, da die in ihm existierenden Parteien die „wahren“ Interessen der Bevölkerung nicht vertreten würden.
Arbeitsaufträge:
- Was versteht Böckel unter der Emanzipation der Juden? Warum scheiterte sie aus seiner Sicht? Wie müsste sie nach ihm idealerweise verlaufen (S. 3-6)?
- Sehen Sie sich die Stelle genau an, an der Böckel über den „Landjuden“ spricht (S. 6-8). Wie wird er beschrieben? Welche Gefahren gehen nach Böckel von ihm aus?
- Prüfen Sie die These, dass Böckels Kritik an „Börsenjuden“ und Spekulation eine antisemitische Form von Kapitalismuskritik ist (S. 17f.). Stellen Sie die besonderen Merkmale einer solchen Kritik fest.
- Was genau wirft Böckel den anderen Parteien vor und wie glaubt er sich von ihnen positiv abzugrenzen (S.21-24)?
Sebastian Haus
Nachdem Böckel 1893 durch den erzwungenen Rücktritt vom Vorsitz des mitteldeutschen Bauernvereins den politischen Rückhalt in seinem Wahlkreis verloren hatte, versuchte der inzwischen in argen finanziellen Schwierigkeiten steckende Böckel einen Neuanfang in Berlin. Dort traf er auf neue Financiers, die ihm und seinem Verlag, dem „Reichsherold“, einen Neuanfang gestatteten, der aber von nur kurzem Erfolg war. Aus dieser Zeit stammt der antisemitische Kalender „Kehraus“ für das Jahr 1895. Ausgerichtet auf eine ländliche Leserschaft, finden sich neben zahlreichen Lebensweisheiten und landwirtschaftlichen Ratschlägen wie selbstverständlich auch antisemitische Sprüche oder Zitate.
Arbeitsaufträge:
- Betrachten Sie sich das Titelbild und beschreiben Sie, was dort dargestellt werden soll.
- Betrachten Sie sich wahlweise eines der drei Monatsblätter. In welchem Verhältnis stehen die antisemitischen Sprüche am oberen rechten Rand zu den übrigen Informationen und Ratschlägen des jeweiligen Monatsblattes? Wie sind die antisemitischen Sprüche in das Gesamtbild des Monatsblattes eingebunden?
- Untersuchen Sie die Karikaturen und arbeiten Sie die Merkmale heraus, mit denen die Juden zeichnerisch dargestellt werden. Was sollen diese Karikaturen vermitteln? Wie stehen diese Karikaturen mit den antisemitischen Schriften Böckels (bspw. die Quintessenz der Judenfrage und der darin beschriebene „Landjude“, S. 6ff.) in Verbindung?
Sebastian Haus
Die Bildergeschichte „Die Bauernwürger“ wurde nicht von Otto Böckel verfasst und auch nicht in seinem Verlag, dem „Reichsherold“, verlegt. Sie befindet sich allerdings im Nachlass Otto Böckels, der neben seinen eigenen Schriften auch eine Reihe anderer, wohl von ihm gesammelter antisemitischer Flugschriften und Pamphlete umfasst. Obwohl die Umstände der Entstehung und Verbreitung der Geschichte „Die Bauernwürger“ nicht ganz klar sind, gibt sie mit der Verflechtung von Antisemitismus und bäuerlicher Wirtschaftsmisere dennoch die Denk- und Wahrnehmungsmuster der Böckel-Bewegung eindeutig wieder. Sie erzählt die Geschichte eines Bauern und seiner Familie, die sich mehr und mehr bei einem jüdischen Kreditgeber verschulden müssen, nach und nach völlig in dessen Abhängigkeit geraten und schließlich als „Sklaven“ des Juden gezwungen sind, den eigenen Grundbesitz zu versteigern. Die Geschichte endet mit der Auswanderung der Familie, die in der Geschichte als negativer Kulminationspunkt der Zerstörung und Entwurzelung des Bauernlebens durch „Judenwucher, Judenlist und Judenbetrug“ (S. 13) erscheint. Die Bildgeschichte „Die Bauernwürger“ ist somit ein Beispiel dafür, wie die Böckel-Bewegung die Situation der damals wirtschaftlich angeschlagenen Landbevölkerung aufgriff und ihr einfache, antisemitische Deutungen ihrer Situation lieferte, indem sie die komplexen Gründe wirtschaftlicher Miseren auf die Juden und ihre angeblichen konspirativen Machenschaften reduzierte.
Arbeitsaufträge:
- Der Autor der „Bauernwürger“ erzählt die Niedergangsgeschichte einer typischen bäuerlichen Familie. Vergegenwärtigen Sie sich die verschiedenen Stationen des Niedergangs und die jeweiligen Kausalketten, die diese Stationen miteinander verbinden. Was ist in „Die Bauernwürger“ der zentrale Grund für Verschuldung, Niedergang und schließlich für die Auswanderung der Bauernfamilie?
- Wie werden die Juden in „Die Bauernwürger“ bildlich wie sprachlich beschrieben? Mit welchen Eigenschaften, Absichten und Zielen? Wie wird dagegen die Bauernfamilie dargestellt?
- Überlegen Sie sich mögliche Gründe für den Niedergang der Bauernfamilie, die in „Die Bauernwürger“ nicht thematisiert werden. Vergleichen Sie diese Gründe mit den in dem Text angeführten Gründen.
- Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Frage: Welchem Zweck könnte eine Bildergeschichte wie die „Bauernwürger“ dienen? Für welche Umstände oder Veränderungen könnte sie Erklärungen liefern?
Sebastian Haus
Am 10. Januar erschien im Reichsherold ein kleiner Artikel über die Verkaufspraxis des jüdischen Kaufhauses Erlanger in Marburg. Die darin genannten Juden Gottschalk und Erlanger verklagten einige Wochen später Otto Böckel, den Herausgeber des Reichsherolds, wegen Darstellung falscher Tatsachen auf Beleidigung. Siehe dazu die Privatklage Gottschalks und Erlangers, die Anklageschrift sowie das Urteil des Amtsgerichts Marburg.
Arbeitsaufträge:
- Vergegenwärtigen Sie sich genau die Vorgänge, die in diesem Artikel geschildert werden. Achten Sie dabei vor allem auf die zeitliche Reihenfolge der dargestellten Handlungen.
- Welcher Eindruck muss auf diese Weise von dem jüdischen Kaufmann Gottschalk entstehen?
- Warum interessiert sich der antisemitische Reichsherold für einen solchen, auf den ersten Blick nebensächlichen Verkaufsvorgang? Was will der Reichsherold mit der vermeintlich objektiven Darstellung der Verkaufspraktiken jüdischer Kaufleute erreichen?
Am 22. Februar 1890 verklagten die Juden Louis Erlanger und Siegmund Gottschalk Otto Böckel wegen Beleidigung, da dieser verantwortlich sei für die Darstellung eines falschen Sachverhalts in einem Reichsherolds-Artikel vom 10. Januar 1890. Böckel wurde daraufhin am 5. April vor dem Amtsgericht Marburg angeklagt.
Transkription:
"[zitiert betreffenden Reichsherold-Artikel]
die in diesem Artikel aufgestellten Behauptungen sind thatsächlich falsch und enthalten zweifellos nicht nur in einzelnen Ausdrücken, sondern namentlich auch ihrem ganzen Zusammenhang und Sinn nach eine Beleidigung eines jeden einzelnen der Privatkläger. –die Beleidigung ist insbesondere darin zu finden, daß dem Privatkläger zu 2 [Siegmund Gottschalk] betrügerische Manipulationen und mit dem Schlußsatz Privatkläger zu 1 [Louis Erlanger] vorgeworfen wird, daß jene Manipulationen mit seinem Wißen und Willen jedenfalls mit seiner Genehmigung geschehen seien, indem solche der Firma überhaupt eigen seien.
Der Beschuldigte ist der verantwortliche Redakteur der Zeitung.
Die Kläger stellen hiermit gegen den Beschuldigten Strafantrag und beantragen:
Gegen den Beschuldigten wegen Beleidigung aus § 185, 186, 200 St.G.B. § 20, 21 des Strafgesetzes das Hauptverfahren vor dem Königlichen Schöffengericht hier zu eröffnen und denselben demnächst angemeßen zu bestrafen.
Prozessvollmacht wird auf dem Gerichtsschreiben niedergelegt.
Marburg, den 22. Februar 1890.
Der Rechtsanwalt Dörffer [?]"
Arbeitsauftrag:
- Entnehmen Sie der Klageschrift, warum Erlanger und Gottschalk Otto Böckel wegen Beleidigung anklagen.
Am 5. April 1890 wird Otto Böckel wegen Beleidigung der Kaufmänner Louis Erlanger und Siegmund Gottschalk in einem Reichsherolds-Artikel vor dem königlichen Amtsgericht Marburg angeklagt. Das Urteil wurde am 29. Juli verkündet.
Transkription:
"[Seite 1] Beschluß.
Auf die Privatklage 1) des Kaufmanns Louis Erlanger
2) des Handlungsgehülfen Siegmund Gottschalk
beide zu Marburg
wird gegen den Dr. phil. Otto Böckel in Marburg
welcher hinreichend verdächtig erscheint, als verantwortlicher Redakteur der in Marburg erscheinenden Zeitung Reichsherold in deren am 10. Januar 1890 ausgegebene Nummer 272 nachfolgenden Artikel aufgenommen zu haben: „-n. Rosenthal i Januar. Vor u.sw.( wie in der Privatanklage – bis --- in Marburg“. –
und dadurch in Beziehung auf die Privatkläger, nicht erweislich wahre Thatsachen welche diesselben in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet sind, nämlich in Bezug auf den Kläger Gottschalk eine auf Uebervorteilung abzielende Handlungsweise und in Beziehung auf den Kläger Erlanger Anstiftung zu derselben und genehmigendes Mitwissen behauptet und verbreitet zu haben
Vergehen gegen § 186,200 ? resp. Nr. 20 ? Ges. vom 7. Mai 1874 über die Presse
[Seite 2] Das Hauptverfahren vor dem königlichen Schöffengerichte hierselbst eröffnet.
Es sollen geladen werden
Als Zeugen Kaufmann Happel in Rosenthal
Nagelschmied ? Vaupel in Rosenthal
2. Termin zur Hauptverhandlung wird auf
, den 1ten Mai 1890 nachmittags 1 Uhr
bestimmt.
3. Zu laden a. die Parteien
b. die bezeichneten Zeugen
4. Vorzulegen der Königlichen Staatsanwaltschaft.
Marburg, den 5ten April 1890
Königliches Amtsgericht II“
Arbeitsauftrag:
- Warum wird Otto Böckel angeklagt?
Am 24. Juli 1890 verkündete das Amtsgericht Marburg sein Urteil über die Anklage Otto Böckels wegen Beleidigung der jüdischen Kaufmänner Erlanger und Gottschalk. Böckel wurde für schuldig befunden, in einem seiner Reichsherold-Artikel falsche Tatsachen zuungunsten der beiden Kläger verbreitet zu haben.
Transkription:
"[Seite 1] Im Namen des Königs!
In der Privatklagesache
1) des Kaufmanns Louis Erlanger zu Marburg
2) des Handlungsgehilfen Siegmund Gottschalk zu Marburg
vertreten durch die Rechtsanwälte Justizrath Dr. Wolff und Dörffer [?] zu Marburg
gegen den Redakteur Dr. phil. Otto Böckel zu Marburg
wegen Beleidigung
hat das Königliche Schöffengericht zu Marburg
in der Sitzung vom 22ten Juli 1890,
[...]
für Recht erkannt,
der Beklagte Dr. phil. Otto Böckel von hier, wird wegen Beleidigung der beiden Privatkläger zu je 20 M. od. 4 Tagen Haft, zusammen 40 M. Geldstrafe od. 8 Tagen
[Seite 2] Haft und in[?] die Kosten des Verfahrens verurteilt.
Zugleich wird den Privatklägern die Befugnis zugestanden, die Verurteilung innerhalb 14 Tagen nach Zustellung des Urteils einmal auf Kosten des Verurteilten im Reichsherold an der Stelle, wo der beleidigende Artikel gestanden ist, zu veröffentlichen.
Gründe
die von dem Angeklagten als verantwortlichem Redakteur herausgegebene, in Marburg erscheinende Zeitung „der Reichsherold brachte in der Freitag den 10. Januar 1890 ausgegebenen No. 272 folgenden Artikel:
[zitiert Artikel aus Reichsherold]
[Seite 3] der dieserhalb seitens der Inhaber der Firma Rosa Erlanger, des Kaufmanns Louis Erlanger dahier und des Reisenden Gottschalk erhobenen Privatanklage gegenüber hat der Angeklagte den Beweis der Wahrheit anzetreten versucht. Letzterer ist jedoch mißlungen. Die Beweisaufnahme [Seite 4] hat nämlich ergeben, daß das Verlangen des Reisenden Gottschalk an den Schwager des H. Vaupel, Bürgschaft für jenen in Höhe von 60 M. zu leisten, zeitlich vor der Vereinbarung zwischen Gottschalk und Happel und der Auszahlung der 40 M. an den ersten erfolgt ist. Das Gericht hat dabei die Aussagen der Eheleute Vaupel als entscheidend angesehen, welche bestimmt bekundet haben, daß erst nachdem sie dem Gottschalk nicht zu Willen gewesen[?] seien, sie von der Firma Erlanger ein Mahnverfahren auf Zahlung einer ihrerseits contrahierten Waarenschuld in Höhe von circa 45 M. verklagt worden seien, - nur sie als die Folge ihrer Weigerung angesehen hätten.
der in betracht kommende Zahlungsbefehl in Sachen der Firma Rosa Erlanger gegen den Baumgärtner[?] Heinrich Vaupel ist nun auch der ? Auskunft des Königlichen Amtsgerichts zu Rosenthal am 2. Februar, der Vollstreckungsbeehl am 1. März 1887 erlassen worden. Am 2. März 1887 ist derselbe seitens des Gerichtsvollziehers Berghofer durch Pfändung eines ? vollstreckt worden.
Dagegen ist die Bescheinigung, in welcher Gottschalk über den Empfang von 40 M. von Happel quittierte, am 28. März 1890 ausgestellt.
[...]Der ? artikel enthält somit bezüglich des Reisenden Gottschalk die Behauptung von[?] nicht erweislich wahren Thatsachen, welche, indem sie das Vergehen des Betrugs ?, geeignet sind, den Gottschalk verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen.
Durch die Schlußworte „dies ein Beipsiel aus der Praxis des Hauses Rosa Erlanger“ ist aber auch der Inhaber dieser Firma beleidigt, indem mit jenen Worten indirekt gesagt ist, daß dasselbe mit den betrüglichen Handlungen seines Reisenden einverstanden gewesen sei, und daß betrügliche Manipulationen dem Geschäftsbetrieb der Firma Rosa Erlanger eigen seien.
[...]"
Arbeitsaufträge:
- Warum verurteilt das Marburger Gericht Otto Böckel zu einer Geldstrafe?
- Wie hat sich der Verkaufsvorgang Gottschalks, über den der betreffende Reichsherold-Artikel berichtete, gemäß der Urteilsbegründung tatsächlich zugetragen? Wie verändert dies die antisemitische Suggestion im Artikel des Reichsherolds?
- Welche Rolle spielt für das Gericht, dass die Kläger und Beleidigten Juden sind?
Die von Thomas Klein bearbeiteten Wahlstatistiken für den Wahlkreis Kassel 5 (Marburg-Frankenberg-Kirchhain), die in den nachfolgenden Dokumenten für die Reichstagswahlen 1887, 1890, 1893, 1898 und 1912 vorliegen, sind alle nach der gleichen Struktur aufgebaut. Zu Beginn finden sich die Kandidaten, die an der jeweiligen Wahl teilgenommen haben. Der jeweilige Wahlsieger ist hervorgehoben. Darauf folgen die Wahlergebnisse für den gesamten Wahlkreis und die detaillierten Ergebnisse für die Unterwahlkreise (hier nur der Kreis Marburg und der Kreis Kirchhain). Am Ende der Statistiken zu den Unterwahlkreisen befinden sich die Gesamtergebnisse für den jeweiligen Unterwahlkreis. Anbei befindet auch sich das Abkürzungsverzeichnis zu den Parteinamen, das bei der Entschlüsselung der in den Statistiken verwendeten Parteiabkürzungen hilfreich sein kann.
AL Altliberale AS Antisemiten ASVoP Antisemitische Volkspartei BdL Bund der Landwirte b. k. Fr bei keiner Fraktion CAP Christliche Arbeiterpartei ChrSoz Christlich-soziale Partei CNP Christlich-nationale Partei DBB Deutscher Bauernbund DFP Deutsche Fortschrittspartei DFrP Deutschfreisinnige Partei DRP Deutsche Reichspartei DRefP Deutsche Reformpartei DSozP Deutschsoziale Partei DSozRefP Deutschsoziale Reformpartei DVg Demokratische Vereinigung Fr Freisinn FoVP Fortschrittliche Volkspartei FrKVg Freikonservative Vereinigung FrVg Freie Vereinigung (kath.) 1 'rVP Freisinnige Volkspartei Gouv. Gouvernementale HessBB Hessischer Bauernbund HessRP Hessische Rechtspartei HessVP Hessische Volkspartei HBP Hessische Bauernpartei K Konservative/Deutschkonservative Partei K (altnass.) altnassauische Konservative Kath. Katholische L Liberale LG Liberale Gruppe LL (vereinigte) Linksliberale LVg Liberale Vereinigung NL Nationalliberale Partei NS Nationalsoziale Partei Part. Partikularisten PatrWV Patriotischer Wahlverein SPD Sozialdemokraten/Sozialdemokratische Partei Deutschlands unbek. unbekannt VP Volkspartei WVg Wirtschaftliche Vereinigung Z Zentrum
Arbeitsimpulse zu den Wahlstatistiken:
- Bei der Analyse der Wahlstatistiken gibt es im Grunde unzählige Möglichkeiten. Besonders interessant können diachrone Vergleiche, d.h. Vergleiche über die Zeit sein. So könnte man beispielsweise die Entwicklung der Wahlergebnisse Böckels auf der untersten Ebene in einem bestimmten Ort mit besonderen soziostrukturellen Merkmalen (etwa das katholische Amöneburg einerseits und Mardorf andererseits), oder auf der Kreisebene in den Wahlkreisen Marburg oder Kirchhain verfolgen.
- Wenn man sich nur eine Wahl betrachten will, lassen sich sicherlich spannende Unterschiede feststellen, wenn man die Ergebnisse Böckels in kleinen Dörfern mit seinen Ergebnissen in den Städten vergleicht. Zudem könnte man sich fragen, wo Böckels politische Gegner, etwa das Zentrum oder die Konservativen, am besten abgeschnitten haben.
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