
Abitur Wilhelm II. 1876/77 in Kassel
Margret Lemberg, CIVIS GERMANUS SUM. Wilhelm II. und seine Zeit im Friedrichsgymnasium in Kassel, in: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 61, Marburg 1997, S. 987-1016
Die vorliegende online-Publikation des Beitrags von Margret Lemberg erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Die Arbeitsstelle Archivpädagogik am Hessischen Staatsarchiv Marburg dankt Frau Dr. h.c. Lemberg für Ihre Unterstützung und Hilfe.
Margret Lemberg, CIVIS GERMANUS SUM [1] Wilhelm II. und seine Zeit im Friedrichsgymnasium in Kassel, in: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 61, Marburg 1997, S. 987-1016
"Die Scheu [...] verschwand aber bald gänzlich vor der Liebenswürdigkeit, mit welcher der Prinz uns allen begegnete. [...] Er erzählte von seinen Erlebnissen, erkundigte sich teilnehmend nach den unsrigen und zog einige von uns in seinen näheren Umgang. [...] Die gewaltige gesellschaftliche Kluft, welche das Leben einst zwischen uns aufrichten musste, wurde gar nicht empfunden; wir fühlten uns als Kameraden."[2]
Mit diesen Worten beschreibt Johannes Schlichteisen das Verhalten des 15jährigen Prinzen Wilhelm, als dieser im Oktober 1874 als Schüler in die Obersekunda des Königlichen Gymnasiums in Kassel eintrat. Man darf jedoch den Anlaß und das Datum der überaus positiven Äußerungen nicht übersehen. Sie sind einer Rede entnommen, die Schlichteisen im Jahre 1889 gehalten hat: Wilhelm II. war erst seit wenigen Monaten Deutscher Kaiser, und Schlichteisen, der mit dem Prinzen in einer Klasse gesessen hatte, war stolz darauf, einen öffentlichen Vortrag über den jungen Kaiser halten zu dürfen, der ihn zudem in seinen näheren Umgang gezogen hatte.
Kritischer beurteilten die Lehrer den Knaben, als der eigene Vater, Kronprinz Friedrich, wenige Wochen nach dem Eintritt seines Sohnes in das "Lyceum Fridericianum" in Kassel der Schule einen Besuch abstattete. Die Lehrer rühmten, so der Kronprinz in einem Brief an seine Gemahlin, "sein natürliches zutrauliches Entgegenkommen, [sie] haben bis jetzt nichts Hochmütiges oder Selbstzufriedenes, wohl aber die Neigung, jedes einigermaßen günstige Urteil auszubeuten, wahrgenommen. Außerdem finden sie, daß er leicht von dem zu handelnden Thema abspringt und mit Redefluß auf andere Gebiete übergeht."[3]
Unabhängig davon, wie Mitschüler oder Erwachsene das Verhalten des jungen Prinzen beurteilten, der Besuch einer öffentlichen Schule durch einen Prinzen aus einem regierenden Haus war ein bis dahin nicht gekanntes Ereignis im Deutschen Reich. Es war selbst beim mediatisierten Adel üblich, die Kinder durch Hauslehrer erziehen und die Jungen als externe Schüler die Abiturprüfung ablegen zu lassen, wenn diese eine Universität in Preußen besuchen wollten. Wenn fürstliche Eltern mit heranwachsenden Söhnen einen Wert in einem Lernen mit Gleichaltrigen sahen, richteten sie für einige Jahre eine kleine Privatschule ein und forderten adelige Verwandte auf, ihre Knaben zusammen erziehen zu lassen, vergleichbar etwa mit den Ritterschulen des 17. und 18. Jahrhunderts. Entsprechend war die Aufregung groß, als der Entschluß des Kronprinzenpaars und des Erziehers Dr. Georg Hinzpeter publik wurde, die beiden ältesten Prinzen Wilhelm und Heinrich öffentlichen Schulen in der Provinz anzuvertrauen.
Nun ist es nicht die Absicht dieses Aufsatzes, die Erziehungsmethoden und politischen Intentionen der königlichen Eltern und des Prinzenerziehers auszubreiten; das hat John C. G. Röhl in seinem umfangreichen Buch "Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859-1888" ausführlich getan; hier soll nur ein von Röhl unbeachtetes Schriftstück näher untersucht und veröffentlicht werden, das der 17jährige Prinz höchstwahrscheinlich ohne die Hilfe seines Erziehers Hinzpeter oder eines anderen Erwachsenen verfaßt hat. Es ist sein für die Anmeldung zum Abitur im Januar 1877 geschriebener Bildungsgang, eine Art erste Selbstbiographie, wie ein Mitschüler diese Art der Darstellung so treffend bezeichnet hat. Normalerweise werden die Lebensläufe, Abiturarbeiten und Protokolle der mündlichen Prüfungen nicht derart lange aufbewahrt, doch die "Prinzenklasse" bedeutete eine solche Ausnahme, daß alle Akten der 17 Schüler bis heute im Hessisches Staatsarchiv Marburg liegen.[4]
Prinz Wilhelm besuchte, nach intensiven Vorbereitungen durch seinen Zivil-Erzieher Hinzpeter und durch die zukünftigen Lehrer des Gymnasiums in den Wochen unmittelbar vor dem Eintritt in das Gymnasium, ab Oktober 1874 die Obersekunda, wurde mit seinen Klassenkameraden Ostern 1875 in die Unterprima und Ostern 1876 in die Oberprima versetzt. Die unter ihrem Direktor Dr. Gideon Vogt gut geführte und viel besuchte Schule schaute auf eine stolze Vergangenheit zurück. Sie war am 23. April 1779 als "Lyceum Fridericianum" von Landgraf Friedrich II. gegründet worden und hatte die alte Lateinschule abgelöst. Nach internen Veränderungen 1822 wurde die Schule 1840 eine rein staatliche Einrichtung. Mit der Annexion Kurhessens im Jahre 1866 wurde die Schule der Aufsicht des Provinzialschulkollegiums unterstellt und erhielt die Bezeichnung "Königliches Gymnasium zu Cassel, genannt Lyceum Fridericianum". Sein Bildungsziel, der "auf menschliche Grundprobleme und Werte ausgerichtete humanistische Charakter", blieb unverändert erhalten. Die Pädagogen wie alle Gebildeten der Zeit waren davon überzeugt, daß nur von den großen römischen und griechischen Autoren grammatikalische und rhetorische Fertigkeiten, ästhetisches Feingefühl und ethische Werte zu lernen seien.[5]
Während der 2 1/2 Jahre am Königlichen Gymnasium wurde Prinz Wilhelm, wie die königlichen Eltern es ausdrücklich gewünscht hatten, wie jeder andere Schüler behandelt. Das schloß natürlich nicht aus, daß die Klasse vor dem Eintritt des Prinzen verkleinert - die sieben schlechtesten Schüler kamen in eine Parallelklasse - und der desolate Zustand des Klassenzimmers verbessert wurde. Doch der Anstrich der Wände, die besseren Möbel und das Waschbecken mit fließendem Wasser kamen ja auch den 16 Mitschülern zugute. Prinz Wilhelm mußte anfangs wie jeder neue Schüler auf dem letzten Platz sitzen und rückte seiner Leistung entsprechend auf den 10. Platz vor. Diesem Leistungsstand nach sind alle schriftlichen Arbeiten abgeheftet und ebenso die Zeugnisliste angeordnet worden; nicht alphabetisch an der Stelle von "P" wie Preußen, wie der Kaiser sich zu erinnern glaubte[6], sondern als Nr. 10 in der Reihenfolge der Gesamtbewertung erhielt der Prinz sein Abiturzeugnis. [Abbildung Nr. Abizeugnis ]
Auf allen anderen Gebieten herrschte natürlich wenig "Gleichheit": Prinz Wilhelm lebte anders, er hatte Dienstboten und einen Militär- und Zivil-Erzieher, er ritt im Sommer von Schloß Wilhelmshöhe hinunter in die Schule[7], sein Umgang war trotz aller Anstrengungen Hinzpeters ein anderer, alle Lehrer waren bestrebt, die Mängel des Knaben nicht zu auffällig zu machen und die sichtbaren Wissenslücken in Privatstunden zu schließen oder ihm sogar einen möglichen Vorsprung zu geben. Und trotzdem ist das Unternehmen "Kassel" und das Verhalten des Prinzen zu bewundern, begab er sich doch unter die Kontrolle einer Öffentlichkeit, die nicht durchweg wohlwollend eingestellt war. Hinzu trat, daß von ihm unabhängige Lehrer seinen Wissensstand beurteilten und gleichaltrige Knaben ausgiebig Möglichkeit hatten, ihn zu durchschauen. Außerdem nahm er eine Arbeitsbelastung ohnegleichen auf sich: Die Prinzen - Heinrich besuchte die Realschule in Kassel[8] - standen um 5.00 Uhr auf, Wilhelm erhielt noch vor Schulbeginn Privatstunden, um 8.00 Uhr begann der sechsstündige Unterricht, der bis 4 Uhr nachmittags dauerte, unterbrochen von einer zweistündigen Mittagspause, in der neben der Mahlzeit privat Fechten oder Reiten gelehrt wurde. Daran schloß sich der Privatunterricht in Französisch und Englisch, in Geschichte oder Nachhilfestunden an. Einladungen, das sogenannte Geschichtskränzchen, Essen mit geladenen Bürgern und Besuche im Kasseler Hoftheater schluckten den Rest an freier Zeit. Längere Ausritte, Schlittschuhlaufen oder Schwimmen waren genau geplante Ereignisse, da nur der Mittwoch- und Samstagnachmittag schulfrei waren. An diesen freien Nachmittagen erhielt Wilhelm Unterweisung im Zeichnen und mußte auf Hinzpeters Anregungen hin Kasseler Fabriken und andere Arbeitsstätten besichtigen und Arbeiterunterkünfte besuchen.
Vor diesem Hintergrund ist der 30 Seiten umfassende "Bildungsweg" des Prinzen [Abbildung Nr. Bildungsweg ] überaus interessant. Obgleich alle 17 Schüler denselben Auftrag erhalten hatten, nämlich bis zum 9. Oktober 1876 eine Selbstbiographie anzufertigen, gleicht natürlich kein Lebenslauf dem eines anderen Schülers. Nicht nur die äußeren Umstände waren jeweils andere - Herkommen, Beruf des Vaters, Wohnortwechsel, Schulbesuche, Reisen -, auch dieselben Ereignisse, nämlich die Kriege 1866 und 1870/71 und die bis dahin gemeinsam verbrachten 2 Schuljahre werden unterschiedlich gesehen. Und trotzdem ist den Bildungsgängen der Jungen aus bürgerlichen Häusern vieles gemeinsam, der Lebenslauf des Prinzen dagegen singulär. Viele der Jungen reflektieren die Erinnerungen an die Kindheit und den Einfluß der Erzählung der Erwachsenen auf ihr Erinnern, betonen den intellektuellen Einfluß des Vaters oder das Verwöhnen durch die Großeltern; wichtig ist ihnen auch, ob sie Geschwister und Spielgefährten hatten oder als Einzelkinder groß wurden. Sie sprechen über körperliche Schwächen, über Krankheiten, die sie wochen-, ja monatelang am Schulbesuch hinderten, und beurteilen genau den Unterricht bei ihren Privatlehrern - nur die wenigsten hatten in den ersten Jahren eine öffentliche Schule besucht.
Sie sind auch in der Lage, den Begriff "Bildung" aufzuschlüsseln und zwischen der Bedeutung der Natur (Wälder, Flüsse, Seen, Tiere) für ihre Entwicklung auf der einen Seite und der der Kultur auf der anderen zu unterscheiden: Theater, Museen, Baudenkmäler aber auch das eigene Klavierspiel empfanden sie als prägend. Auch die Blicke auf das Gymnasium und den behandelten Unterrichtsstoff sind bei allen unterschiedlichen Vorlieben der einzelnen Schüler ungewöhnlich ähnlich. Man gewinnt als Leser eine guten Überblick über den Lesestoff im Fach Deutsch (3 Unterrichtsstunden) (Lessing, Schiller, Goethe, viele Balladen, deutsche Sagen, Shakespeare in Übersetzung) und über die Methoden des Unterrichts in Latein (8 Stunden) und Griechisch (6 Stunden ab Untertertia), der aus viel Grammatik und Übersetzungsübungen bestand; aber die Jungen lasen auch, z.T. in Auszügen, bedeutende literarische Werke (Caesar, Sallust, Cicero, Ovid, Horaz, Homer, Sophokles, Demosthenes). Seltsamerweise spielen Mathematik und Physik - immerhin mit 6 Stunden in der Woche relativ gründlich unterrichtet - in den Lebensläufen kaum eine Rolle.
Die Identifikation mit den Inhalten des Faches Geschichte (Antike, Mittelalter, Dreißigjähriger Krieg) ist erstaunlich hoch. Das Erlebnis des Krieges 1870/71 überlagert jedoch alles; er hatte bei allen Schülern, die in der Zeit schon in Kassel gewohnt hatten, einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Das Gefühl für nationale Einheit dominiert; das geht so weit, daß einige eingestehen, die Ereignisse von 1866 (die Annexion Kurhessens durch Preußen) nachträglich in einem anderen Lichte zu sehen. Andererseits berichten sie jungenhaft begeistert von Siegesnachrichten, Truppentransporten am Bahnhof und der Gefangenschaft Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. Gemeinsam ist ihnen auch ein gewisser selbstkritischer Blick für die eigene Leistung, ja eine leichte Ironie, wobei der Stolz auf einen guten Stand in der Klasse dem nicht widersprechen muß. Formal, nicht inhaltlich völlig aus dem Rahmen fällt der "Bildungsgang" eines Schülers mit Namen August Herzog; Herzog schreibt seinen gesamten Text in vierfüßigen Jamben und fügt noch lateinische und griechische Passagen ein. Zum Schluß bedenken die meisten den vergangenen Lebensabschnitt und machen sich Gedanken über ihre persönliche Zukunft. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die 17-18jährigen Jünglinge unterschiedslos, im Vertrauen auf die Verschwiegenheit der Schule, sich und ihr Werden "preisgegeben" haben.
Grundsätzlich anders liest sich die Darstellung des Prinzen. Anfangs gewinnt man den Eindruck, er bleibe aus Unvermögen bei Äußerlichkeiten stehen und sei unfähig, etwas über sich und seine geistige Entwicklung zu schreiben. Auch eine ärmliche Sprache mit ständigen Wortwiederholungen (machte) und leeren, übersteigerten Wendungen (herrlich, wunderbar oder einstmaliger, aber jetzt zerstörter Macht und Herrlichkeit) oder der für unsere Ohren hochtrabend klingende, vermutlich aber übernommene, häufig wiederkehrende Begriff: begann das Studium der lateinischen Sprache oder fing ich meine mathematischen Studien an, stören erheblich. Doch aus diesen ungelenken Formulierungen, der mangelnden Beherrschung der Interpunktion und der etwas altertümlichen Rechtschreibung (sehn, gehn, thun, marschiren, Kammerad) kann man mit einiger Sicherheit schließen, daß keiner den Text des Prinzen korrigiert oder gar geschönt hat[9].
Hat man jedoch den gesamten Text gelesen, wird einem klar, daß dieser besondere Schüler von klein auf lernen mußte, eine Rolle zu spielen, und unter der Devise auf seine 17 Lebensjahre zurückblickte, so wenig wie möglich von sich preiszugeben. So fällt kein Wort über seine qualvolle Kindheit und frühe Jugend, die fast einer Kindesmißhandlung gleichkam[10]. Durch einen Fehler von Geburt an war sein linker Arm lahm, er konnte, wie ein Kasseler Mitschüler berichtete, "nicht einmal ein Buch damit halten"[11]. Um diesem Arm Leben zu geben und dessen Wachstum zu stärken, erhielt schon der Säugling Massagen, kalte Bäder und Elektrisierungen; der Arm kam in eine Armstreckmaschine, man beugte das Gelenk und band den rechten Arm an den Leib des Kindes, damit er den linken zu gebrauchen lerne. Als der Prinz mit vier Jahren einen Schief- oder Drehhals bekam, wurde er täglich stundenlang in eine Kopfstreckmaschine gesteckt und schließlich der sogenannte "Kopfnicker" am Hals durchgeschnitten. Gravierende Gleichgewichtsprobleme zeigten sich ständig beim Gehen und Spielen. Diese körperlichen Schwierigkeiten wuchsen sich zum Trauma aus, da seine Mutter ihn nicht so akzeptieren wollte, wie er war. Sie schämte sich seiner, redete und schrieb über ihre Enttäuschung und zeigte keinerlei Verständnis für die normalen Überreaktionen des körperbehinderten, von Ärzten gequälten Jungen. Die übersteigerte Aufmerksamkeit, die sein "Fehler" auch optisch erregte, bewirkte Kompensationen unterschiedlicher Art: Der Prinz entwickelte ein übersteigertes Selbstwertgefühl, verhielt sich als junger Mann allen Familienangehörigen gegenüber überaus kühl und versuchte krampfhaft zu gefallen, was ja auch Schlichteisen ungewollt ausdrückt.
Wenn andere Jungen von Vater, Mutter und Großeltern und deren Einfluß schreiben konnten, verbot sich das für den ältesten Sohn aus der Ehe der englischen Prinzessin Victoria und des Kronprinzen Friedrich. Er litt ständig unter der Verachtung seiner Mutter allen preußischen Einrichtungen gegenüber; während der Prinz seinen Großvater, Kaiser Wilhelm I., verehrte, lehnte seine Mutter diesen liebenswerten und vornehmen "Soldaten" ab. Entsprechend ahnte Wilhelm, daß es einfacher war, gar nichts über die Familie zu schreiben. Genauso verfuhr er mit seinen zahlreichen Geschwistern. Da deren Existenz allseits bekannt war, konnte er sie übergehen. Was sie taten oder er ihnen angetan hatte, ging keinen etwas an. Der eigene Prinzenhaushalt und die häufig abwesende Mutter trugen auch nicht sonderlich dazu bei, die Atmosphäre einer gemeinsamen Kinderstube entstehen zu lassen.
Daß er England und seine häufigen Aufenthalte am englischen Hof oder auf der Isle of Wight nur unter dem Aspekt der See, der Schiffe und des Flottenwesens sah, wäre für einen normalen Jungen durchaus akzeptabel; der Sohn der englischen Königstochter Victoria jedoch sollte nach dem Willen seiner Mutter wie selbstverständlich die viel fortschrittlichere englische Machtverteilung zwischen Krone und Ober- und Unterhaus als eigenes Vorbild nehmen und die liberaleren Ideen der Eltern in Preußen und damit im neuen Deutschen Reich verwirklichen. Nichts davon spiegelt der Lebenslauf. Aus vielen Äußerungen weiß man zudem, daß die Erziehung seiner Mutter kontraproduktiv gewirkt hat, Wilhelm lehnte England ab. Hinzu kam, daß er sich durch die vielen Briefe seiner Mutter an Königin Victoria über ihn und sein Verhalten bloßgestellt und abgelehnt fühlen mußte. Doch andere Bemerkungen wirken wie ein Vorgriff auf seine spätere Leidenschaft für Nordlandfahrten (Kein Reiseziel erfreute mich mehr als wenn es ans Meer ging) und auf die forcierte Flottenpolitik des Deutsche Reichs (Ueberhaupt versuchte ich so viel ich nur konnte meine Kenntnisse in Bezug [auf] das Flottenwesen zu bereichern). Vermutlich ist der Ausbau der Flotte in Konkurrenz zu England weit stärker ein Beispiel für das "persönliche Regiment" des jungen Kaisers als allgemein angenommen.
Wer in großen Häusern, Schlössern oder Hotels lebt, wie der preußische Prinz, wird schwerlich in der Lage sein, naiv über den Einfluß von Feld, Wald und dem nahen Bach zu reflektieren, wie es die bürgerlichen Mitschüler taten, und sein Staunen über ein bedeutendes Bauwerk hielt sich entsprechend auch in Grenzen, wohnte er doch in einem Barockschloß mit klassizistisch ausgestatteten Räumen. Einen Anklang an die Begeisterung der Mitschüler findet man vielleicht bei seinen Beschreibungen der antiken Bauwerke Südfrankreichs, wobei vor allem der Cannes-Aufenthalt ihn beeindruckt haben muß. Auch die Reitstunden, die andere Schüler als etwas Besonderes erwähnen, sind für einen Knaben, der mit zwei Jahren sein erstes Pony geschenkt bekam, etwas Selbstverständliches.
Anders hingegen wirken seine Erinnerungen an seine durch die jugendliche Homer-Lektüre ausgelöste Begeisterung für die heldischen Krieger der Ilias und deren Waffen. Den Kriegsgott Ares lehnte er - trotz seiner Begeisterung für das Soldatentum - sicherlich deshalb ab, weil dieser in der griechischen Mythologie als brutal und mordlustig beschrieben wird; als Helfer im Krieg und edlem Kampf dienten Zeus oder Athene. Schade ist nur, daß Wilhelm hier, wie an anderen Stellen auch, die Zeitenfolge nicht eingehalten hat, so daß man anfangs geneigt ist, die Erzählung aus der Kindheit in die Kasseler Zeit zu verlegen. Daß sein Berufswunsch, ein Soldat zu werden, in eklatantem Widerspruch zu seiner Körperbehinderung stand - oder aber als Beweis einer perfekten Kompensation gelten konnte -, war ihm sicherlich nicht bewußt. Seine Mitschüler berichteten voller Bewunderung, welche Fertigkeit der Prinz mit seinem gesunden rechten Arm erreicht habe: Er könne schneller ein Gewehr laden, als sie mit zwei gesunden Armen[12]. Seine begeisterten Erinnerungen an den Deutsch-Französischen Krieg entsprechen durchaus denen seiner bürgerlichen Mitschüler, nur daß der Preußenprinz keine Truppentransporte am Bahnhof bewundern konnte, sondern, seinem Rang entsprechend, echte Trophäen bestaunen und beim Einzug in Berlin mitreiten durfte.
Selbst der Kulturkampf findet seinen Niederschlag im Bildungsgang mit Attacken gegen Rom. Es ist verständlich, daß Wilhelm als zukünftiger Kaiser sich mit den großen Herrschergestalten des Mittelalters identifiziert - Geschichte war bis in unsere Tage Fürstengeschichte -, doch für ihn verbindet sich mit Friedrich Barbarossa hauptsächlich der Gedanke, Päpste ein- und absetzen zu können[13]. Bei all seiner Hochachtung für das in seinen Augen "heile" Mittelalter und für das neue Reich ist es verwunderlich, daß er keine der großen Sedanfeiern, die er in Kassel miterlebt hat, erwähnt. Bei dem Festzug am 2. September 1875 trug er sogar die von seiner Mutter der Schule gespendete Fahne[14].
Am eindrucksvollsten klingen seine Sätze über Demosthenes. Zwar wirkt seine Aburteilung des Cicero und des Horaz etwas übertrieben, und man mag schon an die wütenden Verdikte des späteren Kaisers denken, doch die anderen Schüler urteilen in der Tendenz ähnlich, wenn auch dezenter, demnach wird sich hier vermutlich die Meinung eines einflußreichen Lehrers widerspiegeln. Seine emphatische Hymne auf den griechischen Redner ist deshalb so interessant, weil alle Zeitgenossen nach 1888 die rhetorische Begabung Kaiser Wilhelms II. anerkennen mußten. So klingen seine Formulierungen im Bildungsgang: alle Hindernisse, die sich ihm [Demosthenes] in den Weg stellten, besiegte er, wie eine Aufforderung zur Nachahmung. Und gerade Skeptiker, ja Gegner mußten dem häufig unüberlegt und geradezu taktlos wirkenden Kaiser zugestehen, daß er - wie Demosthenes - frisch von der Leber weg ohne Konzept reden konnte (klar, einfach, wahr) und bei seiner schnellen Auffassungsgabe in Minuten eine schwierige Sachlage erfassen und grandios "verkaufen" konnte. Daß Wilhelm II. genauso schnell das Interesse an einer Sache verlieren konnte, war eines der Hauptübel, mit dem schon Hinzpeter nicht nur in Kassel zu kämpfen hatte. Sein Erzieher ließ übrigens kein Mittel unversucht, um seinen Schüler zu einem Redner in der Nachfolge Demosthenes' auszubilden, denn noch in Kassel muß er anfangs nach Aussage eines Mitschülers, seines Freundes Siegfried Sommer, des einzigen jüdischen Schülers in der Klasse, "furchtbar rasch, dadurch undeutlich [gesprochen haben], auch mache er viel Gesticulationen dabei"[15]. Bei Diskussionsrunden mit Mitschülern, durch kleine Vorträge und Deklamationen übte der Prinz sich während der Kasseler Jahre mit Erfolg.
Zwei Passagen fallen jedoch deutlich aus dem Rahmen: Einmal ist es der Eintritt in die öffentliche Schule - hier wird der Prinz plötzlich zum unsicheren 15jährigen Jungen -, zum anderen die überlegte und überlegene Beschreibung seines Prag- und Wienbesuchs ein Jahr zuvor. Der 14jährige Knabe hatte seine Eltern im April zur Weltausstellung nach Wien begleiten dürfen, zum Ärger Hinzpeters, der das übersteigerte Selbstbewußtsein des Prinzen anschließend zu spüren bekam, und Wilhelm war sich der Rolle, die er zu spielen hatte, völlig bewußt. Den Kasseler Lehrern zeigte er, wie kenntnisreich er über die Stätten des Dreißigjährigen Krieges und über die damaligen Politiker reden konnte. Er benutzt sogar das stilistische Mittel eines Inneren Monologs. In Wien "spielte" er den zukünftigen Herrscher, indem er betont, er habe versucht zu lernen, seine Kenntnisse zu bereichern und [...] eine wichtige Freundschaft mit dem Kronprinzen Rudolf angeknüpft.
Völlig anders und vermutlich ohne Pose beschreibt der Prinz seine Angst vor der Schule: Denn ich sagte mir, daß ich nun unter hunderte von ganz fremden Knaben kommen, daß ich von ganz fremden Lehrern unterrichtet, und beurtheilt werden sollte; und fürchtete natürlich, ich möchte ihnen mißfallen, oder nur als halber Mensch angesehn werden. Genauso nachvollziehbar ist seine Unsicherheit beim ersten Auftritt vor der Klasse. Das peinliche Gefühl, für Augenblicke aus der Gruppe herausgehoben zu sein, kennt jeder normale Schüler. Doch wo hätte Prinz Wilhelm die Beherrschung einer solchen Situation gelernt haben können? Bisher war er in Potsdam der Einladende gewesen, und die adeligen Knaben oder Kadetten, die mit den Prinzen spielen durften, waren in Ehrfurcht erzogen. In Kassel war das gründlich anders. Der Prinz war der Neue und kam in eine geschlossene Gruppe. Die Darstellung in seinem Bildungsgang klingt deshalb durchaus überzeugend: Als nun endlich der Tag des Eintritts kam und ich mit meinem Ordinarius auf den Schulhof kam, da war es mir keineswegs wohl zu Muthe, und ich fühlte mich sehr unbehaglich. Denn ich wußte, daß Jedermann mich ansah und, wie die Welt es immer thut, nach dem Aussehn gleich das Urtheil fällte; und doch konnte ich keinem ordentlich ins Gesicht sehn, da ich noch dazu sehr blöd war. Aber beinah noch heißer wurde mirs zu Muthe, als der Herr Director mich in meine Klasse - die Obersecunda - führte und zu mir einige ermunternde Worte sprach, denn nun stand ich dicht vor den Knaben, und sie konnten meine Mängel und Fehler sehn. Wilhelm will hier sicherlich indirekt auf den Anblick seines lahmen, kürzeren Arms hinweisen, denn welche Fehler und Mängel hätte man ihm sonst ansehen können außer den Pickeln, die seine Mutter an ihm beklagte?
Doch nach dem bestandenen Abitur war in seinem Dank an den Direktor Vogt für eine Preisverleihung von Demut und Zaghaftigkeit wenig zu spüren. Prinz Wilhelm hatte eine der drei sogenannten Richterschen Denkmünzen für die würdigsten und fleißigsten Abiturienten erhalten. "Sie können sich nicht denken, welche Freude mir durch die Verleihung dieser Medaille bereitet wird. Ich weiß nämlich, daß ich sie verdient habe. Ich habe redlich gethan, was in meinen Kräften stand."[16]
Kein heutiger Leser mit dem Wissen um die Ursachen des Ersten Weltkriegs wird jedoch in der Lage sein, das Motto Wenn das Wort nichts nützt, dann entscheide das Schwert und den pathetischen Schluß ohne leichtes Schaudern zur Kenntnis zu nehmen. Doch sollte man gerechterweise versuchen, die Zeit um 1876 zu bedenken. Die Kriege, die Wilhelm in seinem kurzen Leben miterlebt hatte, waren beide in ihrem zeitlichen und örtlichen Umfang begrenzt gewesen und zudem für Preußen/Deutschland siegreich beendet worden, so daß für ihn - wie für die Zeitgenossen - die Vorstellung selbstverständlich war, daß "Krieg" ein legitimes Mittel der Politik sei. Das "Deutsche Reich" war gerade 5 Jahre alt und noch keineswegs zu einer Nation zusammengewachsen. Bisher verlangten die Regierungen von ihren Untertanen ein loyales Verhalten, keine nationale Identifizierung mit dem Staat. Zwar hatte Preußen durch Bevölkerung, Staatsgebiet und Wirtschaftskraft ein deutliches Übergewicht im Reich, aber eigentlicher Inhaber der Souveränität waren die verbündeten 22 Monarchen und 3 Städte, nicht das Volk. Der föderative Charakter der Reichsverfassung sah einen Kaiser und nur einen Reichminister, den Reichskanzler, vor. Demnach war Wilhelms Wunsch (der eines jeden Patrioten) aus seiner Sicht als zukünftiger Kaiser durchaus berechtigt. Auch der uns Nachgeborenen anachronistisch vorkommende Ausruf: Gott schütze unseren Kaiser! war in der damaligen Zeit der normale Abschluß jeder offiziellen Feier, vergleichbar mit "Gott erhalte Franz den Kaiser" oder "God save the Queen".
Der Bildungsgang des Prinzen Wilhelms von Preußen (Kassel, 9. Oktober 1876)
Editorische Vorbemerkung
Im Vorwort seiner Lebenserinnerungen "Aus meinem Leben 1859-1888"[17] nennt Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1926 als seine wichtigste Quelle für die Beschreibung seiner Kindheits- und Schuljahre seinen Lebenslauf (Curriculum vitae), "den ich gleich meinen Mitschülern im Oktober 1876, einige Monate vor unserem Abiturexamen, einreichen mußte. Ohne dieses Schriftstück könnte ich wichtige Abschnitte meines Werdens kaum rekonstruieren; ich führe es deshalb häufig an Stellen an, wo mir mein Gedächtnis keine Stütze bietet." Aus diesen Bemerkungen kann man schließen, daß Wihelm II. ein Konzept seines Lebenslaufes mit nach Doorn genommen hatte, denn das im Hessischen Staatsarchiv Marburg liegende Exemplar ist die Reinschrift[18].
Bei der nun folgenden Wiedergabe des Bildungsganges [Transkription M. Lemberg] wird durch das Druckbild gezeigt, welche Passagen der Kaiser benutzt hat - sie sind als angeblich wortwörtliche Übernahmen aus seinem "Curriculum vitae" in seinen Memoiren durch Anführungszeichen gekennzeichnet - und welche Sätze nur im Original stehen. Die linke, kursiv gedruckte Kolumne [in der Online-Version in Blau] ist der Text aus den Abiturakten, die rechte [in der Online-Version in Schwarz] die Version aus den Lebenserinnerungen. Die Passagen des Lebenslaufes des Abiturienten, die der Kaiser später unberücksichtigt ließ, werden hingegen in der ganzen Breite der Textseite abgedruckt.
Nicht nur die Tatsache, daß Wilhelm II. und sein Mitarbeiter recht großzügig mit der Quelle umgegangen sind, sie stilistisch geglättet und ganze Passagen ergänzt haben, in denen er auch seinen Bruder Heinrich erwähnt, ist interessant, noch aufschlußreicher sind die Partien des Lebenslaufes, die er als 68jähriger Mann übergangen hat. So fehlen die für seine Kasseler Lehrer gedachten Erklärungen bzw. Entschuldigungen, warum seine Kenntnisse nicht so sicher sind, als sie es hätten sein können. Auch die Beschreibung seines ersten Schultages in Kassel, aus der man seine Befangenheit und Unsicherheit ablesen kann, sind dem Erwachsenen vermutlich eher peinlich. Etwas seltsam mutet eine Fußnote des Kaisers mit folgender Formulierung an: "Ich kann diese Stellen heute nicht ohne stille Heiterkeit lesen", die sich auf eine Passage bezieht, die er 1927 ergänzt und nicht im Jahre 1876 als 17jähriger in Kassel geschrieben hatte, wie die Fußnote suggeriert.
Die Folgen des Kasseler Schulbesuchs
Nach dieser ausführlichen Beschäftigung mit dem Lebenslauf und dessen Abdruck im Vergleich mit den Passagen aus den "Lebenserinnerungen" des Kaisers in Doorn erhebt sich die Frage, ob der Schulbesuch in Kassel Spuren im Leben des Prinzen hinterlassen hat. Da ist einmal vordergründig die Freude des späteren Kaisers daran, seine Reden mit lateinischen Zitaten zu garnieren[20].Ernsthafter gesehen, basiert sicherlich sein großes Interesse an der Antike, speziell an Ausgrabungen in Korfu, auf dem langjährigen Unterricht im Griechischen und Lateinischen. Auch sein Engagement für die Bewahrung und Rekonstruktion der Relikte der Römerzeit im Reich zeigten mehr als normale Anteilnahme eines Regenten[21].
Vermutlich ist auch das anfängliche Eintreten des Kaisers für die Arbeiter und deren wirtschaftliche Lage auf Kasseler Fabrikbesuche zurückzuführen; er hatte im Unterschied zu vielen Fürsten seiner Zeit auf Hinzpeters Anregung hin Werkstätten von innen gesehen. Genauso wird es mit dem starken naturwissenschaftlichen Interesse gewesen sein, das der spätere Kaiser gezeigt hat. Hinzpeter legte großen Wert darauf, daß die Prinzen über den Unterricht hinaus über die Entwicklung der Technik belehrt wurden und von den neuesten Erfindungen auf dem Gebiet der Biologie und Physik erfuhren. Die ärmliche Ausrüstung der eigenen Schule versuchte Wilhelm zu verbessern, indem er dem Gymnasium im Schuljahr 1875/76 eine "Holtzsche Elektrisiermaschine mit vielen dazu gehörigen Apparaten schenkte"[22].
Außerdem ist dieser Schulbesuch in Kassel für die Akzeptanz der öffentlichen Schulen im Reich von besonderer Bedeutung, denn seitdem wurde es für die Söhne des höheren Adels üblich, ein Gymnasium zu besuchen. Das "Königliche Gymnasium zu Cassel" erlebte geradezu einen Boom von gräflichen und fürstlichen Schülern aus Hessen, Waldeck und den vielen kleinen Fürstentümern östlich der preußischen Provinz Hessen-Nassau.
Doch im Gegensatz zu diesen positiven Seiten steht es mit einem eigentlichen Dank des Kaisers an sein Gymnasium und an die damaligen Lehrer und ihre Unterrichtsmethoden nicht gut. Zwar hatte Wilhelm noch als Prinz am 100jährigen Bestehen des Gymnasiums im Jahre 1879 teilgenommen; es gab eine Fahne des Kaisers, Buchgeschenke für gute Schüler, Fotos und Gemälde der kaiserlichen Familie, ein Ruderboot, ein Stipendium und Einladungen der ehemaligen Lehrer auf Wilhelmshöhe. Doch seine Philippika, die er zur Eröffnung der Berliner Schulkonferenz im Dezember 1890 hielt, kam einer Aburteilung des Kasseler Gymnasiums gleich, da der Kaiser immer wieder betonte, er wisse, wovon er spreche, habe er doch eine solche Schule von innen gesehen.
Diese Rede vernichtete den Direktor der Anstalt, Gideon Vogt, bei dem der Kaiser griechische Poetik gelernt hatte, physisch und psychisch. Vogt faßte diesen Rundumschlag nicht nur als persönliche Kränkung auf; als die Presse im Reich sich genüßlich über das Kasseler Gymnasium hermachte[23], sah er zusätzlich den Ruf seiner guten Schule gefährdet. Wilhelms II. Kritik entzündete sich hauptsächlich an der Überbetonung der alten Sprachen; seiner Meinung nach sei der deutsche Aufsatz und die vaterländische Geschichte in den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken[24].
Um dieses Urteil besser zu verstehen, kann wieder der Bildungsgang helfen bzw. das, was ihm fehlt. Der Prinz spricht nämlich, im Gegensatz zu seinen Mitschülern, mit keinem Wort über den Deutschunterricht oder über die Privatlektüre deutscher Schriftsteller. In seinen Memoiren behauptete er in 50jährigem Abstand zwar, daß der Unterricht bei seinem zeitweiligen Klassenlehrer Dr. Heußner "etwas trocken"[25] gewesen sei, doch das kann nicht der eigentliche Grund gewesen sein. Vielmehr, so scheint es, hatte Dr. Heußner die undankbare Aufgabe zu erfüllen, dem selbstbewußten jungen Mann, dem es überaus schwer fiel, einen Fehler einzugestehen, ständig auf sein Unvermögen hinzuweisen, denn Heußner unterrichtete nicht nur in der Schule, sondern versuchte auch durch Nachhilfestunden in Deutsch und Latein den Prinzen für den Schulalltag zu befähigen.
Aus dem spröden, ungelenken Stil des Lebenslaufs und vor allem aus seinem Deutschaufsatz im Abitur (Parzivals Charakter in seiner Entwicklung[26]) [Abbildung Nr. DA ] läßt sich ermessen, wie schwer die Aufgabe gewesen sein muß, Wilhelm zu zeigen, daß er zwar mit Überzeugungskraft sprechen, aber weniger gut schreiben oder gar einen Gedanken konsequent verfolgen konnte. Der Prinz hat in seiner Abiturarbeit eigentlich nur den Inhalt des Epos wiedergegeben, von der charakterlichen Entwicklung Parzivals, wie andere Jungen sie einfühlsam niedergeschrieben haben, ist bei ihm nichts zu lesen. Aus der Antwort Heußners auf Fragen des Direktors, ob man es verantworten könne, des Prinzen wegen das Abitur bis zum 27. Januar zu "absolvieren", d.h. um einen Monat vorzuverlegen - Wilhelm wurde am 27. Januar 1877 volljährig -, läßt sich einiges über das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer ablesen:
ad. 2. Da jedoch die deutschen Aufsätze von jeher eine schwache Seite dieser Classe waren und ganz besonders die Arbeiten des Prinzen Wilhelm selbst noch an erheblichen Mängeln leiden, [soll der deutsche Unterricht um eine wöchentliche Lehrstunde vermehrt werden.]
ad. 4 [Eine spätere Prüfung] für die Schüler, deren Kenntnisse jetzt noch besonders lückenhaft sind, abzuhalten, scheint mir nicht ratsam, da erstens Prinz W. selbst zu diesen letzteren zählt, seine Mitschüler dies wol wissen, und ihr Gerechtigkeitsgefühl eine völlige Gleichstellung in dieser Hinsicht verlangt[27].
Aber nicht nur das persönliche Unvermögen im Fach Deutsch lastete der junge Kaiser auf der berühmten Schulkonferenz dem Friedrichsgymnasium in Kassel an, sondern es trat zu der Überwindung eines privaten Traumas die deutlich formulierte Absicht, die Schule, d.h. die Fächer Deutsch und Geschichte, zu instrumentalisieren, um das Nationalgefühl schon im Klassenzimmer zu wecken, junge "Deutsche" statt junge "Römer" zu erziehen. Die berühmten Sätze, die solch weitreichende Folgen hatten, lauteten: "Wer selbst auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Coulissen gesehen hat, der weiß, wo es fehlt. Und da fehlt es vor Allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. [...] Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich Alles dreht. Wenn einer im Abiturexamen einen tadellosen deutschen Aufsatz liefert, so kann man daraus das Maß der Geistesbildung des jungen Mannes erkennen und beurtheilen, ob er etwas taugt oder nicht."[28]
Vermutlich hatte der Prinz nach seinem Abitur nie erfahren, wie sein Aufsatz beurteilt worden war, denn er sprach - ohne es zu wissen - sich 1890 selbst den Rang eines Mannes ab, der etwas taugt. Dr. Heußners Notenbegründung lautet nämlich:
Die Arbeit liefert keine recht eingehende und gründlich motivierte Charakteristik Parzivals. Manche Angaben sind nicht genau und selbständig, nicht Alles präzis und in rechtem Zusammenhang entwickelt. Einleitung und Schluß sind ungeordnet, die Darstellung nicht immer ganz genau. Die Interpunktion unsorgfältig. Doch verdient der Aufsatz im Ganzen noch das Prädikat befriedigend [29]. So waren auch meistens die Classenleistungen des Prinzen[30]. [Abbildung Nr. DA LETZTE SEITE ]
Die vom Kaiser auf der Schulkonferenz von 1890 außerdem geforderte verstärkte Behandlung der vaterländischen Geschichte sollte die Betonung der besonderen Leistungen seiner Vorfahren auf dem preußischen Thron hervorheben, um die sozialistischen Ideen schon in der Schule zu "untergraben". So forderte er vehement: "Sie [die Schule] muß die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen[31] [...] und der Jugend zum Bewußtsein bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwicklung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrichs des Großen und von der Aufhebung der Leibeigenschaft an bis heute. Sie muß ferner durch statistische Tatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben"[32]
Mit dieser Tendenz begann eigentlich die Politisierung der Fächer Deutsch und Geschichte. Obgleich die geladenen Mitglieder der Schulkonferenz eher an organisatorischen Fragen interessiert waren (Vereinheitlichung der Höheren Schulen, einheitliche Reifeprüfungen, Universitätszugang auch für Absolventen der Realgymnasien), setzte die Schulbehörde einen Teil der kaiserlichen Wünsche zwei Jahre später in die Tat um: Der Deutschunterricht wurde im Gymnasium auf Kosten der alten Sprachen einheitlich auf drei Wochenstunden erhöht, mit dem Abitur des Realgymnasiums konnte man die meisten Fächer studieren, und vor allem die nach der Schulkonferenz erschienenen Lesebücher entwickelten sich fast zu nationalen Andachtsbüchern[33].
Alle "humanistischen" Gymnasien fühlten sich auf die Anklagebank gesetzt, das Königliche Gymnasium zu Kassel jedoch wurde in Zeitungsartikeln und pädagogischen Aufsätzen als böses Exempel herausgegriffen. Das pädagogische Porzellan, das der Kaiser zerschlagen hatte, versuchte die Schulbehörde in Berlin zu kitten. Hinzpeter, der als erfahrener Pädagoge ermessen konnte, was sein ehemaliger Schüler mit diesem Verdikt angerichtet hatte, trat direkt auf der Schulkonferenz in einer Rede für das in Verruf gebrachte Kasseler Gymnasium ein. Wie wichtig das Gymnasium diese Form der Ehrenrettung genommen hat, läßt sich aus dem "Programm vom Schuljahr 1890/91" erkennen. Hier heißt es: "Die Chronik des Friedrichs-Gymnasiums vom Schuljahr 1890/91 darf nicht mit Stillschweigen übergehen, daß eine Anzahl von Tagesblättern aus den Berichten über die Eröffnung der im Dezember 1890 in Berlin abgehaltenen "Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts" Anlaß nehmen zu dürfen geglaubt hat, den guten Ruf des Gymnasiums in Bezug auf seine Lehrordnung und seine Leistungen in unterrichtlicher und erziehlicher Hinsicht herabzusetzen und die Amtsführung seines Direktors zu verdächtigen." In den dann folgenden Ausführungen betont die Schule, daß sie, wie alle Schulen, unter ständiger Aufsicht gestanden und stets die vollste Anerkennung der Behörden gefunden habe. Bisher habe man es nie für nötig erachtet, einen offiziellen Bescheid zu veröffentlichen; doch in der augenblicklichen Situation hielte man es für angemessen, ein Schreiben des Unterrichtsministers den Eltern mitzuteilen.
In diesem Brief autorisiert das Ministerium die Kasseler Schule, Auszüge aus der Rede des ehemaligen Prinzenerziehers Hinzpeter vorab zu veröffentlichen. Dort hieß es u.a.: "Meine Herren, nach den erstaunlichen Beschreibungen der Gymnasien, [...] die wir hier haben anhören müssen, glaube ich, wäre es der richtige Moment, über ein Experiment, was ich zu machen berufen war, zu berichten. Ich meine das s. Z. so vielberedete Experiment, den Thronfolger des deutschen Reiches auf die Schulbank zu bringen. Als es sich in den 60er Jahren darum handelte, den Weg vorzuzeigen, den die Erziehung des damaligen jungen Prinzen Wilhelm zu nehmen hatte, da wurde als Prinzip aufgestellt, es solle die Erziehungsweise gewählt werden, die die sicherste Gewähr biete für eine harmonische Ausbildung der Geisteskräfte des jungen Knaben mit Beiseitesetzung jeder andern Rücksicht, die früher hätte vorwalten dürfen. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß zur Erreichung eines solchen Zieles nur die altklassische Gymnasialbildung gewählt werden könne, die so vielen Generationen der herrschenden Klasse die höchste Bildung hatte gewähren können. [...] Er sollte dort suchen die strenge Disciplin des Geistes, die der altsprachliche Unterricht der Gymnasien allein imstande schien zu gewähren, er sollte suchen eine gewisse Übung in der Lösung geistiger Aufgaben und ein gewisses Streben nach wahrem Erkennen und Wissen. Daneben hoffte man auch, es solle sich ihm dort eine historische Weltanschauung ausbilden mit einem gewissen Verständnis für die Verhältnisse seiner Zeit. - Ich will nichts ändern, nichts hinzufügen, ich möchte nur erklären: Alle Beteiligten haben s.Z. dankbar anerkannt und, soweit sie noch leben, erkennen sie es noch heute dankbar an, daß das Gymnasium zu Cassel an diesem doch sehr eigenartigen und sehr eigentümlich gestellten Schüler seine Schuldigkeit redlich gethan hat (Zustimmung), und daß es die großen Hoffnungen, die auf dasselbe gesetzt worden sind, in hohem Maße erfüllt hat (Beifall)."[34]
Anmerkungen:
[1] | Diesen lateinischen Satz rief Kaiser Wilhelm bei der Grundsteinlegung der Saalburg seinem Volk zu. Siehe: Kaiser WILHELM II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918, Leipzig/Berlin 1922, S. 152. |
[2] | Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (BPH) Rep. 53 A II Nr. 6a, fol. 2, 5; Vortrag von Dr. SCHLICHTEISEN: Kaiser Wilhelms II. Schulzeit, 1889, Abschrift. Zitiert nach: Y. WAGNER, Prinzenerziehung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Phil. Diss. Frankfurt 1994, S. 238. (= Europäische Hochschulschriften / 03). |
[3] | Zitiert nach: J. C. G. RÖHL, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859-1888, München 1993, S. 240. |
[4] | StAM Best. 152 Nr.91, 93, 95, 99 und Best. 152 Acc. 1938/39 Nr. 1990 (Verwaltungsbericht). Herrn Archivoberrat Dr. Günter Hollenberg, Marburg, möchte ich dafür danken, daß er mich auf die einschlägigen Akten im Hessischen Staatsarchiv Marburg hingewiesen hat. |
[5] | 200 Jahre Friedrichsgymnasium, 400 Jahre Lateinschule, Kassel 1979, S. 24. |
[6]
| Kaiser Wilhelm II., Aus meinem Leben, 1859-1888, Berlin/Leipzig 81928, S. 141. Prinz Wilhelm erhielt folgende Noten auf seinem "Zeugnis der Reife": Deutsch = befriedigend, Lateinisch = befriedigend nach mündl. Prüfung, Griechisch = befriedigend nach mündl. Prüfung, Französisch = gut nach mündl. Prüfung, Religionslehre = gut nach mündl. Prüfung, Mathematik = befriedigend nach mündl. Prüfung, Geschichte und Geographie = gut nach mündl. Prüfung, Physik = im ganzen gut. Die ersten sieben Schüler waren von jeder mündlichen Prüfung befreit. - Siehe auch: "Ich bin Ich". Wilhelm II. - Kassel und das Friedrichsgymnasium, Geschichtswerkstatt am FG, Kassel 1992. - Herrn Dr. Volker Losemann, Marburg, möchte ich für Informationen über das Friedrichsgymnasium in Kassel danken. |
[7] | Yvonne Wagner sieht darin eine "Ernüchterung", die Hinzpeter seinem Zögling bereitete. Der Prinz war ein begeisterter Reiter und der Ritt von Wilhelmshöhe eher ein Vergnügen. Wilhelm und Heinrich verfügten über 4 Reitpferde und 2 Wagenpferde. Hier, wie an anderen Stellen, fällt es der Verfasserin sichtlich schwer, nicht von heute aus zu denken. Auch ihre Bemerkung, Hinzpeter "brachte weitere Vorteile in Erfahrung", nämlich daß sich Wilhelmshöhe als Sommerresidenz eigne, macht lächeln. Hinzpeter brauchte nicht "in Erfahrung" zu bringen; er hatte schon drei Jahre vorher, 1871, mit den Prinzen dort gewohnt. |
[8]
| In der "Realschule erster Ordnung" wurden neben Latein auch die modernen Sprachen und Naturwissenschaften gelehrt. Nach 6 Jahren erwarb ein Schüler das sogenannte "Einjährige", nach weiteren drei Jahren das Recht, eine Bau- oder Bergbauakademie zu besuchen und einige philologische Fächer an einer Universität zu studieren. Erst 1882 wurden die Lehrpläne revidiert und neben dem Gymnasium das Realgymnasium und die lateinlose Ober-Realschule eingeführt. |
[9] | StAM Best. 152 Nr. 91: Am 2. Dezember 1876 läßt der Vater, Kronprinz Friedrich, bitten, den Bildungsgang (curriculum vitae) seines Sohnes sehen zu dürfen. |
[10] | Der Kaiser nennt in seinen Lebenserinnerungen (Aus meinem Leben, S. 31) dieses körperliche Gebrechen und die Versuche der Heilung durchaus beim Namen, "die das einzige Ergebnis hatten, daß ich in schmerzvollster Weise gequält wurde". |
[11] | SCHLICHTEISEN, wie Anm. 1, zitiert nach: RÖHL S. 239. |
[12] | Ebenda. |
[13] | Die Lehrer berücksichtigten übrigens seine Begeisterung für Friedrich Barbarossa und prüften ihn im mündlichen Abitur in Geschichte u.a. über Barbarossa. StAM Best. 152 Nr. 93. |
[14]
| Königliches Gymnasium zu Cassel, Programm vom Schuljahr 1875/76 [...], Cassel 1877, S. 6. - Siehe auch: W. v. HENDRIKS, Prinz Wilhelm von Preußen. Ein Fürstenbild dem Deutschen Volke gewidmet, Berlin 1888, S. 21: "Und als sich den 1. September die Gymnasiasten an dem städtischen Festzuge hinaus nach der Karlsaue betheiligten, da trug Prinz Wilhelm die neue Fahne und schwenkte sie in Jugendlust inmitten seiner Kameraden." |
[15] | Siegfried Sommer an die Mutter und Schwestern, 10. November 1874, zitiert nach: RÖHL S. 235. Röhl bezeichnet Siegfried Sommer unzutreffend als "Klassenbesten"; tatsächlich nahm Sommer in der Reihenfolge der Gesamtbewertung der Abiturnoten den 13. Platz ein, d.h. er stand noch 3 Plätze unter Prinz Wilhem. Siehe die in der Reihenfolge des Leistungsstandes gedruckte Liste der Abiturienten in: Königliches Friedrichs-Gymnasium zu Cassel Programm vom Schuljahr 1876/77, S. 55f.; hingegen: J.C.G. RÖHL, Wilhelm II.: "Das Beste waere Gas!", Die Zeit vom 25. 11. 1994, S. 13 |
[16] | N.N.: Am Hofe Kaiser Wilhelms II., Berlin 1889, S. 11. |
[17] | Kaiser Wilhelm II., Aus meinem Leben 1859-1888, Leipzig 81928. |
[18]
| Weder im Haus Doorn, das die Archivalien des Kaisers ins Rijksarchief Utrecht abgegeben hat, noch im Rijksarchief Utrecht finden sich die für die Memoiren benutzen Unterlagen. Zwar gibt es einen Bestand Inv.nr. 241: Documents concerning "Aus meinem Leben", 1926-1928, doch er enthält nur Korrespondenzen und Zeitungsausschnitte; es sind ausschließlich Reaktionen auf das Buch des Kaisers. |
[20] | Siehe [Anmerkung 1] |
[21] | Die Rekonstruktion der Saalburg 1898-1907 wäre ohne die Unterstützung des Kaisers nicht möglich gewesen. Siehe: Die Römer in Hessen, Hrsg. D. BAETZ, u. F. R.HERMANN, Stuttgart 1982, S. 472. |
[22] | Programm vom Schuljahr 1875/76, S. 7. |
[23] | Festschrift für das 150. Jubiläum des Staatlichen Friedrichsgymnasium zu Kassel 1779-1929, Kassel 1929, S. 42. |
[24]
| Als Kaiser Wilhelm im Jahre 1901 davon erfuhr, daß ein Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin seinen Primanern einen Hausaufsatz mit dem Thema gestellt hatte: "Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee", ließ der Kaiser sich vier Aufsätze kommen und versah sie mit wenigen, durchaus akzeptablen Randbemerkungen. Vermutlich hatte er befürchtet, die Schüler hätten sich in den Hausaufsätzen über seine von vielen bespöttelten "Puppen" mokiert. - Siehe dazu: R. E. HARDT, Die Beine der Hohenzollern, Berlin 1960. |
[25] | WILHELM II., Aus meinem Leben, S. 126. Dr. Heußner wurde übrigens Nachfolger Gideon Vogts, nachdem dieser aus Ärger über die Rede des Kaisers um frühzeitige Pensionierung nachgesucht hatte. |
[26] | StAM Best. 152 Nr. 95. |
[27] | StAM Best. 152 Nr. 91; Antwort Dr. Heussners auf den Brief des Direktors Vogt vom 14. August 1876, die Abiturienten-Prüfung vor dem 27. Januar 1877 abzuhalten. |
[28] | Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin, 4. bis 17 Dezember 1890, Berlin 1891, S. 71 f. - Siehe auch: H. J. FRANK, Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, München 1973, S. 489-491. |
[29] | Nach der Note "im Ganzen befriedigend" kam sofort "mangelhaft". |
[30] | StAM Best. 152 Nr. 95. |
[31] | Da der Prinz erst in die Obersecunda des Gymnasiums eintrat, hatte er persönlich nicht wahrgenommen, daß die neue und neueste Zeitgeschichte, wie er in seiner Eröffnungsrede forderte, durchaus im Curriculum der Untersecunda auftauchte. Der Geschichtsunterricht in der Oberstufe sollte eher einen sogenannten "zweiten" Durchgang darstellen und stärker die Philosophie, Staatsform und Kultur vergleichend betrachten. |
[32] | Verhandlungen über Fragen S. 4. |
[33] | Die Träger dieser Ideen sammelten sich um die "Zeitschrift für den deutschen Unterricht", die Otto Lyon im völkischen Sinne über zwei Jahrzehnte leitete. |
[34] | Königliches Friedrichs-Gymnasium zu Cassel. Programm vom Schuljahr 1890/91 als Einladung zu der am 21. März 1891 abzuhaltenden öffentlichen Prüfung., Cassel 1891, S. 16 f. |
Magret Lemberg
Der Bildungsgang des Prinzen Wilhelms von Preußen (Kassel, 9. Oktober 1876)
Editorische Vorbemerkung
Im Vorwort seiner Lebenserinnerungen "Aus meinem Leben 1859-1888"[17] nennt Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1926 als seine wichtigste Quelle für die Beschreibung seiner Kindheits- und Schuljahre seinen Lebenslauf (Curriculum vitae), "den ich gleich meinen Mitschülern im Oktober 1876, einige Monate vor unserem Abiturexamen, einreichen mußte. Ohne dieses Schriftstück könnte ich wichtige Abschnitte meines Werdens kaum rekonstruieren; ich führe es deshalb häufig an Stellen an, wo mir mein Gedächtnis keine Stütze bietet." Aus diesen Bemerkungen kann man schließen, daß Wihelm II. ein Konzept seines Lebenslaufes mit nach Doorn genommen hatte, denn das im Hessischen Staatsarchiv Marburg liegende Exemplar ist die Reinschrift[18].
Bei der nun folgenden Wiedergabe des Bildungsganges [Transkription M. Lemberg] wird durch das Druckbild gezeigt, welche Passagen der Kaiser benutzt hat - sie sind als angeblich wortwörtliche Übernahmen aus seinem "Curriculum vitae" in seinen Memoiren durch Anführungszeichen gekennzeichnet - und welche Sätze nur im Original stehen. Die linke, kursiv gedruckte Kolumne [in der Online-Version in Blau] ist der Text aus den Abiturakten, die rechte [in der Online-Version in Schwarz] die Version aus den Lebenserinnerungen. Die Passagen des Lebenslaufes des Abiturienten, die der Kaiser später unberücksichtigt ließ, werden hingegen in der ganzen Breite der Textseite abgedruckt.
Nicht nur die Tatsache, daß Wilhelm II. und sein Mitarbeiter recht großzügig mit der Quelle umgegangen sind, sie stilistisch geglättet und ganze Passagen ergänzt haben, in denen er auch seinen Bruder Heinrich erwähnt, ist interessant, noch aufschlußreicher sind die Partien des Lebenslaufes, die er als 68jähriger Mann übergangen hat. So fehlen die für seine Kasseler Lehrer gedachten Erklärungen bzw. Entschuldigungen, warum seine Kenntnisse nicht so sicher sind, als sie es hätten sein können. Auch die Beschreibung seines ersten Schultages in Kassel, aus der man seine Befangenheit und Unsicherheit ablesen kann, sind dem Erwachsenen vermutlich eher peinlich. Etwas seltsam mutet eine Fußnote des Kaisers mit folgender Formulierung an: "Ich kann diese Stellen heute nicht ohne stille Heiterkeit lesen", die sich auf eine Passage bezieht, die er 1927 ergänzt und nicht im Jahre 1876 als 17jähriger in Kassel geschrieben hatte, wie die Fußnote suggeriert.
Abitur Wilhelm II - Bildungsgang 9.10.1876
Edition des Textes
Die Seitenzählung der handschriftlichen "Anmeldung des Oberprimaners Wilhelm von Preußen zur Abiturientenprüfung" vom 9. Okt. 1876 sind in den laufenden Text eingefügt <Seite 1-30>
Kassel den 9t October 1876. | |
die Anmeldung des Oberprimaners Wilhelm von Preußen zu der im Wintersemester abzuhaltenden Abiturprüfung. | |
Nachdem ich ein Jahr in der Unterprima und ein halbes Jahr in der Oberprima des hiesigen Gymnasiums am Unterricht theilgenommen habe, bitte ich Königliche Prüfungscommission gehorsamst um Zulassung zu der in dem heute beginnenden Wintersemester abzuhaltenden Abiturprüfung.
| |
An Königliche Prüfungscommission | Wilhelm von Preußen |
<Seite 1> Motto: Ich wurde am 27. Januar 1859 zu Berlin geboren und getauft auf den Namen Friedrich Wilhelm Victor Albert. Bis zu meinem siebenten Jahre war ich unter weiblicher Aufsicht[19], alsdann erhielt ich einen Erzieher. Mit meinem achten Jahre begann ich das Studium der lateinischen Sprache, der Rechenkunst und der Geschichte. In meiner frühsten Kindheit machte ich zwei Reisen nach England und im Jahre 1864 ins Seebad Föhr nach Schleswig Holstein, welches Bad ich noch zweimal (1872 u. 1873) besucht habe. Im Jahre 1867 machte ich mit meinem Vetter, dem Erbgroßherzog Friedrich von Baden, eine Fußreise durch den Schwarzwald, auf der ich zum ersten Male von fern die Zinnen meiner Stammburg Hohenzollern leuchten sah. Auf der Rückreise besuchte ich die schönen und malerischen Ruinen des Heidelberger Schlosses "der Perle des Neckartales", an dem mir besonders der in der Mitte geborstene und zum <Seite 2> Theil herabgesunkene Thurm einen bleibenden Eindruck gemacht hat als Bild einstmaliger aber jetzt zerstörter Macht und Herrlichkeit. Ich machte dann noch eine Rheinreise, auf welcher meine Augen zum ersten Male den gewaltigen Riesenbau des Doms von Köln sahn, der auf mich einen so tiefen Eindruck machte, daß ich im Jahre 1871 auf meiner Rückreise von England alle Plätze wiedererkannte und wiederfand, wo ich zum ersten Male gestanden hatte. | |
Von früher Zeit an liebte ich besonders die Geschichte des Volkes der Hellenen mit ihren schönen Götter- und Heroensagen, unter den Göttern war mein Liebling Apollon, unter den Göttinnen Athena, dagegen verabscheute ich den Ares. Von den Heroen war mir Theseus der liebste. Allein vor allem war es der trojanischeKrieg, welcher mich anzog und in ihm am meisten die jugendlich schöne zugleich mächtige Heldengestalt des Achilleus. | Von früher Zeit an liebte ich besonders die Geschichte der griechischen Heroen, vorzüglich die des Trojanischen Krieges, in dem mir vor allem Achilleus tiefen Eindruck machte und mir lieb war. |
Frühzeitig hatte ich gefallen zum Soldatenstande, und mein <Seite 3> höchster Wunsch war immer der, einmal ein tapferer Soldat zu werden wie mein Vater; allein ich war doch noch zu jung, um die Bedeutung zu erfassen, als mir an meinem zehnten Geburtstage, mein Großvater die Uniform des 1. Garde Regiments zu Fuß, unseren Hausorden und das Band nebst dem Stern des Schwarzen Adlerordens verlieh. Im Sommer 1869 machte ich von Rehme in Westfahlen aus, wo ich wegen der Gesundheit meines Bruders gewesen war, eine Reise ins Seebad Norderney zu meinen Eltern. Im Herbst machten wir Alle mit Ausnahme meines Vaters, welcher im Auftrage meines Großvaters nach dem Orient gereist war, in Begleitung von meinem Onkel Ludwig von Hessen, um ihn bei der Eröffnung des Suezkanals zu vertreten, mit meiner Tante Alice von Hessen und ihrer Familie, eine Reise nach Cannes in Südfrankreich am blauen Mittelländischen Meere. Hier sah ich zum ersten Male tropische Pflanzen daußen im Garten <Seite 4>oder gar wild wachsen, wie z.B. eine Menge von Cacteen und Aloe, einige mit den großem Baum ähnlichen Blüthenstengeln, wie ich sie manchmal auf Bildern aus dem Orient hatte abgebildet gesehn. Es kam noch zu uns nach Cannes mein Onkel, der Prinz Albrecht von Preußen, und wir feierten Alle ein vergnügtes Weihnachts- und Neujahrsfest. Bald nachdem mein Vater mit meinem Onkel wohlbehalten vom Orient zurückgekehrt war, reisten Alle außer meinem Bruder und mir nach Haus. Wir blieben den ganzen Winter über in Cannes und machten zuweilen Ausflüge in die Umgegend, nach Antibes welches eine römische Niederlassung war, und wo noch jetzt ein großes römisches Castell vollständig erhalten ist; nach der dicht vor uns liegenden Insel St. Marguerite, auf der viele Kabylen aus Algier vom Aufstand Abdel Kader's her gefangen saßen, und wo auch später Bazaine gefangengehalten worden ist. |
<Seite 5> Im Frühjahr 1870 kehrten wir zurück, indem wir die interessantesten Städte berührten. Vor allen Nimes mit dem noch vollständig erhaltenen großen römischen Circus, in welchen noch jetzt Thierkämpfe gegeben werden, dann Orange (das alte Arautio) mit einem ziemlich gut erhaltenen Theater, und einem sehr schönen wohlerhaltenen Triumphbogen des Marius, welcher noch mit Reliefs geschmückt ist. Es war für mich ein ganz eigenes Gefühl, mir zu sagen: ich stehe an den Orten wo vor vielen vielen Jahrhunderten ein Volksgewühl und Gedränge war von Römern und Barbaren, und jetzt alles öde und leer; dahin alle Pracht und Herrlichkeit. Wir machten dann eine kleine Reise durch die Schweiz an den Vierwaldstädter See, und hier sah ich den See der den Tell und seine Thaten gesehen (?) hat, und welcher mir aus Schillers "Wilhelm Tell" wohl bekannt war, wir reisten dann nach Schaffhausen, und bei Schloß Lauffen sah ich den gewaltigen, imposanten Rheinfall, welcher donnernd und tosend <Seite 6> sich dicht unter mir über die Felsen in grünlich weißen Wassermassen herabstürzte. Ich konnte mich am erhabenen Naturschauspiel nicht sattsehn; noch nirgends war ich mir als Mensch so klein und schwach vorgekommen, als hier wie ich am Rheinfall stand. Als wir nach Haus zurückgekehrt waren fing ich meine mathematischen Studien an. Meine Studien überhaupt wurden durch die vielen Reisen welche die Ferien ausfüllten, unterbrochen und nach den Ferien wiederaufgenommen, daher es auch wohl kommen mag, daß meine Kenntnisse nicht so sicher sind, als sie es hätten sein können. Als der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, da wäre ich so sehr gern mit hinein in den Kampf gezogen wenn ich nicht so jung gewesen wäre, aber die fortwährenden Siegesnachrichten erfüllten mich mit stolzer Freude, und der Neugier, mit der ich den ersten Reiterhelm vom Schlachtfelde von Wörth die erste Fahne von der Festung "Petitepierre", und die Stadtschlüssel von Nancy <Seite 7> und Bar-le-Duc betrachtete, welche den Franzosen abgenommen worden waren, war ein gutes Stück patriotischen Hochgefühls und nicht wenig Stolz auf die herrlichen Thaten meines Vaters und meiner nächsten Verwandten beigemischt. Um die Mitte des Krieges machten wir Alle mit meiner Mutter zusammen eine Reise nach Homburg, wo wir bis zum November blieben. Hier vernahmen wir mit Jubel die Nachricht von der Schlacht und Uebergabe von Sedan und von der Gefangennahme des Kaisers der Franzosen. Hier richtete meine Mutter ein Lazareth für die Verwundeten ein, und ich ging oft mit und brachte ihnen dieses und jenes um sich die Zeit zu verkürzen. Im nächsten Frühjahr reiste ich von Berlin aus mit meiner Mutter, meiner Großmutter und der Großherzogin von Baden meiner Tante, meinem heimkehrenden Vater und Großvater entgegen. Es war ein ergreifender Augenblick, als wir uns nach dem bedeutungsvollen Kriege wiedersahn, <Seite 8> auch nicht minder erhaben war für uns der Jubel als der Kaiser in Berlin durch die Straßen fuhr. Bald darauf machte ich den Einzug der Truppen in Potsdam und Berlin mit, das war ein Augenblick an dem ich mich gar nicht satt sehn konnte, es war mir vergönnt, hinter meinem Vater, welcher den neuen Feldmarschallstab führte, her zu reiten. Einige Zeit darauf hatte ich die Freude der feierlichen Eröffnung des ersten deutschen Reichstags durch den Kaiser im weiten Saal des Schlosses beiwohnen zu dürfen. | |
Im Jahre 1871 machte ich wiederum mit meinen Eltern und Geschwistern eine Reise nach England. Die erste Zeit brachten wir in London zu, die letzte auf der Insel Wight. Da ich sehr großes Interesse für Seeschiffe und Seewesen überhaupt hatte, so fuhr ich öfters nach dem großen gegenüberliegenden Kriegshafen Portsmouth, und sah dort die Schiffe alter und neuer Construction nebst den Werften und Werkstätten. <Seite 9> Ich hatte auch die Gelegenheit das berühmte Linienschiff zu betreten benannt "Victory" welches der große und tapfere Seeheld Nelson in der Schlacht bei Trafalgar kommandirte und auf welchem er den rühmlichen Tod für das Vaterland starb; eine kleine Kupfertafel auf dem Verdeck bezeichnet die Stelle wo er von der tödlichen Kugel getroffen fiel. | Im Jahre 1871 machte ich wiederum mit meinen Eltern und Geschwistern eine Reise nach England. Die erste Zeit brachten wir in London zu, die letzte auf der Insel Wight. Da ich sehr großes Interesse für Seeschiffe und Seewesen überhaupt hatte, so fuhr ich öfters nach dem großen gegenüberliegenden Kriegshafen Portsmouth, und sah dort die Schiffe alter und neuer Construction nebst den Werften und Werkstätten. Ich war auch auf dem Linienschiff "Victory", welches der große und tapfere Seeheld Nelson in der Schlacht bei Trafalgar kommandirte und auf welchem er den rühmlichen Tod für das Vaterland starb. |
Ueberhaupt versuchte ich so viel ich es nur konnte meine Kenntnisse in Bezug [auf] das Flottenwesen zu bereichern, einmal war ich in dem noch viel größeren und ebenso berühmten Kriegshafen Plymouth, in welchem ich das Schiff, welches mein Onkel der Herzog von Edinburg auf seiner Reise um die Welt kommandirt hatte, die "Galathea" sah. | Ueberhaupt versuchte ich so viel ich es nur konnte meine Kenntnisse in Bezug auf das Flottenwesen zu bereichern. Einmal war ich in demnoch viel größeren und ebenso berühmten Kriegshafen Plymouth.
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Im Spätsommer desselben Jahres kam ich mit meinen Eltern und Geschwistern nach Wilhelmshöhe und somit zum ersten Male nach Cassel. Wilhelmshöhe und somit zum ersten Male nach Cassel. | Im Spätsommer desselben Jahres kam ich mit der Familie nach Wilhelmshöhe und somit zum ersten Male nach Kassel |
Hier begann ich meine griechischen Studien, und machte auch hier mit meinem Vater den Einzug des hessischen Corps in Cassel mit, bei <Seite 10> welchem mich der Jubel der Bevölkerung mit besonderer Freude erfüllte. Von Wilhelmshöhe reisten wir nach Wiesbaden wo wir uns noch einen Monat aufhielten. Hier setzte ich mein Studium der griechischen Sprache fort und obwohl es damals nur griechische Grammatik (Franke) war, die ich trieb so gefiel mir damals schon die griechische Sprache viel besser als die lateinische; ich kam auch so weit, daß ich in meinem Uebungsbuch (Jacobs) übersetzen konnte. Von Wiesbaden zurückgekehrt begann ich den Ovid zu lesen - bis dahin hatte ich alle sieben Bücher von Caesars bellum gallicum durchgelesen - allein ich fand ihn etwas sehr kindlich und zwar in seinen Vorstellungen, besonders bei Phaeton's Fahrt durch die Luft mit dem Donnerwagen, wo seine Pferde vor den Sternbildern scheu werden, das ist doch etwas viel Anforderung an die Phantasie. Ich hatte den Caesar viel lieber, und seine Beschreibung (Rheinbrücke, Waffen der Germanen, <Seite 11> Ueberfahrt nach Britannien und Belagerung von Alesia) und Schilderungen von Schlachten und Gefechten, für mich viel packender und interessanter war, als alle Bücher des Ovid zusammengenommen; nur eines war mir unangenehm, daß die Römer fast immer den Sieg behielten, die Barbaren in die Flucht jagten, sie in Massen niedermachten, selbst aber kaum einige Verwundete hatten. Darum freute ich mich, wenn ich las, daß irgendwo die Römer eine Schlappe erlitten hatten, besonders befriedigte mich die Vernichtung der Heeresabteilung des Cotta. Als ich aber die Geschichte meines deutschen Vaterlandes begann und an das Mittelalter kam, da ging mir nichts über Kohlrausch, nach dessen Buch ich sie lernte; es war mir zuletzt das liebste Buch, welches ich hatte, und die vier Jahre hindurch, während welcher ich aus ihm lernte, freute ich mich jeden Tag auf die Geschichtsstunde. Die Kaiser für welche ich <Seite 12> am meisten begeistert war, waren Otto I. Heinrich III. und Friedrich I. Barbarossa, es waren so zu sagen meine Lieblinge. Vor allem war Friedrich I. für mich das Ideal eines deutschen Ritters, und ich konnte nicht aufhören seine Tapferkeit, Ausdauer und Beharrlichkeit im Kampf mit dem Papste und den italienischen Städten zu bewundern. | Hier begann ich meine griechischen Studien; ich machte auch hier mit meinem Vater den Einzug des Hessischen Korps in Kassel mit, bei welchem mich der Jubel der Bevölkerung mit besonderer Freude erfüllte. Von Wilhelmshöhe reisten wir nach Wiesbaden, wo wir uns noch einen Monat aufhielten. Hier setzte ich mein Studium der griechischen Sprache fort und, obwohl es damals nur griechische Grammatik (Franke) war, die ich trieb, so gefiel mir damals schon die griechische Sprache viel besser als die lateinische. Ich kam auch so weit, daß ich in meinem Übungsbuch (Jacobs) übersetzen konnte. Von Wiesbaden zurückgekehrt, begann ich den Ovid zu lesen - bis dahin hatte ich alle sieben Bücher von Caesars Bellum Gallicum durchgelesen -, allein ich fand ihn etwas sehr kindlich und naiv in seinen Vorstellungen und Gleichnissen besonders bei Phaeton's Luftfahrt. Ich hatte den Caesar viel lieber, weil seine Beschreibung (Rheinbrücke, Waffen der Germanen, überfahrt nach Britannien und Belagerung von Alesia) und Schilderungen von Schlachten und Gefechten, für mich viel packender und interessanter waren, als der ganze Ovid zusammengenommen; nur eines war mir unangenehm: daß die Römer fast immer den Sieg behielten, die Barbaren in die Flucht jagten, sie in Massen töteten, selbst aber kaum einige Verwundete hatten. Deshalb freute ich mich, wenn ich las, daß irgendwo die Römer eine Schlappe erlitten hatten; besonders befriedigte mich die Vernichtung der Heeresabteilung des Cotta. Zugleich mit Ovid fing auch meine mathematischen Studien wieder an. Besonders lieb aber war mir das Studium der Geschichte des Mittelalters, welche ich nach Kohlrausch lernte. Es ging mir nichts über Kohlrausch, es war mir zuletzt das liebste Buch, welches ich hatte, und während der vier Jahre, während welcher ich aus dem Buch lernte, freute ich mich jeden Tag auf die Geschichtsstunde. Die Kaiser, für welche ich am meisten begeistert war, waren: Otto I., Heinrich III. und Friedrich I. Barbarossa, es waren sozusagen meine Lieblinge. Vor allem Barbarossa war für mich das Ideal eines deutschen Ritters, und ich konnte nicht aufhören zu bewundern seine Tapferkeit, Ausdauer und Beharrlichkeit im Kampf mit dem Papste und den italienischen Städten. |
Neben diesen lateinischen, griechischen und deutschen Studien betrieb ich auch das Französische sehr viel. Ich habe sehr lange die französische Grammatik lernen müssen von Anfang bis zum Ende, und sehr schwer fand ich die Lehre vom Partizipium; aber merkwürdiger Weise waren es gerade die Partizipialendungen- und Constructionen, welche ich am besten auswendig wußte und in denen ich die wenigsten Fehler machte. Außerdem las ich ein sehr interessantes mit vielen Illustrationen reichlich ausgestattetes Buch theils zum Vergnügen, theils um geläufig lesen zu lernen betitelt <Seite 13> "Le fond de la mer". Da ich nun von je her eine Leidenschaft für das große, wunderbare Meer hatte, und für Alles was darauf und darinnen war; so liebte ich dieses Buch sehr, welches mich mit dem, was auf dem Meeresgrunde lebte oder im Meere sich herumtrieb, bekannt machte. Dann erzählte es auch von den Tauchern und den verschiedenen Apperaten, vermittelte (sic!) deren sie auf dem Grunde des Meeres sich einige Zeit lang (bis zu 6 Stunden) aufhalten und bewegen können. Speciell diesem Buche danke ich den Entschluß, mich, als wir 1871 in England waren, mit in eine Taucherglocke zu setzten und mit hinunter zu fahren; es war ein höchst merkwürdiges Gefühl als ich in dem kleinen, engen Raum ohne Fußboden, ins Wasser hinabgelassen ward, und, obwohl ich durch die Fenster überall Wasser um mich sah, doch demselben nicht näher zu kommen. | Neben diesen lateinischen, griechischen und deutschen Studien betrieb ich auch das Französische sehr viel. Ich habe sehr lange die französische Grammatik lernen müssen von Anfang bis zum Ende; und sehr schwer fand ich die Lehre vom Partizipium; aber merkwürdigerweise waren es gerade die Partizipialendungen und -konstruktionen, welche ich am besten auswendig wußte, und wo ich am wenigsten Fehler machte. Ich las dann ein sehr interessantes und mit vielen Illustrationen ausgestattetes Buch teils zum Vergnügen, teils um geläufig lesen zu lernen, betitelt: "Le fond de la mer". Da ich nun von jeher eine Leidenschaft hatte für das große wunderbare Meer und für alles, was darauf und darinnen war; so liebte ich dieses Buch sehr, welches mich bekannt machte, mit dem, was auf dem Meeresgrunde lebte oder im Meere sich herumtrieb. Dann erzählte es auch von den Tauchern und den verschiedenen Apparaten, vermittels deren sie auf dem Grunde des Meeres sich einige Zeit lang aufhalten und bewegen können. Speziell diesem Buche danke ich den Entschluß, mich, als wir 1871 in England waren, mit in eine Taucherglocke zu setzen und mit hinunter zu fahren. |
Kein Reiseziel erfreute mich mehr als wenn es ans Meer ging. | Kein Reiseziel erfreute mich mehr, als wenn es ans Meer ging. |
Im Jahre 1872 waren wir auch in <Seite 14> Hamburg, wo wir wenige Tage verbrachten um [das] Treiben der größten deutschen Handelstadt zu beobachten. Da war nun mein größtes Vergnügen am Hafen spazieren zu gehen und die hunderte und aber hunderte von großen Dampfern und Segelschiffen zu sehn, das Leben und Treiben am Hafen und in den Straßen zu beobachten, das Einladen und Löschen der Ladungen, das Ankommen und Abgehen von Schiffen das Rennen und Jagen der Leute überhaupt das rege Bild des Arbeitens, erinnerte mich so sehr an das Sprüchwort der Engländer: "Time is money" (Zeit ist Geld), und wie Recht sie damit haben, denn durch das Arbeiten und den Handel ist die Stadt reich geworden. Auf einen Tag gingen wir auch zu meiner großen Freude nach einem der berühmten deutschen Kriegshäfen, nach Kiel, und sahen dort die Werften und den Hafen. Auf einer Werft wurde gerade das große Panzerschiff "Friedrich der Große" gebaut <Seite 15> bei dessen feierlichem Stapellauf zwei Jahre später der Kaiser zugegen war. | Mein Bruder und ich reisten am Ende unseres Aufenthalts in Föhr auf der Yacht des Kaisers "Grille", welches uns zur Disposition gestellt war, nach Hamburg. Dort verbrachten wir einige Tage, um das Treiben der größten deutschen Handelsstadt zu beobachten. Da war mein größtes Vergnügen, am Hafen spazieren zu gehen und die Hunderte von großen Dampfern und Segelschiffen zu sehen, das Leben und Treiben am Hafen und in den Straßen zu beobachten, das Einladen und Löschen der Ladungen, das Ankommen und Abgehen von Schiffen, das Rennen und Jagen der Leute, überhaupt das rege Bild des Arbeitens und des Verdienens war für mich das anregenste, was sich finden konnte. Auf einen Tag gingen wir auch zu meiner großen Freude nach Kiel und sahen dort die Werften und den Hafen; es wurde damals gerade das große Panzerschiff "Friedrich der Große" gebaut. |
Nach meiner Rückkehr nach Hause begann auch mein Confirmandenunterricht. Ich arbeitete den ganzen Herbst und Winter sehr scharf denn im Frühjahr sollte ich ein Examen bestehn um zu constatiren wie weit meine Kenntnisse in den einzelnen Fächern gediehen waren. Ich arbeitete auch mit Vergnügen denn ich hatte den großen Wunsch mit meinen Studien tüchtig vorwärts zu kommen.
| Wir reisten nach Potsdam zurück, und ich nahm meine Studien wieder auf, und zwar schärfer als vorher, weil ich im Frühjahr ein Examen machen sollte. Jetzt begann auch mein Konfirmandenunterricht. Den ganzen Winter hindurch mußte ich scharf arbeiten und tat es auch mit Vergnügen, weil ich selbst den großen Wunsch hatte, mit meinen Studien tüchtig vorwärtszukommen. |
Endlich im Frühjahr 1873 kam das Examen, vor welchem ich nicht die geringste Furcht hatte, da ich mich vollkommen sicher fühlte und meiner Sache gewiß war; nur eins war mir unangenehm, daß außer meinem Mathematiklehrer, alle anderen Lehrer mir unbekannt waren. Allein als das Examen begonnen war, so verlor sich dieses Gefühl auch sehr bald, und ich glaube, daß es ziemlich gut abgegangen ist, <Seite 16> auch hörte ich hernach, daß ich für die Obertertia ganz reif erfunden worden sei. | Endlich im Frühjahr kam das Examen, vor dem ich keine Furcht hatte, denn ich fühlte mich sicher; nur war es mir unangenehm, daß außer meinem Mathematiklehrer alle anderen Lehrer mir unbekannt waren. Allein als das Examen begonnen war, verlor sich dieses Gefühl auch sehr bald, und ich glaube, daß es ziemlich gut abgegangen ist; auch hörte ich hernach, daß ich für die Obertertia ganz reif befunden worden sei |
Bald darauf reiste ich mit meinen Eltern nach Wien zur Eröffnung der Weltausstellung. Auf der Reise brachten wir zwei Tage in Prag zu, welche Stadt eine der merkwürdigsten und ehrwürdigsten Städte ist, die ich kenne. Ich stand auf dem Boden, auf welchem die Hussitenkriege und Kämpfe gespielt haben, auf welchem Wallenstein und Piccolomini gegangen sind. Ich stieg auf den Hradschin und stand an dem Fenster, an welchem so zu sagen der dreißigjährige Krieg seinen Anfang nahm, aus welchem nämlich Martinitz und Slawata von den Böhmen hinausgestürzt wurden, ich sah auch den "Weißen Berg" an welchem das Schicksal des neuen Böhmenkönigs entschieden ward. Aber mit was für Gefühlen trat ich in den Palast Wallensteins; das also ist das Haus des Weltberühmten Feldherrn, hier hat er <Seite 17> gelebt, seine Feste gegeben, seine Pläne geschmiedet; auf dem Boden auf dem ich gehe, war er gegangen, was für Ereigniße waren seitdem durch die Welt gegangen, und noch stand. Alles so wie er es verlassen hatte; sogar sein Roß war noch erhalten, auf welchem er in der Schlacht bei Lützen geritten war. Auch auf der alten Moldaubrücke stand ich, da von wo Johann von Pomuck auf Kaiser Wenzels Befehl war hinuntergestürzt worden. In Wien hatte ich oft die Gelegenheit im Park von Schönbrunn spazieren zu gehn, auch hier wieder historischer Boden, wenn auch nicht angenehme Erinnerungen erweckend an die Zeit Napoleon I. Die Eröffnung der Ausstellung war recht feierlich, und die riesengroße Rotunde, in welcher sie Statt fand, und in welche der Dom des Sanct Peter hineingeht, war wohl dazu geeignet einen mächtigten und erhabenen Eindruck zu machen. Ich besuchte täglich die Ausstellung und suchte zu lernen <Seite 18> und meine Kenntnisse zu bereichern, wo es etwas Neues zu sehn und zu lernen gab. | Bald darauf reiste ich mit meinen Eltern nach Wien zur Eröffnung der Weltausstellung. Auf der Reise verblieben wir einige Tage in Prag, welche Stadt eine der ehrwürdigsten und merkwürdigsten Städte ist, die ich kenne. Ich stand auf dem Boden, auf welchem die Hussitenkriege und -kämpfe gespielt, auf welchem Wallenstein und Piccolomini gegangen sind. Ich ging auf den Hradschin und stand am Fenster, an welchem sozusagen der Dreißigjährige Krieg seinen Anfang nahm, aus welchem nämlich Martinitz und Slawata von den Böhmen hinausgestürzt wurden; ich sah auch den Weißen Berg, an welchem das Schicksal des neuen Böhmenkönigs bestimmt ward. Aber mit was für Gedanken trat ich in den Palast Wallensteins ein! Das also war das Haus des weltberühmten Mannes, hier hatte er gelebt, seine Pläne geschmiedet; auf dem Boden, auf dem ich ging, war er gegangen. Was für Ereignisse waren seitdem durch die Welt gegangen, und noch stand alles so, wie er es verlassen hatte; sogar das Pferd war da, ausgestopft, welches er in der Schlacht bei Lützen ritt. Auch auf der alten Moldaubrücke stand ich, da, von wo Johann v. Pomuck (Nepomuk) auf Kaiser Wenzels Befehl hinuntergestürzt worden war. In Wien, wo wir freundlich vom Kaiser und seiner Gemahlin empfangen wurden, wohnten wir die ganze Zeit unseres Aufenthaltes in Hetzendorf, nicht weit von Schönbrunn, und jeden Morgen, ehe ich zur Ausstellung fuhr, ging ich mit meinen Eltern im Garten und Park von Schönbrunn spazieren. Auch hier wieder historischer Boden, wenn auch nicht angenehme Erinnerungen erweckend an die Zeit Napoleons I. Die Eröffnung der Ausstellung war recht feierlich, und die riesengroße Rotunde, in welcher sie stattfand, und in welche der Dom des Sankt Peter hineingeht, war wohl bestimmt, einen mächtigten Eindruck zu machen. Ich kann natürlich nicht erzählen, was ich alles gesehen, gehört und gemacht habe; genüge es zu sagen, daß ich alle Tage 4 - 5 Stunden in der Ausstellung zubrachte; über das, was ich gesehen, habe ich ein Tagebuch geführt. |
Der junge 15jährige Kronprinz und ich, wir waren sehr gute Kammeraden geworden, wir haben manchen Spaziergang und manchen Ausflug zusammen gemacht, das den Bau unserer Freundschaft fest geknüpft hat. Nach 14 Tagen reiste ich wieder nach Haus. | Der junge 15jährige Kronprinz und ich waren sehr gute Kameraden geworden, und wir haben manchen Ausflug und manchen Spaziergang zusammen gemacht. Nach 14 Tagen reiste ich nach Haus, während meine Eltern nach Italien reisten. |
Den ganzen Herbst hindurch und den ganzen Winter vermehrte sich der Unterricht so daß er oft bis 7 oder 8 Uhr Abends dauerte, und ich kaum eine Stunde zum Ausgehn fand. Diese wurde im Frühjahr 1874 und im ersten Theil des Sommers auch so fortgesetzt, und nur in den Hundstagen eine Pause gemacht, mit Ausnahme des Confirmanden Unterrichts, welcher auch im Seebad Scheweningen fortgesetzt wurde, in welchem ich auch den Livius zu lesen begann. Nach meiner Rückkehr setzte ich die Arbeiten wieder fort bis zum 1. September 1874. An diesem Tage wurde ich eingesegnet, <Seite 19> zu welcher Feierlichkeit auch mein Onkel der Prinz von Wales von England herüberkam. | Den ganzen Herbst (1873) hindurch und den ganzen Winter akkumulierte sich der Unterricht immer mehr bis 7 oder 8 Uhr abends, daß ich kaum eine Stunde zum Ausgehen hatte. Dies ging im Frühjahr und ersten Teil des Sommers ( 1874) auch so, nur in den Hundstagen wurde die letzte Ruhepause gemacht und zu einer Reise nach Scheveningen in Holland benutzt. |
Meine Einsegnung hatte mich herrlich gestärkt und mit neuen Kräften versehn, und ich blickte mit fester Zuversicht und festem Gottvertrauen in die Zukunft. | Meine Einsegnung hatte mich herrlich gestärkt und mit neuen Kräften versehen, und ich blickte mit fester Zuversicht und Gottvertrauen in die Zukunft. |
Damals gleich nach meiner Einsegnung hörte ich zum ersten Male, daß ich nach Cassel auf das Gymnasium kommen sollte, und dieser Gedanke war, um die Wahrheit zu sagen, mir nicht sehr angenehm. Denn ich sagte mir, daß ich nun unter hunderte von ganz fremden Knaben kommen, daß ich von ganz fremden Lehrern unterrichtet, und beurtheilt werden sollte; und fürchtete natürlich, ich möchte ihnen mißfallen, oder nur als halber Mensch angesehn werden. Und diese Gedanken folgten mir auf der Harzreise, welche ich bald nach meiner Einsegnung mit meinem Bruder und zwei Kameraden unternahm, immer nach und beschäftigten mich. | |
Als ich nun zum ersten Male Cassel vom Sondershäuser Berg aus vor mir hingestreckt <Seite 20> liegen sah, stiegen alle diese Gedanken mit doppelter Macht in mir auf; da aber dachte ich an meine Einsegnung und an das Lied, mein lieblings Lied, welches dabei gesungen worden war: "Ein feste Burg ist unser Gott ein gute Wehr und Waffen", und die Zweifel und Gedanken verschwanden wie böse Gespenster oder Spuckgestalten. | Als ich zum ersten Male Kassel vom Sondershäuser Berg vor mir liegen sah, stiegen alle diese Gedanken mit doppelter Macht in mir auf, da aber dachte ich an meine Einsegnung und an das Lied, welches dabei gesungen worden war: "Ein' feste Burg ist unser Gott", und die Zweifel und Gedanken verschwanden wie böse Gespenster oder Spukgestalten. |
Ich hatte mich bald in Cassel eingelebt und wurde von meinem zukünftigen Ordinarius für die Ober-Secunda vorbereitet, denn wir waren noch vor Anfang der Michaelisferien angekommen, so daß ich eine gute Zeit zur Vorbereitung vor mir hatte. Als nun endlich der Tag des Eintritts kam und ich mit meinem Ordinarius auf den Schulhof kam, da war es mir keineswegs wohl zu Muthe, und ich fühlte mich sehr unbehaglich. Denn ich wußte, daß Jedermann mich ansah und, wie die Welt es immer thut, nach dem Aussehn gleich das Urtheil fällte; und doch konnte ich keinem ordentlich ins Gesicht sehn, da ich noch dazu sehr blöd war. Aber beinah noch heißer wurde <Seite 21> mirs zu Muthe, als der Herr Director mich in meine Klasse - die Obersecunda - führte und zu mir einige ermunternde Worte sprach, denn nun stand ich dicht vor den Knaben, und sie konnten meine Mängel und Fehler sehn. Darum war es für mich ein großes Glück, daß ich während der Spaziergänge in den Ferien mehrere Schüler aus meiner Klasse kennen lernte, denn da waren doch einige bekannte Gesichter unter den vielen fremden vorhanden, und die waren genug um meine Blödigkeit zum Theil zu vertreiben. Allein ich war an jenem Tage froh, als ich nach der Hora aus der Schule wieder nach Hause kam; aber diese Gefühle machten glücklicherweise bald anderen Platz. |
Ich war kaum eine Woche in der Schule gewesen, so fühlte ich mich so zu Hause in der Klasse und war so schnell mit meinen Kameraden vertraut geworden, daß es mir vorkam als ob ich nie anders als in der Klasse meinen Unterricht genossen hätte. Gerade auch der Schriftsteller, den wir lasen, entsprach meinen Hoffnungen und Wünschen; die lebhafte <Seite 22> genaue Darstellung der Ereignisse, die treffende Charakteristik der in den erzählten Ereignissen vorkommenden Personen machten mir die Lectüre Sallusts beinahe zum anziehendsten, welche ich von den römischen Schriftstellern gelesen habe. Später lasen wir eine Rede Ciceros "pro lege Manilia" oder "de imperio Cn. Pompeji", welche, obgleich ich kein Freund von Cicero bin, ich für die einzige halte, in der er weniger von sich als vom Gegenstand seiner Rede spricht. Im griechischen lasen wir den Homer; da frischte ich alle meine Vorstellungen in wohlthuender Weise wieder auf; die schönen Gleichnisse aus der Natur, die Schilderungen der Helden, ihrer Thaten und Kämpfe, das alles war es, was mich hinriß und mich unwiderstehlich an dem Homer fesselte. Und nun kam noch die schöne äußere Form des Gedichtes hinzu; die einfachen und doch großartigen Hexameter, wie vortrefflich erschienen dieselben geeignet, die großen Ereignisse wiederzugebn, welche sie schildern sollen. Ich finde und bleibe dabei, daß nichts über die <Seite 23> griechische Sprache geht, und in der griechischen Sprache nichts über den Homer und zwar über seine Ilias. | Ich war kaum eine Woche in der Schule gewesen, so fühlte ich mich so zu Hause in der Klasse (es war die Obersekunda) und war so schnell vertraut geworden mit meinen Kameraden, daß es mir vorkam, als ob ich nie anders als in der Klasse meinen Unterricht genossen hätte. Gerade der Schriftsteller, welchen wir lasen, entsprach meinen Hoffnungen und Wünschen; die lebhafte genaue Darstellung der Ereignisse, die treffende Charakteristik der in den erzählten Ereignissen vorkommenden Personen machten mir die Lektüre zu dem Anziehendsten, was ich von den Werken Sallusts gelesen habe. Später lasen wir eine Rede Ciceros "pro lege Manilia" oder "de imperio Cn. Pompeji", welche ich für die einzige halte, in welcher Cicero weniger von sich als vom Gegenstand seiner Rede spricht. Im Griechischen lasen wir den Homer, da frischte ich alle meine alten Vorstellungen von dem antiken Griechentum in wohltuender Weise wieder auf. Die schönen Gleichnisse aus der Natur, die Schilderungen der Helden, ihrer Taten und Kämpfe, das alles war es, was mich hinriß und mich unwiderstehlich an dem Homer fesselte. Und nun kam noch die schöne äußere Form des Gedichtes hinzu, die einfachen und doch großartigen Hexameter; wie vortrefflich erschienen dieselben geeignet, die großen Ereignisse wiederzugeben, welche sie schildern sollen! Ich finde und bleibe dabei, daß nichts über die griechische Sprache geht, und in der griechischen Sprache nichts über den Homer. |
Zu Ostern wurde ich mit meiner Klasse in die Unterprima versetzt. Hier begannen wir beim Herrn Director die Lectüren des Horaz, eines Dichters, für welchen wir alle schon nach wenigen Tagen begeistert waren, und in welchem wir endlich den größten römischen (Schrift) Dichter kennen lernten. Da außerdem mit der Erklärung der Oden auch etwas Kunstgeschichte verbunden war, so war es für mich doppelt interessant, weil ich die Kunstgeschichte sehr gern hatte, und manches Neue dabei lernte. Hierbei kamen mir die Vorträge des Professor Bötticher vom Berliner Museum über die Architektur und Bildhauerkunst sehr zu statten, und ich kann ihm nicht dankbar genug sein, daß er mir so vieles Neues gelehrt hat. Ich hatte von jeher die hellenische Bildhauerkunst gern gehabt, da ich sehr früh schon in das Museum zu Berlin geführt worden war um die hellenischen Bildsäulen <Seite 24> anzusehn; und bald waren es bestimmte Statuen, die meine Lieblingsbilder waren. Es war dies die eine Bildsäule des Achilleus, den ich ja ganz besonders lieb hatte, und die Aeginetengruppe, weil das die einzigen Bildsäulen waren, welche hellenische Waffen trugen, und das war es genau, was ich suchte. Zu der Zeit las ich in einem Erzählungsbuch die Ilias, und wollte nun, wenn ich die Beschreibung von den Waffen eines Helden gelesen hatte, auch sehn wie dieselben wohl ausgesehn hätten. Besonders war es mir um die mit mächtigen Roßschweifen gezierten Helme zu thun, und deren gab es eine ganze Reihe bei den Aegineten. Aber völlig befriedigten mich diese auch nicht. Daher machte mir mein Vater eine sehr große Freude, als er mir zwei griechische Helden der Ilias (den Achilleus und Patroklos) in gebrannter Erde mit der ganzen vollen Ausrüstung schenkte; ich konnte mich nicht satt an denselben sehn, und jedesmal wenn <Seite 25> ich die Ilias las oder mir daraus vorgelesen wurde, so hatte ich die beiden Figuren vor mir stehn. | Zu Ostern wurde ich mit meiner Klasse in die Unterprima versetzt. Hier begannen wir beim Herrn Direktor die Lektüre des Horaz, eines Dichters, für welchen wir alle nach wenigen Tagen schon begeistert waren, und in welchem wir endlich den größten römischen Schriftstellers kennen lernten. Da außerdem mit der Erklärung der Oden auch etwas Kunstgeschichte verbunden war, so war es für mich doppelt interessant, weil ich die Kunstgeschichte sehr gern hatte und weil ich manches Neue dabei lernte. Hierbei kamen mir die Vorträge des Professor Bötticher vom Berliner Museum über die Architektur und Bildhauerkunst der Griechen und Römer sehr zustatten, und ich kann ihm nicht dankbar genug sein, daß er mir so vieles Neues gelehrt hat. Ich hatte von jeher die griechische Bildhauerkunst gern gehabt, da ich sehr früh schon in das Museum zu Berlin geführt worden war, um die griechischen Bildsäulen anzusehen, und bald waren es bestimmte Statuen, die meine Lieblingsbilder wurden. Es waren dies eine Bildsäule des Achilleus, welchen ich ja e.anz besonders lieb hatte, und die Aginetengruppe, weil das die einzigen Bildsäulen waren, welche griechische Waffen trugen, und das war es gerade, wonach ich suchte. Zu der Zeit las ich in einem Erzählungsbuche die Ilias und wollte nun, wenn ich die Beschreibung von den Waffen eines Helden gelesen hatte, auch sehen, wie dieselben ungefähr wohl ausgesehen hätten. Besonders war es mir um die mit Roßschweifen gezierten Helme zu tun, und deren gab es eine ganze Reihe bei den Ägineten. Sehr erfreute mich mein Vater, als er mir zwei griechische Helden der Ilias (den Achilleus und Patroklos) in gebrannter Erde mit der ganzen vollen Ausrüstung schenkte; ich konnte mich nicht satt an denselben sehen und jedesmal, wenn ich die Ilias las oder mir daraus vorgelesen wurde, so hatte ich die beiden Figuren vor mir stehen. |
In der Klasse lasen wir ferner den Cicero, und zwar das fünfte Buch der Tusculanen, ich fand diese zwar zuerst nicht sehr anregend aber gegen das Ende hin wurde diese Lectüre doch angenehmer. Aber nach diesem Buch lasen wir den Orator. Bei diesem Werk ging was ich bei der Rede pro lege Manilia und bei den Tusculanen an Liebe zum Cicero gewonnen hatte, schon nach den ersten Kapiteln schnell verloren. Ich habe noch nie ein so trockenes, schwerverständliches Buch gelesen, das so gar nichts bietet, was man für sich hätte gebrauchen können. Denn wenn ich einen Schriftsteller lese, so wünsche ich etwas, ich könnte sagen, eine Quintessenz dessen, was er geschrieben hat, für mich zu behalten und zu bewahren für das Leben. Dieses war mir jedoch bei jener Schrift mit dem besten Willen <Seite 26> nicht möglich; ich fand nichts als eine endlose Menge von Perioden und Phrasen mit einerListe von Rednern und Sophisten, die mich alle mehr oder weniger gar nicht interessierten. | In der Klasse lasen wir im Lateinischen ferner den Cicero, und zwar das fünfte Buch der "Tusculanen"; ich fand dieses zwar zuerst nicht sehr anregend, aber gegen das Ende hin wurde diese Lektüre doch angenehm. Aber nach diesem Buch lasen wir den "Orator". Bei diesem Werk ging, was ich bei der Rede "pro lege Manilia" und bei den "Tusculanen" an Liebe zum Cicero gewonnen hatte, schon nach den ersten 10 Kapiteln schnell verloren. Ich habe noch nie ein so trockenes, schwer verständliches, wenig Liebe zum Autor erweckendes Buch gelesen, das so gar nichts bietet, was man sich hätte zueignen oder was man für sich hätte gebrauchen können. Denn wenn ich einen Schriftsteller lese, so wünsche ich etwas, ich könnte sagen, eine Quintessenz dessen, was er geschrieben hat, für mich zu behalten und zu bewahren für das Leben. Dieses war mir jedoch bei jener Schrift mit dem besten Willen nicht möglich; ich fand nichts als eine endlose Menge von Perioden und Phrasen mit einer Liste von Rednern und Sophisten, die mich alle mehr oder weniger gar nicht interessierten. |
Um so mehr wurde ich im Griechischen entschädigt durch das Lesen des Demosthenes. Staunen und Bewunderung erfüllten mich, wenn ich den gewaltigen Mann im Geiste ansah, wie er in der Jugend in unglücklichen Verhältnissen aufgewachsen, sich emporarbeitete und emporrang bis zum gewaltigen und berühmten Redner, den es je gegeben, denn noch jetzt richten sich die Redner nach ihm. Alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, besiegte er; sowohl die seines Organs als die, welche seine Feinde ihm bereiteten. Und nun seine Rede. Klar, einfach, wahr; ohne große Prahlerei von seinen Verdiensten oder Thaten, immer nur die Sache, um die es sich handelt im Auge; nie, auch nicht ein einziges mal, spricht er von sich, wie Cicero es thut. Der größte Beweis dafür, daß er ein großer Redner war, ist doch wohl <Seite 27> der, daß, nachdem er gesprochen hatte, die Athenischen Heere in den Kampf, in den Tod fürs Vaterland zogen. Bei seinen Reden wandte Demosthenes auch nicht feingedrechselte Perioden und Phrasen an, nein frisch von der Leber weg sprach er, was er auf dem Herzen hatte, sagte den Athenern oft auch derbe Wahrheiten ins Gesicht. Und darum gefällt er mir auch so sehr, und deshalb verachte ich den neben ihn kleinlich aussehenden Cicero immer mehr, je mehr ich mich in den Demosthenes vertiefe. Auch mein Enthusiasmus für den Horaz ging nach und nach verloren. Je mehr Oden ich las, um so mehr lernte ich den Charakter dieses Dichters kennen, wenn man sich den Horaz in die Jetztzeit versetzt dächte, so würde man ihn auf die Unterste Stufe der Genußmenschen stellen | Um so mehr wurde ich im Griechischen entschädigt durch das Lesen des Demosthenes. Staunen und Bewunderung erfüllten mich, wenn ich den gewaltigen Mann im Geiste ansah, wie er in der Jugend in unglücklichen Verhältnissen aufgewachsen, sich emporarbeitete und emporrang bis zum gewaltigsten und berühmtesten Redner, den es je gegeben, denn noch jetzt richten sich die Redner nach ihm. Alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, besiegte er, sowohl die seines Organs als die, welche seine Gegner ihm bereiteten. Und nun seine Rede! Klar, einfach, wahr; ohne große Prahlerei von seinen Verdiensten oder Taten, immer nur die Sache, um welche es sich handelt, im Auge; nie, auch nicht ein einziges Mal spricht er von sich selbst. Der größte Beweis dafür, daß er ein großer Redner war, ist doch wohl der, daß, nachdem er gesprochen hatte, die athenischen Heere in den Kampf, in den Tod marschierten. Bei seinen Reden wandte Demosthenes auch nicht feingedrechseite Perioden und Phrasen an, nein, frisch von der Leber weg sprach er, was er auf dem Herzen hatte, er sagte den Athenem oft auch derbe Wahrheiten ins Gesicht. Und darum gefiel er mir auch so sehr und deshalb verachtete ich den neben ihm kleinlich aussehenden Cicero immer mehr, je mehr ich mich in den Demosthenes vertiefte. Auch mein Enthusiasmus für den Horaz ging nach und nach verloren. Je mehr Oden ich las, um so mehr lernte ich den Charakter des Dichters kennen. Wenn man sich den Horaz in die Jetztzeit versetzt dächte, so würde jeder anständige Mensch sich schämen, mit ihm zusammen zu gehen, und noch weniger würde es einem anständigen Menschen einfallen, ihn zu sich zu Tisch zu laden. |
Der Geschichtsunterricht betraf auch gerade mein Lieblingsthema, nämlich die Geschichte des Mittelalters; zu Hause las ich im Kohlrausch und Menzel das nach, was wir in der Schule durchgenommen hatten. Auch bildete <Seite 28> ich mit einigen Kammeraden ein Geschichtskränzchen zur Repetition der ganzen Geschichte, der alten Zeit und des Mittelalters; im Kränzchen wurden auch freie Vorträge gehalten, und diese von den jedesmaligen Zuhörern censirt und protokollirt. Neben dem Demosthenes haben wir auch noch die Elektra gelesen des Sophokles; welch ein Geist lebt in diesem Stück, welch ein tiefes sittliches Gefühl ist in den Chorliedern und in den Reden, und welch eine Innigkeit des Gemüths ist in dem Charakter der Electra vertreten. Bei diesem Stück lernte ich wieder viel Neues in Bezug auf das hellenische Schauspiel, sowohl was den Bau des Theaters angeht, als auch was die Einrichtung der Bühne, die Zahl und die Bekleidung der Schauspieler und ihr Spiel betrifft. Auch da kamen mir die Vorträge des trefflichen Professor Bötticher über das hellenische Theater und Schauspiel sehr gelegen. | Der Geschichtsunterricht betraf auch gerade mein Lieblingsthema, nämlich die Geschichte des Mittelalters; zu Hause las ich im Kohlrausch und Menzel das nach, was wir in der Schule durchgenommen hatten. Auch bildete ich mit einigen Kameraden ein Geschichtskränzchen zur Repetition der ganzen Geschichte der alten Zeit wie des Mittelalters; im Kränzchen wurden auch freie Vorträge gehalten und diese von den jedesmaligen Zuhörern zensiert und protokolliert. Neben dem Demosthenes lasen wir in der Klasse auch die Elektra des Sophokles; welch ein Geist lebt in dem Stück, welch ein tiefes sittliches Gefühl ist in den Chorliedern und in den Reden und welch eine Innigkeit des Gemüts ist in dem Charakter der Electra vertreten! Bei diesem Stück lernte ich wieder viel Neues in bezug auf das hellenische Schauspiel, sowohl was den Bau des Theaters angeht, als auch was die Einrichtung der Bühne, die Zahl und Bekleidung der Schauspieler und ihr Spiel betrifft. Auch da kamen mir die Vorträge des trefflichen Professor Bötticher über das hellenische Theater und Schaupiel sehr gelegen. |
Zu Ostern kamen wir in die Oberprima. Hier lasen wir des Horaz Satiren, die mich in meiner vorher ausgesprochnen Meinung bestärkten. <Seite 29> Im Lateinischen lasen wir ferner die Rede des Cicero "pro Sestio", welche er ganz mit Fug und Recht "pro Cicerone" hätte betiteln können, denn der P. Sestius wird kurz hier und da einmal erwähnt, sonst aber handelt die Rede vorzusweise von der allgemeinen Trauer des "populus Romanus" über "Ciceros" Verbannung, von großartigen Schimpfreden auf den Clodius und seine Banden, und zuletzt von der Freude des "populus Romanus" als er der "Cicero" wieder zurückberufen ward! Und da soll man den eitlen prahlsüchtigen Schönredner nicht verachten, wenn man daneben den herrlichen Demosthenes hat?! | Zu Ostern kamen wir in die Oberprima. Hier lasen wir des Horaz Satiren, mir den Rest von Achtung, welchen die Oden mir übriggelassen hatten, schnell benahmen und ihn in meinen Augen in die unterste Stufe der Genußmenschen herabsetzten. Im Lateinischen lasen wir die Rede des Cieero "pro Sestio", welche er mit Fug und Recht "pro Cicerone" hätte betiteln können, denn der P. Sestius wird kurz hier und da einmal erwähnt, sonst aber handelt die Rede vorzusweise von der Trauer des populus Rornanus um den Clodius und seine Bande, und von der Freude des populus Romanus, als der Cicero wieder zurückberufen ward. Und da soll man den prahlsüchtigen Schönredner nicht verachten, wenn man daneben den herrlichen Demosthenes hat? |
In der Geschichte wurde das Zeitalter der Reformation und der Anfang des dreißigjährigen Krieges [durchgenommen]. Obwohl diese Periode höchst interessant ist, so habe ich sie nicht ganz so gern, weil schon der Anfang des Verfalls des deutschen Reiches sich bemerkbar macht, dagegen in der Ritterzeit das schöne "Heilige Römische Reich deutscher Nation", so recht in seiner Kraft und Fülle war und an der Spitze <Seite 30> der ganzen damaligen civilisirten Welt stand. | In der Geschichte wurde das Zeitalter der Reformation durchgenommen und der Anfang vom 30jährigen Krieg. Obwohl diese Periode höchst interessant ist, so habe ich sie doch nicht ganz so gern, weil schon der Anfang des Verfalls des deutschen Reiches sich bemerkbar macht, dagegen in der Ritterzeit das schöne Römische Reich deutscher Nation so recht in seiner Kraft und Fülle war und an der Spitze der ganzen damaligen zivilisierten Welt. |
Nichts durfte ohne Erlaubniß oder Mitwirken des Kaisers geschehn, und wehe dem, welcher den Zorn desselben auf sich lud; man denke an Heinrich I. und Otto II., der drei Päpste absetzte und drei andere nach einander wieder einsetzte, ohne Jemanden zu fragen und ohne, daß sich ihm Jemand entgegenzusetzen wagte; man denke an Friedrich I. und die Mailänder, die seine Strafe schwer genug fühlen mußten. Darum ist mein Wunsch und sei es der eines jeden deutschen Patrioten: Möge der Herr das neue deutsche Reich, einst wieder zur alten Macht erheben, ihm Friede und Wohlfahrt schenken, und vor allem, Gott schütze unseren Kaiser. |
Anmerkungen:
[17] Kaiser Wilhelm II., Aus meinem Leben 1859-1888, Leipzig 1928.
[18] Weder im Haus Doorn, das die Archivalien des Kaisers ins Rijksarchief Utrecht abgegeben hat, noch im Rijksarchief Utrecht finden sich die für die Memoiren benutzen Unterlagen. Zwar gibt es einen Bestand Inv.nr. 241: Documents concerning "Aus meinem Leben", 1926-1928, doch er enthält nur Korrespondenzen und Zeitungsausschnitte; es sind ausschließlich Reaktionen auf das Buch des Kaisers.
[19] In seinen Lebenserinnerungen (S. 21) heißt es "in weiblichen Händen - in weiblichen, aber nicht übermäßig zarten!"
Curriculum vitae - des Prinz Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Wilhelm II., 9. Oktober 1876
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