Marburg 1945/46
Marburg 1945/46

Marburg 1945/46 

Ausgewählte Quellen zur Situation in Marburg
nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945/46
Herausgegeben von Hans-Joachim Kraschewski,
Lorenz Rothe, Fried Eckart Seier

Digitale Version erstellt von Reinhard Neebe unter Mitarbeit von Frithjof Klös


In seinem Buch "Eine deutsche Stadt unter amerikanischer Besatzung" hat der amerikanische Historiker John Gimbel eine detaillierte Untersuchung über die Situation in Deutschland 1945/46 am Beispiel Marburgs vorgelegt.  Umfangreich eruiertes Quellenmaterial bildet auch die Grundlage für den Aufsatz desselben Autors, "Marburg nach dem Zusammenbruch 1945".[i] 
In beiden Arbeiten verzichtet der Verfasser auf die Wiedergabe von Zeugnissen und Dokumenten, die er einer sorgfältigen Analyse unterzogen hat. Das Buch nennt in einem Anhang die Fundstellen der einschlägigen Materialien, in dem Aufsatz fehlt ein solcher Hinweis. Deshalb scheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, ergänzend eine Quellenauswahl vorzulegen.
 Die hier abgedruckte Sammlung erfolgt unter doppeltem Gesichtspunkt: Einmal dient sie der Anschaulichkeit durch Vermittlung historischer Details und Probleme, andererseits der lokalen und zeitlichen Differenzierung dessen, was bei John Gimbel zur Marburger Situation 1945/46 bereits ausgeführt ist. Denn Gimbels Sicht der Ereignisse ist - wie jede geschichtliche Darstellung - standortgebunden und abhängig auch von der zeitlichen Nähe zu den Vorgängen, die er z. T. selbst erlebt hat. Zeitliche Distanz und kritisch reflektierter Standpunkt können aber veränderte Anschauungen und neue Blickwinkel der Analyse ermöglichen. Dazu beizutragen, war unser Hauptanliegen.  
Die Quellen, die wir auswählten, berücksichtigen die Geschichte der politischen Institutionen, Strukturen und Entscheidungen. Es geht uns um die lokale politische Geschichte der Jahre 1945/46 auf ihrer institutionellen Grundlage, nicht in deren Totalität, sondern in einem Ausschnitt der historischen Ereignisse. Insofern haben wir die Auswahl in drei Abschnitte eingeteilt, obwohl es für das 1. Kapitel (Staatspolitischer Ausschuß) Gliederungskriterien gegeben hätte. Das wäre aber zu Lasten der Absicht gegangen, Tätigkeit und Wirksamkeit dieses Organs in einer gewissen Breite und Vielfalt darzustellen.  
Die im 2. Kapitel (Entnazifizierung) vorgelegten Zeugnisse sollen die enge Verflechtung von politischer Struktur und Entscheidung verdeutlichen, d. h. von amerikanischem Faschismusbild und Maßnahmen gegenüber der deutschen Bevölkerung. Dies läßt sich insofern anhand der personellen Entnazifizierung darstellen, als die USA glaubten, mit diesem Programm die nach Auflösung der nationalsozialistischen und militärischen Organisationen noch vorhandenen Elemente des deutschen Nationalsozialismus zu vernichten.
[ii]
Die gleiche Absicht - Darstellung der Praxis amerikanischer Besatzungspolitik - verfolgt auch das 3. Kapitel (Materielle Probleme), in dem einige Probleme des Alltags von 1945/46 in ihrer Unmittelbarkeit gezeigt werden sollen. Solche Bezüge, wie sie hier einige wenige willkürliche Beispiele verdeutlichen, ließen sich beliebig erweitern. Es kam uns jedoch auf den einführenden und exemplarischen Charakter dieser Hinweise an.  
Bei der Auswahl der Quellen haben wir genaue und möglichst umfassende Texte bevorzugt, auch wenn diese trocken und spröde in ihrer Darbietung sind. Andererseits sollen die Texte lesbar sein, auch wenn dadurch eine gewisse Einbuße an Detailinformation oder Allgemeingültigkeit hinzunehmen ist.
Die ausgewählten Dokumente berücksichtigen vor allem die deutsche Situation, sei es als Reaktion auf Entscheidungen der Besatzungsmacht, sei es als Initiative zu demokratischer Neugestaltung. Amerikanische Quellen bleiben weitgehend unberücksichtigt, zumal das gesamte Material der einzelnen Detachements ab 1952  in die USA verbracht wurde,
[iii]  wo Gimbel Ende der Fünfziger Jahre einen Teil bearbeiten konnte.  
Die Quellen stammen hauptsächlich aus dem Magistratsarchiv Marburg (Rathaus), aus Privatbesitz (Bauer-Papiere, Sammlung Krusch) und aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg (u. a. der Nachlaß Jakob Römer). Nicht mehr aufzufinden waren folgende bei Gimbel angeführten Unterlagen: der Nachlaß von Schulrat Ludwig Mütze (von ihm selbst - lt. Aussage seiner Ehefrau - vor seinem Tod vernichtet) und die Hartshorne-Papers (im hiesigen Amerikahaus nicht mehr vorhanden, lt. Auskunft von Archivrätin Dr. Krüger-Löwenstein ebenfalls in die USA verbracht). Für freundliche Hilfe bei der Sucharbeit danken wir Erhart Dettmering (Magistrat der Stadt Marburg) sowie Hermann Bauer.


[i]  John GIMBEL: A German Community  under American Occupation. Marburg 1945-1952, Stanford (Cal.) 1961; dt. Ausgabe: Eine deutsche Stadt unter amerikanischer Besatzung. Marburg 1945-1952, Köln/Berlin 1964; DERS., Marburg nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, in: Marburger Geschichte, hg. von Erhart Dettmering u.Rudolf Grenz, Marburg 1980, S. 655-676

[ii]  Vgl. dazu J. FÜRSTENAU, Entnazifizierung, Neuwied 1969, S. 73 ff.


[iii]  Vgl. hierzu J. J. HASTINGS, Die Akten des Office of Miltary Government for Germany (NS), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 24 (1976), S. 75.

Staatspolitischer Ausschuß
Staatspolitischer Ausschuß

Am 31. März 1945 ordnete Bürgermeister Voß auf Weisung der Amerikaner an, daß alle Behörden der Stadt vorläufig zu schließen seien.[4]  
Die amerikanische Besatzungsmacht brachte Verwaltungsspezialisten mit, die zunächst die wichtigsten 
Organe der Marburger Verwaltung wieder in Funktion setzten, um der schwerwiegendsten Probleme des Augenblickes Herr zu werden. Die Militärregierung ernannte Eugen Siebecke zum Oberbürgermeister [5]  und Erich Kroll zum Polizeichef. Sämtliche Behördenvorsteher wurden ausgewechselt, ihre Ämter[6]  nahmen die Arbeit nach Beseitigung aller übrigen nationalsozialistischen Führungskräfte wieder auf.[7] Eine erste deutsche Initiative trat im April 1945 an die Öffentlichkeit. Einige frühere liberale Partelfreunde um Ludwig Mütze und Hermann Bauer[8] gründeten einen "Ordnungsausschuß", um am Wiederaufbau eines demokratischen Staatswesens teilzunehmen. In ihrem Aufruf "Für Ordnung und Sauberkeit" (Dokument 1) wollten sie einer doppelten Aufgabe gerecht werden: als Petitionsausschuß den Marburgern zur Verfügung stehen und bei der Entnazifizierung, der als vordringlich angesehenen Aufgabe, mitwirken. Unterschrieben war der Aufruf einerseits von den Mitgliedern des Ordnungsausschusses, im wesentlichen bürgerlichen Politikern der Weimarer Republik, und andererseits von einem Personenkreis, der sich als Vertreter der Marburger Arbeiterschaft betrachtete.[9]
Als Führer des Ordnungsausschusses trat immer wieder Ernst Sangmeister hervor, der von der Gruppe um Mütze und Bauer als "deutschnational" bezeichnet wurde.[10] Deshalb setzten diese bei der Militärregierung und dem Oberbürgermeister die Auflösung des Gremiums durch. Mit Siebeckes Einverständnis gründete Mütze als "Staatspolitischer Referent" den zwanzigköpfigen "Staatspolitischen Ausschuß". Er legte der Militärregierung am 15. Mai in einem Schreiben Zusammensetzung und Ziele des Ausschusses dar (Dokument 2).[11]
Der Oberbürgermeister kritisierte in seiner Stellungnahme an die Militärregierung (Dokument 3) die Größe des Ausschusses und das Fehlen eines "konservativen" Gegners des Hitlerregimes. Siebecke ließ sich von dem evangelischen Pfarrer Dr. Ritter als Vertreter dieser Gruppe Otto Roppel und Otto Dula empfehlen, die dem von den Amerikanern genehmigten Fünferausschuß beitraten.[12]
Der Staatspolitische Ausschuß beschäftigte sich mit allen Fragen von öffentlichem Interesse (Dokument 4).[13]  Die Militärregierung hatte ihn jedoch nur als Berater in Personalfragen und als Informationslieferant genehmigt und beobachtete mit Mißtrauen, daß der Ausschuß ständig seinen Kompetenzbereich zu erweitern suchte. Unter den Papieren Hermann Bauers befindet sich ein Antrag des Gremiums (Dokument 5), in dem es vom Oberbürgermeister seine offizielle Einsetzung als provisorischer Stadtrat forderte.[14]  Diese Ansprüche führten wiederholt zu Spannungen zwischen beiden Seiten.[15] Auch von der Politik des Detachements zeigte sich der Ausschuß enttäuscht. Er klagte über Rücksichtslosigkeit und mangelnde Kooperationsbereitschaft von Seiten der Besatzungsmacht und faßte seine Kritik in drei Berichten zusammen (Dokument 6 und Dokument 7).[16]
Hermann Bauers Schreiben beschäftigt sich mit dem Problem der Kollektivschuld[17]  und den daraus resultierenden Beschränkungen für politische Initiativen von deutscher Seite.[18]  Der Bericht des Staatspolitischen Ausschusses geht auf rücksichtsloses Verhalten der amerikanischen Truppen gegenüber der Zivilbevölkerung und unnötige Härten der Besatzungspolitik ein.[19]  Auch zu den sich entwickelnden politischen Tendenzen in der Bevölkerung gab der Ausschuß regelmäßig Berichte ab. (Dokumente 8 und Dokument 9).[20]
Die im Grundsatz von der Konzeption der Amerikaner, besonders in der Frage der Entnazifizierung,[21] abweichenden Vorstellungen vom Wiederaufbau und die Kompetenzüberschreitungen des Ausschusses führten im Herbst 1945 zu unüberbrückbaren Konflikten. Auslösendes Moment war der Streit um die Investigatoren. [22] Im Oktober 1945 befahl die Militärregierung dem Ausschuß, sich auf beratende Tätigkeit zu beschränken (Dokument 10). Daraufhin erwog der Ausschuß seinen Rücktritt.[23] Die Entlassung seines Vorsitzenden Treut im Dezember des Jahres veranlaßte das Gremium endgültig zu diesem Schritt (Dokument 11). [24]



Anmerkungen:

 

 [4]  VOSS an die einzelnen Behördenvorsteher, 31. 3. 1945, Akten des Staatspolitischen Ausschusses (künftig zitiert als "SPA-Akten"), Magistratsarchiv Marburg.
 [5]  Vgl. H. BAUER: Erinnerungen an 1945, in: Tradition und Fortschritt. 30 Jahre Marburger LDP/F.D.P., S.11.
 [6]   So schrieb SIEBECKE erst Anfang Mai an die Militärregierung, man wolle die Finanzverwaltung vorläufig wieder in Kraft setzen, bis eine neue Behörde von den Amerikanern aufgebaut würde. SIEBECKE an die Militärregierung, 7. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. 
 [7]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 3; DERS., Eine deutsche Stadt, S. 70, S. 87-90.
 [8]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 1.
 [9]  Diese Gruppe hatte über den von den Amerikanern ernannten Bürgermeister Schwedes, einen Sozialdemokraten, der später Schulrat im Landkreis wurde, Kontakt zu Mütze aufgenommen. Vgl. [Dokument 4], Abschnitt 1. Vgl. auch GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 117-119. 
 [10]  BAUER an Mr. Seamon, 22. 4. 1945. Papiere im Privatbesitz Hermann Bauers (künftig zitiert als "Bauer- papiere").
 [11]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 5 ff.; vgl. auch DERS., Eine deutsche Stadt, S. 119-123, S. 123-125, sowie E. NEUSÜSS-HUNKEL, Parteien und Wahlen in Marburg nach 1945, Meisenheim am Glan 1973, S. 51 ff. 
[12]   In seinem Antwortbrief schlug Pfarrer Dr. RITTER, der der reformierten Universitätsgemeinde zugehörte, folgende Personen vor:  1. Otto Roppel, Buchhändler; 2. Friedrich Bunnemann, Oberstudiendirektor; 3. Heinrich Unckel, Direktor der Volksbank; 4. Otto Dula, Kaufmann; 5. Prof. Dr. Gerhard Albrecht; ferner die Professoren v. Hippel und Herfahrdt, den Apotheker Opfer, Kohlenhändler Vaupel und Metzgermeister Elmshäuser.RITTER an den Oberbürgermeister, 22.5.1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Obwohl Roppel als "Konservativer" Mitglied des Ausschusses wurde, wehrte er sich gegen dieses Prädikat und wies darauf hin, er sei "trotz konservativ-kirchlicher Anschauungen früher Sozialist gewesen". Sitzungsprotokoll des SPA vom 26. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.
 [13] 13 Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 7 f., sowie DERS., Eine deutsche Stadt, S. 128-132.
 [14]  Vgl. auch [Dokument 8]. 
 [15]  S. hierzu H. BAUER: Erinnerungen an 1945, in: Tradition und Fortschritt. 30 Jahre Marburger LDP/F.D.P., S.11.
 [16]  Der Bericht Ludwig MÜTZES Ist derzeit in Marburg nicht mehr aufzufinden (vgl. Vorwort). Auch in den Akten des SPA im Magistratsarchiv, im privaten Nachlaß Jakob Römers, Mützes Parteifreund, und in den Beständen der F.D.P. ist der Bericht u. W. nicht vorhanden. Zum  Inhalt des Mützeschen Berichts vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 9 f. sowie DERS., Eine deutsche Stadt, S. 102 ff.
 [17]   Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11
 [18]  Enttäuschung darüber war auch ein Grund für Bauers Rückzug aus dem SPA. Er meinte, seine bisherige Arbeit sei meist vergeblich und gab an, er wolle sich ganz dem Aufbau einer demokratischen Presse widmen. BAUER an Mütze, undatiert (Aug. 1945), Bauerpapiere
 [19]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11 f.
 [20]  Vgl. hierzu GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 122, S. 132.                                                                                                                     
[21] Vgl. Kap.II                                                                                                                                                                                                 [22]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 12 ff. 
 [23]  Notiz des SPA, undatiert (5. 12. 1945), SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. 
 [24]  Die Begründung für die Entlassung Treuts war ein Vorwand, um gegen den Ausschuß vorzugehen: Traut hatte bei seinem Eintritt in das Gremium den Amerikanern seine Parteimitgliedschaft nicht verschwiegen. Staatspolitischer Referent an CIC, 15. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.

Öffentlicher Anschlag des "Ordnungsausschusses" in der Stadt Marburg vom 21. Apri 1945.

Öffentlicher Anschlag des "Ordnungsausschusses" in der Stadt Marburg vom 12. April 1945.

 Für Ordnung und Sauberkeit [35]

Der Nationalsozialismus ist zusammengebrochen und hat unser Vaterland in den Abgrund gestürzt. Höchstes Gebot der ernsten Stunde ist es, Ordnung und Sauberkeit an die Stelle von Willkür und Phrase treten zu lassen. Zu diesem Zwecke haben sich verantwortungsbewußte Bürger unserer Stadt zusammengeschlossen, die den Behörden - Militärregierung und Stadtverwaltung, aber auch den anderen Dienststellen und Organisationen - zur Verfügung stehen und Wünsche und Vorschläge aus der Bevölkerung entgegennehmen und bearbeiten wollen; unter der Anschrift "Ordnungs-Ausschuß, Marburg-Lahn, Rathaus" sind solche Anliegen einzureichen (anonyme Zuschriften bleiben unerledigt!). Wir bitten, uns mit kleinlich-persönlichen Dingen zu verschonen, wie wir auch nicht gesonnen sind, Personen aus Haß oder Rache zu verfolgen. Doch darüber darf kein Zweifel bestehen: Die Gerechtigkeit erfordert es, daß die Verantwortlichen und die Nutznießer des "Dritten Reiches", die Totengräber unseres Vaterlandes, unerbittlich herangezogen werden, das wieder gut zu machen, was sie verschuldet haben! Wir betreiben den Wiederaufbau auf der Grundlage von Ordnung, Sauberkeit und Recht und rufen alle Marburger zur Mitarbeit auf.


 

 

Anmerkungen:

[35] Öffentlicher Anschlag des Ordnungsausschusses vom 21. 4. 1945. Bauerpapiere. Dort existieren mehrere Fassungen dieses Anschlags (vgl. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 277), die vorliegende letzte stammt laut handschriftlicher Notiz Bauers vom 21. April. Dazu führte er 16 Namen auf, die als Unterzeichner gelten: Bauer, de Boor, Elmshäuser, H. Feller, Hamann, Kombächer, v. Massenbach, Mangel, Mütze, L. Peter, G. Pfeil, Roppel, Sangmeister, Steinmeyer, Tilmann, Wormsbächer. 

 

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Antrag des Staatspolitischen Referenten Ludwig Mütze auf Anerkennung des Staatspolitischen Ausschusses durch die amerikanische Militärregierung vom 15. 5. 1945

Antrag des Staatspolitischen Referenten Ludwig Mütze auf Anerkennung des Staatspolitischen Ausschusses durch die amerikanische Militärregierung vom 15. 5. 1945

An die
Militärregierung
durch Herrn Oberbürgermeister Siebecke[36]

Der Herr Oberbürgermeister hat mich zu seinem staatspolitischen Referenten ernannt. Ich habe die Aufgabe, mitzuhelfen, den Nationalsozialismus in unserer Stadt auszurotten und dafür zu sorgen, daß er in keiner Form und Person wieder in Erscheinung tritt. In dieser Arbeit stütze ich mich auf einen staatspolitischen Ausschuß, der aus zwanzig politisch unbedingt zuverlässigen Männern der Stadt Marburg besteht. Sie gehören den verschiedensten Berufen und Ständen an und waren vor 1933 in der demokratischen Partei (DDP), in der sozialdemokratischen Partei (SPD) und in der kommunistischen Partei (KPD) organisiert.[37] Diese Männer sind sämtlich bedingungslose Gegner des Nationalsozialismus. Sie haben dauernd "ihr Ohr am Volk" und unterrichten mich laufend über alle Vorgänge, über die Stimmung und Meinung, über das Denken und Wollen der Marburger Bevölkerung.

Dieser Ausschuß bittet um das Vertrauen und um die Anerkennung der Militärregierung.

Wie sieht der staatspolitische Ausschuß, wie sehe ich die gegenwärtige politische Lage in Marburg?

Der Nationalsozialismus ist durch den Sieg der alliierten Militärmächte über Deutschland niedergeschlagen worden. Er scheidet für alle Zeiten als Grundlage und Grundgesetz der staatspolitischen Organisation des deutschen Volkes aus. Davon ist jeder denkende deutsche Mensch ebensogut überzeugt, wie er weiß, daß die geistige Oberwindung der nationalsozialistischen Irrlehren das große Zukunftsproblem der deutschen Volksbildung und der Jugenderziehung sein wird.

In Marburg sind die Hauptträger des Systems nazistischer Gewaltherrschaft von der Militärregierung inhaftiert und damit aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet worden. Die Mehrheit der Einwohner unserer Stadt ersehnt eine Neugestaltung des deutschen Volks- und Staatslebens, die nach den Grundsätzen des Rechtes und der Gerechtigkeit und nach  den sittlichen Geboten echter Menschlichkeit durchgeführt werden, wie sie der verstorbene amerikanische Präsident Roosevelt sooft überzeugend und ergreifend der gequälten Menschheit klargelegt und verkündet hat.

In dieser Einsicht und in dieser Einstellung der überwiegenden Mehrheit der Marburger Bevölkerung liegen alle Voraussetzungen für einen örtlichen Erfolg des Bemühens der Militärregierung, das deutsche Volk zu einem demokratischen und freiheits- und friedliebenden Glied der Völkerfamilie unserer Erde zu machen.

Gestört und zerstört könnten jedoch diese günstigen Voraussetzungen werden, wenn die gutwilligen Menschen in Marburg in ihren Hoffnungen auf Riecht und Gerechtigkeit enttäuscht würden. Diese Gefahr wäre gegeben, wenn es einzelnen Männern aus unserer Stadt gelingt, das Vertrauen der Militärregierung zu erwerben, ohne daß sie es auf Grund ihrer politischen Vergangenheit oder ihrer charakterlichen Haltung verdienen. Die Militärregierung kann die Marburger Menschen im einzelnen nicht kennen, die sich ihr zur Mitarbeit anbieten. Der staatspolitische Ausschuß aber, der fest in der Bevölkerung verwurzelt ist, könnte der Militärregierung bei der Beurteilung der politischen und charakterlichen Zuverlässigkeit aller Bewerber um Stellen und um Anstellung im öffentlichen städtischen oder staatlichen oder privaten Dienst behilflich sein. Deshalb bittet der Ausschuß, ihm die Möglichkeit dieser Hilfe zu geben und durch den Herrn Oberbürgermeister in jedem Einzelfalle die Meinung des Ausschusses erfragen zu lassen. Dann würde es z. B. vermieden werden, daß Beamte zur Entlassung kommen, die ausgesprochene Gegner des Nationalsozialismus gewesen sind und daß andere in ihren Ämtern verbleiben, die aktiv den Nazismus unterstützt haben oder aber seine fanatischen Anhänger waren. Dann erschiene es ausgeschlossen, daß sich in der Wirtschaft unserer Stadt jetzt wieder Männer in den Vordergrund drängen und sich nicht ohne Erfolg um das Vertrauen der Militärregierung bemühen, die ausgesprochene Günstlinge der Nazipartei waren und in den Jahren der Parteiherrschaft große Gewinne einheimsen konnten.   Vor mir liegt die Anweisung der Militärregierung - Finanz-Abteilung - (MGAB-1 (3) - an finanzielle Unternehmen und Regierungsfinanzbehörden (Personal), die genaue Richtlinien gibt für die Vornahme von Entlassungen und Suspendierungen von Beamten und Angestellten aller finanziellen Unternehmungen und Stellen öffentlicher und privater Natur. Es wird hier im einzelnen bestimmt, wer auf Grund seiner politischen Vergangenheit zu entlassen, wer bis zur Überprüfung seiner Personalangelegenheiten zu suspendieren ist und wer im Amte verbleibt. Bei der personellen Neugestaltung der städtischen Kassen und des staatlichen Finanzamtes in Marburg wird aber offenbar nicht nach diesen Anweisungen der Militär-Regierung, die öffentlich angeschlagen werden sollen, damit sie jeder Angestellte sowie auch das Publikum lesen kann, verfahren. Geschworene Gegner des Nazismus und charakterlich hochstehende Männer sind zur Entlassung gekommen, ausgesprochene Anhänger des Hitlerismus und charakterliche Wetterfahnen aber sind im Amte verblieben.

Diese Beobachtungen haben eine gewisse Erregung in der Bevölkerung zur Folge. Sie verletzen das gesunde Rechtsempfinden, das sich viele Menschen durch die rechtlose Zeit des Naziterrors hindurchgerettet und bewahrt haben. Ein Weiterwachsen dieser Erregung aber würde die Arbeit der Militärregierung hemmen und ihre Erfolgsaussichten schmälern. Ja, es zöge damit die große Zukunftsgefahr herauf, daß die enttäuschten Beamten, Angestellten oder Arbeiter, die entgegen den erwähnten und von jedermann als gerecht anerkannten Anweisungen der Militärregierung aus ihren Ämtern entlassen worden sind, oder die als Kaufleute oder Handwerker unverdient in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auch heute wieder von Kriegsgewinnern und Parteigünstlingen niedergedrückt werden, in eine Verzweiflungsstimmung geraten, die sie früher oder später dem Radikalismus und dem Anarchismus in die Arme treiben müßte.

Die Marburger Bevölkerung ist jedem politischen Radikalismus fern, und eine ruhige politische Entwicklung der Bevölkerung und der Verhältnisse in unserer Stadt ist unter der Führung von Herrn Oberbürgermeister Siebecke gesichert, wenn die Grundsätze der Demokratie, des Rechtes, der Freiheit und der Befreiung in allen Zweigen unseres städtischen und privaten Lebens nach den festen und unabänderlichen Grundsätzen der Militärregierung zur Durchführung kommen.

Hierbei will der staatspolitische Ausschuß helfen. Er bittet die Militärregierung, diese Hilfe anzunehmen und sich ihrer zu bedienen. 

 Sollte der zwanzigköpfige Ausschuß der Militärregierung zu groß erscheinen, so bitte ich um den Befehl, ihn auf fünf bis zehn Mitglieder zu beschränken, deren Namen und Personalien ich dann baldigst durch den Herrn Oberbürgermeister der Militärregierung unterbreiten würde.

   L. Mütze

 


 

 

Anmerkungen:

[36]  Antrag des Staatspolitischen Referenten L. MÜTZE auf Anerkennung des Staatspolitischen Ausschusses durch die Amerikaner vom 15. 5. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.

[37]  Zur namentlichen Aufstellung der Mitglieder, vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 6; DERS., Eine deutsche Stadt, S. 120, sowie NEUSÜSS-HUNKEL, a.a.O., S. 52. 

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Stellungnahme Oberbürgermeister Eugen Siebecke zum Antrag des Staatspolitischen Ausschusses (Dok. 2 vom 15.05.1945) vom 19.05.1945
Stellungnahme Oberbürgermeister Eugen Siebecke zum Antrag des Staatspolitischen Ausschusses (Dok. 2 vom 15.05.1945) vom 19.05.1945

Stellungnahme Oberbürgermeister Eugen Siebeckes zum Antrag des Staatspolitischen Ausschusses (Dok. 2 vom 15. 5. 1945)vom 19. 5. 1945

Der Oberbürgermeister der Stadt Marburg a. d. Lahn

 

An die

Amerikanische Militärregierung [38]

Marburg a. d. Lahn

Marburg a. d. Lahn

19.Mai 1945.

Anliegend übersende ich eine Darstellung meines Staatspolitischen Referenten über die Aufgaben des staatspolitischen Ausschusses. Ich habe diesen Ausführungen nichts hinzuzufügen, weil sie vollkommen meinen Anordnungen entsprechen.

Ich weise aber darauf hin, daß dieser Ausschuß ohne mein Wissen unter der Hand sehr viel größer geworden ist, als ich dies gewünscht habe. Seine Arbeit wird darunter nur leiden.

Ich weise ferner darauf hin, daß dieser Ausschuß noch nicht das politische Element enthält, das ich in ihm vertreten sehen möchte. Ich darf daran erinnern, daß ich Ihnen, verehrter Herr Major,[39] wiederholt gesagt habe, daß es unter den konservativen Politikern Persönlichkeiten gibt, auf deren Mitwirkung - wenn es einem ehrlich um die Schaffung der geistigen Grundlagen wahrer Demokratie geht - man nicht verzichten solle. Ich hatte Herrn Sangmeister gebeten, mir einige konservative politische Persönlichkeiten zu nennen und mir diese vorzustellen. Herr Sangmeister hat diesen Auftrag bis jetzt nicht durchgeführt, weil er offenbar zu diesen Kreisen keine Beziehungen hat. In der Zwischenzeit habe ich aber feststellen können, daß der von mir sehr geschätzte Pfarrer Dr. Ritter der Vertreter dieser politischen Gruppe in Marburg ist.

Ich habe deshalb nunmehr Herrn Pfarrer Dr. Ritter gebeten, den ursprünglich an Herrn Sangmeister erteilten Auftrag seinerseits auszuführen.

>Herr Mütze ist von mir dahin verständigt worden, daß der staatspolitische Ausschuß in der bisherigen Weise nicht mehr zusammentreten darf, weil die Militärregierung nur die Versammlung von höchstens 5 Personen zuläßt. Ich schlage Ihnen folgende Lösung vor: Dem Ausschuß gehören an 5 Mitglieder. Jedem dieser Mitglieder wird das Recht verliehen, seinerseits gegebenenfalls 5 der ihm politisch nahestehenden Persönlichkeiten von Zeit zu Zeit oder von Fall zu Fall zur politischen Information einzuberufen.

Zum Schluß darf ich noch darauf hinweisen, daß der Ausschuß keinerlei konstitutionelle Rechte besitzt und daß seine Wirksamkeit nur beratender Natur ist. Die Bildung politischer Parteien ist angesichts der geistigen Verfassung unseres Volkes im gegenwärtigen Augenblick noch verfrüht.

                                                                                                                                                 Siebecke


 

 

 

 

 

Anmerkungen:

[38] Stellungnahme Oberbürgermeister SIEBECKES zum Antrag des Staatspolitischen Ausschusses vom 19. 5. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. 

[39] Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um Major Westermann, den das Protokollheft des Staatspolitischen Ausschusses Anfang Juni als Verhandlungspartner nennt. Vgl. Sitzungsprotokoll vom 5. 6. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Gemeint sein könnte aber auch Major Eaton, der erste Kommandant des Detachements in Marburg, der Siebecke und Kroll in ihre Ämter eingesetzt hatte (vgl. oben). 

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Bericht des Staatspolitischen Ausschusses über seine Einsetzung und Tätigkeit seit Mai 1945 an den amerik. Militärkommandanten Lt. Col. Thomas A. Brown vom 16. 8. 1945
Bericht des Staatspolitischen Ausschusses über seine Einsetzung und Tätigkeit seit Mai 1945 an den amerik. Militärkommandanten Lt. Col. Thomas A. Brown vom 16. 8. 1945

Bericht des Staatspolitischen Ausschusses über seine Einsetzung und Tätigkeit seit Mai 1945 an den amerik. Militärkommandanten Lt. Col. Thomas A. Brown vom 16. 8. 1945

 

The State-political Board of the Town of Marburg

Origin, character, development, relation to the

American Military Government and the 

 Oberbürgermeister as well as lines of work. [40]



I

Ort March 28th 1945 the entering of this town by American troops finished National-Socialism as a factor of power in town and State.

At first, the municipal administration was paralyzed and unable to work. The first step to re-establish a new order in the Municipal Administration was the appointment of Mr. Siebecke as Oberbürgermeister.

The first attempt of the anti-fascistic group to assist and help the Oberbürgermeister by the foundation of a State-political Board did not succeed because this Board was directed in a conservative political way by a "deutsch-national" nazi-adversary, Studienassessor Sangmeister, whose leadership was not fit for the problems of this time. Therefore the Oberbürgermeister dissolved this first Board.

Afterwards, ten representatives of the democratic anti-fascistic population of this town and also former social-democratic and communistic representatives of the iabourers asked teacher Mütze to offer the assistance and collaboration of these anti-fascistic groups to the Oberbürgermeister for the purpose of re-establishment. The Oberbürgermeister agreed to this offer and appointed Mr. Mütze his State-political Referent whose task was to found a State-political Board with several members of the political groups he represented and who chiefly had to work with the well planned reorganization of the different lines of admini- stration of communities and State and the re-establishment of trade and industry in this town, especially to remove all national-socialists.

A Board of twenty persons was founded, but it was not able to work and too nurnerous to be agreed to by Military Government. The chief work of this Board was a democratic, free and secret election of five representatives amongst its members who were acknowledged as State-political Board of this town after having been checked by CIC of Military Government.

The following persons were reported as members of the State-political Board to Military

Government on May 24th 1945:

1) Theodor Abel, gardener, 12 Kirchhainer Weg

2) Hermann Bauer, owner of print, 19 Deutschhausstr.

3) Ludwig Mütze, teacher, 19 Orleansstr.

4) Ludwig Peter, electro-fitter, 18 Marktgasse

5) Roppel, book-seller, Rotenberg

6) Robert Treut, Studiendirektor off duty, 7 Im Gefälle.

There were appointed as their representatives:

la) Robert Peil, electro-master, 64 Ockershäuser Allee

2a) Gottlieb Pfeil, whole-sale-merchant, 30 Deutschhausstr.

3a) Bruno Tilgner, Schulrat, off duty, 5 Werderstr.

4a) Peter Mengel, levelling inspector, 7 Lothringer Str.

5a) Otto Dula, merchant, 19 Wettergasse.

 

II

According to the party-groups of the German Commonwealth of 1932, there belonged

5) and 5a) to the liberal-citizen direction (Dr. Stresemann)

2), 2a), 3), 4a) and 6) to the German-democratic Party, DDP (Dr. Friedrich Naumann)

4) and 3a) to the social-democratic Party of Germany SPD (Ebert, Scheidemann)

1) and la) to the communistic Party of Germany KPD (Thaelmann).

The different party-politic origin of these persons did not prevent any collaboration up to now, not was it disturbed by this fact. - But the six members of the Board became a unitary and harmonic working community in the course of their collaboration.

The common effort and the unitary aim of the Board is to eliminate nazism, milltarism and reactionary nationalism from the further development of further polltical life.

By this fact the Marburg State-political Board differs from similar Boards of the different representatives of the Parties in the time of the German Commonwealth.

 

III

During the time of the Board's three months' activity changes in the membership were only due to necessities arising from private business or professional facts.

Thus, Mr. Hermann Bauer withdraw and was replaced by Mr. Gottlieb Pfeil. Mr. Bauer is now the representative of Mr. Pfeil. [41] The same change was made between Mr. Roppel and Mr. Dula. Mr. Tilgner retired es a representative as he was appointed Schulrat at Biedenkopf.

Mr. Robert Treut replaces now Mr. Ludwig Mütze[42] who was made Schulrat for the country-district administration of schools by Military Government. Mr. Robert Treut was proposed unanimously by the Board to the Oberbürgermeister who appointed him representative State-political Referent on June 15th 1945.

 

IV

Military Government did not hinder the Board in fulfilling his tasks. In the contrary, there

is an ever growing confidential relation between the Board and the Military Government. In order to guarantee its ordinary work and a satisfying collaboration with the Military Government the Board needs the complete confidence of Military Government, which confidence grants also a certain protection to its members against those people to whom the Board makes political objections and who do not apply to the Board but directly to Military Government to obtain confidence, to stay in their positions and to get a job.

The State-political Board is at the disposal of Military Government for judging of applicants for positions and officials and employees of administration, trade and industry in this town, and it fulfills its task with all his forces and as well as possible as it has the same aim: to strike out finally nazism and militarism from German life.

But the Board tries, too, to save experts of valuable character for the reestablishment if they only formally and nominally belonged to the NSDAP. The Board supports only persons who are known as real anti-fascists or who can bring undoubtful evidence for their political point of view.

For this part of its task - the checking function - that shall avoid unjust hardnesses, the Board asks the Military Government to grant it kindly more understanding and more concessions.

Otherwise the State-political Board runs the risk to lose the esteem of the public opinion, a fact that would be very disfavourable for the tone in this town.

 

V

The relation between the State-political Board and the Oberbürgermeister is founded on a firm mutual confidence. At first the Oberbürgermeister seemed to think the Board's criticism of his selection of personnel as a destructive opposition, and he needed a certain time to be convinced of the Board's good will and his uninterrupted aiming for positive and democratic collaboration. Blut after a certain time, he agreed to the Boards right of taking part in the administration of our town. But now, the Board and the Oberbürgermeister collaborate closely and confidentially. - Mostly the Oberbürgermeister takes part personally in the meetings of the Board.

 

VI

During the last weeks the work of the Board became so comprehensive that time and force of its members was nearly not sufficient and that the overgiving of part of its tasks to a special Board of this town that was elected by the Board was necessary.

The questions of feeding, housing, transporting and traffic, the want of coal and timbern, the lacking of work-men and specialists, the growing scarcity of money of many widows and people living from their pensions, the problems of school, education and press, the needs of existence of many soldiers returning from prisoner of war-camps and of many men who were wounded in the war are dealt with by the Board in long meetings and are thought of by its members in the sleepless nights.[43]

More and more, the population of this town thinks the state-political Board to be a representative of their interests and a help in their need. The number of applicants is increasing daily. And if the Board has only to give a good advice or any explanation instead of helping directly, if it asks people to be patient and confident, it strengthens the hope in future and the willing to life of many a desperate or resigned man. With this quiet psychological and valuable work the Board is also assisting in rebuilding positively a new and democratic Germany where the idea of Weimar will give the right direction to the German people for all time.


 

 

Anmerkungen:

[40]  Bericht des Staatspolitischen Ausschusses an Leutnant Thomas A. Brown vom 16. 8. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 9.

[41]  Enttäuschung darüber war auch ein Grund für Bauers Rückzug aus dem SPA. Er meinte, seine bisherige Arbeit sei meist vergeblich und gab an, er wolle sich ganz dem Aufbau einer demokratischen Presse widmen. BAUER an Mütze, undatiert (Aug. 1945), Bauerpapiere.

[42]  Auch Mütze stand der politischen Arbeit mittlerweile skeptisch gegenüber. Nach seinem Ausscheiden schrieb er an den Oberbürgermeister, er wünsche ihm "starke Nerven und Zukunftsglauben im Kampfe gegen die Giftmischer, die leider ungehindert im Dunkeln ihre teuflische Arbeit zu verrichten vermögen." MÜTZE an Siebecke, 19. 10. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.

[43] Diese Passage wurde auch als Artikel in Bauers "Marburger Presse" veröffentlicht. Vgl. Marburger Presse Nr. 4, 25. 9.1945, S. 3. 

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Antrag des Staatspolitischen Ausschusses auf seine Einsetzung als Stadtrat, undatiert (August 1945)

Antrag des Staatspolitischen Ausschusses auf seine Einsetzung als Stadtrat, undatiert (August 1945) [44] 

Obwohl der Staatspolitische Ausschuß von der Amerikanischen Militär-Regierung offiziell als Glied der Marburger kommunalen Verwaltung anerkannt ist, wird er von Herrn Oberbürgermeister Siebecke negiert, ja geradezu brüskiert; zumindest glaubt der Herr Oberbürgermeister den Ausschuß mit einem Lächeln abtun zu können: "Der Ausschuß mag da oben tagen, doch anerkannt ist er nicht; bestimmen werde ich, nur ich allein!"

Diese Dissonanz im Marburger Stadtregiment gilt es zu bereinigen, und zwar schnellstens, ehe daraus weiterer Schaden für die Stadt erwächst. Wir fordern daher einen umgehenden klaren Einbau des Ausschusses in die Stadtverwaltung und eine eindeutige Festlegung der Rechte und Pflichten des Ausschusses. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Führerprinzips kann die Stadtverwaltung jetzt u. E. nur nach dem demokratischen System ausgerichtet werden, wie sie vor 1933 bestand, eingeschränkt nur dadurch, daß über der städt. Selbstverwaltung die Besatzungsbehörde steht, zum anderen dadurch, daß ein Stadtverord netenkollegium vorerst nicht gebildet werden kann. Der Stadtrat kann also nicht aus dem Stadtverordnetenkollegium hervorgehen, da dessen öffentliche Wahl noch nicht möglich ist; der Stadtrat kann also nur gebildet werden aus Bürglern, die getragen werden vom Vertrauen der Marburger antinationalsozialistischen Bevölkerungskreise. Dieses Vertrauen können die 5 Mitglieder des Staatspolitischen Ausschusses für sich in Anspruch nehmen, und sie folgern hieraus das Recht, als Stadtrat anerkannt zu werden und demgemäß

             mit den Rechten und Pflichten des Stadtrats

nach der vor 1933 bestehenden Gemeindeordnung

belehnt und belastet zu werden.

Begründung: Die Mitglieder des Staatspolitischen Ausschusses waren ehrlich bemüht, dem Oberbürgermeister beratend zur Seite zu treten. Sie haben in ihren Beratungen be- wiesen, daß sie bereit und fähig sind, alle persönlichen Belange hintan zu stellen und nur dem Allgemeininteresse zu dienen, obwohl sie schmerzlich empfinden mußten, daß sie fast nur mit negativen Aufgaben  - Abbau nationalsozialistischer Überreste, Ausmerzung von untragbaren Personen usw.  -  betraut waren, während kaum eine Aufbau-Aufgabe in den Ausschuß hineingetragen wurde.[45]  Und dann mußten wir sogar in wiederholten Fällen erfahren, daß unsere aus ebenso sachlichen wie antinationalsozialistischen Erwägungen er- wachsenen Entschlüsse einfach sabotiert wurden [      ... 1; Beamte, deren Untragbarkeit wir feststellten, sitzen heute noch im Amt, während gleichzeitig tüchtige Antinationalsozialisten, die sich um Stellen bewarben, seitens des Oberbürgermeisters glatt abgewiesen wurden. Nach außen hin ist nichts sichtbar von einem klaren antinationalsozialistischen Kurs, wie ihn die Verhältnisse dringend fordern, und die Öffentlichkeit - in der die alten Nationalsozialisten immer frecher ihr Haupt erheben! -macht uns mit verantwortlich für Mißgriffe der Stadtverwaltung (z. B. Amtsbetreuung von Nationalsozialisten!), obwohl wir hierbei in keinerWeise beteiligt waren und sogar mit unseren Protesten nicht durchdringen konnten. Hiernach gibt es nur 2 Möglichkeiten: Entweder wir lösen unseren Ausschuß auf, kehren zu unserer häuslichen Arbeit zurück und überlassen das Stadtregiment ä la Führerprinzip der Kritik der Straße oder wir lassen uns formgerecht einschalten in das Stadtregiment nach den Gesetzen der Demokratie. Unser Verantwortungsbewußtsein läßt nur den letzteren Weg zu, weshalb wir ersuchen, uns als Stadtrat in das Stadtregiment einzubauen. Wird diese Forderung abgelehnt, so bleibt uns allerdings nichts anderes übrig, als den Ausschuß aufzulösen und aus jeglicher Verantwortung auszuscheiden. Wird sie angenommen, so sind wir gewillt, mit aller Kraft dafür einzutreten für einen Wiederaufbau unserer lieben Stadt Marburg.

 


 

 

 

Anmerkungen:

[44] Antrag des Staatspolitischen Ausschusses auf Einsetzung als Stadtrat, undatiert (August 1945). Bauer-Papiere. Es handelt sich bei diesem Dokument um einen nicht unterzeichneten, maschinengeschriebenen Durchschlag. Bauer selbst hat diesen Antrag nach eigenen Aussagen entworfen. Das gleiche Anliegen brachte er auch in einer Ausschußsitzung am 21. 8. 1945 vor. Vgl. Sitzungsprotokoll vom 21. 8. 1945, SPA- Akten, Magistratsarchiv Marburg. Vgl. auch GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 135. 

[45] Dies sieht der Verfasser recht einseitig. Zu den langfristig-konstruktiven Aufgaben des Ausschusses vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 8. 

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Schreiben Hermann Bauers an den für Informationen zuständigen Kontrolloffizier der Militärregierung, Samson B. Knoll, vom 10. 8. 1945

Schreiben Hermann Bauers an den für Informationen zuständigen Kontrolloffizier der Militärregierung, Samson B. Knoll, vom 10. 8. 1945[46]

[... ] Vorangestellt sei die Anerkennung: Ich habe nur wenige Amerikaner persönlich kennengelernt - ich habe sie zugleich schätzen gelernt als Menschen von Takt und Wissen. Zugleich hatte ich in diesen Wochen die große Freude zu erfahren, wie wertvolle deutsche Menschen es doch auch gibt: in vielfachen Ausschußberatungen durfte ich erleben, wie selbstlos sich Männer, die sich freiwillig bereit fanden, Verantwortung zu übernehmen, für deutsche Interessen einsetzten, und zwar in einem Sinn, der mit Ihren Belangen durchaus parallel läuft: im Kampf für Ordnung und Sauberkeit, gegen Nationalsozialismus und deutschen Militarismus. Doch das Erschütternde dabei war, daß es zwischen diesen ehrlichen deutschen Antinationalsozialisten und Ihren Instanzen nicht zur rechten Zusammenarbeit gekommen ist! Die Lockerung des Fraternisierungsverbotes[47]  kam nur kleinen Mädchen zugute; wir, die wir uns Ihnen innerlich als Bundesgenossen verbunden fühlten, genießen heute noch das gleiche Mißtrauen wie zu Anfang der Besetzung! Das ist für mich die große Enttäuschung der vergangenen 4 1/2 Monate! Man war von offiziellen Stellen Ihrer Seite nur immer bemüht, uns zur Anerkennung der Kollektivschuld zu bewegen, man setzte uns z. B. in der Presse ostentativ das Gutachten eines "der größten lebenden Seelenforscher"[48] vor, daß man "nicht jenen beliebten gesinnungsmäßigen Unterschied zwischen Nazi und Gegnern des Regimes machen darf", da es sich zeige, wie auch bei den Nazi- Gegnern "hinter all der Anständigkeit die ausgesprochene Nazi-Psychologie lebendig ist! Nein, sehr verehrter Herr Noll,[49] so hatten wir uns Ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus nicht vorgestellt! Die Kollektivschuld: Auch wir Gegner des Nationalsozialismus gehören dem Volk an, das so schwere Schuld auf sich geladen hat, und wir wollen uns keineswegs davor drücken, mit unserm Volk das Unrecht zu sühnen, auch wenn wir glauben, unsere menschenmögliche Pflicht im Kampf gegen den Wahnsinn des Dritten Reiches erfüllt zu haben. Wir fühlen weiter die Pflicht zu diesem Kampf, ja wir.hatten gehofft, ihn erst recht aufnehmen zu können, wenn die Naziführung gestürzt und der Irrsinn ihres Regimes offenkundig geworden sei - doch in dieser Hoffnung wurden wir durch die Praktiken Ihrer Instanzen schwer enttäuscht. Wir hatten gewünscht, bei der Ausmerzung der Nationalsozialisten aus dem Verwaltungs- und Wirtschaftsleben zu Rate gezogen zu werden, da nur so schnelle und gründliche Arbeit möglich war, doch selbstherrlich ging man von amerikanischer Seite vor und uns deutschen Hitier-Gegnern blieb nur die undankbare Aufgabe, Fehlentscheidungen unter Umständen zu berichtigen. Wie man z. B. unsern Genossen Eckel[50]  von seinem Posten als Leiter der Stadtwerke - ich lasse die Frage, ob er da am rechten Platz war, unerörtert - entfernte oder wie man heute eine Deputation von Antinazi-Finanzamtsbeamten seitens einer Stelle der Militärregierung abwies, das kann unsere Tatkraft wahrlich nicht fördern, sondern treibt zum Resignieren. Da haben die Menschen, die in der Vergangenheit ohne inneren Widerstand Nutznießer des Dritten Reiches waren und die jetzt ebenso verantwortungslos in den Tag hin-einleben, es weiß Gott leichter. Weshalb erschwert man uns die Arbeit so, die wir uns einsetzen wollen im Kampf gegen die Überreste des Nationalsozialismus, im Kampf für ein anständiges Deutschland, wie Sie es wünschen? Daraus, daß die vielerlei Enttäuschungen uns bisher nicht davon abbrachten, unsere Energie weiter für den Kampf gegen die Irrlehren in unserm Volk einzusetzen, spricht, wie ernst wir es mit unseren Pflichten nehmen. Und nun frage ich Sie: Sollte es denn nicht möglich sein, zu einer fruchtbringenden Zusammenarbeit zu kommen? Die Bereinigung des Beamtenapparates, die Säuberung der Wirtschaft, überhaupt die ganze Neuordnung unserer Verhältnisse - glauben Sie nicht, daß diese Ziele viel schneller und gründlicher erreicht werden, wenn man auf die Basis vertrauensvoller Zusammenarbeit tritt? Glauben Sie mir, ich verfolge keinerlei egoistische Ziele, wenn ich so um Vertrauen werbe; das eigene Ich hat in unserer großen Not ganz zurückzutreten. Ich rede auch gar nicht für mich, sondern für den Kreis der Männer, die ich in diesen Wochen als ehrliche aufrechte Kämpfer in der Bewährung sah, Männer, die in Lehrer Mütze/Dr. Treut ihre Führer, im Staatspolitischen Aus- schuß ihre Vertretung sehen. Helfen Sie bitte mit, daß das Vertrauen der Militär-Regierung zu diesem Kreis wächst, dann werde ich auf Ihre Frage, wie man über die amerikanische Besatzung denkt, freudig antworten: Wir sind den Amerikanern herzlich dankbar! Einstweilen aber muß ich sagen: Vieles hat mich bitter enttäuscht!

 


 

Anmerkungen:

[46]  Schreiben H. BAUERS an Samson B. Knoll vom 10. 8. 1945 ("Bauerbericht"). Bauerpapiere. Knoll war amerikanischer Informationskontrollbeamter in Marburg.

[47] Zum Fraternisierungsverbot vgl. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 72 f.

[48] Hermann BAUER kann sich heute nicht mehr erinnern, wer hier gemeint ist.

[49] BAUER schrieb den Namen "Knoll" nach der Aussprache fälschlich "Noll".  [l] August Eckel (gab. 1896), Sozialdemokrat, hatte nach dem Krieg zunächst die Leitung der Stadtwerke übernommen, wurde dann aber wegen angeblicher »Unfähigkeit" von der Militärregierung entlassen. Der Staatspolitische Ausschuß billigte diese Maßnahme nicht. Vgl. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 99, S. 132.  Später wurde Eckel als Nachfolger Leo v. Boxbergers Landrat im Landkreis Marburg. Er bekleidete dieses Amt von Oktober 1945 bis Juni 1966.

[50] August Eckel (gab. 1896), Sozialdemokrat, hatte nach dem Krieg zunächst die Leitung der Stadtwerke übernommen, wurde dann aber wegen angeblicher »Unfähigkeit" von der Militärregierung entlassen. Der Staatspolitische Ausschuß billigte diese Maßnahme nicht. Vgl. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 99, S. 132.  Später wurde Eckel als Nachfolger Leo v. Boxbergers Landrat im Landkreis Marburg. Er bekleidete dieses Amt von Oktober 1945 bis Juni 1966.

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Gründe des Anwachsens der Abneigung gegen die amerikanische Militärregierung (streng gehiem), 7. November 1945. (Bericht des Staatspolitischen Auschusses an den Oberbürgermeister der Stadt Marbrug, Eugen Siebecke)

Gründe des Anwachsens der Abneigung gegen die amerikanische Militärregierung (streng geheim), 7. Novemder 1945.(Bericht des Staatspolitischen Auschusses an den Oberbürgermeister der Stadt Marburg, Eugen Siebecke)

Marburg/L., the 7-11-1945 

 

Reasons on account of which the disinclination to the

 

American Milltary Government increases[51]

The American occupation force has disappointed more and more in our town also the anti-fascist and democratical population.

Therefore one can watch a considerable disappearing of the population's confidence in the American occupation-army inwhich onewanted to see the democratical orderlyfactor which one was longing for. The modest hopes of the Anti-Nazis for a German Democracy are troubled and their intense longing for right and lawful conditions seem to be in vain. One marks the policy of the Americans as not being upright. But above all one watches a contradiction between democratical theory and practice.


The right, justice, humanity, the love and reconciliation which contain the public speeches of the American President is often missed by the friends of the Americans in the hard laws, measures and orders of the occupation-force after its entire victory over the Nazi forces. -


But above all put out of humour the continual personal unsteadiness of the leading men who were elected, acknowledged and because of their political reliability thoroughly examined by the Military Government.

This unsteadiness takes place because of the always repeated overhaulings which mostly lean upon dark denunciations of not to controi elements. -

So believe these man not to possess any more the full confidence of the Military Govern- ment in their faithful collaboration, although they work with the Milltary Government and for ft since months conscientiously and untiringly in order to re-build a new proper and democratical life. Here are some facts, appearances and occur-ences which have led to the regrettable consequences.

1). The management of the question of the prisoners-of war by the American military authorities disappointed specially the anti-fascist circles, as they saw return Nazis whereas they knew their relatives still in the prisoner-of war camp. All Anti-fascists ask daily why does one keep our innocent sons, brothers and fathers in the camp and perhaps one obliges them for years of compulsary labour, whilst real Nazis return home and can live here a peaceful life.

2.) There is ruling a common insecurity on the streets caused by the American soldiers and displaced persons. Rapacity sudden attacks are in Marburg the order of the day. The protocols of Marburg's police show enough prooves till today. A short time ago Dr. Happel, Fankfurterstreet 38 has been attacked by two American soldiers who plundered him, the 5th of November a police assistant has been stroken down at the summer swimming pool here by ten American soldiers. The 5th November American soldiers broke the window-glasses in the shop of Scharf, Wettergasse and Hoffmann, Steinweg. And glass is missing for the bombed windows of human dwellings.

3.) The news of numerous sudden attacks by displaced persons in American uniforms and with American weapons on lonely farms and mills affect strongly the confidence in the abillty of the occupation-force, to maintenance the peace and order in the country and to exterminate such gangs of robbers.

On the other hand one hears from the English occupation territory about the sovere measures of the Englishs against such cut-throats. The country-population has specially to complain about the way how the American soldiers carry on the hunting, in driving unfeelingly with their motor-cars over the fresh sowing of winter-corn and blinding in the night with headlights the dear and shooting it. -

lt is the same with the unwarranted fishing in all waters, which happens mostly by explosive means which are forbidden, and sowith dies also the entire fry and is endangered the entire breeding of fishes.

4.) For the measures of the milltary confiscation of apartments one often has no comprehension. lt is known that one confiscated the house of a blind teacher for blind persons in the Wilhelm-Roserstreet, although he always has been a Nazi-adversary. Then one con- fiscated in the midst of Nazi-houses the house of a certain Mr. Schneider [52]  in the Marbach, who is an Anti-fascist.

There appear also to the American army belonging persons and want to have apartments or rooms for doubtful female persons without having an official American assignment for such rooms. So, for example one has forced the placing under cover of a certain Mrs. Wilhelmi and daughter. Houses confiscated for weeks are empty or occupied only scarcely. In the houses which had to be given to coloured troops, for example Im Gefälle, reside in the nights white weriches, who are partly foreign in this region, and they steal everything they can.

The inside of these houses is completely distroyed and enormous dirty. But it is mostly conoerning poor people who have built their small houses with their money hard earned. Also the products of the gardens are plundered. And when the coloured troops change, foreign persons Im Gefälle for the most part Letten run into the houses in order to steal there what perhaps remained there for the poor owners. Every troop which leaves takes along furniture, stoffed chairs, chairs and household furniture, and this all after the war has finished already a long time ago.

5.) So well and feelingly some American military motor-cars drive, so are on the other hand many complains about harsh driving specially of the big American motor-vans which are driven by coloured drivers. Almost daily one brings ran over children or women in the hospital. The civilian motor-cars are rammed on the streets and pressed in the ditch. So have been damaged very much the automobils of two members of the Political Committee by American autos. It is concerning Mr. Theo Abel and Gottlieb Pfeil.

Also the traffic-orders of the town-police are not always observed by the American drivers.

6.) A special disturbance is carried in the population by certain methods of the Nazism- destruction. The Anti-fascist part of the population has the true intention to follow the American orders and to connect them with their own activity against the Nazis. But the population refuses the old Gestapo-methods, which have been used by some investigators of the American Military Government, specially in the past time, against respectable men. -

The entire system of the investigators seems extremely immoral, particularly the responsible offices and personallties try in the most fair and consistent way to earry on the Nazism-destruction. Undoubtedly they have the opinion that only a look on the Fragebogen is not suffielent enough to determine over the future of a family, but that one has to act in a severe but just way, purposefully but also humanly.

Among the persons connected with the party destinyly or by compulsion are valuable persons, who refused the entire Nazi-ideology and were adversaries of the Nazi-methods.

During the war station Luxemburg often has emphasied it. To seduce such persons by investigators and to throw suspicion on thern does not find the agreement of just thinking Anti-fascists. This procedure can only arise from hate-feelings or has personnel motives and must intensify the radicalism at the left and specially at the right side. Concrete cases of this kind in the latest time are the dismissal of the Civilian Pool manager Schreyer, of the leader of the Wirtschaftsamt Laucht and of the Studienrat Zuschke.[53] The use of such investigators and of other denouncers by the American milltary authority one compares with the measures of the English occupation force. The Englishs, so one teils here cause to set a surety of 500.- RM f rom everybody who denounces. This caution-money becomes forfeited when the denunciation proves to be groundless. Therein is a high moral. -

This is an education-method for responsibility and cleanliness which is just right for the Germans, which often see Democracy therein that one person can be the devil of the other one. Every thought is far away from us to make petty causes of the German guilt, of Hitler's and his followers guilt, or even to try to wipe out this guilt. Every respectful democrat ad- mits the almost not to expiate guilt of this crinne at the German peopfe and at the human race, and understands also that an occupation force cannot make friendship with the Ger- man people in half a year or orte year. We have to expiate and we will expiate. But we want also to have hope for a real Democracy. We want to be supported by a strong hand, and this we see in Marburg in the American occupation.

We do not want, that the other part of the population cries grining sneeringly: There you see the democrats from America! What did they now bring you? -

 

 


 

Anmerkungen:

[51]  Bericht des Staatspolitischen Ausschusses an den Oberbürgermeister vom 7. 11. 1945. SPA-Akten, Magi- stratsarchiv Marburg. Gimbel zitiert diesen Bericht in einer deutschen Fassung, die im Magistratsarchiv nicht mehr aufzufinden ist: "Gründe des Anwachsens der Abneigung gegen die amerikanische Militärregierung (streng geheim), 7. November 1945" (GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 108). Aus der Übersetzung ins Englische geht nicht mehr hervor, daß es sich um einen Geheimbericht handelte.

[52]  Heinrich Schneider aus Marbach, Sozialdemokrat, wurde Vorsitzender der SPD des Landeskreises Marburg. Später war er hessischer Innenminister (1955-1969).

[53]  Wirtschaftsamtsleiter Laucht wurde von der Militärregierung entlassen, da er angeblich Nationalsozialisten wirtschaftlich begünstigt hatte. (Vgl. GEIGER, Angestellter des Wirtschaftsamtes, an SPA, 30. 10. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg).  Über die Entlassung Studienrat Zuschkes ließ sich Genaues nicht feststellen.

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Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 10. 9. 1945

Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 10. 9. 1945 [54]

Staatspolitischer Ausschuß


Marburg-Lahn, den 10. September 1945


Betr.: Politische Lage in Marburg

In Marburg sind zur Zeit noch keine politischen Parteien im Leben und an der Arbeit. Es sind wohl Bestrebungen erkennbar, die auf die Gründung politischer Parteien abzielen, insbesondere die Ansätze zur Bildung einer einheitlichen Arbeiterpartei, die die frühere kommunistische und sozialdemokratische Partei umfassen. Ansätze zur Gründung einer demokratischen Partei sind dagegen noch nicht in Erscheinung getreten. Es sieht so aus, als ob in der früheren bürgerlichen Linken Erwägungen im Gange seien, die von der alten demokratischen Partei abrücken und zur Mitarbeit in einer großen antifaschistischen und antimilitaristischen Front bereit sind. Der rechte Flügel der alten demokratischen Partei, verbunden mit den Liberalen Stresemannscher Richtung werden wohl eine neue demokratische Partei ins Leben rufen, die aber Gefahr läuft, Sammelbecken von allen reaktionären Bestrebungen zu werden.


In einer christlich-demokratischen Partei könnten sich katholische und protestantische, überwiegend kirchlich gesinnte Wähler zusammenschließen.


Aus den umlaufenden Gerüchten und besonders aus den Untergrund-Strömungen gegen die bestehenden Behörden und ihre neuen Träger ist auf eine starke nationalsozialistische und militaristisch-reaktionäre (deutschnationale), leider unkontrollierbare Arbeit zu schließen.


Deutschnationale Gegner des Nationalsozialismus finden bei amerikanischen Dienststellen, die deutsche innerpolitische Verhältnisse nicht zu durchschauen vermögen, bedauerlicherweise zu oft Gehör in ihrer geheimen Wühlarbeit gegen die Führer der antifaschistischen Front.


In dem im April in Marburg ins Leben getretenen staatspolitischen Ausschuß haben sich führende Persönlichkeiten der ausgesprochen antifaschistischen und antimilitaristischen Bevölkerungsschichten, die mit den deutschnationa[en und reaktionären Kreisen nicht sympathisieren, zusammengeschlossen, um vor allem dem Oberbürgermeister der Stadt die Verbindung mit und den Rückhalt an der Bevölkerung zu sichern.


Der staatspolitischeAusschuß arbeitet loyal mit der Militär-Regierung und allen   deutschen Behörden zusammen, um das öffentliche Leben und besonders alle Verwaltungszweige von aktiven und belasteten Nazis zu säubern und die Entwicklung zu einer friedlichen demokratischen Lebensauffassung und Lebensgrundlage anbahnen zu helfen.


Der staatspolitische Ausschuß wird seine Aufgabe mit dem Tage als erfüllt ansehen, an dem neue politische Parteien auf Grund freier und geheimer Wahlen die Vertreter unserer Stadtbevölkerung mit demokratischen Rechten und Befugnissen betraut haben.

 


 

Anmerkung:

[54] Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 10. 9. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.

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Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 11.10.1945
Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 11.10.1945 [55]  

Staatspolitischer Ausschuß

Marburg-Lahn, den 11. Oktober 1945 


Bericht über die politische Lage in Marburg

 I.


In Zusammenhang mit der bevorstehenden Reinigung des Bauernstandes von aktiven Nazis wird in demokratischen Kreisen das Eindringen von östlichen Landbewerbern als Treuhänder oder Käufer befürchtet. Zahlreiche ostelbische Großgrundbesitzer, zum Teil aus dem preußischen Landadel stammend, werden in Massen Bauerngüter zu erwerben suchen und ihre deutschnationalen und militaristischen Traditionen in unsere hessische Bauernschaft hineintragen. Daher sollten für landwirtschaftliche Treuhänder und für Käufer von Nazi- Bauernstellen möglichst nur hessische Bauern zugelassen werden. Es ist auffallend, daß alle Persönlichkeiten östlich der Elbe, die sich hier um irgend eine Stelle oder einen Erwerb bemühen, mit der Nazipartei niemals etwas gemein gehabt haben wollen.

II.


In Arbeiterkreisen wird die Degradierung der aktiven Nazis, die der bürgerlichen und intelligenten Bevölkerungsschicht angehörten, zu einfachen Arbeitern als politische, soziale und wirtschaftliche Belastung der Arbeiterklasse empfunden. Es wird eine politische Zukunftsgefahr darin gesehen, daß aus bisher höher gelagerten Berufsschichten zu den Arbeitermassen unzufriedene Elemente stoßen, die aber mit ihren bisherigen Lebenskreisen verwachsen bleiben. Sie werden vermöge ihrer besseren geistigen Schulung allmählich einen sozial-revolutionären Einfluß auf die mit ihrer Lebenslage zufriedenen Arbeiter ausüben und können so Unruheherde bilden.

Da die Wertung der Arbeit jeder Art in Europa und besonders in Deutschland nicht amerikanisch-demokratisch, sondern europäisch und besonders bei uns standesgebunden ist, empfinden die Arbeiter-Kreise die Degradierung der aktiven Nazis bürgerlicher und intelligenter Berufszweige als Belastung ihrer eigenen Berufstätigkeit. Die Naziarbeiter werden innerhalb der Arbeiterschaft hemmend auf die Arbeitsleistung einwirken und diese herabdrücken. Eine völlige Proletarisierung der Nazi-Arbeiter wird nicht erreicht werden, da sie mit ihren Familien bürgerlichen Standes in Verbindung bleiben und die Einflüsse dieser verärgerten bürgerlichen Kreise nicht ausgeschaltet werden können.

Aus der eigenen Unzufriedenheit mit ihrer erzwungenen neuen sozialen Lage werden sie ihre Mißstimmung in die gesunden Arbeiterschichten hineinzutragen versuchen und deren Radikalisierung fördern.

Diese große Gefahr, die aus der Entnazifizierung des gesamten öffentlichen Lebens unserer Stadt zu kommen droht, könnte vermieden werden, wenn die wirtschaftlich zu bestrafenden Nazis in ihren bisherigen Berufszweigen verbleiben, bzw. über das Arbeitsamt darin erneut ihren Arbeitseinsatz finden könnten. Ihr Einkommen müßte dann auf einen Lohnsatz reduziert werden und der Unterschied zwischen ihren früheren Gehältern oder Geschäftseinkünften und ihren heutigen Löhnen könnte einem Sonderkonto zugeleitet werden.

III.


In einem erweiterten Kreise der demokratischen Politiker der Stadt Marburg erörterte Landrat a. D. Dr. Bleek[56] die Notwendigkeit der Gründung einer demokratischen Partei. - Herr Professor Busemann führte aus, daß der Begriff Demokratie heute nicht als allein tragfähig für die Bewältigung der Zeitaufgaben angesehen werden könnte. Er betonte die vordringlichen Erziehungsaufgaben an der politisch und moralisch irregeführten Jugend. - Herr Professor Herfahrdt  [57] empfahl besonders für die bevorstehenden Gemeindewahlen eine überparteiliche Plattform, da eine parteimäßige politische Vorbereitung der Gemeindewahlen ihm noch verfrüht erscheine. Auch er stellt die Erziehung zur Demokratie in den Vordergrund, während Herr Dula in Anerkennung der derzeitigen Bedürfnisse der Bevölkerung Marburgs die Gründung einer demokratischen Partei schon deshalb für notwendig hält, um die Gefahren des Radikalismus von links und von rechts abwehren zu können. - Herr Treut spricht für die gemeinsame politische Front aller Antinazigruppen, erklärt aber, daß nach der einmal angemeldeten Gründung der kommunistischen und der beabsichtigten Neubelebung der sozialdemokratischen Partei die Gründung einer selbständigen demokratischen Partei eine notwendige Folgerung wäre. Nach vollzogener Formierung dieser drei Parteien müßte aber sofort eine Arbeitsgemeinschaft derselben und eine Volksfront gegen die nazistischen und nationalistischen Gefahren von rechts gebildet werden. - Die Gründung einer demokratischen Partei kommt, wie Herr Lehrer Römer[58] ausführt, auch den politischen Bedürfnissen des Landkreises entgegen, in dem sich bereits unkontrollierbare politische Vereinigungen, wie eine "antifaschistische Vereinigung von Kirchhain", regen.

Die politische Jugend von Marburg hat auch einen Sprecher in dem demokratischen Kreise gehabt, der die allgemeine politische Passivität der Jugend hervorhebt und auf eine Grundstimmung in der Jugend hinweist, die jede autoritäre Partei und jede Art von Diktatur von links oder von rechts aufs schärfste ablehnt und in der wohl eine neue demokratische oder auch christlich-demokratische Partei Anhänger finden könne.

Dem Programm der Berliner christlichen Union des früheren Reichsministers Dr. Hermes[59]  wird zwar beigestimmt, aber bezweifelt, daß die katholische Kirche als solche auf ihren Einfluß in der Politik verzichten wird. Im Schatten der christlich-demokratischen Partei sieht man vielmehr das alte Zentrum wieder auftauchen, das besonders auf dem Gebiete der Kulturpolitik (Schule und Jugenderziehung) die alten kirchlichen Forderungen anmelden wird. (Fuldaer Bischofskonferenz).

Auf Umfrage in dem versammelten demokratischen Kreise ergibt sich die für die Gründung einer demokratischen Partei notwendige Mitgliederzahl.

Die Grundstimmung des versammelten Kreises alter Demokraten war die, daß unser Volk mit dem an sich begrüßenswerten Geschenk freier demokratischer Wahlen auch im engen Rahmen der Stadt- und Gemeindewahlen noch nicht zu politisch ernstzunehmenden Ergebnissen kommen werde.

IV.


Der staatspolitische Ausschuß bei dem Herrn Landrat [60] ist angeblich gebildet worden, bis auf den heutigen Tag ist er aber noch nicht in Tätigkeit getreten. Die Teilnahme eines katholischen Geistlichen, des Pfarrers Hild, wird deshalb beanstandet, weil sich Geistliche grundsätzlich aus der Tagespolitik fernhalten sollen. In dem neuen demokratischen Staate Groß-Hessen darf die Kirche nicht wieder, wie es in früheren Zeiten im deutschen Reiche geschehen ist, in den politischen Tageskampf hineingezogen werden.

Der staatspolitische Ausschuß, dem von dem Herrn Gouverneur das Vertrauen der Militär-Regierung ausgesprochen worden ist, hat es bitter empfunden, daß unverantwortliche politische Giftmischer und Denunzianten bei der amerikanischen Regierung noch Zutritt haben. In Obereinstimmung mit dem Herrn Oberbürgermeister ist der staatspolltische Ausschuß einstimmig der Meinung, daß solchen Verleumdern und Gerüchtemachern, die vor amerikanischen Dienststellen die deutschen demokratischen Aktivisten und Mitarbeiter der amerikanischen Militär-Regierung verdächtigen und andererseits in der Bevölkerung die amerikanische Regierung verächtlich machen, endlich das Handwerk gelegt werden muß.


Einer der schlimmsten dieser politischen Hyänen ist der Studienassessor a. D. Sangmeister, dessen ganze politische Vergangenheit nur als die eines geschwätzigen politischen Intriganten bekannt ist. Seiner bedient sich aber die alte reaktionäre deutschnationale und militaristische Klique in Marburg, die als politische Gefahr nicht gering geachtet werden darf.


Anmerkungen:

[55] Bericht des Staatspolitischen Ausschusses zur politischen Lage in Marburg vom 11. 10. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.

[56]  Karl-Theodor Bleek (LDP) war 1946 bis 1951 Oberbürgermeister von Marburg. Später wurde er Staatssekretär im Bundesinnenministerium (1951-1957) und danach im Bundespräsidialamt (1957-1961).

[57]   In seinem Antwortbrief schlug Pfarrer Dr. RITTER, der der reformierten Universitätsgemeinde zugehörte, folgende Personen vor:  1. Otto Roppel, Buchhändler; 2. Friedrich Bunnemann, Oberstudiendirektor; 3. Heinrich Unckel, Direktor der Volksbank; 4. Otto Dula, Kaufmann; 5. Prof. Dr. Gerhard Albrecht; ferner die Professoren v. Hippel und Herfahrdt, den Apotheker Opfer, Kohlenhändler Vaupel und Metzgermeister Elmshäuser.

RITTER an den Oberbürgermeister, 22.5.1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Obwohl Roppel als "Konservativer" Mitglied des Ausschusses wurde, wehrte er sich gegen dieses Prädikat und wies darauf hin, er sei "trotz konservativ-kirchlicher Anschauungen früher Sozialist gewesen". Sitzungsprotokoll des SPA vom 26. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg.

[58] Jakob Römer, Lehrer aus Marbach, wurde der erste Vorsitzende der LDP Marburg-Land. Er war auch maßgeblich beteiligt an den Bemühungen der hessischen Lehrerschaft, nach 1945 wieder eine gemeinsame demokratische Organisation aufzubauen.

[59]  Andreas Hermes (1878-1964), Mitbegründer und Vorsitzender der CDU in Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone.

[60]  Die Militärregierung hatte vorgeschlagen, auch der Landrat des Kreises Marburg solle an den Sitzungen des Staatspolitischen Ausschusses gelegentlich teilnehmen. Da der Ausschuß sich jedoch als Teil der Verwaltung verstand und Stadt und Landkreis verschiedene Verwaltungseinheiten bildeten, drängte der Ausschuß auf Gründung eines analogen Gremiums im Landkreis. Vgl. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 132 f.

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Schreiben des Leiters der amerikanischen Zivilverwaltung, Captain Eugene Tedick, an Oberbürgermeister Siebecke zu den Befugnissen des Staatspolitischen Ausschusses vom 5. 12. 1945

Schreiben des Leiters der amerikanischen Zivilverwaltung, Captain Eugene Tedick, an Oberbürgermeister Siebecke zu den Befugnissen des Staatspolitischen Ausschusses vom 5. 12. 1945[61]  

M.G. Marburg Detachment G-39

5. Dezember 1945.


An den

Oberbürgermeister von Marburg 

 

In Zukunft wird der Staatspolitische Ausschuß nur mehr eine beratende Stellung einnehmen in allen Angelegenheiten deren sie sich annehmen.

Sie haben keine Macht irgend etwas zu tun außer Handlungen zu empfehlen in irgendwelchen Angelegenheiten, die zu ihrer Kenntnis gebracht werden.

Sie werden darauf hingewiesen, daß ihre Beschlüsse für niemanden bindend sind, außer wenn sie von der zuständigen zivilen oder militärischen Behörde gebilligt sind.


gez. Tedick Capt. Col

 

 


 

 

Anmerkung:

[61]  Schreiben Captain TEDICKS an den Oberbürgermeister vom 5. 12. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. Zum Anlaß dieses Schreibens vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 9 und DERS., Eine deutsche Stadt, S. 135 f.

 

 

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Rücktrittsschreiben des Staatspolitischen Ausschusses an Oberbürgermeister Siebecke vom 12. 12. 1945

Rücktrittsschreiben des Staatspolitischen Ausschusses an Oberbürgermeister Siebecke vom 12. 12. 1945 [62]

Staatspolitischer Ausschuß


Marburg-Lahn, den 12. Dezember 1945.


An den

Herrn Oberbürgermeister der Stadt Marburg


Der Staatspolitische Ausschuß der Stadt Marburg hat den Befehl der Militär-Regierung, nach dem Herr Treut als Vorsitzender und Mitglied des Staatspolitischen Ausschusses entlassen ist, zur Kenntnis genommen. Er hat daraufhin einstimmig beschlossen, zurückzutreten.

Herr Treut hat in der für unsere Stadt schwersten Zeit nach dem Einmarsch der amerikanischen Armee die Geschäfte des Staatspolltischen Ausschusses geführt und seine Arbeit geleitet. Er wurde dabei getragen von dem vollen Vertrauen seiner Mitarbeiter und auch der politischen Parteien. Auch von seiten der Militär-Regierung, insbesondere von den Herren Gouverneuren, ist Herrn Treut immer wieder das Vertrauen ausgesprochen worden.

Die politische Vergangenheit des Herrn Treut ist uns bekannt. Unser einmütiges Urteil über ihn ist, daß er zwar formal belastet erscheint, aber gesinnungsmäßig ein Nazihasser und ein entschiedener und aktiver Nazigegner gewesen ist. Sein Aktivismus gegen den Nationalsozialismus und seine Träger kann unter Beweis gestellt werden. Die politische Zuverlässigkeit des Herrn Treut steht für uns außer jedem Zweifel.

Die Entlassung des Herrn Treut aus formalen Gründen und auf diese Weise betrachtet der Staatspolitische Ausschuß gleichzeitig als eine Desavouierung seines eigenen politischen Urteils und seines politischen Verantwortungsbewußtseins. Das veranlaßt ihn zum Rücktritt.

 
Bunnemann  

Dula 

Gottlieb Pfeil L. Mütze

Theodor Abel [63]

 


 

Anmerkungen:

[62]  Rücktrittsschreiben des Staatspolitischen Ausschusses an den Oberbürgermeister vom 12. 12. 1945. SPA- Akten, Magistratsarchiv Marburg.

[63]  Mütze, Dula, Pfeil, Peter und Abel unterzeichneten als Mitglieder des Staatspolitischen Ausschusses, während Bunnemann wohl die Vertretung Treuts Übernommen hatte.
[63]  Mütze, Dula, Pfeil, Peter und Abel unterzeichneten als Mitglieder des Staatspolitischen Ausschusses, während Bunnemann wohl die Vertretung Treuts Übernommen hatte.
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Entnazifizierung
Entnazifizierung

 

2. Entnazifizierung

Zentrales Ziel der amerikanischen Besatzungsmacht nach ihrem Einmarsch war die gänzliche Zerschlagung des Nationalsozialismus als politischer Kraft. Durch eine konsequente Säuberung der deutschen Verwaltung und Wirtschaft sollte diese Absicht realisiert werden. Die anfängliche Radikalität dieser Maßnahme bestand in der Entlassung aller auch nur formal belasteten Personen. Die Bestimmungen der Amerikaner sahen in der ersten Entnazifizierungsphase bis zum 7. Juli 1945 vor, aus dem öffentlichen Dienst sei zu entfernen, wer vor dem 30. 1. 1933 einer NS-Organisation angehört hatte. In der folgenden Phase wurden die Bestimmungen differenzierter (136 Kategorien) und auf Personen erweitert, die vor dem 1. 5. 1937 einer nationalsozialistischen Gruppierung beigetreten waren.[25]
Die Deutschen bemängelten an dieser Entnazifizierungspraxis das Fehlen einer individuellen Betrachtung der vorliegenden Fälle. Außerdem beklagten sie den Verlust der für den Wiederaufbau notwendigen Fachleute in allen Wirtschafts- und Verwaltungsbereichen. Diese Ansicht dokumentierten immer wieder Äußerungen des Staatspolitischen Ausschusses: Dabei [bei seiner Arbeit] ist er [der Ausschuß] bemüht, charakterlich wertvolle, fachlich geschulte und für den Wiederaufbau in unsererStadt dringend notwendige Arbeitskräfte der Allgemeinheit zu erhalten, wenn sie nachge- wiesenermaßen nur durch eine formale und nominelle Zugehörigkeit zur NSDAP zwar politisch belastet, aber zu der demokratischen Mitarbeit an dem Wiederaufbau geeignet erscheinen."[26] Entsprechende Vorstellungen hätten den Staatspolitischen Referenten Mütze bereits Ende Mai 1945 zur Aufstellung eines Richtlinienentwurfs bewogen, in dem er der Militärregierung eine Regelung für die Entnazifizierung der deutschen Behörden vorschlug (Dokument 12).[27] Mützes Initiative stieß bei den Amerikanern jedoch auf keinen Widerhall, da diese auf neue Anweisungen seitens ihrer vorgesetzten Dienstbehörden warteten. Je mehr Personen im Laufe des Jahres 1945 von der Entnazifizierung erfaßt wurden[28] (bis September 1945 waren in der amerikanischen Zone 66 500 Personen interniert), je strenger die Bestimmungen wurden, desto stärker wurde die Kritik unter den Deutschen an dem Entnazifizierungsprogramm. Viele - besonders schwere - Fälle wurden verzögert behandelt, da die Bereitstellung von Belastungs- material Zeit beanspruchte. Infolgedessen konnten Mitläufer, deren Verfahren unmittelbar nach Kriegsende abgeschlossen wurde, relativ härter bestraft werden als Hauptschuldige, die später, als nicht mehr so energisch und konsequent vorgegangen wurde, vor Gericht oder Spruchkammern standen. Ein umfassendes Beispiel dafür bieten die 23 "Thesen zur Entnazifizierung" des katholischen Geistlichen Pfarrer Nüdling (Dokument 13), die sich auch der Staatspolitische Ausschuß zu eigen machte. Mit dem "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" schufen Amerikaner und Deutsche im Frühjahr 1946 gemeinsam die Grundlage für eine eigenverantwortliche deutsche Entnazifizierungspraxis. Dieses Gesetz kam der deutschen Kritik in vielen Punkten entgegen und schuf mit der Einrichtung unabhängiger Spruchkammern eine neue Situation.[29] Aber auch die Verwirklichung einer "gerechten" Entnazifizierung durch die Deutschen selbst scheiterte aus mehreren Gründen: Es mangelte an geeigneten Richtern, die nicht nationalsozialistisch organisiert gewesen waren. Der weitreichende Entscheidungsraum der Spruchkammern führte zu Willkür in der Einstufungspraxis. Die Kammervorsitzenden entlasteten zu bereitwillig, wie die Schriftleitung der Marburger Presse (H. Bauer) beklagte: Die Spruchkammer hat Aktivisten in die Gruppe der Mitläufer eingereiht, so daß sich die wirklichen Mitläufer, also die nur nominellen P. g.'s, in dieser Gesellschaft nicht mehr wohlfühlen. Der Gesetzgeber hat wohlweislich für die Aktivisten, denen man mildernde Umstände zubilligen kann, die Gruppe der Minderbelasteten eingeschaltet. In dieser Gruppe 3 ist die Bleibe derer, die nicht nur mitgelaufen sind, sondern die mitgemacht haben. Man darf sie nicht in die Gruppe 4 (Mitläufer) befördern, wenn man deren rechtmäßige Mitglieder nicht beleidigen will."[30] Außerdem bestimmte die gesellschaftliche Herkunft die Aussichten, entlastet zu werden. Personen mit weitreichenden Beziehungen wurden - laut Aussage des Marburger öffentlichen Klägers Paul J. Pohnke[31] - häufig zu vorteilhaft eingestuft (Dokument 14).[32] Eine umfassende Analyse der Spruchkammerpraxis bot 1947, als Zwischenbilanz, der Vorsitzende einer der beiden Spruchkammern Marburg-Land (Dokument 15): Sie zeigt, daß durch das Entnazifizierungsprogramm eine deutsche personelle Kontinuität in Wirtschaft und Verwaltung von der nationalsozialistischen zur nachfolgenden Phase nicht verhindert wurde.    

 


 

Anmerkungen:

[25]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 24-36 und DERS., Eine deutsche Stadt, S. 174- l89. 
[26]  Marburger Presse Nr. 4 vom 25. 9. 1945, S. 3. Vgl. dazu auch [Dokument 4], Abschnitt IV. 
[27]  Vgl. auch GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 26. 
[28]  Vgl. hierzu GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 175 f.  
[29]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 26-31 und DERS., Eine deutsche Stadt, S. 190- 203.      [30]Marburger Presse Nr. 81 vom 11. 10. 1946, S. 7. 
[31]  Vgl. dazu GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 29 f. 
[32]  Bauer zeigte sich über die deutsche Entnazifizierungspraxis so empört, daß er Ende 1946 als stellvertre- tender Kammervorsitzender zurücktrat. (Gespräch mit Hermann Bauer am 22. 4. 1976).

Richtlinien des Staatspolitischen Referenten Ludwig Mütze zur Entnazifizierung der deutschen Verwaltung (an Oberbürgermeister Siebecke) vom 28. 5. 1945
Richtlinien des Staatspolitischen Referenten Ludwig Mütze zur Entnazifizierung der deutschen Verwaltung (an Oberbürgermeister Siebecke) vom 28. 5. 1945


Richtlinien, nach denen die Säuberung der deutschen kommunalen und staatlichen Verwaltungszweige von Nazis durchgeführt werden könnte[44]
(Vorschlag des staatspolitischen Referenten der Stadt Marburg.)

A.
Aus dem Amt wird entlassen:
1.) Wer vor dem 1. Januar 1933 Mitglied der NSDAP war ("alter Kämpfer").

2.) Wer vor dem 1. Januar 1933 einer Gliederung der Partei (Fragebogen der Militär-Regierung S. 2, Nr. 1) [45] angehörte.

3.) Wer nach dem 1. Januar 1933 Funktionär der Partei im Range eines Ortsgruppenleiters und aufwärts war.

4.) Wer nach dem 1. Januar 1933 Führer der politischen SS (d. h. nicht der Waffen-SS) oder der SA oder des NSFK oder des NSKK im Range eines Sturmführers und aufwärts, in der HJ im Range eines Stammführers und aufwärts, oder einer Mädelringführerin und auf- wärts oder im RAD [46] (64) im Range eines Arbeitsführers und aufwärts oder in der NSF im Range einer Kreisführerin und aufwärts war.

5.) Wer zu irgend einer Zeit Beamter oder Angestellter irgend welcher Art im Dienste der Gestapo oder des SD (Sicherheits-Dienst) war.

6.) Wer nachweisbar zu irgend einer Zeit als Spitzel im Dienste der Gestapo oder des SD stand oder wer durch Denunziation Anti-Nationalsozialisten ins Gefängnis, Zuchthaus oder KZ oder zur Entlassung aus ihrem Amte gebracht hat.  

B.

Bis zur genauen Oberprüfung seiner politischen Einstellung, Haltung und Betätigung wird vom Amte suspendiert:

1.) Wer nach dem 1. Januar 1933 als Zellenleiter Funktionär der Partei war.

2.) Wer in der politischen SS oder der SA oder im NSFK oder im NSKK Führer im Range eines Truppführers oder Obertruppführers, in der HJ im Range eines Gefolgschafts-, Obergefolgschafts- oder Hauptgefolgschaftsführers oder einer Mädelringführerin, im RAD eines Feld-, Oberfeld- oder Oberstfeldmeisters, in der NSF einer Ortsgruppenleiterin, im NSD eines Dozentenbundführers und im NSDStB eines Gau- oder eines Universitäts-Stu- dentenführers war.

3.) Wer eine Funktion in der Kreisleitung der NSDAP ausübte (z. B. als Kreisrichter, Kreisredner, Kreisschulungsleiter usw.), oder wer in einem der Partei angeschlossenen Verbände (Fragebogen der Militär-Regierung S. 2, Nr. 2)[47] Kreisamtsleiter oder mehr war.

4.) Wer (gleich, ob Mitglied der Partei oder nicht) nachweisbar bis zuletzt besonders ativer und fanatisch-überzeugter Nazi gewesen ist.

Bei positivem Ergebnis der Oberprüfung suspendierter Beamter sind diese nach den Be- stimmungen unter C. und D. zu behandeln.

C.

Im Interesse des Dienstes wird strafversetzt in einen anderen Dienstort oder in eine andere, aber nicht leitende Dienststelle (unter Selbstübernahme evtl. Umzugskosten):

1.) Wer in leitender Beamtenstellung war und als Blockleiter der Partei oder als SS- oder SA-Mann oder als Amtswalter einer Gliederung oder eines angeschlossenen Verbandes in der gelben Partei-, der braunen SA- oder der schwarzen SS-Uniform in der Öffentlichkeit aufgetreten ist.

Für die Lehrer- und Erzieherschaft gilt diese Bestimmung für Hauptlehrer und Konrekto- ren und aufwärts an Volksschulen, für Oberstudienräte und aufwärts an höheren Schulen, für Direktorstellvertreter und Direktoren an Berufsschulen usw.

D.
Alle Beförderungen, dienstlichen Verbesserungen usw. von Beamten, die seit dem 30. Januar 1933 nachweisbar wegen der Parteizugehörigkeit, der Parteiverdienste oder durch Parteibegünstigung oder wegen des Kirchenaustrittes erfolgt sind, werden rückgängig gemacht.

E.
Wenn eine Person in mehr als eine Gruppe in Bezug auf die Behandlung dieser Anweisung fällt, so muß diejenige Gruppe, für die in dieser Anweisung die strengste Behandlung vorgeschrieben ist, maßgebend sein.

F.
Bei Schulaufsichtsbeamten ist ein besonders scharfer Maßstab anzulegen.

G.

1.) Um in jedem Falle Härte und Unrecht zu vermeiden, sind Sonderfälle von Entlassungen oder Suspendierungen, die nach den Bestimmungen A. bis D. erfolgen müßten, individuell zu prüfen und zu behandeln (wenn z. B. die grundlegende und entschiedene Abkehr eines selbstlosen Idealisten vom Nationalsozialismus, nachdem er von ihm als Irrwahn er- kannt war, nachweisbar ist und verbürgt wird).

2.) In leitende Beamtenstellen dürfen nur Personen berufen werden, die über fachliches Können verfügen, charakterlich untadelig sind, nicht Mitglied der Partei waren oder aber verbürgte, immer überzeugte und unbeirrbare Gegner des Nazismus geblieben sind.

3.) Entlassene oder suspendierte Beamte dürfen nur durch Kräfte ersetzt werden, die nicht unter die in A. und B. aufgeführten Bestimmungen, bzw. Belastungen fallen.
gez. Mütze.

Anmerkungen:

[44]  Vgl. auch [Dokument 8].
[45]  S. hierzu H. BAUER: Erinnerungen an 1945, in: Tradition und Fortschritt. 30 Jahre Marburger LDP/F.D.P., S.11.
[46]  Der Bericht Ludwig MÜTZES Ist derzeit in Marburg nicht mehr aufzufinden (vgl. Vorwort). Auch in den Akten des SPA im Magistratsarchiv, im privaten Nachlaß Jakob Römers, Mützes Parteifreund, und in den Beständen der F.D.P. ist der Bericht u. W. nicht vorhanden. Zum  Inhalt des Mützeschen Berichts vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 9 f. sowie DERS., Eine deutsche Stadt, S. 102 ff.
[47]   Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11

 

 

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Thesenpapier des katholischen Geistlichen Pfarrer Nüdling zur „Entnazifizierung“ für den Staatspolitischen Ausschuß vom 8. 11. 1945

Thesen zur "Entnazifizierung[48]



In der Absicht, in der schwierigen Frage der Entnazifizierung einer gerechten Beurteilung
den Weg zu bahnen, werden die folgenden Sätze zur Diskussion gestellt:
 

1.) Jeder vernünftige Mensch begrüßt die Säuberung unseres Volkslebens von verderblichen Einflüssen, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat und erwartet eine geltendem Recht entsprechende gerechte Bestrafung derjenigen, die in seinem Namen Verbrechen begangen haben. Die gesamte Öffentlichkeit hat in dieser Erwartung die Ankündigung begrüßt, daß in Deutschland das Recht wiederhergestellt und der 'in allen Kulturstaaten geltende Grundsatz: nulla poena sine lege wieder zur Geltung gebracht werde.

2.) Die "Entnazifizierung", wie sie zur Zeit im Gange ist, geht doch, was den Personen- kreis und die Schwere der verhängten Maßnahmen betrifft, entschieden zu weit und wird von der öffentlichen Meinung besonders im Hinblick auf die gegebenen Zusagen[49] mit Recht stark kritisiert. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen entschiedene Gegner des national- sozialistischen Systems, die in den vergangenen Jahren gelitten haben oder Schwierigkeiten ausgesetzt waren, jetzt wiederum unter harte Maßnahmen gestellt werden. In vielen Fällen steht ihnen nicht einmal der Weg der Appellation offen.[50]

3.) Die Betroffenen empfinden die gegen sie verhängten Maßnahmen wie: Inhaftierung, Entlassung aus dem Amt, Entziehung garantierter und wohlerworbener Rechte usw. nicht nur als völlig ungerechte, sondern als rechtswidrige Maßnahmen, da sie unter Außerachtlassung der seit Generationen geltenden Grundrechte und unter Verletzung der besonderen Verfahrensvorschriften getroffen sind, deren Geltung durch die Tatsache der Besetzung nicht aufgehoben ist. Das Gewissen der Öffentlichkeit stimmt ihnen entschieden zu.

4.) Die Erklärung, daß hier nach strengem allgemeinen Gesetz verfahren werden müsse, ist unzulässig. Im Namen des Gesetzes" und "auf höheren Befehl" sind in den vergangenen Jahren die schwersten Ungerechtigkeiten geschehen. Eine schematische Anwendung eines strengen allgemeinen Gesetzes ohne Berücksichtigung des einzelnen Falles bedeutet: summum jus, summa iniuria.

5.) Die Ausrede, es handele sich hier um "Sicherheitsmaßnahmen, die der künftige Staat treffen muß", überzeugt nicht, da der Staat solcher Mittel nicht bedarf und durch Ungerechtigkeiten seinen eigenen Bestand nur gefährdet.

6.) Eine radikale und schematische Durchführung der "Entnazifizierung" würde als Reaktion einen wilden Nationalismus heraufbeschwören und zu einer nachträglichen Nazifizierung der Deutschen führen, die sich zu 99 % vom Nationalsozialismus bereits innerlich gelöst hatten. Ansätze dazu sind bereits deutlich zu beobachten.

7.) Ein demokratischer Staat kann solch ungeheuerliche Eingriffe in die private Rechtssphäre wie: Freiheitsberaubung, Enteignung des Vermögens, Verdrängung aus der lebenslänglichen Beamtenstellung, Vorenthaltung des wohlerworbenen Pensionsanspruchs, Entzug von Konzessionen usw. aus bloß politischen Gründen niemals verantworten. Das sind Methoden, die den totalitären, diktatorischen Staat charakterisieren, dem Sinne der Demokratie zuwider sind. Durch solche Maßnahmen wird sich die Demokratie weder Respekt noch Autorität verschaffen.

8.) Es bleibt nur der Weg, die wirklich Verantwortlichen und Schuldigen sowohl für eine verbrecherische Gesamtpolitik wie für einzelne Verbrechen persönlich ausfindig zu machen und einer gerechten Bestrafung zuzuführen. Jedes verallgemeinernde und schematische Vorgehen führt notwendig zu Ungerechtigkeiten. Nur wenn der Kreis der zur Verantwortung Gezogenen sich auf die wahrhaft Schuldigen beschränkt, kann eine Wirkung der Aktion in positivem Sinne erwartet werden (vgl. These 2 und 6). Kollektivmaßnahmen sind mit der demokratischen Auffassung der Persönlichkeit nicht vereinbar.

9.) Falsch ist der Grundsatz (den ein amerikanischer Offizier vertrat): "Jeder Angehörige der Nazipartei und einer Gliederung ist a priori als schuldig anzusehen; die Last des Beweises, daß er unschuldig sei, liegt auf ihm." Jeder Kenner der deutschen Verhältnisse wird eine solche "probatio diabolica" ablehnen und wird im Gegenteil den rechten Grundsatz aufstellen: "Die Rechtsvermutung spricht dafür, daß die meisten Organisierten an der Entwicklung der Dinge und an Einzelverbrechen völlig unschuldig sind." Ein Kausalzusammenhang zwischen der Beitragszahlung des nichtverantwortlichen Einzelnen und dem politischen oder verbrecherischen Ergebnis der Handlungsweise der Verantwortlichen besteht nicht. In jedem Falle, in dem jemand zur Verantwortung gezogen wird, muß ihm das Vorliegen einer strafbaren Handlung und sein Verschulden nachgewiesen werden.

10.) Die Zahl derer, die am Hebel der Macht saßen, als nationalsozialistische Parteimacht- haber für die falsche Politik verantwortlich sind, oder die auch nur einen Einblick in die Pläne im Ganzen oder im Einzelnen hatten, ist gering. Bis in die höchsten Stellen des Staates und der Partei ging die Gegnerschaft gegen die Drahtzieher einer Katastrophenpolitik. Trotz des Satzes: "Die Partei befiehlt dem Staat" leistete der Staatsapparat weitgehend Widerstand gegen den Parteidruck.

11.) Die bloße Mitgliedschaft in der Partei oder einer anderen NS-Organisation, auch die Bekleidung eines niederen Amtes, beweist für die innere Einstellung des Organisierten nicht das Geringste. Das Mitläufertum und die durch das Gewalt- und Oberwachungssystem erzwungene Heuchelei waren unter dem Nazisystem für sehr viele unvermeidlich.

12.) Der Eintritt in eine NS-Organisation hing oft von Zufälligkeiten ab: von geschickter Täuschungspropaganda - darauf sind vor allem die frühen Eintritte überwiegend zurückzuführen -, vom Rat eines Freundes, von örtlichen Parteiverhältnissen usw.

13.) Die Motive für den Eintritt waren in vielen Fällen moralisch durchaus vertretbar, z. B.: die Erwartung, die soziale Frage werde der Lösung näher gebracht werden; die neue Partei werde die ungeheure Arbeitslosigkeit und die zunehmende wirtschaftliche Not überwinden oder ein soziales Aufbauprogramm verwirklichen; der Wille, Schlimmeres zu verhüterl und die Absicht, durch Kritik von innen her einen mäßigenden Einfluß auf die radikaleren Elemente zur Geltung zu bringen; die eigene Existenz und die der Familie zu sichern usw.

14.) Der Austritt aus der Partei war überhaupt nicht möglich, auch nicht für die längst Enttäuschten und nun erbitterten Gegner des Systems.

15.) Eine unterschiedliche Behandlung der Mitgliedschaft lediglich unter dem Gesichtswinkel des Zeitpunktes, in dem sie erworben ist - also vor 1933, vor 1937, nach 1937 - führt schon mit Rücksicht auf die verschiedenen Motive für den Eintritt im Einzelfalle notwendig zu Ungerechtigkeiten. Gerade die der Partei frühzeitig Beitretenden waren oft nicht von eigen- nützigen Motiven geleitet, sondern meist gutgläubige Idealisten, die das Beste wollten und - nachdem die Täuschung erkennbar wurde - bald scharfe Gegner der führenden Parteiklique wurden. Beweis: 20. Juli 1944.

16.) Grundfalsch ist es, die Schuldfrage rückschauend von dem aus zu beurteilen, was im Laufe der Entwicklung erst geworden ist. Niemand ist verantwortlich für das, was er nicht gewollt, nicht gewußt und nicht vorausgesehen hat. Es wird übersehen, daß die überwiegende Mehrheit des gesamten deutschen Volkes am Tage von Potsdam, dem 21. März 1933 und noch lange Zeit danach mit gläubigem Vertrauen einer Verwirklichung der ihm gemachten nicht zu beanstandenden Versprechungen entgegensah. Es wird auch übersehen, daß die gesamte politisch unterrichtete Welt noch im Jahre 1936 unbedenklich der Einladung des Deutschen Reiches und seines damaligen Oberhauptes zur Olympiade gefolgt ist, die nur mit ihrer Zustimmung in Berlin hat stattfinden können. Man muß die psychologische Frage stellen, was die Menschen im Zeitpunkt des Eintritts im Nationalsozialismus gesehen und was sie mit ihrem Beitritt gewollt haben.

17.) Aus alledem ergibt sich, wie unmöglich es ist, einen lebendigen Menschen nach einem politischen Fragebogen beurteilen zu wollen. Bessere Grundlage für eine Entscheidung als ein Fragebogen ist der lebendige Mensch und sein eigenes Zeugnis und das Zeugnis glaubwürdiger Zeugen.

18.) Die Beurteilung sollte nicht so sehr geschehen in der Rückschau auf das Frühere als vielmehr in der Vorschau auf das Heutige. Es ist die Frage zu stellen: Eignet sich der Betreffende, am Aufbau eines neuen, besseren, demokratischen Deutschland mitzuarbeiten?

19.) Die Methode, die Menschen zuerst zu maßregeln, zu entlassen, zu inhaftieren usw., um ihnen später den Weg der Entlastung unter Appellation zu eröffnen, ist sehr verwerflich. Sie führt zu menschlichen Tragödien, zu Verbitterung und Verzweiflung oft unschuldiger Menschen. Dem gesunden Rechts- und Sittlichkeitsempfinden entspricht es allein, daß erst dann eine Strafmaßnahme verhängt wird, wenn ein strafbarer Tatbestand und eine persönliche Schuld einwandfrei nachgewiesen ist.

20.) Die Behandlung der politischen Häftlinge, unter denen sich viele Unschuldige oder nur geringfügig Belastete befinden, muß humaner werden, indem wenigstens ein Briefwechsel mit den Angehörigen und ein Empfang von Paketen erlaubt wird, wie es selbst im Konzentrationslager gestattet war.

21.) Die Phase der "Entnazifizierung" muß schnell überwunden werden, das Gefühl der persönlichen Sicherheit, die "Freiheit von Furcht" muß bei uns bald wieder einkehren, wenn der neue Staat Vertrauen gewinnen und der Wille zum einträchtigen Wiederaufbau erstarken soll.

22.) Die wesentliche "Entnazifizierung" kann nicht so sehr in wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen bestehen, als vielmehr in einer geistigen Neuorientierung des deutschen Volkes. Eine religiös-sittliche Umerziehung, die von Kirchen, Schulen und pädagogischen Gesellschaften geleistet werden muß, ist die vordringlichste Aufgabe der heutigen Zeit.

23.) Von der Aufbauarbeit sollte niemand ausgeschlossen werden, der guten Willens ist. Die sonst eintretende Brachlegung einer Unsumme von Fähigkeiten und Erfahrungen kann niemand verantworten, dessen Ziel ernsthaft die Befriedung der Menschheit ist.

 


Anmerkungen:

[48]  Enttäuschung darüber war auch ein Grund für Bauers Rückzug aus dem SPA. Er meinte, seine bisherige Arbeit sei meist vergeblich und gab an, er wolle sich ganz dem Aufbau einer demokratischen Presse widmen. BAUER an Mütze, undatiert (Aug. 1945), Bauerpapiere.

[49]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 11 f.
[50]  Vgl. hierzu GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 122, S. 132.

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Leserbrief des öffentlichen Klägers der Spruchkammer Marburg-Stadt, Paul J. Pohnke, zur Marburger Entnazifizierungspraxis


Inflation der Gutachten und Reden [71]



Die Entnazifizierung ist von manchen Kreisen mißverstanden worden. Man kommt da zur Spruchkammer mit dicken Bänden von Gutachten, Charakterbeurteilungen; man sollte sich fragen, woher all das schöne Papier stammt, worauf alle Gutachten sauber geschrieben und verstempelt stehen. Wir müssen uns klar darüber werden, daß dies eine ungesunde Erscheinung in der Entwicklung unseres Volkes darstellt, und daß die papierne Beredsamkeit eine krankhafte Neigung unserer Zeit ist. Somit ergibt sich die Forderung nach Klarheit und Wahrheit. Zur Klarheit gelangen wir, wenn die Gutachter auch bereit sind, die Hand zum Eide für die Wahrheit zu erheben und eben da wird es manchen Umfall geben; denn geradestehen für die Wahrheit darf nur derjenige, der selber unbelastet ist. Für die Wahrheit zeugen darf nur der, der in Wahrheit beweisen kann, daß er nicht selber mit den Geschehnissen der Vergangenheit verknüpft war, die das ganze deutsche Volk heute so bitter belasten.

Wie war es einmal - wie fing es an? 1933 marschierte ein Haufen Gesellen in schnittigen Hosen durch die Straßen. Die, welche die kommende Konjunktur witterten, machten mit und so kam es! Einige mögen sich späterhin salviert haben - aber auch nur salviert. Die aus den Naziorganisationen, die aktiv Widerstand geleistet haben, sind zu zählen. Heute nun, heute, nach all den bitteren Erfahrungen möchten jedoch viele in die "Gruppe 5 der Entlasteten" eingereiht werden mit der Begründung: "Es ist uns unangenehm zum großen Haufen der Mitläufer gezählt zu werden!" Ja, meine Herren, damals war es niemand unangenehm im großen Haufen der Konjunktur-Anwärter mit dem vorgeklebten Hoheitsabzeichen und der sozial scheinenden Armbinde herumzulaufen; aber heute, da regen sich die Standesgefühle. Welche Gefühle eigentlich?

Da arbeitet im Straßengraben ein kleiner Pg., er ist belastet und muß Pflichtarbeit verrichten! Sein Kollege dagegen, so etwas wie ein Direktor, zur gleichen Zeit der Nazipartei beigetreten, fährt heute noch seinen Wagen und lebt von seinen Geldern. Der kleine Mann fand keine Gutachter, der große Mann um so mehr. Ist das Gerechtigkeit?  Nein, das ist keine Gerechtigkeit - das ist härteste Verletzung aller demokratischen Prinzipien von Gerechtigkeit - aber man möchte nach altbewährtem Muster wieder eine Gerechtigkeit einführen, die den Kleinen unter seinen Lasten erdrückt und den Großen aufgrund seiner Beziehungen schützt. Daher wird es zur Aufgabe der Spruchkammer werden müssen, der Gerechtigkeit in der einzig wirksamen demokratischen Manier zum Siege zu verhelfen. Es wird weiterhin die große Aufgabe aller Mitglieder der Spruchkammer werden müssen, nicht so sehr augenblicklichen Nützlichkeitserwägungen nachzuhängen, sondern den schwierigen Weg der unbedingten Wahrheitserforschung zu gehen, das ist nämlich auch der Weg zur wahren Demokratie - in einer Demokratie, die nicht mit Gefälligkeitsakzepten operiert und notwendig zur geistigen Korruption führen muß, wird diese Methode fortgeführt.


Paul J. Pohnke        Marburg.


Anmerkungen:

[71]  Vgl. Kapitel II. 


 

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Aufsatz des Rechtsanwalts Dr. Kasperkowitz zur Problematik des Spruchkammerverfahrens, undatiert (März 1947)
Der Maßstab für die Sühnemaßnahmen im Spruchverfahren[72]
(Ein Beitrag zum Problem der Vereinheitlichung der Rechtsprechung.)

Vor etwa zehn Monaten haben die Spruchkammern mit ihrer richterlichen Tätigkeit be- gonnen. Sie haben inzwischen in mündlicher Verhandlung, im schriftlichen Verfahren und im Wege des Sühnebescheides nach dem Stand vom 10. 1. 1947 rund 42 000 Sprüche gefällt, vor denen nur ein geringfügiger Teil in der Presse veröffentlicht ist. Bei einem Vergleich der veröffentlichten Sprüche fällt auf, daß die Betroffenen oft trotz gleicher formaler Belastung verschieden eingruppiert sind, und daß bei gleicher Eingruppierung die Sühnemaßnahmen von einander nicht unerheblich abweichen. So kommt es, daß sich Betroffene unter Hinweis auf die Presseberichte oder auf Grund anderweit erlangter Kenntnis darüber beklagen, daß der gegen sie gefällte Spruch ungünstiger als bei einem anderen Betroffenen lautet, bei dem die Belastung angeblich gleich groß oder noch größer ist. Auch die breite Öffentlichkeit übt an dieser vermeintlichen Ungleichmäßigkeit der Rechtsprechung mehr oder minder scharfe Kritik. Es besteht daher Veranlassung, das Problem eines gerechten Maßstabes für die Sühneleistungen der von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militaris- mus Betroffenen in aller Offenheit zu erörtern. Dabei sei vorweg darauf hingewiesen, daß nach dem Gesetz äußere Merkmale wie die Zugehörigkeit zur NSDAP, einer ihrer Gliederun- gen oder einer sonstigen Organisation für sich allein nicht entscheidend für den Grad der Verantwortlichkeit sind, vielmehr außer der formalen Belastung noch andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen, denen oft eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Ober diese Um- stände können die Presseberichte schon aus Raummangel keine erschöpfende Auskunft geben. [...]

Für die Rechtsprechung der Spruchkammern kann man keineswegs von einer Krise sprechen. Es kann sich vielmehr, weil das Gesetz gerade erst ein Jahr alt geworden ist, während das Strafgesetzbuch schon seit 1871 besteht, nur darum handeln, daß die ersten Erfahrungen der Rechtsprechung der Spruchkammern so schnell wie möglich einer Oberprüfung unterzogen werden mit dem Ziel festzustellen, ob überhaupt und wie es möglich wäre, einen gerechten Maßstab für die Sühneleistungen einschließlich der Eingruppierung der Betroffenen zu finden. Viele Gründe sprechen dafür, daß dieses Ziel wesentlich schwerer als bei der Strafzumessung im ordentlichen Strafverfahren zu erreichen sein wird.

Man vergleiche z. B. den Strafrahmen bei den Verbrechen, Vergehen und Obertretungen des Strafgesetzbuches mit der Vielfalt der für die Gruppen 1 bis IV des Säuberungsgesetzes[73] vorgesehenen Sühnemaßnahmen. Weichen gewaltigen Vorsprung hat weiter das bis in alle Einzelheiten geregelte, in Wissenschaft und Praxis durchgearbeitete Verfahren der ordentlichen Strafgerichte gegenüber dem Spruchverfahren, das mangels einer eigenen Prozeßordnung die Kammern nach freiem Ermessen regeln, lediglich mit der Einschränkung, daß nicht willkürlich oder parteiisch verfahren werden darf. Bei ihrer Urteilsfindung sind die Spruchkammern in der Regel auf die nicht immer einwandfreien Auskünfte von politischen Ausschüssen, wenn solche überhaupt bestehen, auf Gutachten der Bürgermeister, Äußerungen der fachlichen Vorprüfungsausschüsse und der vorgesetzten Dienststellen, auf Ermittlungsberichte und auf eine Beweisaufnahme angewiesen, die nicht bloß wegen des politischen Charakters der in der Klageschrift enthaltenen Vorwürfe, sondern auch wegen der auf politischen, geschäftlichen, gesellschaftlichen oder anderen persönlichen, nur selten kontrollierbaren Motiven beruhenden Voreingenommenheit der Zeugen für oder gegen den Betroffenen bei der Erforschung der Wahrheit weit größeren Schwierigkeiten als die Beweisaufnahme im ordentlichen Strafverfahren begegnet. Es ließen sich außer der Problematik, den Lücken und Unvollkommenheiten des Gesetzes noch viele Umstände anführen, die die Rechtsprechung im Spruchverfahren erschweren, wobei die, hauptsächlich auf den Mangel an politisch unbelasteten Arbeitskräften und auf das allerseits verlangte Tempo der Entnazifizierung zurückzuführenden personellen Unzulänglichkeiten der Besetzung der Spruchkammern nicht an letzter Stelle stehen.

Bei der Erörterung von praktischen Möglichkeiten für eine tunlichst weitgehende Vereinheitlichung der Rechtsprechung der Spruchkammern wäre es natürlich abwegig, ein Schema oder gar eine Taxe erfinden zu wollen. Eine solche Nivellierung der Rechtsprechung wäre gegenüber einer noch so uneinheitlichen Rechtsprechung das größere Übel. Die Vereinheitlichung kann vielmehr nur durch eine Einigung der Spruchkammern über gewisse Grundsätze für die Abstufung des Maßes der Sühneleistung herbeigeführt werden. Dabei müssen alle Oberlegungen von dem Gedanken beherrscht sein, daß es sich im Spruchverfahren nicht um eine Strafe, sondern um eine Sühne handelt. Das Wort und der Begriff "Strafe" müssen den Mitarbeitern der Spruchkammern geradezu verhaßt sein. Deshalb sollte auch vom Ministerium die sich aus dem Sühnecharakter der Wiedergutmachung ergebende Terminologie respektiert werden und in dem Amtsblatt nicht noch immer von "anklagen" und "verurteilen" die Rede sein. Weiterhin setzt die Ausarbeitung von Grundsätzen für eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung voraus, daß man sich über die psychologische Bedeutung des Spruchs und der Spruchbegründung für den Betroffenen klar ist.

Jedermann weiß, wie die Betroffenen mit allem Nachdruck die Beschleunigung ihres Spruchverfahrens betreiben, weil sie sich des seelischen Drucks entledigen wollen, der auf ihnen seit der Einreichung des Meldebogens [74] lastet. Wenn dem so ist, dann muß auch der Abschluß des Verfahrens durch den Spruch für den Betroffenen ein seelisches oder, besser gesagt, ein sittliches Erlebnis sein. Eben deshalb soll die Spruchbegründung den Betroffenen innerlich ansprechen und so abgefaßt sein, daß sie für ihn wie ein Spiegel wirkt, in dem er seinen Anteil am Nationalsozialismus betrachten kann. Er muß, wenn er den Spruch mit der Begründung erhält, ganz mit sich allein darüber nachdenken, ob in dem Spruch, der einen längeren oder kürzeren Abschnitt seiner politischen Tätigkeit behandelt und der ein Dokument für sein ganzes Leben sein soll, sein Anteil am Nationalsozialismus richtig beurteilt ist. Wenn er das, frei von jeder Beeinflussung durch Dritte und in ehrlicher Selbsterkenntnis bejaht, wird er auch das Verständnis für die ihm auferlegte Sühne aufbringen und den Weg zur Demokratie besser finden als die Vielen, die nur deshalb politisch nicht belastet sind, weil sie niemals in ihrem Leben irgendeinen politischen Standpunkt vertreten haben. Schließlich soll die Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus nicht Selbstzweck sein, vielmehr sollte die wichtigste Aufgabe des Gesetzes vom 5. 3.1946 [75]  darin bestehen, diejenigen, die einmal politisch geirrt haben, wieder den Weg zur ehrlichen Mitarbeit am Aufbau eines friedlichen demokratischen Staates finden zu lassen. Die vornehmste Aufgabe der Spruchkammern sollte die Erziehungsarbeit an den Betroffenen in demokratischen Gedankengängen sein, und das Ziel darauf hinausgehen, daß diejenigen, die es nach ihrer Persönlichkeit verdienen, so bald als möglich wieder in das öffentliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben des Volkes eingeschaltet werden. Diese Erziehungsarbeit und die ihr dienende Spruchbegründung lassen sich weder schematisieren noch mit einem Wettlauf um statistische Erfolge vereinbaren. [...]

Wie aus der Diskussion über das Befreiungsgesetz und zuletzt aus der Bestimmung in §1 Ziffer 1 der Weihnachtsamnestie [76] erkennbar ist, bedarf "der kleine Mann" eines besonderen Verständnisses bei der gerechten Abwägung seiner individuellen Verantwortlichkeit und seiner tatsächlichen Gesamthaltung. Es wird dies am besten bei einem Vergleich mit einem wohlhabenden Mann klar, der um die Zeit der "Machtergreifung" öffentliche oder gesellschaftliche Ehrenämter oder Mandate der freien Wirtschaft bekleidete und deshalb einen weitreichenden Einfluß hatte. Schon der Name solcher Männer war - übrigens genau so wie heute - in ihrem Wohnort und oft darüber hinaus ein Begriff. Sehr viele Menschen richteten sich nach einem solchen Mann, weil ihnen das, was er tat, wohlüb-erlegt und deshalb nachahmenswert erschien. Mit besonderer Aufmerksamkeit sah man auf ihn, als die umwälzenden Ereignisse des Jahres 1933 eine Entscheidung für oder gegen den Nationalsozialismus verlangten. Wenn dann ein solcher Mann in das nationalsozialistische Lager überging - ob aus innerer Überzeugung oder aus taktischen Gründen, war für den Außenstehenden nicht erkennbar -, unterschätzte er nicht bloß die Pflichten, die ihm Einfluß, Ansehnen, Wohlhabenheit und das ihm seit Jahren entgegengebrachte Vertrauen auferlegten, sondern auch das Gewicht, das seine politischen Entscheidungen dadurch erhielten, daß er höher als die Anderen stand und vermöge seiner politischen Erfahrungen und Beobachtun- gen, seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, seiner Reife und Urteilskraft wie überhaupt seines weiteren Horizontes die Gefahren und die wirklichen Ziele des Nationalsozialismus besser als Andere übersah. Weil er politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich eine führende Rolle spielte, übernahm er gegenüber all denen, deren Vertrauen er diese Vorrangstellung verdankte, eine ebenso große Verantwortung. Und weil er wirtschaftlich unabhängig und in seinen politischen Entschließungen mindestens z.Zt. der "Machtergreifung" frei war, wirkte sein Beispiel gerade in den kritischen Monaten des sogenannten Umbruchs um so stärker. So war es nur natürlich, daß sehr viele Mitbürger seinem Beispiel folgten und die Reihen der Partei verstärkten.

Wie unbedeutend war im Vergleich mit einem solchen Betroffenen der Einfluß und das Beispiel des "kleinen Mannes" und wieviel geringer ist daher auch seine individuelle Verantwortlichkeit! Er war in der Regel wirtschaftlich irgendwie abhängig und konnte sich im Dritten Reich schon deshalb dem auf ihn ausgeübten Druck auf die Dauer nicht entziehen, sei es, daß es sich um den Eintritt in die Partei oder eine ihrer Gliederungen oder auch um die Übernahme eines der weniger bedeutenden Ämter handelte. Sich diesem Druck zu entziehen, war eine Kunst, die der sozial höherstehende, wirtschaftlich freie "Volksgenosse" besser verstand, zumal dann, wenn er auf Andere vermöge eines Vorgesetztenverhältnisses oder unter Ausnutzung wirtschaftlicher Abhängigkeit Einfluß hatte. Dazu kommt folgendes: Ebenso wie damals der kleine Mann in erster Linie der Lastenträger für die Partei war, kann er sich jetzt wieder gegen die ihm durch das Spruchverfahren auferlegte Bürde nicht so gut wie der sozial besser Situierte schützen. Es fehlen ihm in der Regel die Bildung einer gehobenen Schule, die Routine im Behördenverkehr, das sichere Auftreten, die Schreibgewandtheit, kurzum die Fähigkeit, sich so gut als möglich zu verteidigen. Außer diesem Vorsprung ist ihm der besser Situierte auch finanziell überlegen. Dieser kann sich des Beistandes eines Verteidigers im Spruchverfahren bedienen und hat vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung nützliche Verbindungen. Oft findet schon sein Name ein kräftiges Echo, das hin und wieder in eine Art von Nimbus übergeht. Vielfach konnte er früher, wenn nicht sogar noch heute, in seiner Berufsarbeit zahlreichen Menschen helfen, die ihn jetzt aus Dankbarkeit zu entlasten bereit sind. Auch will mancher Mitbürger bei dem Gedanken an die Zukunft "es sich nicht mit ihm verderben". Auf diese Weise ist es für einen solchen Betroffenen ein Leichtes, in dem Spruchverfahren von vornherein mit zahlreichen schriftlichen Entlastungszeugnissen aufzuwarten, deren Text zuweilen von ihm selbst stammt, und auch in der mündlichen Verhandlung kann er eine beliebig große Zahl von Entlastungszeugen aufmarschieren lassen. Wieviel kümmerlicher sieht demgegenüber die Situation für den kleinen Mann im Spruchverfahren aus! [...]

Zu den sozialen Betrachtungen, denen die Rechtsprechung der Spruchkammern unterworfen sein soll, gehört auch der Vergleich der Folgen der Einreihung eines Angehörigen der freien Berufe in die Gruppe der Minderbelasteten mit den Folgen der gleichen Eingruppierung eines Beamten oder Angestellten. Während eine solche Eingruppierung für die Existenz eines Geschäftsmannes, eines Bauern, eines Handwerkers usw. in der Regel ohne Nachwirkung ist, wobei man insbesondere daran zu denken hat, daß schlimmstenfalls die Fortführung seines Unternehmens auch noch durch Familienangehörige möglich ist, steht bei einem Beamten und Angestellten alles auf dem Spiel. Bei ihm sind sogar die in jahrzehntelanger Arbeit erdienten Versorgungsbezüge in Gefahr. Und wieviele Beamte und Angestellte sind sofort nach Kriegsende unter Fortfall ihrer Bezüge entlassen worden, während das Unternehmen eines Angehörigen des freien Berufes unverändert fortgeführt werden konnte. Es sei dabei noch nicht einmal an die bessere Fundierung eines Geschäftsmannes, eines Bauern oder eines sonstigen Besitzers krisenfester Werte sowohl in den gegenwärtigen Zeitläufen wie bei dem Gedanken an die Währungsreform gedacht. Auch solche Überlegungen dürfen bei der Bemessung der Sühneleistungen nicht außer Betracht bleiben.

Ebenso wesentlich sind die sozialen Gesichtspunkte, die sich aus dem Familienstand des Betroffenen, der Zahl der noch in seinem Haushalt befindlichen unterhaltspflichtigen Kinder, aus eigener Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen oder solcher von Familienangehörigen ergeben. Auch spielt es eine Rolle, ob ein Betroffener noch Schulden zu tilgen hat oder sich von solchen schon längst freimachen konnte.

Nicht unwichtig sind die Vorteile, die ein Betroffener durch seine U. k.-Stellung gehabt hat. Er hat im Kriege sein Einkommen behalten, wenn nicht sogar erheblich steigern können, während der Andere nur Familienunterhalt erhielt und dazu noch Leben und Gesundheit auf's Spiel gesetzt hat.

Man braucht ferner nur den Grundgedanken der Weihnachtsamnestie nachzugehen, um zu erkennen, daß zwischen dem Betroffenen mit einem kleinen Einkommen, sei er nun Arbeiter oder Beamter, Angestellter, Handwerker usw., und dem Betroffenen mit größerem Einkommen bei der Bemessung der Sühneleistungen unterschieden werden muß. Umgekehrt muß bei den Beamten und Angestellten im Vergleich mit dem Arbeiter oder kleinen Handwerker der Vorteil abgewogen werden, der für die Ersteren die Sicherung ihrer Position und ihrer Versorgung, dabei auch an die Familie gedacht, bedeutet.

Ostflüchtlinge, Evakuierte, Ausgebombte, Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte sind von dem Schicksal schon so hart betroffen, daß sie ein besonders weitgehendes Verständnis verdienen. Bei einem Ostflüchtling ist bei seiner Einreihung in die Gruppe der Mitläufer eine Sühne von RM 50.- härter als ein vielfach höherer Sühnebetrag bei einem Betroffenen, der in seinem materiellen Besitz wenig oder gar keinen Schaden erlitten hat. [ ...]

Innerhalb der Mitläufer gibt es, was die individuelle Verantwortlichkeit betrifft, weit mehr Untergruppen, als der Rahmen der für die Gruppe IV vorgesehenen Sühnemaßnahmen vermuten läßt. Hierüber ließe sich eine besondere Abhandlung schreiben. Einen von vielen Gesichtspunkten zu diesem Kapitel behandelt die in der Süddeutschen Juristen-Zeitung Nr. 7 vom Oktober 1946 veröffentlichte Entscheidung der Spruchkammer Bruchsal. Zu der Vereinheitlichung der Rechtsprechung bei Mitläufern hat das Hessische Ministerium mit seiner im Amtsblatt Nr. 6 v. 20. 2. 1947 veröffentlichten Rundverfügung Nr. 71 einen erheblichen und in der Tendenz erfreulichen Beitrag geleistet. Es sollen nach der Rundverfügung auch "kleine" Amtsträger in die Gruppe der Mitläufer eingereiht werden, wenn sie eindeutig be- wiesen haben, daß sie den Nationalsozialismus nur unwesentlich unterstützt haben. Als "kleine" Amtsträger der NSDAP sowie der angeschlossenen Verbände und betreuten Organisationen können mit einigen Ausnahmen alle diejenigen betrachtet werden, die dem Ortsgruppenleiter nach der Rangliste disziplinar unterstellt waren. Es sind in der Rundverfügung 30 solcher Ämter aufgezählt.
Bei einer Vergleichung der Geldsühnebeträge fällt auf, daß zumeist Beträge von RM 100.-, RM 200.-, RM 300.-, seltener RM 400.-, dann erst aber wieder solche in Höhe von RM 500.-, RM 1000.-, RM 1500.- und RM 2000.- festgesetzt werden, ohne Verwendung von Zwischenstufen.

Bei der Bemessung der Sühneleistungen muß im Einzelfall auch an die Höhe der Kosten gedacht werden, die zuweilen ein Mehrfaches der geldlichen Sühnebeträge ausmachen.

Nicht unerheblich sollte die Feststellung sein, ob ein Betroffener, der auf Grund seiner politischen Belastung entlassen wurde, jede noch so berufsfremde Arbeit angenommen hat oder, ohne am Wiederaufbau des Vaterlandes zu arbeiten, von seinen Ersparnissen oder gar von dunklen Geschäften lebt. [...]

Zusammengefaßt kann wohl gesagt werden, daß mit den vorstehenden Ausführungen die für eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung möglichen Grundsätze nicht erschöpfend behandelt sind. Wenn aber die Ausführungen überhaupt etwas zur Vereinheitlichung beitragen, ist ihr Zweck erreicht.

 


Anmerkungen:

[72]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 12 ff. 
[73]  Notiz des SPA, undatiert (5. 12. 1945), SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. 
[74]  Die Begründung für die Entlassung Treuts war ein Vorwand, um gegen den Ausschuß vorzugehen: Traut hatte bei seinem Eintritt in das Gremium den Amerikanern seine Parteimitgliedschaft nicht verschwiegen. Staatspolitischer Referent an CIC, 15. 5. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg. 
[75]  Vgl. GIMBEL, Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 24-36 und DERS., Eine deutsche Stadt, S. 174- l89. 
[76]  Marburger Presse Nr. 4 vom 25. 9. 1945, S. 3. Vgl. dazu auch [Dokument 4], Abschnitt IV. 

 

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Kooperation von Besatzern und Besiegten in Marburg

Kooperation von Besatzern und Besiegten in Marburg

Durch motorisierte Streifen versuchte die Military-Police (MP) Ruhe und Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten. Als provisorische Kripo setzten die Amerikaner im März 1945 den Holländer van Oudt als Leiter der KP-Dienststelle mit 5 Elsässern und 2 Marburger Bürgern ein. Infolge der zunehmenden Straftaten wurde bald ein deutsches Kommando von ca. 65 Mann aufgestellt, das zuerst Objektschutz tätigte und Streife ging und so allmählich die polizeilichen Aufgaben übernahm. Die Uniform dieser deutschen Hilfspolizisten bestand zuerst aus blau/rotem Käppi, blau gefärbtem Wehrmachtswaffenrock mit Armbinde (MG-Police), grauer Hose mit rotem Seitenstreifen, Schnürschuhen und als Waffe einem Holzknüppel am Koppel hängend. Im September 1945 wurde dann die besser aussehende grau/grüne Uniform - lange Hose und Schirmmütze - eingeführt. Ab 1. 5. 1946 trugen die Hilfspolizisten schwarz gefärbte Wehrmachtsuniform, schwarzgefärbte Gebirgsjägermütze und den Holzknüppel am Koppel. Die Verkehrsposten trugen weiße Schirmmütze und weißes Koppel mit Schulterriemen. 1950 erhielt die Marburger kommunale Polizei-Mannschaft dann blaue Uniform mit Schirmmütze nebst Pistole.  

Militärpolizei und deutsche Polizei führten gemeinsam motorisierte Streifen durch, wobei die MP die amerikanischen Soldaten und die deutsche Polizei-Hilfstruppe die deutschen Bürger kontrollierte. Beide unterstanden dem amerikanischen Provost Marshall Singleterry von der amerikanischen Militär-Regierung. Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Marburg/L. wurde durch diese der Heilpraktiker Erich Kroll als Leiter und Kommandant der Marburger Polizeitruppe eingesetzt. Ab 1. 7.1946 bis 1952 war dann Herr Müller Kommandant und Polizei-Direktor. Durch Reorganisation wurde die Personalstärke auf 55 Mann heruntergesetzt. Im Herbst 1946 öffneten die Gerichte wieder ihre Tore, Straftaten wurden wieder bearbeitet. Der holländische Kripo-Leiter van Oudt mit seinen Elsässern verschwand 1945.

 

 

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Materielle Probleme
Materielle Probleme
In dem Kapitel "Umrisse der neuen Ordnung" berichtet Gimbei über die kurzfristig zu bewältigenden Aufgaben der Besatzungsmacht angesichts der durch Not und Elend gekennzeichneten Situation der Bevölkerung.[33]


Neben der Lebensmittelversorgung bildete die Wohnraumfrage das Hauptproblem der mit Flüchtlingen, Ausgebombten, Vertriebenen, der aus den Lagern in Ockershausen und Cappel befreiten Polen sowie den zu erwartenden Studenten überfüllten Stadt (Dokument 16). Außerdem beanspruchte die Besatzungsmacht in Stärke von 3000 Mann geschlossene Stadtviertel mit allem Zubehör für ihren Lebensunterhalt (Dokument 17). Diese zugespitzte Lage wurde in einem Gutachten untersucht, das das Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität in Verbindung mit maßgebenden Hygienikern der Stadt erstellte, um vor gefährlichen Auswirkungen für die öffentliche Gesundheit zu warnen. (Dokument 18).

 


 

Quellen und Literatur:

[33] J. GIMBEL, Eine deutsche Stadt, S. 69 ff; vgl. auch DERS., Marburg nach dem Zusammenbruch, S. 18 ff.

Bericht des Wohnungsamtes an den Oberbürgermeister Siebecke vom 20. 8. 1945

Bericht des Wohnungsamtes an den Oberbürgermeister Siebecke vom 20. 8. 1945 [77]

- Wohnungsamt/KL. -

Marburg/L., den 20. 8. 45

An den

Herrn Oberbürgermeister

der Stadt Marburg/Lahn



Die sich von Tag zu Tag schwieriger gestaltende Wohnraumlenkung in der Stadt Marburg macht es mir zur Pflicht Sie zu bitten


1. schnellstens die beantragte Verordnung mit allen Rechten in Kraft zu setzen,



2. unter allen Umständen darauf zu dringen, daß von einer weiteren Beschlagnahme des an sich äußerst beschränkten Wohnraumes in der Stadt Marburg, durch die amerikanische Provinzialregierung abgesehen wird,



3. daß uns die im Stadtgebiet verbliebenen Baracken zur Verfügung gestellt werden.



Begründung: zu 1: Die Art des Mietens und Vermietens von Wohnraum, nimmt aus der Not geboren Formen an, die einem wilden Schwarzmarkt gleichen und zwar sind die Beteiligten in der Oberzahl Deutsche, jedoch auch Ausländer und Mitglieder der Besatzungstruppen. Es gibt Vermieter, die einen schwunghaften Wucher mit der nächtlich wechselnden Schlafstellenvermietung betreiben. Es gibt Hauseigentümer, die ihre Wohnung gegen Zahlung einer schwindelnd hohen Miete, den Meistbietenden zuweisen, und gegen Zahlung eines zusätzlichen Handgeldes, ohne Inanspruchnahme des Wohnungsamtes, auf allen möglichen Schleichwegen vermieten. Es gibt Ausländer, zumeist in amerikanischer Uniform, sowie Besatzungstruppen, die den von uns mit Mühe und Not beschlagnahmten Wohnraum - zumeist auch im Einverständnis des Vermieters - einfach belegen, so daß die bei uns schon lange registrierten Wohnungssuchenden sehr häufig die Nachricht erhalten, daß der von uns zugewiesene Wohnraum schon belegt ist. Alle diese Vorkommnisse bedeuten neben der erheblichen Arbeitsmehrleistung meiner Dienststelle eine Minderung des Ansehens, wenn nicht völliger Ausschaltung des Wohnungsamtes.


zu 2 bitte ich Sie, darauf zu dringen, daß der gesamte z. Zt. von den Besatzungstruppen beschlagnahmte Wohnraum, einmal von einer übergeordneten Dienststelle der amerikanischen Armee genaustens kontrolliert und nach Möglichkeit reduziert wird. Es sollten zu dieser Kontrollkommission Vertreter des Herrn Town-Majors, des Military Government und der amerikanischen Provinzialregierung gehören, die unseren Feststellungen nach nicht gemeinsam, sondern jeder für sich Wohnraum belegen. Vielleicht lassen sich hier die notwendigen Maßnahmen für die 3 vorgenannten Stellen von einer Zentralstelle, nach Möglichkeit unter Hinzuziehung des Wohnungsamtes, vornehmen, wobei die politisch belasteten Hausbewohner usw. besonders berücksichtigt werden könnten.


zu 3: Könnten die im Stadtgebiet Marburg verbliebenen Baracken nicht dem zugedachten Zweck zugeführt werden?


Wir haben in unserer Reflektantenliste für Baracken etwa 120 kinderreiche Familien, die z. Zt. noch in Not- oder Kellerwohnungen hausen, vorgesehen, die bis zum Winteranfang unter allen Umständen umquartiert sein müssen.


Im übrigen werden wir durch die baldige Eröffnung der Universität vor ein Problem gestellt, das bei nicht vorgesehener Inanspruchnahme des Wohnraumes der Stadt Marburg, nicht gelöst werden kann. Die Zahl der Studierenden beläuft sich, wie bei einer Sitzung des Universitätsausschusses festgestellt, auf ca. 5000.


Des weiteren ist es unerläßlich, durch Presse, Anschlag und Rundfunk nochmals ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß der Zuzug nach Marburg-Stadt gesperrt ist, sowie die amerikanischen Dienststellen zu bitten, ihre Arbeitskräfte nur durch das Arbeitsamt anzufordern.


Die Zuzugsperre wird zumeist dadurch umgangen, daß eine Arbeitsbescheinigung irgendeiner amerikanischen Formation oder Dienststelle vorgelegt wird, die gleichzeitig für den Betreffenden die Zuweisung von Wohnung fordert.


Angesichts dieser schweren Umstände bitte ich Sie, Ihren ganzen Einfluß geltend zu machen und dem Herrn Gouverneur diese ganze Angelegenheit so vorzustellen, wie sie wirklich ist. Das von Seiten des Wohnungsamtes nichts unterlassen wird und keine Mehranstrengung gescheut wird, um der anrückenden Wohnraumkatastrophe zu entgehen, ist selbst- verständlich und bedarf nicht erst einer besonderen Versicherung.

 


 

Anmerkungen:

[77] Bericht des Wohnungsamtes an den Oberbürgermeister vom 20. 8. 1945, SPA-Akten, Magistratsarchiv

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Staatspolitischer Ausschuß an Hermann Bauer zur Beschlagnahmung von Wohnung in Marburg durch die Militärregierung, 3. 12. 1945

Staatspolitischer Ausschuß an Hermann Bauer zur Beschlagnahmung von Wohnung in Marburg durch die Militärregierung, 3. 12. 1945 [78]


Staatspolitischer Ausschuß

Marburg-Lahn, den 3. Dezember 1945.

Antifaschister Ausschuß der demokratischen Parteien


Herrn

Hermann Bauer Marburg

 

Die Militär-Regierung hat der Stadtverwaltung die Auflage gemacht, für eine dauernde Besatzungstruppe in Stärke von 3000 Mann geschlossene Stadtviertel mit allem Zubehör amerikanischer Lebenshaltung zur Verfügung zu stellen.

Die kasernenmäßige Unterbringung der Truppe ist durch die Belegung der Landesheilanstalt und die der vorhandenen Kasernen nach Auskunft des städtischen Bauamtes, das die Aufträge der Militär-Regierung auszuführen hat, gesichert. - Daneben werden aber für Offiziere, Unteroffiziere und Verwaltungsbeamte 437 komplette Sieben-, Fünf- und dabei 375 Dreizimmerwohnungen beansprucht.

Durch diese Auflage würde ein Zustand für Marburg geschaffen, den unsere Stadt als Universitätsstadt nicht tragen kann.

Daher sollen Mittel und Wege gefunden werden, durch Vermittlung des hiesigen Gouverneurs an höchster Stelle der Militär-Regierung die Soll-Stärke der Garnison erheblich herabzusetzen.

Der Oberbürgermeister, der Rektor der Universität, der Dekan der Medizinischen Fakultät und die Vorsitzenden der politischen Parteien werden daher zu einer Beratung auf Donnerstag, den 6. Dezember nachmittags 5 Uhr von dem Antifaschistischen Ausschuß der demokratischen Parteien in das Rathaus, Zimmer 1 b, eingeladen. - Die Geladenen werden gebeten, persönlich zu erscheinen und sich nicht etwa vertreten zu lassen, da der Gegenstand der Tagesordnung für Marburg als Universitätsstadt eine Lebensfrage bedeutet.

 

Tagesordnung:

1.)    Stellungnahme zu der Regelung der Besatzungsfrage.

2.)    Verschiedenes.

 

Stempel Stadt Marburg                                                              i. A. Treut

 


 

Anmerkungen:

[78] Staatspolitischer Ausschuß an Hermann Bauer, 3. 12. 1945, Bauerpapiere

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Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Marburg zur hygienischen Bedeutung der Wohnungsfrage und Besatzungsfrage an den Staatspolitischen Ausschuß, 10. 12. 1945

Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Marburg zur hygienischen Bedeutung der Wohnungsfrage und Besatzungsfrage an den Staatspolitischen Ausschuß, 10. 12. 1945

Die hygienische Bedeutung der Wohnungsfrage und Besatzungsfrage in Marburg [79]


Im Zusammenhang mit der geplanten militärischen Dauerbesatzung Marburgs wurde in einer Sitzung der antifaschistischen Parteien zusammen mit den Vertretern der Stadt und der Universität Marburg der Dekan der Medizinischen Fakultät gebeten, die Auswirkung auf das öffentliche Gesundheitswesen, besonders mit Hinblick auf die Wohnungsverhältnisse und ebenso mit Hinblick auf die öffentlichen Krankenanstalten zu prüfen. Dies geschah in eingehenden Beratungen mit den maßgebenden Hygienikern der Stadt, nämlich mit Professor Dr. Hans Schmidt als Direktor des Hygienischen Instituts und der Behring-Werke und mit Professor Dr. Schenck als leitendem Amtsarzt. Es ergaben sich dabei folgende Gesichtspunkte.



1.) Krankenanstalten



Für die Unterbringung einer dauernden Garnison von 3000 Mann würde die militärische Belegung der Landesheilanstalt
nach dem Urteil des Bauamtes unumgänglich sein. Kann diese Anstalt für eine Reihe von Jahren entbehrt werden? Es sind zwar durch die Tötung einer größeren Anzahl von Geisteskranken durch die berüchtigte Aktion der nationalsozialistischen Partei in den Heilanstalten freie Plätze entstanden. Dieser Ausfall wird aber aufgewogen nicht nur durch die ständig neu hinzukommenden Psychosen, sondern vor allem auch durch einen großen Bettenbedarf für nichtgeisteskranke, chronisch Sieche (Rückenmarkskrankheiten, schwere Gelenkerkrankungen, Lähmungen, Altersschwäche usw.). Durch die Zerstörung vieler Krankenhäuser und die Unmöglichkeit häuslicher Pflege bei den jetzigen Wohnungsverhältnissen ist eine akute Notlage entstanden, die sich auf das ganze öffentliche Gesundheitswesen zunehmend auswirkt. Die Krankenhäuser können die chronischen Fälle nicht rechtzeitig abgeben; dadurch stockt die Aufnahme von neuen Erkrankungen. Außerdem sind viele Privatsanatorien militärisch beschlagnahmt, wodurch die staatlichen Heilanstalten zusätzlich belastet werden. Nimmt man dies alles zusammen, so werden die staatlichen Heilanstalten in absehbarer Zeit wieder gefüllt sein, und der Ausfall der großen Landesheilanstalt Marburg wird sich alsdann auf die öffentliche Gesundheit und Sicherheit schwierig auswirken, vor allen, was die Internierung gefährlicher Geisteskranker und die gerichtlichen Fälle betrifft.


Will man aber trotzdem die Heilanstalt militärisch belegen, so wäre jedenfalls die gleichzeitige Beschlagnahme des Ortenbergviertels nicht durchführbar. Den Mittelpunkt desselben bildet die Universitäts-Nervenklinik, die alsdann in weitem Umkreis die einzige noch vorhandene Möglichkeit darstellt, Psychosen unterzubringen, und die auch wegen ihrer störenden Kranken und ihrer baulichen Spezialeinrichtungen nicht in ein anderes Krankenhaus verlegt werden kann; die aber außerdem für den medizinischen Universitäts-Unterricht und als bekannte internationale Forschungsstätte unentbehrlich ist. Auch die Wohnhäuser des Ortenbergviertels könnten wohl nicht geschlossen beschlagnahmt werden, da ein Teil des Ärzte- und Pflegepersonals aus dienstlichen Gründen auf Wohnungen in der Nähe der Klinik angewiesen ist.



2.) Das Wohnungsproblem in hygienischer Beleuchtung


Macht schon die Kasernierung von 3000 Mann Besatzungstruppen erhebliche Schwierigkeiten für das öffentliche Gesundheitswesen, so gilt dies noch mehr für die Beschaffung der für die Militärfamilien angeforderten Privatwohnungen. Es darf dabei keinesfalls ausgegangen werden von der augenblicklichen Belegung der Stadt, die als Obergang vom Kriegs- zum Friedenszustand schon hygienisch bedenklich genug ist, aber für einige Monate durchgehalten werden konnte. Es muß vielmehr jetzt eine sorgfältige Dauerplanung auf längere Sicht erfolgen, nicht mit Rücksicht auf irgendwelche Bequemlichkeit, wohl aber mit Rücksicht auf gewisse elementare Grundforderungen der Wohnungshygiene. Würde man das nicht tun, so würden die Besatzungstruppen zuletzt in Leben und Gesundheit nicht weniger gefährdet sein als die Zivilbevölkerung.


Die jetzige Art der Belegung der Stadt entspricht den hygienischen Forderungen in keiner Weise. Eine große Zahl von Menschen, sowohl Studenten wie sonstigen Zivilisten, lebt gesundheitsschädlich in Noträumen, die nicht beheizbar und die häufig weder mit Küchenräumen noch mit ausreichenden Aborten und Waschgelegenheiten, öfters auch nicht mit Betten versehen sind. Die beim Abzug der mobilen Truppen frei werdenden Häuser sind in ihrem jetzigen Zustand öfters nicht mehr hinreichend bewohnbar. Wie Besichtigungen durch den Amtsarzt ergaben, enthalten sie öfters keine genügenden Möbel, keine Betten und Ofen, manchmal fehlen auch benutzbare hygienische Einrichtungen. Versucht man also jetzt, ein geschlossenes Wohnviertel für die endgültige Besatzung frei zu machen, so finden die herausgesetzten Bewohner keineswegs in anderen Stadtviertein eine genügende Zahl von hygienisch brauchbaren Wohnungen. Durch das Fehlen der Heizung werden in diesem Winter mit größter Wahrscheinlichkeit noch außerdem eine große Menge von Frostschäden an Wasserleitungen, Heizröhren und Closets entstehen, die unter den heutigen Verhältnissen nicht in nötigem Umfang und in der nötigen Zeit repariert werden können.


Die Hygieniker befürchteten schon in diesem Sommer eine Erschöpfung der Wasser- reservoire der Stadt; bei erneuter größerer Einquartierung könnte in trockenen Sommern hieraus eine katastrophale Seuchengefahr erwachsen.


Auf dieser Basis muß das Seuchenproblem überhaupt für die kommenden Jahre mit dem größten Ernst betrachtet werden. Bricht eine Seuche aus, so ist bei der jetzigen Belegungs- dichte der Stadt eine wirksame Seuchenbekämpfung unmöglich. Dies gilt auch für den Fall, daß nach Abzug sämtlicher mobiler Truppen bei gleichzeitigem Hinzukommen der geplanten Dauerbesatzung die statistische Bevölkerungszahl sich auf dem Papier etwas verringern sollte; die effektive Zahl hygienisch brauchbarer Wohnungen wird sich trotzdem prozentual schwerlich vergrößern, infolge des Defizits an Betten und sanitären Einrichtungen in vielen beschlagnahmt gewesenen Wohnungen. Ein hygienisch vertretbarer Zustand der Stadt könnte vielmehr in nächster Zeit nur erreicht werden, wenn die durch Bombenschäden reduzierte, durch Studenten und Flüchtlingszuwanderung ohnehin überfüllte Stadt nach Abzug der mobilen Truppen durch Neubelegung von Wohnraum nicht mehr in größerem Umfang beeinträchtigt würde.


Bricht aber anderenfalls eine Seuche aus, so kann sie wirkungsvoll nicht mehr bekämpft werden; denn der Isolierraum in den Krankenhäusern ist eng begrenzt; in den überfüllten, unhygienischen Wohnungen aber ist jeder Masseninfektion Tür und Tor geöffnet und eine wirksame Isolierung Kranker ausgeschlossen.


Drohen denn überhaupt Seuchen? Diese Frage kann nach den bereits jetzt gemachten Erfahrungen und auf Grund ähnlicher Lebensverhältnisse in den Jahren 1917 bis 1923 mit großer Wahrscheinlichkeit beantwortet werden.


Im Winter ist die Gefahr bösartiger Grippe-Epidemien in dichte Nähe gerückt und durch das Zusammenwirken von Kälte- und Nährschäden bei der eng zusammengedrängten Bevölkerung fast unvermeidlich. In den Jahren nach 1917 entstanden ganz bösartige Grippe-Epidemien von großer Ansteckungskraft, die durch foudroyante Lungenentzündungen große Bevölkerungsgruppen in kurzer Zeit tödlich hinweg rafften. Von der Bevölkerung wurden sie deshalb als "Pest" bezeichnet. In derselben Zeit entstand auch die gefürchtete sog. "Gehimgrippe" (Encephalltis epidemica Economo), als deren Folge heute noch viele körperlich und geistig verkrüppelte Menschen zu sehen sind.


Sodann ist mit einer wesentlichen Ausbreitung und Verschlimmerung der Tuberkulose zu rechnen, die gerade durch die enge Zusammendrängung von Menschen in unhygienischen Wohnungen einen besonders günstigen Boden findet.


Endlich ist die Flecktyphus-Gefahr für die kommenden Winter besonders ins Auge zu fassen. Nach den Feststellungen des Amtsarztes schlafen zahlreiche Menschen ohne Betten und ohne Wäschewechsel in ihrem Anzug; dadurch findet das eingeschleppte Ungeziefer, das den Flecktyphus überträgt, besonders günstige Lebensbedingungen.


Für den Sommer ist in den nächsten Jahren die Möglichkeit des Aufkommens großer Ruhr- und Typhus-Epidemien besonders ernst zu nehmen. Es hat sich schon in diesem Sommer gezeigt, daß ausgebreitete Ruhrinfektionen in Marburg dauernd bis zum Herbst fortliefen und nicht ausgerottet werden konnten. Dabei war die bisherige Ruhrepidemie nach Schwere und Umfang noch relativ harmlos. Seuchen dieser Art sind aber in ihrer Virulenz unberechenbar und können im nächsten Jahr schon ganz gefährliche Grade mit massenhaften Todesfällen annehmen. Dasselbe gilt auch vom Typhus. Gerade diese Darm-Infektionen werden in den künftigen Sommern durch die unzulänglichen Abort-, Wasser- und Küchen- verhältnisse vieler Notwohnungen eine schwere Bedrohung bilden und durch Verschmierung, Fliegenübertragung usw. die ganze übrige Bevölkerung mit Einschluß der militärischen Besatzung
ebenso ständig bedrohen, wie die Grippe- und Gehirngrippe-Epidemien des Winters.


Daneben soll auch die in Amerika mit Recht hoch bewertete psychische Hygiene noch kurz berührt werden. Der Nervenarzt sieht zur Zeit im Zusammenhang mit dem Wohnungselend wieder ein Ansteigen der reaktiven Depressionen, der paranoiden Entwicklungen, der Kurzschlußreaktionen und der Neurosen, wie dies auch nach dem ersten Weltkrieg der Fall war. Diese Einzelerkrankungen sind als Signale eines bedenklichen psychischen Gesundheitszustandes der Gesamtbevölkerung zu bewerten. Menschen, deren vitale Grundbedingungen unter ein gewisses Minimum sinken, sind stets als gefährdet zu betrachten,  psychisch nicht mehr richtig zu lenken, und stets bereit, auch politisch in gefährliche Radikalismen und explosive Unbesonnenheiten zu verfallen. Die leitenden Persönlichkeiten der Universität und Stadt Marburg sind sich ihrer Verantwortung voll bewußt und stets am Werk, die Studenten und die Bevölkerung in gutem Einvernehmen mit der amerikanischen Militärregierung zu einer ruhigen, besonnenen und friedliebenden, im echten Sinne demokratischen Haltung zu erziehen. Auch diese Bemühungen werden nur von Erfolg begleitet sein, wenn der vitale Standard, der besonders eng mit der Wohnungsfrage zusammenhängt, nicht unter einen bestimmten Punkt sinkt.


Die wenigen, noch einigermaßen unzerstörten Städte Deutschlands dürften auch im internationalen Interesse nicht zu Seuchenherden werden; sie müßten vielmehr die Zentren für die allmähliche materielle und geistige Reorganisation und Wiedergesundung des deutschen Volkes bilden.


Zusammenfassend ist es die Bitte der verantwortlichen ärztlichen Instanzen, die sich mit Stadt und Universität darin einig wissen: die amerikanische Militärregierung möchte erwägen, wie die geschilderten Gefahren abgewendet werden könnten, und, wenn irgend möglich, die Belegung Marburgs mit einer größeren Garnison vermeiden. Vor allem aber ist es unsere ernste und vertrauensvolle Bitte, von einer Beschlagnahme des ohnehin stark eingeengten Privatwohnraums der Zivilbevölkerung absehen zu wollen. Unter gesundheitlichen Gesichtspunkten könnte ein etwa auftretender Bedarf an Wohnungen hier und andernorts wohl nicht mehr durch Rückgriff auf die Restbestände an Häusern und Einrichtungen, sodern wohl nur noch durch rasche Erstellung praktischer Neubauten gedeckt werden.

 




Anmerkungen:

[79] Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Marburg an den Staatspolitischen Ausschuß, 10. 12. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg

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