Die Bundesrepublik Deutschland 1966-1990. Vom geteilten Land bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit
Die Bundesrepublik Deutschland 1966-1990. Vom geteilten Land bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit

Vorwort

Das Quellenheft zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1966-1990 konzentriert sich auf vier zentrale Abschnitte in der historischen Entwicklung: erstens auf die Zeit der Großen Koalition 1966-1969, zweitens auf die sozialliberale Ära 1969-1982, drittens auf die Wende zu Beginn der achtziger .Jahre und die Koalition von CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Kohl sowie viertens auf den Wandel des internationalen Systems von den sechziger Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges und bis zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands im Jahre 1990. Der Epochenwechsel von 1989/90 markiert zugleich das Ende der alten Bonner Republik, deren Gesamtentwicklung von 1949 bis 1990 in Verbindung mit dem Quellenheft zur Ära Adenauer (Klettbuch 49032) nunmehr zusammenhängend bearbeitet werden kann.
In der vorliegenden Quellensammlung wird versucht, entscheidende Wendepunkte, Neuanfänge von Entwicklungen und grundlegende Strukturen Im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik durch charakteristische Texte, Tabellen, Graphiken und Bilder exemplarisch zu dokumentieren. Wo immer möglich, sollen zugleich auch die kontroversen Diskussionen aufgezeigt werden, die im Zusammenhang mit neu entstandenen Problemlagen geführt wurden. Wesentliche Elemente des Modernisierungsprozesses seit den sechziger Jahren sowie die in dieser Zeit sichtbar gewordenen neuen Anforderungen an die Umwelt-, Entwicklungs- und Gesellschaftspolitik sind in einem eigenen Abschnitt dargestellt.
Ein besonderes Gewicht wird schließlich auf die Dokumentation des internationalen Systemwechsels seit 1989/90 gelegt. Dabei wird neben dem innenpolitischen Aspekt des deutschen Einigungsprozesses vor allem der außenpolitische bzw. internationale Problemzusammenhang beleuchtet. Besonders Interessant erschienen solche Texte, in denen entweder die sich aus dem Wandel ergebenden zukünftigen Probleme und Herausforderungen markant angesprochen oder
in denen auf der Grundlage der neuen Situation aufschlußreiche Analysen zur Vergangenheit formuliert wurden.
Die relativ ausführliche Zeittafel, die Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten und die im Anhang zusammengestellten Grunddaten zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik sollen es dem Leser ermöglichen, sich rasch über die Geschichte dieser Epoche im ganzen bzw. über diejenigen historischen Zusammenhänge zu informieren, innerhalb derer die einzelnen Texte stehen und zu interpretieren sind.

Die Große Koalition 1966-1969
Die Große Koalition 1966-1969

1. Rezession und keynesianische Konjunkturpolitik

Das zweite Kabinett Erhard war am Ausbruch der ersten Nachkriegsrezession in der Bundesrepublik gescheitert. Bis dahin hatte die Überzeugung vorgeherrscht, daß die soziale Marktwirtschaft das Problem der Arbeitslosigkeit als Folge von Konjunktureinbrüchen dauerhaft gelöst habe. Entsprechend heftig waren die Reaktionen auf den wirtschaftlichen Abschwung 1966/67. Neue Formen staatlicher Wirtschaftspolitik schienen geboten. Im neuen Kabinett der GroBen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger übernahmen mit Schiller (SPD) und Strauß (CDU) zwei Politiker das Wirtschafts- und Finanzministerium, die anders als Ehrhard entschlossen waren, die Rezession mit den Mitteln einer keynesianischen Politik1 der staatlichen Beeinflussung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage zu überwinden (Politik der Globalsteuerung). Tatsächlich gelang es in kaum mehr als einem Jahr die Konjunkturbewegung - die 1966/67 zum Verlust von mehr als 900000 Arbeitsplätzen führte - wieder umzukehren, wenn auch, wie die weitere Entwicklung zeigte, nicht zu verstetigen. Im einzelnen trugen mehrere Faktoren zu dieser raschen Krisenüberwindung bei.

1. Die sofort eingeleiteten Maßnahmen der Regierung zur Gegensteuerung, die zwar Überwiegend erst 1968 wirksam wurden, die aber das notwendige Vertrauen der Wirtschaft in die zukünftige Entwicklung wiederherzustellen halfen. Zu diesen Maßnahmen zählten vor allem:
- zwei Konjunkturprogramme, zur Verbesserung der besonders nachfragewirksamen öffentlichen und privaten Investitionen;
- die Verabschiedung eines "Gesetz(es) zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft", das der Regierung neue Möglichkeiten einräumte, durch steuerliche und ausgabenpolitische Maßnahmen auf den Konjunkturverlauf einzuwirken;
- die Einberufung einer "Konzertierten Aktion", d. h. eines "Runden Tisches", an dem Vertreter der Bundesregierung, der Bundesbank, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften (später noch weitere Gruppen) sich auf eine gemeinsame wirtschaftspolitische Strategie abzustimmen versuchen sollten, indem sie sich auf gemeinsame Orientierungsdaten für die jeweils eigenverantwortlichen Entscheidungen einigten.

2. Der mit der Bundesregierung abgestimmte Übergang der Bundesbank zu einer expansiven Geldpolitik.2

3. Der Ausgleich fehlender Binnennachfrage durch vermehrten Export aufgrund einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit (gebremster inländischer Preisanstieg) und ungleichartiger nationaler Konjunkturverläufe (die wichtigsten Exportländer wiesen anders als die Bundesrepublik weiterhin positive Wachstumsraten auf).

Die aufgezählten Faktoren waren in ihrer Verbindung so wirksam, daß sich aus dem Abschwung der Jahre 1966/67 schon 1968 ein neuer Konjunkturboom ent- wickelte, der alle Erwartungen übertraf. Bis 1970 stieg die Zahl der Erwerbstätigen wieder um mehr als eine Million an. Doch noch während der Großen Koalition - zunehmend aber in den Jahren danach - entwickelte sich ein heftiger Streit darüber, ob der Konjunkturumschwung sich tatsächlich der Globalsteuerung verdanke und ob diese überhaupt das geeignete Mittel sei, um das Konjunkturproblem in den Griff zu bekommen.

 

1 John Maynard Keynes, 1883-1946, englischer Nationalökonom, entwickelte die nach ihm benannte Theorie, wonach in einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft eine dauerhafte Unterbeschäftigung eintreten kann. Es sei dann die Aufgabe des Staates und der Zentralbank durch fiskalische (die Staatsausgaben und die Steuern betreffende) und geldpolitische Maßnahmen für eine größere, die Vollbeschäftigung sichernde Gesamtnachfrage zu sorgen.

2 Expansive Geldpolitik: Maßnahmen, die den Umfang der umlaufenden Geldmenge dadurch vergrößern, daß der Kreditspielraum der Banken erweitert und die Zinssätze gesenkt werden. Zu den dazu angewandten Mitteln gehören insbesondere: die Senkung des Diskontsatzes (Zinssatz der Zentralbank für eingereichte HandeIswechsel), Herabsetzung der Mindestreservesätze (Zwangseinlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank), Offenmarktpolitik (hier: Ankauf von Wertpapieren der Geschäftsbanken durch die Zentralbank).

Karl Schiller über Inhalt und Aufgaben der Globalsteuerung. Auszug aus einem Vortrag des Bundesministers für Wirtschaft im National Press Club in Washington am 20. Juni 1967

Karl Schiller über Inhalt und Aufgaben der Globalsteuerung. Auszug aus einem Vortrag des Bundesministers für Wirtschaft im National Press Club in Washington am 20. Juni 1967

Die neue Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 erstmals die kritische Lage realistisch dargestellt und unverzüglich eine entsprechende Politik der konjunkturpolitischen Gegensteuerung eingeleitet. Dieses Programm, in dessen Mittelpunkt eine bewußte Politik des Deficit-spending steht, hat eine neue Ära in der deutschen Wirtschaftspolitik
eingeleitet. Die Grundlage dieser neuen Wirtschaftspolitik möchte ich zusammenfassen in der Formel, die ich bereits im Jahre 1965 einmal in einem Aufsatz in "Foreign Affairs" (Juli 1965, Seite (77) benutzt habe: the combination of the market economy, monetary and financial guidance and welfare policy.
Ich halte diese Synthese der neoliberalen marktwirtschaftliehen Konzeption (für die Regelung der mikroökonomischen Beziehungen) mit der keynesianisehen Politik (der Steuerung der makroökonomischen Größen), verbunden mit einer modernen welfare policy, für die einzige überzeugende Antwort auf den wirtschaftlichen und sozialen Wandel in unserer Zeit. Nur mit dieser
Kombination können unter den heutigen und künftigen Bedingungen der modernen Volkswirtschaft die zentralen Ziele der Wirtschaftspolitik: Stabilität des Preisniveaus, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wachstum gleichzeitig erreicht werden. Wir können und dürfen die Entwicklung der Gesamtwirtschaft nicht einfach sich selbst überlassen und nur mit gelegentlichen Ad-hoc-Interventionen und Einzeldirigismen den Wirtschaftsprozeß beeinflussen wollen. Nur so wird die Marktwirtschaft gerettet und in die zweite Phase hinübergeführt, wenn sie ergänzt wird durch eine systematische, die Marktkräfte fördernde kurz- und längerfristige Steuerung des makroökonomischen Prozesses.             
Um diese neue Politik zu ermöglichen, haben die parlamentarischen Gremien in der Bundesrepublik Anfang dieses Monats mit dem "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" ein erweitertes und verbessertes wirtschaftspolitisches Instrumentarium geschaffen. Dieses Gesetz bietet den staatlichen Instanzen die rechtliche Grundlage für eine wirksame wirtschaftspolitische Globalsteuerung, die weit über die traditionelIe Geld- und Kreditpolitik hinausgeht. Ich möchte sagen, daß es heute weit mehr darstellt, als der amerikanische employment act von 1946. Wesentlicher Anwendungsbereich dieses neuen Instrumentariums ist die Einführung moderner Fiskalpolitik, die in einem föderalistischen Staat wie der Bundesrepublik naturgemäß besondere Schwierigkeiten bereitet. Daher verfügen wir heute über ein neues Gremium: den Konjunkturrat der öffentlichen Hände (zwei Bundesminister, elf Länderminister, vier Gemeindevertreter). Das Gesetz bietet vor allem die Möglichkeit, je nach Konjunkturlage die öffentlichen Ausgaben oder Einnahmen kurzfristig und antizyklisch auf der Grundlage einer längerfristigen Finanzplanung zu erhöhen und zu vermindern. Ich will hier nur zwei Beispiele erwähnen:

- Der Bundesfinanzminister kann bei einem Schrumpfen der Nachfrage nach § 6 Abs. 3 des Gesetzes zusätzliche Kredite bis zur Höhe von 5 Mrd. DM aufnehmen.

- Nach §26 kann die Bundesregierung mit einem verkürzten parlamentarischen Zustimmungsverfahren die Einkommen- und Lohnsteuer um 10 v. H. nach oben oder unten variieren.

Damit haben endlich- wenn auch mit einem deutlichen time-lag hinter den USA - der Keynes der "general theory" von 1936 und die nachfolgende moderne neoklassische Synthese in Deutschland ihren Einzug gehalten.

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Rückblick auf fünf Jahre Globalsteuerung. Kritische Bewertung durch den Wirtschaftswissenschaftler Egon Tuchfeldt (1973)

Rückblick auf fünf Jahre Globalsteuerung. Kritische Bewertung durch den Wirtschaftswissenschaftler Egon Tuchfeldt (1973)

Selten ist eine grundlegende Änderung des wirtschaftspolitischen Kurses (nach Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes, R.K.) mit so vielen Vorschußlorbeeren bedacht worden... Vielfach konnte man lesen, die Bundesrepublik Deutschland sei nun mit dem besten konjunkturpolitischen Instrumentarium der Welt ausgestattet. Man sprach sogar vom "prozeßpolitischen Grundgesetz der Marktwirtschaft", ferner davon, daß man es jetzt mit einer "aufgeklärten" Marktwirtschaft zu tun habe - im Gegensatz zur "naiven" Marktwirtschaft vorher. Zunächst schien allerdings die Entwicklung der Jahre 1967 und 1968 die Vorschußlorbeeren zu bestätigen. Binnen Jahresfrist gelang es aus der Talsohle wieder herauszukommen, und zwar durch eine sehr massive Kombination finanzpolitischer Investitionsanreize und -programme mit einer entsprechenden Politik des billigen Geldes...
Heute sind wir jedoch in der Lage, die Wirksamkeit dieses Gesetzes über einen längeren Zeitraum beurteilen zu können. Generell läßt sich feststellen, daß die Globalsteuerung ihre Bewährungsprobe nicht bestanden hat. ... Zwar funktioniert die Globalsteuerung in einer kurzen expansiven Phase, als es darum ging, wieder eine Vollauslastung der Kapazitäten zu erreichen. Vor die selbst herbeigeführten Probleme der Hochkonjunktur gestellt, hat die neue Politik jedoch die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Schon Ende 1968 begannen sich die Schwierigkeiten der außenwirtschaftlichen Absicerung bemerkbar zu machen, die seitdem schubweise immer wieder aufgetreten sind. Die sachlich notwendige Aufwertung im Frühjahr 1969 wurde bis nach der Bundestagswahl 1969 verzögert, als es schon zu spät und die Anpassunginflation bereits erfolgt war.
Die weitere Entwicklung läßt sich, wenn auch etwas vergröbert, charakterisieren als ein hektisches Hin und Her von Maßnamen, bedingt durch den Tatbestand, daß der böse Geist der Zielabweichung bald an dieser, bald an jener Ecke des "magischen Vierecks" auftauchte, was zu immer neuen Konjunkturprognosen und durch eine Unter- oder Überschätzung der Wirksamkeit vieler Instrumente. So kam es zu Inflationsraten, Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt und bei der Zahlungsbilanz, die bei einem wirtschaftspolitischen Effizienzvergleich mit der vorausgegangenen Sozialen Marktwirtschaft relativ ungünstig abschneiden. Das Stabilisierungsgesetz zeigte insgesamt eine asymmetrische Wirksamkeit. Man kann mit Hilfe dieses Gesetzes und der daurch geschaffenen Möglichkeiten leicht Gas geben. Die Bremsen des Konjunkturautos funktionieren dagegen nicht befriedigend.

 

 

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Studentenproteste gegen den Bildungsnotstand an den Universitäten und Schulen im Sommer 1965

2. Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung

In die Zeit der Großen Koalition fällt die Entstehung einer breiten studentischen Protestbewegung und einer öffentlichkeitswirksamen außerparlamentarischen Opposition aus Teilen der Gewerkschaft, der linken Intelligenz und der politisierten Jugend. Kristallisationspunkte der außerparlamentarischen Opposition waren die Marginalisierung der innerparlamentarischen Opposition sowie die abschließende Behandlung der Notstandsgesetzgebung im Bundestag (1967/ 68). Durch diese wurde einerseits im Verteidigungsfall oder bei inneren Unruhen die Möglichkeit zur Einschränkung von Grundrechten und zum Einsatz der Bundeswehr auch im Inneren geschaffen, falls Polizei und Bundesgrenzschutz zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht ausreichen sollten, andererseits beseitigten die Notstandsgesetze die bestehenden alliierten Eingriffsrechte bei inneren Notlagen.
Die Studentenbewegung hatte zunächst ihre Wurzeln in den Strukturen des Bildungswesens, insbesondere an Universitäten und Hochschulen. Der anfangs auf bildungspolitische Probleme fixierte studentische Protest eskalierte in den Jahren der Großen Koalition jedoch zu einer grundsätzlichen Rebellion erheblicher Teile der Studentenschaft gegen Staat und Gesellschaft. Diese Entwicklung wurde von mehreren Ursachen bestimmt: Hierzu gehörten die Studentenunruhen in den USA im Zusammenhang des Vietnamkrieges und der Bürgerrechtsbewegung, der sich anbahnende Wertewandel der jungen Generation, die in Frieden und Wohlstand und unter dem Vorzeichen demokratischer Ideale aufgewachsen war und in der sich eine antiautoritäre und kritische Einstellung
gegenüber den überkommenen Strukturen in Staat und Gesellschaft auszubreiten begann, und auch Einflüsse, die von einer verstärkten Propagierung neomarxistischer Theorien ausgingen (Herbert Marcuse, Horkheimer, Adorno, Frankfurter Schule). Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (April 1968), der Verabschiedung der Notstandsgesetze (Mai 1968) und der Ablösung der Großen Koalition durch die sozialliberale Koalition (Oktober 1969) verebbte jedoch die studentische Protestwelle, und mit dem neuen Regierungsprogramm der inneren Reformen und den Sozialdemokraten als Regierungspartner der Gewerkschaften löste sich auch die außerparlamentarische Opposition weitgehend auf. Übrig blieben die nachwirkenden Politisierungserfahrungen der 68er Generation, eine Erschütterung autoritärer Verhaltensmuster in Staat und Gesellschaft, und Ansätze zu einer Demokratisierung der Hochschulen sowie eine Spektrum eher sektenhafter kommunistischer Gruppen und Grüppchen und das Abgleiten eines radikalen Teils der studentischen Bewegung und der außerparlamentarischen Opposition in den Terrorismus.

Studentenproteste gegen den Bildungsnotstand an den Universitäten und Schulen im Sommer 1965

Studenten aller Universitäten und Hochschulen der Bundesrepublik und West-Berlins demonstrieren am Donnerstag mit Kundgebungen und Protestmärschen gegen den "wachsenden Bildungsnotstand" in der Bundesrepublik. Der Verband deutscher Studentenschaften (VdS) hatte dazu 330000 Studenten in 120 Städten aufgerufen. Die Demonstrationen standen unter dem Motto "Aktion 1. Juli - Bildung in Deutschland".
Bundeskanzler Erhard bezichtigte die Studenten des Unfugs, weil sie in der letzten Zeit vielfach vom Bildungsnotstand sprechen würden. Auf dem Deutschen Handwerkertag 1965 in der Bonner Beethovenhalle sagte er, früher habe man es als Privileg betrachtet, studieren zu dürfen, und die Familien hätten dafür Opfer gebracht, aber heute solle der Staat für alles aufkommen. Er als Kanzler hoffe nur, daß die Forderung der Studentenverbände nicht der Ausdruck der Haltung aller Studenten sei.

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Aktionsvorschläge Rudi Dutschkes zur verstärkten Politisierung der Studenten und der Öffentlichkeit. Auszug aus einer Rede des führendes Kopfes der Studentenbewegung auf einem Studentenkongreß in Hannover im Juni 1967
Aktionsvorschläge Rudi Dutschkes zur verstärkten Politisierung der Studenten und der Öffentlichkeit. Auszug aus einer Rede des führendes Kopfes der Studentenbewegung auf einem Studentenkongreß in Hannover im Juni 1967
Aktionsvorschläge Rudi Dutschkes zur verstärkten Politisierung der Studenten und der Öffentlichkeit. Auszug aus einer Rede des führendes Kopfes der Studentenbewegung auf einem Studentenkongreß in Hannover im Juni 1967
 

Wir hatten in monatelanger Diskussion theoretisch herausgearbeitet, daß die bürgerliche Demokratie, in der wir leben, sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie es dem Lord gestattet, mit seinem Hund spazierenzugehen und so auch den Vietnam-Protesten den Weg zur Verfügung stellte und die Kanalisierung des Protestes durchführt. Aus dieser theoretischen Einschätzung der Integrationsmechanismen der bestehenden Gesellschaft ist es für uns klar geworden, daß die etablierten Spielregel in dieser unvernünftigen Demokratie nicht unsere Spielregeln sind, daß Ausgangspunkt der Politisierung der Studentenschaft die bewußte Durchbrechung dieser etablierten Spielregeln durch uns sein müßte. Diese theoretische Diskussion über die Möglichkeiten, den Protest zu integrieren und die direkte und richtige, weil historisch mögliche Solidarisierung mit den kämpfenden Völkern zu verhindern, war Ausgangspunkt von praktischen Aktionen auf der Straße, die allerdings noch andere Faktoren mitbedingten, daß wir es zu einer Politisierung an der FU brachten ....
Ich fordere alle westdeutschen Studenten auf, umgehend Aktionszentren in den Universitäten der ERD aufzubauen:

a) für die Expandierung der Politisierung in Universität und Stadt durch Aufklärung und direkte Aktion; sei es gegen Notstand, NPD, Vietnam oder hoffentlich bald auch Lateinamerika. Ich fordere die Aktionszentren auf daß sie koordinierte politische Aktionen in der ganzen Bundesrepublik und Westberlin in den nächsten Tagen und Wochen mobilisieren, denn es geht darum, daß wir für Dienstag in Westberlin eine Demonstration beantragt haben zur Aufhebung des Demonstrationsverbotes. Sollte diese einberufene Demonstration nicht gestattet werden, so haben wir bei uns beschlossen, daß unmittelbar nach Verbot der Demonstration über Kampfaktionen gegen dieses Demonstrationsverbot beraten wird und darüber entschieden wird und wir wären sehr froh darüber, wenn Dienstag westdeutsche Aktionszentren in Westberlin wären, um dort gemeinsame Aktionen zu beschließen und im ganzen Bundesgebiet durchzuführen....

 

 
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Stellungnahme des DGB zur Notstandsgesetzgebung aus Anlaß ihrer bevorstehenden Behandlung im Bundesrat am 14. Juni 1968

Stellungnahme des DGB zur Notstandsgesetzgebung aus Anlaß ihrer bevorstehenden Behandlung im Bundesrat am 14. Juni 1968

Wir haben mit Bedauern festgestellt, daß die Beschlüsse des Bundestages in zweiter und dritter Beratung zur Notstandsgesetzgebung die in unserer letzten Entschließung nochmals zum Ausdruck gebrachten schwerwiegenden Bedenken unberücksichtigt ließen. Wir sind der Auffassung, daß dieses Gesetzeswerk in seiner Gesamtheit die Gefahren in sich trägt, den demokratischen, rechtsstaatliehen und föderativen Gehalt des Grundgesetzes und damit unabänderliche Grundwerte unserer Rechtsordnung abzubauen und zu verfälschen. Das trifft insbesondere auf die Artikel 11 (Freizügigkeit), 12 (Freiheit der Berufswahl) und 12a (Dienstverpllichtungen) zu. Alle Einschränkungen dieser Artikel treffen besonders die Arbeitnehmer und damit den weitaus größten Teil der Bevölkerung. Diese Einschränkungen können auch das Koalitions- und Streikrecht beeinträchtigen, gleichfalls stellen die Artikel 10 (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis), 35 (Rechts- und Amtshilfe), 80a Abs. 3 (Bündnisverpflichtungen) und S7a GG (Einsatz der Streitkräfte im Innern) Eingriffe in die Grundrechte dar. Besonders der Artikel 87a erfüllt die Gewerkschaften mit großer Besorgnis, denn es bleibt fraglich, ob nicht in den Fällen des zivilen Objektschutzes ein Einsatz der Streitkräfte gegen Streikende im Spannungs- und Verteidigungsfall möglich wäre. Der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes appelliert daher in letzter Stunde und nochmals in aller Eindringlichkeit den Notstandsgesetzen nicht zuzustimmen und die von uns mehrfach zum Ausdruck gebrachten Argumente einer umfassenden Prüfung zu unterziehen....

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Rede des SDS-Bundesvorstandsmitgliedes Hans-Jürgen Krahl gegen die Notstandsgesetzgebung auf einer vom DGB-Hessen veranstalteten Kundgebung auf dem Römerberg in Frankfurt am 27. Mai 1968

Rede des SDS-Bundesvorstandsmitgliedes Hans-Jürgen Krahl gegen die Notstandsgesetzgebung auf einer vom DGB-Hessen veranstalteten Kundgebung auf dem Römerberg in Frankfurt am 27. Mai 1968

Die Demokratie in Deutschland ist am Ende, die Notstandsgesetze stehen vor ihrer endgültiger Verabschiedung. Trotz der massenhaften Proteste aus der Reihen der Arbeiter, Studenten und Schüler, trotz der massiven Demonstrationen der APO in den letzten Jahren sind dieser Staat und seine Bundestagsabgeordneten entschlossen, unsere letzten spärlichen demokratischen Rechtsansprüche in diesem Land auszulöschen. Gegen alle diejenigen - Arbeiter oder Studenten -, die es künftig wagen werden, ihre Interessen selbst zu vertreten, werden Zwang und Terror das legale Gesetz des Handelns der Staatsgewalt bestimmen. Angesichts dieser Drohung hat sich in den Betrieben, an den Universitäten und Schulen seit dem Tag der Zweiten Lesung vor mehr als einer Woche eine erste Streikwelle manifestiert, die den Widerstandswillen der Bevölkerung demonstriert.
Für uns ergeben sich daraus die Fragen. Welchen politischen Zweck muß dieser Widerstand verfolgen, wenn die Notstandsgesetze doch schon eine nahezu beschlossene Sache sind? Welchen Erfolg können unsere Streiks und Demonstrationen der letzten Zeit aufweisen und wie können sie wirkungsvoll fortgesetzt werden? Um diese Frage angemessen beantworten zu können, müssen wir wissen, welche Fehler in der Notstandsopposition in den letzten Jahre begangen wurden.
Zu Beginn dieses Opposition hat man die Frage der Notstandsgesetze nur nach ihrer verfassungsrechtlichen Seite behandelt. Um sie zu verhindern, wurde lediglich mit den SPD-Abgeordneten und Gewerkschaftsfunktionären verhandelt. Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit war wenig wirksam. Der eigentliche Fehler bestand darin, daß dadurch die Problematik der Notstandsgesetzgebung aus der wirklichen Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft herausgelöst wurde. Vor allem die Gewerkschaften reagierten, als sei die Substanz der Demokratie in Westdeutschland unversehrt, und sie wollten nicht sehen, daß der Prozeß der inneren Zersetzung demokratischer Rechte längst begonnen hatte. Spätestens mit der Bildung der Großen Koalition und ihrer Wirtschaftspolitik der Konzertierten Aktion des Ministers Schiller lag diese Entwicklung offen zutage. Daß im Programm der Formierten Gesellschaft1 zwischen eier Gewalt der Notstandsgesetze und der Konzertierten Aktion ein Zusammenhang bestehen könnte, ist den wenigsten Gewerkschaftsfunktionären, am wenigsten der Spitze einsichtig geworden. Die Rededisposition. die der DGB zum 1. Mai dieses Jahres herausgegeben hat, feiert die Konzertierte Aktion als Mittel des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wachstums, ohne allerdings zu fragen, wem er zugute gekommen ist.
Die Konzertierte Aktion liefert einer starken, keineswegs demokratischen Staatsgewalt die Mittel, die Wirtschaftskrise 1966/67 - zur Zeit der Bildung der Großen Koalition - zu regulieren, nachdem Erhards Wirtschaftswunder in sich zusammengefallen war. In wessen Interesse Schillers Konzert gespielt wird, darüber geben nüchterne Zahlen Auskunft: dieses Jahr soll den Arbeitern eine Lohnerhöhung von 3 bis 4 Prozent bringen, den Unternehmern hingegen eine Gewinnsteigerung von 20 Prozent. Der DGB hat verschwiegen, daß er ein Spiel mitspielt, daß auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen wird.
Es war allerdings voraussehbar, daß die Konzertierte Aktion auf die Dauer nicht ausreichen würde, die Krisenentwicklung in der Wirtschaft zu bremsen und die Arbeiter zum Streikverzicht anzuhalten. Dazu bedurfte es stärkere Zwangsmittel; die Große Koalition entschloß sich also, die Notstandsgesetzgebung beschleunigt zu betreiben. Sie liefert das terroristische Instrument für eine offene Wirtschaftskrise, in der die Arbeiter notfalls mit brutaler Gewalt niedergehalten werden und die aufbegehrenden Studenten einer von oben betriebenen Hochschulreform unterworfen werden, in der die Universität zu einer Ausbildungskaserne für Fachidioten wird. Die Konzertierte Aktion war der Anfang, die Notstandsgesetze bilden das Ende einer vorläufigen Entwicklung, in der sich eine undemokratische Staatsgewalt die Mittel schuf die Bedürfnisse der Massen zu unterdrücken. Die Geschichte, nicht zuletzt die der Deutschen, hat uns mehrfach gelehrt, daß der einzige Ausweg der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus der Krise in der offenen Gewalt des Faschismus besteht. ...
Worauf kommt es in dieser Situation für uns an? Unsere Aktionen, unsere Streiks und Demonstrationen haben einen Sinn, wir müssen eine neue Phase unserer Politik eröffnen; unsere Demonstrationen sind längst kein bloßes Protestieren mehr, wir müssen durch gemeinsame Aktionen eine breite kämpferische Basis des Widerstandes gegen die Entwicklung schaffen. an
deren Ende sonst wieder Krieg und KZ stehen können. Unser Kampf gegen den autoritärbevormundenden Staat von heute verhindert den Faschismus von morgen. Wir haben nur eine einzige Antwort auf die Notstandsgesetze zu geben: wenn Staat und Bundestag die Demokratie vernichten, dann hat das Volk das Recht und die Pflicht, auf die Straße zu gehen und für die Demokratie zu kämpfen ....


1 Formierte Gesellschaft: Ein von Bundeskanzler Erhard seinerzeit propagiertes gesellschaftspolitisches Leitbild, das die Notwendigkeit der Zurückdrängung überwuchernder Gruppeninteressen durch eine kooperative Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräften bei Stärkung der staatlichen Autorität zum Zwecke gemeinschaftlicher Zukunftssicherung postulierte.

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Studentischer Widerstand und demokratischer Verfassungsstaat. Stellungnahme des Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1968

Studentischer Widerstand und demokratischer Verfassungsstaat. Stellungnahme des Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1968

Die Bundesrepublik muß es büßen, daß Hitler zwölf Jahre lang über die Deutschen herrschen und nicht von Deutschen gestürzt werden konnte. Hitler herrschte mit Hilfe seiner verschworenen Gefolgschaft und mit Hilfe derer, welche die Sprache der nachmaligen Entnazifizierung treffend als Mitläufer bezeichnet hat. Fanatismus, Terror und Anpassung griffen ineinander. Der innere Widerstand blieb schwach, organisierte Verschwörung kam spät und endete glücklos. Die nachgeborene Generation scheint die eine Lehre gezogen zu haben, daß gegen Herrschaft immer Widerstand geboten sei. Die Söhne rächen sich für die Schwäche der Väter, Und die Bundesrepublik muß  es entgelten. Obgleich dieser Staat in liberalem Geiste von denen errichtet worden ist, die an jenem Fanatismus keinen Teil hatten, die jenem Terror entronnen waren und die drinnen oder draußen je für sich dem Druck und der Versuchung widerstanden, die also auch ihre moralische Haut einigermaßen hatten retten können. Diese setzten ihren Eifer an die Erneuerung des Staates; die Söhne - oder doch ein Teil von ihnen - ereifern sich nicht für denStaat, sie ereifern sich für den Widerstand, und sie treffen gerade auf diesen Staat, der doch als Gegenbild der Tyrannei entworfen worden ist - von Leuten, welche die Tyrannei erlitten, aber ihr freilich wenig aktiven und jedenfalls keinen erfolgreichen Widerstand entgegengesetzt hatten. Nun treibt es die Söhne, den Widerstand nachzuholen. 
So nimmt sich die studentische Unruhe im speziellen Zusammenhang der jüngsten deutschen Geschichte aus. Zwar gab und gibt es studentische Unruhe und Unruhen auch anderwärts, in Verfassungsstaaten, wie zumal in Amerika, und in Diktaturen und in solchen von ganz entgegengesetzer Prägung - zum Beispiel in Spanien, zum Beispiel in Polen. Die unsrigen begannen mit Forderungen zur Hochschulreform, insoweit sie sich einheimischen Problemen zuwandten; aber in den radikalen Gruppen hat sich alsbald ein Abscheu gegen das gesellschaftliche und politische System schlechthin ausgebreitet. Es geistern schwärmerische Vorstellungen von reiner Demokratie und vom Ratesystem. Vor allem jedoch wird Widerstand gefühlt, gepredigt und geübt. Hier scheint ein spezifischer Affekt im Spiel zu sein, der aus jenen deutschen Erfahrungen herrührt.
Damals gab es einen Tyrannen und wenig Widerstand. Heute gibt es viel Widerstand oder doch Widerstandsbedürfnis und keinen Tyrannen. Rudi Dutschke hat seinerzeit (bei einer Diskussion in Bad Boll) den Tyrannenmord gutgeheißen, worin ihm zuzustimmen ist, aber sogleich hinzugefügt, unsere jetzigen Regenten seien nur "auswechselbare Charaktermasken" und lohnten solchen Aufwand nicht. In einem gewissen Sinn ist ihm übrigens auch hierin zuzustimmen: Eben daß sie tatsächlich "auswechselbar" sind, unterscheidet diese Regenten von tyrannischen. Es kennzeichnet den Verfassungsstaat, daß die Regierungsämter auf Zeit anvertraut werden. Aber so hat Dutschke es wohl nicht gemeint. Fast schien es, er zöge den Tyrannen vor - dann sind die Fronten klar, man weiß, woran man ist. Aber ist darum, wo er fehlt, der Staat und der Staatsmann verächtlich?
Der heutige Widerstand, der mit einer sonderbaren und verwirrenden historischen Phasenverschiebung auftritt, trifft auf Verhältnisse, die ihn einesteils nicht verdienen, andernteils unnötig machen. So sucht sich der Abscheu seine Objekte. Der Verleger von Massenblättern wird ihm, als eine Art Ersatztyrann zur Zielscheibe. Zugleich hilft den Unmutigen ein zwar ehrwürdiger, aber dennoch absurder Sprachgebrauch der Sozialwissenschaft, auch den Verfassungsstaat. auch die Bundesrepublik als ein "Herrschaftssystem" anzusehen und ins Dämonische zu stilisieren. Die relative Undurchsichtigkeit der Verwaltungsvorgange. die Umständlichkeit der Gesetzgebung, die Vielfalt der Einflüsse, die in politische Entscheidungen eingehen, die Anonymität der Bürokratie - das alles verschmilzt dem ungeduldigen Sinn und dem argwöhnischen Blick zu einem einzigen finsteren Ungetüm, welches totale Negation herausfordert. Sie bricht jetzt aus, nachdem der Glanz der Erfolge Adenauers verblichen, das Bedürfnis nach Geltung in der Welt notdürftig saturiert, der Wohlstand langweilig geworden ist. Aufstieg ist kaum noch zu erwarten, nationale Wiedervereinigung so wenig in Sicht wie zuvor. Die Luft steht still, die Verhältnisse sind stationär, wenngleich innere Reformen drängen. Obendrein mangelt es an kräftiger parlamentarischer Opposition.
In Wahrheit ist derjenige Verfassungsstaat. den wir den demokratischen nennen, gerade kein „Herrschaftssystem". Hier herrschen gerade nicht Menschen über Menschen wie in altertümlichen Despotien oder neueren Parteidiktaturen. Unser Staat ist vor allem anderen eine Verfassungsgemeinschaft. Die Unterscheidung ist handgreiflich und elementar, zudem uralt. Aristoteles hat sie zuerst getroffen. Unsere deutsche Gesellschaftswissenschaft hat sie freilich von langer Hand verdunkelt. Auch dieses Verhängnis kommt jetzt an den Tag. Der unzeitige Widerstand bedient sich der Wörter, die geschlummert hatten, und schallt sich mit ihrer Hilfe seinen Popanz, vor allem den vom "Herrschaftssystem". Freilich eignet auch demokratisch vereinbarten Gesetzen der Charakter des Befehls, nicht bloß "autoritären" oder gar "faschistischen". Die Formel "Du sollst" kommt schon in den Zehn Geboten vor. Und was wären Gesetze wert, deren Geltung nicht erzwungen werden könnte!

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Bundeskanzler Kiesinger zu den Grundsätzen der Deutschland- und Ostpolitik der Großen Koalition in seiner Regierungserklärung vom 13. 12. 1966

3. "Friedliche Koexistenz" und Ansätze zu einer neuen Deutschlandpolitik

Bis zur Bildung der Großen Koalition war es die Linie der deutschen Außenpolitik gewesen, die DDR außenpolitisch zu isolieren und auf den Zusammenbruch des zweiten deutschen Staates zu warten. Seit der inneren Stabilisierung der DDR mit dem Mauerbau und seit den mit der Beilegung des Kubakonflikts einhergehenden Entspannungsbemühungen zwischen den bei den Supermächten stand auch die Bundesregierung vor der Aufgabe, ein neues Verhältnis zu Osteuropa suchen und ihre bisherige Leitlinie, die Hallstein-Doktrin1 überdenken zu müssen. Noch unter der letzten Regierung Adenauer hatte Außenminister Schröder (CDU) eine sogenannte "Politik der Bewegung" eingeleitet und während der Ära Erhard fortgesetzt. Unterstützt wurde diese Politik zur Herstellung verbesserter Beziehungen zu Osteuropa durch einen zunehmenden weltpolitischen Entspannungsprozeß, der im Rahmen der NATO 1967 zur Annahme des „Harmel- Berichts"2 führte und 1968 zum "Signal von Reykjavik", dem Vorschlag einer beiderseitigen und ausgewogenen Truppenverminderung in Mitteleuropa.
Eine Modifizierung der Hallstein-Doktrin nach der Bildung der Großen Koalition erleichterte Fortschritte in der deutschen Ostpolitik. Diplomatische Beziehungen der Ostblockstaaten zur DDR sollten aufgrund der Abhängigkeit dieser Staaten von Moskau nicht mehr als Ausdruck einer gegen die Bundesrepublik gerichteten Politik gelten. Das ermöglichte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien und die Wiederaufnahme solcher Beziehungen zu Jugoslawien. Doch auch jetzt stand der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit anderen osteuropäischen Staaten sowie dem Abschluß eines Gewaltverzichtsabkommens mit der Sowjetunion neben Maximalforderungen der östlichen Seite (völkerrechtliche Anerkennung der DDR und Umwandlung West-Berlins in eine selbständige politische Einheit) das westdeutsche Festhalten an der Nichtanerkennung eines zweiten deutschen Staates (in Verbindung mit einem Alleinvertretungsanspruch) und der Oder-Neiße-Linie als endgültiger polnischer Westgrenze entgegen.
Einen Rückschlag in der Entspannungspolitik und beim Ausbau der ostpolitischen Beziehungen brachte der Einmarsch von Truppen der Warschauer Paktstaaten in die CSSR im August 1968 zur Niederschlagung des „Praqer Frühlings" und die aus diesem Anlaß verkündete „Breschnew-Doktrin"3.
Gleichwohl blieb das Streben nach Entspannung und die Politik der "friedlichen Koexistenz" zwischen Ost und West auf der Tagesordnung der internationalen Politik, insbesondere nach dem Wechsel in der amerikanischen Administration zu Präsident Nixon und Außenminister Kissinger (ab Januar 1969). Auch von der Bundesrepublik wurde der Entspannungskurs beibehalten. Sie unterstützte den 1968 von der östlichen Seite aufgeworfenen Gedanken einer europäischen Sicherheitskonferenz und setzte während des ganzen Jahres 1969 den Meinungsaustausch mit der Sowjetunion über einen Gewaltverzichtsvertrag fort, wobei die verschärften sowjetisch-chinesischen Spannungen offenbar die Verhandlungsbereitschaft der Sowjetunion vergrößert hatten. Ein erfolgreicher Abschluß dieser Initiativen wurde allerdings erst nach dem politischen Machtwechsel in Bonn im Herbst 1969 möglich.

Bundeskanzler Kiesinger zu den Grundsätzen der Deutschland- und Ostpolitik der Großen Koalition in seiner Regierungserklärung vom 13. 12. 1966

Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen West- und Osteuropa. Wir möchten diese Aufgabe auch in unserer Zeit gern erfüllen. Es liegt uns daran, das Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn, die denselben Wunsch haben. auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens zu verbessern und, wo immer dies nach den Umständen möglich ist auch diplomatische Beziehungen aufzunehmen. In weiten Schichten des deutschen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Geschichte wir nicht vergessen haben und dessen Verlangen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegenwärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes besser als in früheren Zeiten begreifen. Aber die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands können nur in einer frei vereinbarten Regelung mit einer gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden, einer Regelung, die die Voraussetzungen für eine von bei den Völkern gebilligtes, dauerhaftes und friedliches Verhältnis guter Nachbarschaft schaffen soll. Auch mit der Tschechoslowakei möchte sich das deutsche Volk verständigen. Die Bundesregierung verurteilt die Politik Hitlers, die au fdie Zerstörung des tschechoslowakischen Staatsverbandes gerichtet war. Sie stimmt der Auffassung zu, daß dasunter Androhung von Gewalt zustandegekommene Münchener Abkommen nicht mehr gültig ist. ...
Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als die einzige deutsche Regierung, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt und daher berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu sprechen. Das bedeutet nicht, daß wir unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands, die sich nicht frei entscheiden können, bevormunden wollen. Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, daß die beiden Teile unseres Volkes sich während der Trennung auseinanderleben. Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Grüben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen im anderen Teil Deutschlands notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates. Wir werden diese Kontakte von Fall zu Fall so handhaben, daß in der Weltmeinung nicht der Eindruck erweckt werden kann, als rückten wir von unserem Rechtsstandpunkt ab ....
Die Bundesregierung will alles tun, um die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik zu erhalten, und gemeinsam mit dem Senat und den Schutzmächten prüfen, wie die Wirtschaft Berlins und seine Stellung in unserem Rechtsgefüge gefestigt werden können. Wir wollen, was zum Wohle der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.

 

1 Hallstein-Doktrin: Eine nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, benannte Doktrin der Bundesrepublik (1955), die den Abbruch diplomatischer Beziehungen mit jenen Staaten - ausgenommen die Sowjetunion - vorsah, die die DDR völkerrechtlich anerkannten.

2 Harmel-Bericht: s. S. 255. Dok. Nr. 10

3 Breschnew-Doktrin: Ein 1968 von der Sowjetunion formuliertes außenpolitisches Prinzip, wonach bei Gefährdung des Sozialismus in einem sozialistischen Staat die sozialistische Staatengemeinschaft das Recht bzw. die Pflicht zur auch militärischen Intervention habe (eingeschränkte Souveränität sozialistischer Staaten).

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Kritik des sowjetischen Partei- und Staatschefs Leonid Breschnew an der Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung in einer Erklärung vom 13. 1. 1967

Kritik des sowjetischen Partei- und Staatschefs Leonid Breschnew an der Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung in einer Erklärung vom 13. 1. 1967

Wir hören erneut von der Anmaßung der Bundesrepublik. ganz Deutschland zu vertreten. Das bedeutet aber Fortsetzung der alten Politik der „Nichtanerkennung“ der Deutschen Demokratischen Republik, bedeutet faktisch weiterhin das Bestreben, diesen sozialistischen Staat zu verschlingen. In Bonn erhebt man erneut Anspruch auf West-Berlin, obwohl es in keiner Beziehung zur Bundesrepublik steht. Die Regierung der Bundesrepublik nimmt nach wie vor eine gefährliche Einstellung zu den Nachkriegsgrenzen in Europa, darunter auch zur Grenze zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik, ein. Die Regierung der Bundesrepublik hat auch nicht darauf verzichtet, sich Zugang zu Kernwaffen zu verschaffen. Die neue Regierung der Bundesrepublik spricht zwar von ihrer Absicht, die Entspannung in Europa zu fördern. Kanzler Kiesinger sagte, seine Regierung werde bestrebt sein, das gegenseitige Verständnis und Vertrauen zu vertiefen, um Voraussetzungen für künftige erfolgreiche Gespräche und Verhandlungen zu schaffen. Doch all das bleibt vorläufig nur Gerede, all das wird von Erklärungen widerlegt, die im Programm der neuen Regierung der Bundesrepublik enthalten sind ...
Die Sowjetunion ist fest davon überzeugt, daß die vorbehaltlose Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik als souveräner unabhängiger Staat eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine wirkliche Normalisierung der Lage in Europa ist. Niemand vermag unsere Freundschaft mit der Deutschen Demokratischen Republik, unser festes Bündnis mit ihr zu untergraben. Die Deutsche Demokratische Republik ist eine große Errungenschaft der deutschen Werktätigen und aller Friedenskräfte Europas.

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Bericht des Nordatlantikrates über die künftigen Aufgaben der Allianz, vorgelegt im Auftrage der NATO vom belgischen Außenminister Pierre Harmel am 14. Dezember 1967 (Harmel-Bericht)

Bericht des Nordatlantikrates über die künftigen Aufgaben der Allianz, vorgelegt im Auftrage der NATO vom belgischen Außenminister Pierre Harmel am 14. Dezember 1967 (Harmel-Bericht)


4. Seit der Nordatlantikvertrag 1949 unterzeichnet wurde, hat sich die internationale Situation in bedeutsamer Weise geändert, und die politischen Aufgaben der Allianz haben eine neue Dimension angenommen. Unter anderem hat die Allianz eine wesentliche Rolle gespielt, als es darun ging, die kommunistische Expansion in Europa zum Stehen zu bringen: die UdSSR ist eine der beiden Supermächte der Welt geworden, aber die kommunistische Welt ist nicht mehr monolithisch; die sowjetische Doktrin der "friedlichen Koexistenz" hat den Charakter der Konfrontation mit dem Westen verändert, nicht dagegen die grundlegende Problematik. Obwohl zwischen der Macht der Vereinigten Staaten und der der europäischen Ländern immer noch eine Diskrepanz besteht, hat sich Europa erholt und ist auf dem Wege zur Einheit. Der Prozeß der Dekolonisierung hat die Beziehungen Europas zur übrigen Welt verwandelt; gleichzeitig sind in den Beziehungen zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern größere Probleme entstanden.

5. Die Atlantische Allianz hat zwei Hauptfunktionen. Die erste besteht darin, eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggression und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt. Seit ihrer Gründung hat die Allianz diese Aufgabe erfolgreich erfüllt. Aber die Möglichkeit einer Krise kann nicht ausgeschlossen werden, solange die zentralen politischen Fragen in Europa, zuerst und zunächst die Deutschlandfrage, ungelöst bleiben. Außerdem schließt die Situation mangelnder Stabilität und Ungewißheit noch immer eine ausgewogene Verminderung der Streitkräfte aus. Unter diesen Umständen werden die Bündnispartner zur Sicherung des Gleichgewichts der Streitkräfte das erforderliche militärische Potential aufrechterhalten und dadurch ein Klima der Stabilität, der Sicherheit und des Vertrauens schaffen.
In diesem Klima kann die Allianz ihre zweite Punktion erfüllen: die weitere Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können. Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar. Die kollektive Verteidigung ist ein stabilisierender Faktor in der Wellpolitik. Sie bildet die notwendigen Voraussetzungen für eine wirksame, auf größere Entspannung gerichtete Politik. Der Weg zu Frieden und Stabilität in Europa beruht vor allem auf dem konstruktiven Einsatz der Allianz im Interesse der Entspannung. Die Beteiligung der UdSSR und der Vereinigten Staaten wird zur wirksamen Lösung der politischen Probleme Europas erforderlich sein ...

8. Ohne erhebliche Anstrengungen aller Beteiligten ist keine Friedensordnung in Europa möglich. Die Entwicklung der sowjetischen und osteuropäischen Politik berechtigt zu der Hoffnung, daß diese Regierungen schließlich die Vorteile erkennen werden, die auch ihnen aus der gemeinsamen Erarbeitung einer friedlichen Regelung erwachsen. Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist jedoch nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage. die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.

9. Die Bündnispartner sind daher entschlossen, ihre Bemühungen auf dieses Ziel zu richten, indem sie realistische Maßnahmen zur Förderung der Entspannung in den Ost-West-Beziehungen treffen. Die Entspannung ist nicht das Endziel, sondern ein Teil eines langfristigen Prozesses zur Verbesserung der Beziehungen und zur Förderung einer Regelung der europäischen Fragen. Das höchste politische Ziel der Allianz ist es, eine gerechte und dauernde Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien zu erreichen ....

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Die Sozialliberale Ära 1969-1982

1. Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel

Schon die erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt (Okt. 1969) signalisierte die Bereitschaft der Regierung, auf neuer Grundlage in Verhandlungen mit der DDR, der Sowjetunion und Polen einzutreten. Der Vorbereitung förmlicher Vertragsverhandlungen mit der DDR dienten im Frühjahr 1970 zwei Treffen der beiden deutschen Regierungschefs, Ministerpräsident Stoph und Bundeskanzler Brandt, zunächst in Erfurt, dann in Kassel. Bereits hier wurde deutlich, daß die Bundesregierung willens war, eine Anerkennung der Staatlichkeit der DDR nur unterhalb der Ebene völkerrechtlicher Anerkennung zu gewähren, um damit den Verfassungsanspruch auf eine spätere Wiedervereinigung "in freier Selbstbestimmung" nicht zu gefährden. Die Standpunkte der beiden Regierungschefs blieben vor allem in dieser Frage auch nach ihrer zweimaligen Begegnung deutlich verschieden. Erst von einem erfolgreichen Abschluß der Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion und Polen konnte deshalb ein Durchbruch bei den deutsch-deutschen Gesprächen erwartet werden. Da diese Ostverhandlungen zügig vorankamen, konnte schon im August 1970 der Moskauer Vertrag und im Dezember der Warschauer Vertrag unterzeichnet werden. Mit diesen Verträgen war auch die Voraussetzung dafür geschaffen worden, daß die vier Berliner Schutzmächte - die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich - in einem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin im September 1971 "ungeachtet unterschiedlicher Rechtsauffassungen" die besonderen Beziehungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik und den freien Zugang zu Berlin förmlich bestätigten. Dieses Abkommen schuf zugleich die Grundlage dafür, daß zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein Transitabkommen und ein Verkehrsabkommen ausgehandelt werden konnten, die die Bedingungen für den Verkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik bzw. zwischen der Bundesrepublik und der DDR regelten.
Der angestrebte Abschluß eines „Vertraq(es) über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" (Grundlagenvertrag) setzte die Ratifizierung der beiden Ostverträge (Moskauer und Warschauer Vertrag) durch Bundestag und Bundesrat voraus. Aufgrund einer abbröckelnden Mehrheit der sozialliberalen Koalition suchte die Opposition ihre Vorbehalte gegenüber den Verträgen durch ein Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt wirksam werden zu lassen, in dem sie ihren Fraktionsvorsitzenden, Rainer Barzel, zum neuen Bundeskanzler vorschlug. Dieser Antrag wurde jedoch mit Stimmengleichheit (247: 247) abgelehnt. Nach dieser Niederlage und nach der Einigung aller Bundestagsfraktionen auf eine "gemeinsame Entschließung", die die Gesichtspunkte der Vertragsinterpretation der CDU/CSU berücksichtigte, entschloß sich die Opposition, die Verträge - bei empfohlener Stimmenthaltung für ihre Mitglieder - in Bundestag und Bundesrat passieren zu lassen.
Damit war der Weg frei sowohl zur Unterzeichnung (Dez. 1972) wie zur Ratifizierung (Mai 1973) des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR. In der Folge des Grundlagenvertrages wurden im September 1973 beide deutschen Staaten Mitglieder der Vereinten Nationen. Im Dezember 1973 wurde schließlich auch mit der Tschechoslowakei (CSSR) ein sogenannter „Normalisierungsvertrag" abgeschlossen, durch den insbesondere das Münchener Abkommen vom 29. 9. 1938 "als nichtig" erklärt wurde. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Bulgarien und Ungarn folgten, so daß die Bundesrepublik nunmehr diplomatische Beziehungen mit allen Ostblockstaaten mit Ausnahme Albaniens unterhielt.

Bundeskanzler Brandt zu den Grundsätzen der Deutschland- und Ostpolitik der sozialliberalen Koalition in seiner Regierungserklärung vom 28. 10. 1969

Bundeskanzler Brandt zu den Grundsätzen der Deutschland- und Ostpolitik der sozialliberalen Koalition in seiner Regierungserklärung vom 28. 10. 1969

Diese Regierung geht davon aus, daß die Fragen, die sich für das deutsche Volk aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem nationalen Verrat durch das Hitlerregime ergeben haben, abschließend nur in einer europäischen Friedensordnung beantwortet werden können. Niemand kann uns jedoch ausreden, daß die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, wie alle anderen Völker auch. Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte -mit ihrem Glanz und ihrem Elend - verbunden; wir sind alle in Deutschland zu Haus. Wir haben auch noch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Verantwortung: für den Frieden unter uns und in Europa. Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. Dies ist nicht nur ein deutsches Interesse, denn es hat seine Bedeutung auch für den Frieden in Europa und für das Ost-West-Verhältnis. Unsere und unserer Freunde Einstellung zu den internationalen Beziehungen der DDR hängt nicht zuletzt von der Haltung Ost-Berlins selbst ab. Im übrigen wollen wir unseren Landsleuten die Vorteile des internationalen Handels und Kulturaustausches nicht schmälern. Die Bundesregierung setzt die im
Dezember 1966 durch Bundeskanzler Kiesinger und seine Regierung eingeleitete Politik fort und bietet dem Ministerrat der DDR erneut Verhandlungen beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen an, die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen sollen. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland, ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein. Anknüpfend an die Politik ihrer Vorgängerin erklärt die Bundesregierung, daß die Bereitschaft zu verbindlichen Abkommen über den gegenseitigen Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt auch gegenüber der DDR gilt. Die Bundesregierung wird den USA, Großbritannien und Frankreich raten, die eingeleiteten Besprechungen mit der Sowjetunion über die Erleichterung und Verbesserung der Lage Berlins
mit Nachdruck fortzusetzen. Der Status der unter der besonderen Verantwortung der Vier Mächte stehenden Stadt Berlin muß unangetastet bleiben. Dies darf nicht daran hindern, Erleichterungen für den Verkehr in und nach Berlin zu suchen. Die Lebensfähigkeit Berlins werden wir weiterhin sichern. West- Berlin muß die Möglichkeit bekommen, zur Verbesserung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der beiden Teile Deutschlands beizutragen ....

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Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Moskauer Vertrag, unterzeichnet am 12. 8. 1970)

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Moskauer Vertrag, unterzeichnet am 12. 8. 1970)

Artikel 3

In Übereinstimmung mit den vorstehenden Zielen und Prinzipien stimmen die Bundesrepublik und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Erkenntnis überein, daß der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet.
- Sie verpflichten sich, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten;
- sie erklären , daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgendjemand haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden;
- sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik.

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Brief zur deutschen Einheit - aus Anlaß der Vertragsunterzeichnung am 12. 8. 1970 im sowjetischen Außenministerium übergeben

Brief zur deutschen Einheit - aus Anlaß der Vertragsunterzeichnung am 12. 8. 1970 im sowjetischen Außenministerium übergeben

Sehr geehrter Herr Minister,

im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepuliken beehrt sich die Regierung eier Bundesrepublik Deutschland festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten

Hochachtung.

Walter Scheel

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Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag, unterzeichnet am 7.12.1970)
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag, unterzeichnet am 7.12.1970)
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag, unterzeichnet am 7.12.1970)
 

Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen ... sind wie folgt übereingekommen:

Artikel 1
(1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen stellen übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie, deren Verlauf im Kapital IX der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Lausizter Neiße und die Lausitzer Neiße entlang bis zur Grenze mit der Tschechoslowakei festgelegt worden ist, die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet.
(2) Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.
(3) Sie erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden.

 
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Entschließung des Bundes der Vertriebenen vom 11. 3. 1972 zu den Ostverträgen

Entschließung des Bundes der Vertriebenen vom 11. 3. 1972 zu den Ostverträgen

Auf der Kundgebung am 11. März 1972 in der Beethovenhalle zu Bonn stellen Vertriebene und Nichtvertriebene solidarisch fest: Der Moskauer und der Warschauer Vertrag stehen im Widerspruch zu europäischen und deutschen Interessen, die vor dem Gemeinwohl der Völker vertretbar sind. Durch diese Verträge handeln wir unseren Verpflichtungen für ganz Deutschland zuwider, gefährden wir die Verantwortung der Verbündeten für Deutschland als Ganzes, hindern wir die europäische Einigung, bedrohen wir die Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und Europas.
Die Versammelten wenden sich gegen den Verzicht auf einen gerechten Frieden und auf freie Selbstbestimmung, die Legalisierung von Massenvertreibungen und Annexionen, die Anerkennung der Gewaltherrschaft in Mitteldeutschland, die Minderung des Status von Berlin.
Sie verurteilen die Verletzung des Rechtes auf Freizügigkeit vom und zum angestammten Wohnsitz und auf freie Entfaltung in der Heimat, der Menschen- und Gruppenrechte der Deutschen in der Heimat, der Pflicht zum Schutze der Individualrechte und des Eigentums der Ostdeutschen.
Sie fordern, diese Verträge nicht zu ratifizieren, dafür aber praktisch und wirksame Fortschritte bei der Vertiefung der wirtschaftlichen, technologischen, kulturellen und menschlichen Beziehungen anzustreben und in einer sich wandelnden Welt auf einen gerechten Frieden und tragbaren Ausgleich zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarn hinzu wirken. Sie bekennen: "Ja zum Frieden - Nein zur Unfreiheit!"

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Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grundlagenvertrag, unterzeichnet am 21. 12. 1972)

Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grundlagenvertrag, unterzeichnet am 21. 12. 1972)

Die Hohen Vertragschließenden Parteien ... sind wie folgt übereingekommen:

Artikel 1
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwickeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung.

Artikel 2
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und Nichtdiskriminierung.

Artikel 3
Entsprechend der Charta der Vereinten Nationen werden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt und der Anwendung von Gewalt enthalten. Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.

Artikel 4
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen davon aus, daß keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann.

Artikel 8
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden ständige Vertretungen austauschen. Sie werden am Sitz der jeweiligen Regierung errichtet. Die praktischen Fragen, die mit der Einrichtung der Vertretungen zusammenhängen, werden zusätzlich geregelt.

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"Mehr Demokratie wagen." Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969

2. Politik der inneren Reformen

Die sozialliberale Koalition trat nicht nur mit einem außenpolitischen, sondern auch mit einem innenpolitischen Reformprogramm an. Unter der Parole "mehr Demokratie wagen" wurden das aktive und passive Wahlalter auf 18 bzw. 21 Jahre herabgesetzt, das Betriebsverfassungsgesetz novelliert und ein Mitbestimmungsgesetz für Großbetriebe verabschiedet. Im Mittelpunkt einer Reform der Rechtsordnung standen das Ehe- und Familienrecht sowie die Neufassung der Strafrechtsbestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch. Nach langen parlamentarischen Beratungen und Auseinandersetzungen wurde schließlich 1976 ein neues Ehe· und Scheidungsrecht verabschiedet. An die Stelle des Schuldprinzips trat das Zerrüttungsprinzip und eine Unterhaltspflicht des jeweils wirtschaftlich stärkeren Partners.
Einen besonderen Schwerpunkt ihrer Politik sah die Regierung im Ausbau und in der Reform des Bildungswesens. Zwischen 1970 und 1975 stiegen die Bildungsausgaben real um rd. 50 Prozent an, so daß ihr Anteil am Bruttosozialprodukt von 4,1 auf 5,5 Prozent zunahm. Die Hochschulverfassungen wurden "demokratisiert" und die Schulcurricula sprachen - vor allem in den sozialdemokratisch regierten Ländern - einer "emanzipatorischen Pädagogik" das Wort.
Ähnlich wie im Bildungsbereich wurden auch die Sozialleistungen ausgeweitet und kräftig angehoben, so daß die Sozialausgaben real um 40 Prozent und ihr Anteil am Bruttosozialprodukt von 27,7 auf 33,7 Prozent anwuchsen.
Die Kritiker dieser vermehrten Lasten, die dadurch für den Staatshaushalt, den einzelnen Steuerzahler und für die Unternehmen entstanden, sahen sich bestätigt, als im Zusammenhang mit dem Rückgang der Wachstumsraten und der wirtschaftlichen Entwicklung Mitte und Ende der siebziger Jahre die Staatsverschuldung beschleunigt anstieg und die volkswirtschaftliche Investitionsquote stark abnahm. Vor allem die beschleunigte Zunahme der öffentlichen Verschuldung nötigte Bundeskanzler Helmut Schmidt in der zweiten Hälfte der sozialliberalen Regierungszeit, den vorprogrammierten weiteren Anstieg der Sozialleistungen durch eine Reihe von Haushaltssanierungsgesetzen nicht nur zu bremsen, sondern relativ zum Sozialprodukt sogar zu vermindern, wobei die FDP - vor allem Anfang der achtziger Jahre - noch stärkere Kürzungsschritte forderte. Gegenüber den hochgespannten Erwartungen, die die Koalition am Beginn ihrer Regierungszeit geweckt hatte, mußte die Ablösung der ursprünglichen Dynamik durch eine von der wirtschaftlichen Entwicklung erzwungene Konsolidierung Enttäuschungen hervorrufen, zumal auf dem Hintergrund einer wachsenden Massenarbeitslosigkeit, für deren Bekämpfung die Regierung kein wirksames Rezept mehr zu besitzen schien.

"Mehr Demokratie wagen." Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969

Unser Volk braucht wie jedes andere seine innere Ordnung. In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Lande nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörung im Bundestag, (Abg. Dr. Barzel: Anhörungen?), sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene junge Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen - und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber verstehen, daß auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben.
Wir werden dem Hohen Hause ein Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18, das passive von 25 auf 21 Jahre herabgesetzt wird. (Beifall bei den Regierungsparteien), Wir werden auch die Volljährigkeitsgrenze überprüfen.
Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert…
Meine Damen und Herren, in unserer Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen. Die Durchführung der notwendigen Reformen und ein weiteres Steigen des Wohlstandes sind nur möglich bei wachsender Wirtschaft und gesunden Finanzen....
Meine Damen und Herren, Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. Wir haben die Verantwortung, soweit sie von der Bundesregierung zu tragen ist, im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft zusammengefaßt….
Schwere Störungen des gesamten Bildungssystems ergeben sich daraus, daß es bisher nicht gelungen ist, die vier Hauptbereiche unseres Bildungswesens - Schule, Hochschule, Berufsausbildung und Erwachsenenausbildung - nach einer durchsichtigen und rationalen Konzeption zu koordinieren. Solange aber ein Gesamtplan fehlt, ist es nicht möglich, Menschen und Mittel so einzusetzen, daß ein optimaler Effekt erzielt wird.
Die Bundesregierung hat auf Grund des Art. 91b des Grundgesetzes eine klare verfassungsrechtliche Grundlage für eine Bildungsplanung gemeinsam mit den Ländern erhalten. Besonders dringlich ist ein langfristiger Bildungsplan für die Bundesrepublik für die nächsten l5 bis 20 Jahre. Dieser dem Bundestag und den Länderparlamenten vorzulegende Plan soll gleichzeitig erklären, wie er verwirklicht werden kann. Gleichzeitig muß ein nationales Bildungsbudget für einen Zeitraum von 5 bis 15 Jahren aufgestellt werden. (Beifall bei den Regierungsparteien). Die Bundesregierung wird in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zu einem Gesamtbildungsplan beitragen. Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozeß die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die Schule der Nation ist die Schule. (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP. - Lachen bei der CDU/CSU).
Wir brauchen das 10. Schuljahr, und wir brauchen einen möglichst hohen Anteil von Menschen in unserer Gesellschaft, der eine differenzierte Schulausbildung bis zum 18. Lebensjahr erhält. Die finanziellen Mittel für die Bildungspolitik müssen in den nächsten Jahren entsprechend gesteigert werden (Zuruf von der CDU: Wie?). Die Bundesregierung wird sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde. Die Bildungsplanung muß entscheidend dazu beitragen, die soziale Demokratie zu verwirklichen (Beifall bei den Regierungsparteien) ....
Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien). Wir suchen keine Bewunderer; wir brauche Menschen, die kritisch
mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten (Beifall bei den Regierungsparteien). Das Selbstbewußtsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben (Lachen bei der CDU/CSU). Sie wird daher auch jene Solidarität zu schätzen wissen, die sich in Kritik äußert. Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien). Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen.
Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an (Abg. Dr. Barzel: Aber Herr Brandt! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU). Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen.

 

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Sozialstaatlicher Leistungsausbau in der Ära der sozial-liberalen Koalition. Kurzcharakteristik durch die Wirtschaftswissenschaftlerin Hannelore Hamel

Sozialstaatlicher Leistungsausbau in der Ära der sozial-liberalen Koalition. Kurzcharakteristik durch die Wirtschaftswissenschaftlerin Hannelore Hamel

Die 1969 gebildete sozialliberale Regierungskoalition trat mit einem umfangreichen Reformprogramm an, das unter dem Motto "Kontinuität und Erneuerung" und "Fähigkeit zum Wandel" stand. An die Stelle des bisherigen Strebens nach ständig steigendem Wachstum der Produktion sollten nunmehr qualitative Veränderungen der Produktionsstruktur im Interesse einer steigenden „Lebensqualität'' treten. In weiten Kreisen der Bevölkerung wich die Leistungsbereitschaft zunehmend einem Sicherheits- und Anspruchsdenken. verbunden mit der Forderung nach höheren sozialen Leistungen des Staates. Dieser Forderung entsprach die neue Regierung mit ihrem Reformprogramm. Allein in den Jahren 1969 bis 1975 wurden rd. 140 10 Gesetze und Verordnungen zugunsten von öffentlichen Zuwendungen oder Sonderrechten für (tatsächlich oder vermeintlich) sozial benachteiligte Gruppen erlassen: Erkrankte Arbeiter erhielten Lohnfortzahlung bis zu sechs Wochen (1969); Arbeitslose bekamen - neben Arbeitslosengeld bzw. -hilfe- vielfältige Förderungsmittel, z. B. für Fortbildung, Umschulung, Rehabilitation und Umzug (1969); die AusbiIdung von Schülern, Studenten und Berufsfachschülern wurde gefördert (BAföG 1971); der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung wurde erweitert, z. B. durch Vorsorgeuntersuchungen (ab 197I), zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege. Haushaltshilfe u. a. (ab 1974); für Rentner wurden der Krankenversicherungsbeitrag abgeschafft (ab 1970) und die flexible Altersgrenze eingeführt (1972); für Schwerbeschädigte mußten private und öffentliche Arbeitgeber 6 vH der Arbeitsplätze bereitstellen (1974); Eigentümer von Eigenheimen oder Wohnungen erhielten "für familiengerechten Wohnraum" Lasten- bzw. Mietzuschüsse deren Bemessungsgrenze den gestiegenen Lasten bzw. Einkommen angepaßt wurde (1970); alle Familien erhielten steuerfreies Kindergeld vom 1. Kind an (1975); der Mutterschutz wurde erhöht (1971/1974) - um nur einige der vielfältigen Sozialmaßnahmen zu nennen, die aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren waren.
Insgesamt erhöhten sich die sozialen Leistungen des Staates im Zeitraum 1970 bis 1980 von 83,9 Mrd. DM auf230,64 Mrd. DM. Da hiermit ein zunehmender Normen- und Bürokratiebedarf verbunden war, stiegen im gleichen Zeitraum die öffentlichen Personalausgaben von 70,76 auf 162,66 Mrd. DM um 130 vH und der Sachaufwand von 70,2 auf 176,3 Mrd. DM um über 35 150 vH. Die öffentlichen Ausgaben insgesamt in Relation zum Bruttosozialprodukt (Staatsquote) erreichten damit 1980: 48,6 vH gegenüber 1970: 39,1 vH. Die Konsequenzen dieser staatlichen "einnahmeorientierten Ausgabenpolitik" waren zum einen eine ständig wachsende Staatsverschuldung von durchschnittlich 15 vH pro Jahr (sie betrug 1980 insgesamt ( 460 Mrd. DM); zum anderen wurde damit die marktmäßige Faktorallokation1 immer stärker in den Staatssektor verlagert.

1 Faktorallokation: Verteilung der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Boden), die zu optimieren Ziel rationellen Wirtschaftens ist.

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Leistungen nach Funktionen
Leistungen nach Funktionen
Leistungen nach Funktionen
Leistungen nach Funktionen

Leistungen nach Funktionen

Die Verschuldung des Staates (Datenbasis: Jahresgutachten 1991/92 zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Stuttgart 1991. S. 343). Von 1970 bis 1981 wuchs die jahrliche Neuverschuldung von 18 Mrd. DM auf 77 Mrd. DM an. In den 80er Jahren konnte die Neuverschuldung bis 1989 auf 25,8 Mrd. DM zurückgeführt werden. Mit der Finanzierung der deutschen Einheit hat seit 1990 wieder eine beträchtliche Ausweitung der staatlichen Neuverschuldung eingesetzt (1990: 124 Mrd. DM).
Parallel zur jährlichen Neuverschuldung ist die staatliche Gesamtverschuldung von 126 Mrd. DM Ende 1970 auf 1054 Mrd. DM Ende 1990 angewachsen. Bis 1995 wird sie voraussichtlich mehr als 2 Billionen DM betragen. Entsprechend hat auch die Zinslast von 7 Mrd. DM für 1970 bis auf 64 Mrd. DM für 1990 zugenommen. Für 1995 werden jährliche Zinsausgaben der öffentlichen Hand in Höhe von über 150 Mrd. DM erwartet
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Rücktrittsbrief des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen Karl Schiller vom 2. Juli 1972

Rücktrittsbrief des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen Karl Schiller vom 2. Juli 1972

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Ich habe in diesen Tagen über die Position meiner Wirtschafts- und Finanzpolitik in diesem Kabinett gründlich nachgedacht. ...
Die letzten Monate haben gezeigt, daß ich mich mit der Mehrheit des Kabinetts im finanz- und haushaltspolitischen Konflikt befinde. Die denkwürdige Sitzung vom 16. Mai 1972, als der für die Finanzen zuständige Minister sich disziplinlosen Attacken ausgesetzt sah, nur weil er auf die Mehrbelastungen der mittelfristigen Finanzplanung hinwies, braucht nur erwähnt zu werden. Meine Notmaßnahme, nämlich das Kabinett anhand meiner Kabinettsvorlage vom 18. Mai 1972 zu unbequemen Entscheidungen zu veranlassen, hat für 1972 sicherlich zu einem Teilerfolg geführt. Aber ungewünscht ist diese Anstrengung immer noch. Im Gegenteil: Sie wird bekanntlich von einigen Kabinettsmitgliedern in ihrem Sinn und ihrer Bedeutung draußen heruntergemacht. Und immer noch sträubt sich das Kabinett, im Sommer 1972, sich mit den Fakten, die die Finanzplanung ab 1973 bestimmen, zu befassen. Von der Regierung ist bekanntgegeben worden, daß sie Ende August hierzu Beschlüsse fassen würde. Die letzte Debatte im Kabinett anläßlich der Vorlage über Bundeswehrhochschulen zeigte aber erneut, daß auch dieser Termin noch unklar ist. Da wurde der September genannt, wo jeder weiß, wenn das Kabinett erst in die Nähe eines bestimmten parlamentarischen Septembertermins gekommen ist, wird jeglicher Anlaß zur Erarbeitung einer mittelfristigen Finanzplanung ab 1973 entschwunden sein. Ich habe dabei immer betont, es gibt auch Grenzen der Belastbarkeit für einen Finanzminister. Er kann sich nicht unaufhörlich vertrösten lassen. Ich bin jedenfalls nicht bereit, als Finanzminister bis zum Ende des Jahres schweigen zu müssen über das, was ab 1. Januar 1973 jede Bundesregierung erwartet. Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto: "Nach uns die Sintflut". Ich bin auch nicht bereit, dann womöglich noch von einem Amtsnachfolger gleicher oder anderer Couleur in einer neuen Regierung als
Hauptschuldner für eine große sogenannte "Erblast" haftbar gemacht zu werden, wie das Herr Kollege Möller 1971 praktiziert hat. Ein Finanzminister, der monatelang stumm bleiben sollte, wie das viele Kollegen wünschen, weil man in solchen Zeiten nicht von Geld redet, ist von mir nicht darzustellen. Die Regierung hat die Pflicht, über den Tellerrand des Wahltermins hinauszublicken und dem Volk rechtzeitig zu sagen, was zu leisten ist und was zu fordern ist. Diese von mir mehrfach empfohlene Strategie ist bisher im Kabinett nicht einmal andiskutiert, geschweige denn akzeptiert. Der Widerwille einiger Kollegen gegen derartige Überlegungen hindert die gleichen Kollegen nicht daran, mit Anträgen, die ab 1973 einnahmemindernd oder ausgabeerhöhend wirksam werden, heute aufzuwarten....
Gerade bei einem Bundeskabinett, das zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik von der Sozialdemokratie geführt wird, und zwar bei knappen Mehrheitsverhältnissen, bedurfte es in besonderem Maße des gemeinsamen Handelns, und zwar im Hinblick auf das Ziel: einen überzeugenden Wahlsieg bei der nächsten Bundestagswahl. Das erforderte, daß alle sich in einen gegebenen Rahmen einpassen und auf Kosten des Ganzen gehende Einzelinteressen zurückgestellt würden. In diesem zermürbenden Kampf reich an persönlichen Diffamierungen - stand der zuständige Minister oft allein. Das hat mich nicht gehindert, immer von neuem den Versuch zu machen, zu sachgerechten, überzeugenden Lösungen der anstehenden Probleme zu kommen. Trotz aller mir nachgesagten Empfindlichkeit habe ich mich immer wieder über persönliche Angriffe aus den eigenen Reihen um der Sache willen hinweggesetzt (siehe beispielsweise die Auseinandersetzungen zur Steuerreform im vorigen und in diesem Jahr). Es gibt aber auch für mich Grenzen - diese sind gegeben, wenn ich der auf meinem Amt beruhenden Verantwortung diesem Staat und seinen Bürgern gegenüber nicht mehr gerecht werden kann, weil ich nicht unterstützt bzw. sogar daran gehindert werde. Bei nüchterner und verantwortungsvoller Würdigung des von mir geschilderten Sachverhalts kann ich aus den Gegebenheiten nur die Konsequenz eines Rücktritts ziehen ....

Mit freundlichen Grüßen
(gez.) Schiller

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Unerfüllte Reformversprechungen der Regierung Brandt-Scheel. Eine rückblickende Analyse von Arnulf Baring, Professor für Zeitgeschichte

Unerfüllte Reformversprechungen der Regierung Brandt-Scheel. Eine rückblickende Analyse von Arnulf Baring, Professor für Zeitgeschichte

Die SPD war 1969 mit dem Anspruch aufgetreten, neben einer Erneuerung der Ostpolitik auch eine Politik konsequenter Veränderungen im Inneren energisch in die Tat umzusetzen, hatte aber in dieser Hinsicht die Wählererwartungen offensichtlich enttäuscht. Bis 1972 war das unvermeidlich gewesen; die vordringliche Neue Ostpolitik und die knappen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hatten die Regierung zwangsläufig von innenpolitischen Experimenten abgehalten. Aber auch nach den Novemberwahlen 1972 tat sich nichts. Physische Erschöpfung und lähmende Entschlußlosigkeit in der Führung bei der Koalitionsparteien hatten dazu geführt, daß das folgende Jahr trotz gesicherter parlamentarischer Grundlage in Bonn und trotz des 1973 fehlenden Risikos irgendwelcher Landtagswahlen ideenlos vorübergegangen, ungenutzt verschwendet worden war. Von einer vernunftgeleiteten Reformpolitik konnte ernsthaft keine Rede sein. Nichts hatte man wirklich in Angriff genommen: weder die Mitbestimmung noch die Steuerreform oder die inhaltliche Ausgestaltung der Bildungsreformen. Die Neuformulierung einer zeitgemäßen Verkehrspolitik war ebenso unterblieben wie die langfristige Sicherung der Energieversorgung. Überzeugende Konzeptionen des Städtebaus und des Umweltschutzes, die zur Bewahrung menschenwürdiger Lebensräume dringlich waren, ließen auf sich warten. Bei allen diesen Problemen mangelte es nicht an Vorschlägen. Wohl aber fehlte die schöpferische Phantasie und geduldige Beharrlichkeit, sie in praktische Politik umzusetzen. Müdigkeit hatte sich breitgemacht. Man wartete ab; alles wurde auf die lange Bank geschoben.
Seit dem Herbst kam hinzu, daß die Ölkrise im Gefolge des Yom-Kippur-Krieges vom Oktober 1973 die ökonomischen Voraussetzungen aller kostspieligen Reformvorhaben beseitigte. Daher zeichnete sich zum Ausklang dieses Jahres immer deutlicher ab, daß innenpolitische Ankündigungen und Versprechungen, die große Aufwendungen erforderlich machten, aber bisher nicht erfüllt worden waren, auch künftig nicht würden in die Tat umgesetzt werden können. Diese Einsicht verbreitete, zusätzlich zu den Ermüdungserscheinungen der Regierungsspitze. in den Rängen der sozialliberalen Koalition ein Klima von Ausweglosigkeit und Resignation.
Der Abschied des Bündnisses von eigenen reformpolitischen Vorstellungen hatte sich allerdings lange vor der Ölkrise angebahnt, war in mehreren Etappen sichtbar geworden. Er stand in erstaunlichem Kontrast zu dem Mut und der Entschlossenheit, die Brandt, Bahr und Scheel bei der Durchsetzung ihrer nicht weniger umstrittenen ostpolitischen Neuorientierung bewiesen hatten. Diese Ostpolitik war trotz des frühzeitig drohenden Verlustes der Bundestagsmehrheit mit Elan angepackt und durchgesetzt worden, mochte auch die FDP jahrelang am Abgrund der Spaltung und des Untergangs dahinstolpern. Dagegen litt die Regierung wirtschafts- und finanzpolitisch unter den inneren Reformen und den mit ihnen verbundenen ökonomischen Belastungen bereits zu einer Zeit, als diese Reformen lediglich angekündigt, aber noch gar nicht beschlossen worden waren und überdies von einer wirklichen Krise der Volkswirtschaft noch keine Rede sein konnte, sie ganz im Gegenteil wie nie zuvor prosperierte .... Die Rücktritte des Finanzministers Alex Möller am 13. Mai 1971 und des Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller am 7. Juli 1972 waren frühe Signale, die auf ein mögliches Scheitern der Brandt-Regierung im Bereich der Reformen hindeuteten.

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Die Studentenrevolte und die Ursachen des deutschen Terrorismus. Ein selbstkritischer Rückblick durch Daniel Cohn-Bendit, einem der Führer der deutschen und französischen Studentenbewegung in den Jahren 1967/68 und danach
Die Studentenrevolte und die Ursachen des deutschen Terrorismus. Ein selbstkritischer Rückblick durch Daniel Cohn-Bendit, einem der Führer der deutschen und französischen Studentenbewegung in den Jahren 1967/68 und danach

3. Terrorismus als neue innenpolitische Herausforderung

Der Terrorismus stellte neben der Wirtschaftskrise die größte innenpolitische Herausforderung der sozialliberalen Koalition dar. Radikalisierte Mitglieder der studentischen Protestbewegung gingen 1970 in den Untergrund, um einen terroristischen Kampf gegen den „Weltimperialismus“ vorzubereiten. Es bildete sich die "Rote Armee Fraktion" (RAF), die auch nach der Verhaftung der ersten Generation ihrer Mitglieder weiter existierte, daneben entstanden andere mit der RAF sympathisierende Terrorkommandos. Führende Persönlichkeiten aus Staat und Wirtschaft wurde das Ziel ihrer Terroranschläge.
Zur besseren logistischen Absicherung und ideologischen Rechtfertigung strebten die Terrorgruppen eine Verbindung mit dem internationalen Terrorismus an, wobei in den siebziger Jahren vor allem palästinensische Ausbildungslager, in den achtziger Jahren auch Ausbildungsstätten des DDR-Staatssicherheitsdienstes terroristisches Handwerkszeug vermittelten. Aussteigern aus der RAF gewährte die DDR darüber hinaus - versehen mit einer neuen Identität - „politisches Asyl".
Die Bekämpfung des Terrorismus stellte den Staat vor die doppelte Aufgabe: einerseits einen hinreichend leistungsfähigen Sicherheitsapparat aufzubauen, ohne die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik zu beeinträchtigen, und andererseits dem politischen Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Zu diesem Zweck wurden neue sicherheitsdienliche Gesetze beschlossen, das Bundeskriminalamt ausgebaut (1969: 933 Planstellen und ein Budget von 22,4 Millionen Mark; 1975: 2237 Stellen lind 156,8 Millionen Mark), neue elektronisch gestützte Fahndungsmethoden entwickelt und von den Ministerpräsidenten der Länder der sogenannte „Radikalenerlaß" verabschiedet, der sich allerdings nicht gegen die Terroristen selbst, sondern gegen jene verfassungsfeindlichen Systemveränderer richten sollte, die den "Marsch durch die Institutionen" (Rudi Dutschke) anzutreten gewillt waren. Manche dieser Maßnahmen blieben umstritten, da sie nach Meinung der Kritiker rechtsstaatliche Grundsätze verletzten.
Als weitgehend ergebnislos erwies sich der Versuch, auf dem Wege der Ansprache die Terroristen zur Umkehr zu bewegen. Eingeschlossen in die nach außen abgekapselte Eigenwelt ihrer Gruppe steigerten sich die Terroristen eher weiter in jene wahnhafte Wahrnehmungsverzerrung der politischen Wirklichkeit hinein, die schon bei Teilen der Studentenbewegung zu beobachten gewesen war, die die Bundesrepublik als "faschistoid" einstuften. Auch nach dem Übergang in die achtziger Jahre und nach dem Ende der sozialliberalen Koalition sollte sich das Terrorproblem zwar als eingegrenzt, aber letztlich ungelöst erweisen. Allerdings war im Unterschied zu den siebziger Jahren eine Klimaveränderung eingetreten. Eine ursprünglich relativ breite Sympathisantenszene, die aus der Gemeinsamkeit des utopischen Aufbruchs von 1968 stammte, war auf eine kleine Gruppe von Außenseitern der Gesellschaft zusammengeschmolzen.

Die Studentenrevolte und die Ursachen des deutschen Terrorismus. Ein selbstkritischer Rückblick durch Daniel Cohn-Bendit, einem der Führer der deutschen und französischen Studentenbewegung in den Jahren 1967/68 und danach

Ich gehörte 1977 nach der Auflösung der linksradikalen politischen Gruppen zur Spontiszene, dem Milieu, das später alternative Szene genannt wurde. Für uns war der Deutsche Herbst 1977 eine harte Herausforderung, denn wir wurden von allen Seiten unter Beschuß genommen. Di e im Untergrund sagten: Entweder gehört ihr zum Staat oder zu den Freiheitskämpfern. Der Staatforderte von uns: entweder ihr gehört zu den Verteidigern der Demokratie oder zu den Sympathisanten des Terrorismus. Wir setzten dagegen die Parole: Weder mit dem Staat noch mit der Guerilla.
Ich will zunächst einmal die historische Verantwortung meiner Generation der Achtundsechziger, zu skizzieren versuchen, unsere Verantwortung für das, was man Terrorismus oder Stadtguerilla nennt. Es ist immer leicht, die Schuld der Gegenseite zu geben, doch auch unsere Generation trägt Schuld.Die antiautoritäre Bewegung besaß einen sehr undifferenzierten Begriff von Widerstand und Widerstandsrecht. Sie hat versucht, sämtliches mögliches politisches Handeln mit den Mißständen in aller Welt zu legitimieren. Der Vietnamkrieg, die Diktaturen in Persien und Griechenland oder auch die Notstandgesetze mußten herhalten, um ein genuines Widerstandsrecht gegen den westdeutschen Staat zu formulieren. Das war ein Ambiente, in dem sich alles entwickeln konnte. Einerseits eine radikaldemokratische Bewegung, die dem zivilen Ungehorsam verpflichtet war, andererseits radikale Gruppen, die die anti-imperialistische Widerstandsideologie für bare Münze nahmen und diese nach persönlicher Erfahrung von Repression in konkreten bewaffneten Widerstand umgesetzt haben. Wir haben nicht auseinandergehalten was heißt Widerstand in einem faschistischen Staat, was ist Widerstand in einer Demokratie. Mit dem Begriff des autoritären Staates suggerierten wir den kontinuierlichen Übergang vom Kapitalismus zum Faschismus ....
Dazu kam die schwer verdaubare Nichtauseinandersetzung der Eltern der revoltierenden Studenten mit dem Nationalsozialismus, sie war ein wichtiger Ausgangspunkt der Revolte. So konnte es zu der politischen Verkürzung kommen: Damals haben die nicht Widerstand geleistet, heute wenn der Parteigenosse Kiesinger den Notstand plant, tun wir es. Wehret den Anfangen. Sicher zu verkürzt, aber richtig war und ist, daß die Diskussion über den notwendigen Widerstand gegen Hitler im Adenauer-Deutschland nicht geführt wurde. Auch Helmut Schmidt schreibt heute, "warum ich kein Nazi wurde" und nicht "warum ich kein Widerstandkämpfer war". Diese Diskussionsverweigerung, dieses Schweigen, hat bei uns wesentlich zur ungeheuren emotionalen Unzufriedenheit mit dieser Gesellschaft geführt. …
... es gibt immer eine unerklärbare Dimension des Ausrastens, des sich Abkoppeln von der Realität. Wenn wir 1968 und später von der proletarischen Revolution gesprochen und sie erwartet haben, dann war das eine Abkopplung von der Realität, denn sie war nirgendwo zu sehen.

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Eine Chronik der Morde und Attentate

Eine Chronik der Morde und Attentate                

2. April 1968: In zwei Frankfurter Kaufhäusern wird Feuer gelegt. Unter den Tätern sind Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Sie flüchten in den Untergrund. Baader wird 1970 in Berlin gefaßt, aber kurz darauf befreit. [von einem bewaffneten RAF-Kommando].
4. Februar 1972: Die "Bewegung 2. Juni" verübt einen Bombenanschlag in Berlin-Gatow. Ein Mann wird getötet.
11. Mai 1972: Bei einem Bombenanschlag der RAF auf das amerikanische Hauptquartier in Frankfurt wird ein Mann ermordet.
24. Mai 1972: Drei amerikanische Soldaten sterben bei einem Anschlag der RAF auf das amerikanische Armeehauptquartier in Heidelberg.
Juni 1972: Der Kern der RAF - Baadcer, Meinhof, Holger Meins, Jan Carl Raspe Ensslin - wird gefaßt.
10. November 1974: Der West-Berliner Kammergerichts-Präsident Günter von Drenkmann wird von einem RAF-Kommando ermordet.
27. Februar 1975: Die "Bewegung 2. Juni" entführt den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und preßt für seine Freilassung inhaftierte Terroristen frei.
24. April 1975: Ein Terror-Kommando besetzt die deutsche Botschaft in Stockholm. Als die Bundesregierung es ablehnt, inhaftierte Mitglieder der RAF freizulassen, zünden die Terroristen eine Sprengladung. - Zwei Diplomaten und zwei der Terroristen, darunter Ulrich Wessel, sterben.
9. Mai 1975: Ulrike Meinhof verübt in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim Selbstmord.
7. April 1977: Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer und ein Sicherheitsbeamter kommen im Kugelhagel eines RAF-Kommandos in Karlsruhe um.
28. April 1977: Baader, Raspe und Ensslin werden zu lebenslanger Haft verurteilt.
30. Juli 1977: Der Bankier Jürgen Ponto wird in seinem Haus in Oberursel bei Frankfurt erschossen.
5. September 1977: Die RAF entführt Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer, tötet dabei seinen Fahrer und drei Sicherheitsbeamte.
13. Oktober 1977: Terroristen entführen ein Lufthansa-Flugzeug, Deutsche Grenzschützer der Sondertruppe GSG-9 stürmen das Flugzeug auf dem Flughafen in Mogadischu und befreien die Passagiere. Wenige Stunden später begehen Baader, Raspe und Ensslin in Stammheim Selbstmord. Die Entführer Schleyers erschießen ihr Opfer.
11. Mai 1981: Der hessische Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry wird in seinem Haus erschossen.
1. Februar 1985: Der Chef der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Ernst Zimmermann, wird in Gauting bei München erschossen.
8. August 1985: Terroristen töten den amerikanischen Soldaten Edward Pimentel und schaffen mit Hilfe seines Dienstausweises eine Autobombe auf die Frankfurter Luftwaffenbasis der Amerikaner. Die Explosion tötet zwei Menschen.
9. Juli 1986: Karl Heinz Beckurts, Vorstandsmitglied bei Siemens, und sein Fahrer werden Opfer eines Bombenanschlags.
10. Oktober 1987: Der Diplomat Gerold von Braunmühl wird vor seinem Haus in Bonn erschossen.
20. September 1988: Der Staatssekretär im Finanzministerium Hans Tietmeyer entgeht einem Anschlag.
30. November 1989: Alfred Herrhausen. Vorstandssprecher der Deutschen Bank, wird in Bad Homburg durch eine Lichtschranken-Bombe ermordet.
Juni 1990: In der DDR werden zahlreiche RAF-Terroristen gefaßt. Sie lebten seit Anfang der achtziger Jahre mit Wissen der DDR-Staatssicherheit in der DDR.
26. Juli 1990: Staatssekretär Hans Neusel überlebt ein Bombenattentat auf seinen Wagen in Bonn.
13. Februar 1991: Bei einem Feuerüberfall auf die amerikanische Botschaft in Bonn entsteht Sachschaden.
1. April 1991: Der Chef der Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwedder, wird in seinem Düsseldorfer Haus erschossen, seine Frau wird bei dem Anschlag verletzt. Ein RAF-Kommando "Ulrich Wessel" bezichtigt sich des Mordes.

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Die Epochenwende der achtziger Jahre und die Regierung Kohl-Genscher 1982-1990
Sowjetische Dominanz gefährdet Europa. Aus einer Analyse von Hubertus Hoffmann in der "Europäischen Wehrkunde", 1981
1.       Die Kontroverse über den NATO-Doppelbeschluß 1979-1983


Der vor allem von Bundeskanzler Helmut Schmidt initiierte NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 war ein Signal westlicher Entschlossenheit, die wachsende sowjetische Bedrohung durch nukleare Mittelstreckenwaffen, insbesondere durch die auf Westeuropa gerichteten SS-20Raketen, nicht länger hinzunehmen und ihr durch die Stationierung nuklearer amerikanischer Mittelstreckenwaffen auf europäischem Boden zu begegnen. Unter ausdrücklichem Bezug auf den Harmel-Bericht von 1967und das Doppelziel von "Sicherheit und Entspannung" erklärte sich die NATO jedoch bereit, auf eine solche Nachrüstung zu verzichten, wenn die Sowjetunion ihrerseits zu einer "Politik des Gleichgewichts" zurückkehren und ihre nuklearen Mitteistreckensysteme abbauen würde. Da der Verhandlungsansatz zunächst ohne Erfolg blieb, wurde in Westeuropa, wie im Doppelbeschluß angekündigt, ab 1983 mit der Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen (Pershing-lI) und von Marschflugkörpern (Cruise Missiles) begonnen.
Der Doppelbeschluß von 1979 stieß nicht nur auf die heftige Kritik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, sondern er löste auch innerhalb der Bundesrepublik eine breite Prostestbewegung gegen die Nachrüstung aus, die von Massendemonstrationen in bisher nicht gekanntem Ausmaß begleitet waren. Der Widerstand gegen die Stationierung neuer amerikanischer Atom, warten wirkte
zugleich als entscheidender Katalysator für die Herausbildung der Friedens- und Ökologiebewegung an der Epochenwende der achtziger Jahres (s. Kap. III, 2). Hierbei näherten sich die Sozialdemokraten den Positionen der Friedensbewegung die auf einer bedingungslosen Ablehnung der westlichen Nachrüstung bestand, immer mehr an, so daß Bundeskanzler Schmidt, der sein politisches Überleben bzw. das Schicksal der sozial-liberalen Koalition von einer Zustimmung der SPD zum Doppelbeschluß abhängig gemacht hatte, schließlich in seiner eigenen Partei ohne Mehrheit war.      
Der Vollzug des Doppelbeschlusses durch die westlichen Regierungen im Jahre 1983 leitete, längerfristig gesehen, indes nicht eine weitere, irreversible Spirale im nuklearen Wettrüsten der Supermächte ein, sondern er bereitete recht eigentlich den ersten historischen Durchbruch an der „Abrüstungsfront“ in Gestalt des Washingtoner INF-Abkommen vom 8. Dezember 1987 vor. (s. Kap.
IV, 1).

Sowjetische Dominanz gefährdet Europa. Aus einer Analyse von Hubertus Hoffmann in der "Europäischen Wehrkunde", 1981

Die NATO kann im Rahmen ihrer Strategie in der Mitte ihrer Abschreckungsleiter auch in den 80er Jahren keine mehrfache Überlegenheit Moskaus akzeptieren .... Die westeuropäischen NATO-Mitglieder mußten sich dann nolens volens der eindeutigen konventionellen und atomaren Dominanz Moskaus in Europa politisch beugen.
Die mehrfache Überlegenheit des Warschauer Paktes an konventionellen Kräften könnte nicht mehr glaubhaft mit der Androhung eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen der NATO neutralisiert werden. Diese westliche Eskalationsbedrohung - unverzichtbarer Bestand der Flexible Response – würde durch die faktische Überlegenheit Moskaus an nuklearen Waffen in Europa unglaubwürdig werden. Zwar könnte der Westen noch mit einem massiven strategischen Schlag drohen, doch ist eine Rückkehr der NATO zur Strategie der massiven Vergeltung, in einer Dekade strategischer Parität beider Supermächte, nicht mehr möglich, zumindest äußerst unglaubwürdig.
Der konventionelle Krieg in Europa wäre damit wie nie zuvor seit Ende des zweiten Weltkrieges allein für Moskau denkbar und planbar ....
Westeuropa stehen in den 50er Jahren grundsätzlich nur die drei Grundentscheidungen offen:

1. Anpassung an die sich abzeichnende militärpolitische Hegemonie Moskaus.

2. Beschränkung und Abbau des sowjetischen Potentials in Rüstungskontrollvereinbarungen.

3. Nachrüstung im konventionellen und atomaren Bereich, d. h. Anpassung an das sich ändernde militärische Kräfteverhältnis in Europa, um so die Abschreckung stufenlos glaubwürdig zu erhalten.

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Generalmajor a.D. Gert Bastian, im Januar 1980 wegen Kritik am Nachrüstungsbeschluss seine Truppenkommandos enthoben, in einem Memorandum an den Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD), Januar 1980.
Generalmajor a.D. Gert Bastian, im Januar 1980 wegen Kritik am Nachrüstungsbeschluss seine Truppenkommandos enthoben, in einem Memorandum an den Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD), Januar 1980.
Generalmajor a.D. Gert Bastian, im Januar 1980 wegen Kritik am Nachrüstungsbeschluss seine Truppenkommandos enthoben, in einem Memorandum an den Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD), Januar 1980.
Generalmajor a.D. Gert Bastian, im Januar 1980 wegen Kritik am Nachrüstungsbeschluss seine Truppenkommandos enthoben, in einem Memorandum an den Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD), Januar 1980.
 

Tatsächlich gibt es Gründe, das sowjetische Modernisierungsprogramm nicht als grundsätzlich neue Bedrohung mit einem daraus resultierenden Zwang zu eigenen Aktivitäten anzusehen…
Schließlich wird Europa ja nicht erst heute von sowjetischen Mittelstreckenraketen bedroht. Seit fast zwanzig Jahren schon liegt es bis zu den Pyrenäen im Wirkungsbereich sowjetischer SS-5-Raketen, die nach Anzahl und nuklearer Bestückung immer schon geeignet waren, Ziele im bestrichenen Raum vernichtend zu treffen. Trotzdem wurde die Stationierung eines gleichartigen amerikanischen Mittelstreckenpotentials in Europa nicht für erforderlich gehalten, weil niemand die Entschlossenheit der USA bezweifelte, auch der SS-5-Bedrohung ihr strategisches nukleares Potential entgegenzusetzen und jede Zerstörung in Europa mit einer gleichwertigen Schädigung der UdSSR zu vergelten.
Die Glaubwürdigkeit der Abschreckung setzte und setzt eben stets nur die Gleichwertigkeit der erzielbaren Wirkungen, nicht aber eine Gleichartigkeit der verfügbaren Kriegsmittel voraus.
Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb die Modernisierung des sowjetischen Mittelstreckenpotentials hinsichtlich Reichweite, Zielgenauigkeit, Mehrfachwirkung und Mobilität der Systeme hieran etwas ändern sollte…
Alle nuklearen Potentiale der Sowjetunion, ganz gleich wie beschaffen, wo stationiert und gegen wen gerichtet, können auch in Zukunft vom land-, luft- und seegestützten strategischen Nuklearpotential der USA neutralisiert werden, ohne daß damit eine gewiß nicht wünschenswerte Rückkehr zur Strategie der massiven Vergeltung verbunden wäre. Weder die Doktrin der NATO, noch die technische Auslegung der Systeme dieses Potentials stehen ja einer flexiblen, in Zielauswahl und Wirkungsbegrenzung der jeweiligen Drohung angepaßten Verwendung entgegen.

 
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Der „Krefelder Appell": Erklärung des Krefelder Forums zum NATO-Doppelbeschluß vom 16. November1980. Unter dem Motto "Der Atomtod bedroht uns alle - Keine Atomraketen in Europa" fand am 15. und 16. November 1980 in Krefeld ein rüstungspolitisches Forum st

Der „Krefelder Appell": Erklärung des Krefelder Forums zum NATO-Doppelbeschluß vom 16. November1980. Unter dem Motto "Der Atomtod bedroht uns alle - Keine Atomraketen in Europa" fand am 15. und 16. November 1980 in Krefeld ein rüstungspolitisches Forum statt, das mit der folgenden Erklärung beendet wurde.

Immer offensichtlicher erweist sich der Nachrüstungsbeschluß der NATO vom 12. Dezember 1979 als verhängnisvolle Fehlentscheidung. Die Erwartung, wonach Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion zur Begrenzung der eurostrategischen Waffensysteme noch vor der Stationierung einer neuen Generation amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa erreicht werden könnten, scheint sich nicht zu erfüllen. Ein Jahr nach Brüssel ist noch nicht einmal der Beginn solcher Verhandlungen in Sicht. Im Gegenteil: Der neugewählte Präsident der USA erklärt unumwunden, selbst den bereits unterzeichneten SALT-II-Vertrag zur Begrenzung der sowjetischen und amerikanischen strategischen Nuklearwaffen nicht akzeptieren und deshalb dem Senat nicht zur Ratifizierung zuleiten zu wollen.
Mit der Verweigerung dieser Ratifizierung durch die USA würde jedoch die Aussicht auf Verhandlungen zur Begrenzung der eurostrategischen Nuklearwaffen unvermeidbar in noch weitere Ferne rücken. Ein selbstmörderischer Rüstungswettlaufkönnte nicht im letzten Augenblick gestoppt werden; seine zunehmende Beschleunigung und offenbar konkreter werdende Vorstellungen von der scheinbaren Begrenzbarkeit eines Nuklearkrieges müßten in erster Linie die europäischen Völker einem untragbaren Risiko aussetzen. Die Teilnehmer am Krefelder Gespräch vom 15. und 16. November 1980 appellieren daher gemeinsam an die Bundesregierung,
- die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-TI-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen;
- im Bündnis künftig eine Haltung einzunehmen, die unser Land nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen, vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens sein zu wollen.
In der Öffentlichkeit wächst die Sorge über die jüngste Entwicklung. Immer entscheidender werden die Möglichkeiten einer alternativen Sicherheitspolitik diskutiert. Solche Überlegungen sind von großer Bedeutung für den demokratischen Prozeß der Willensbildung und können dazu beitragen, daß unser Volk sich nicht plötzlich vollzogenen Tatsachen gegenübergestellt sieht.
Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger werden deshalb aufgerufen, diesen Appell zu unterstützen, um durch - unablässigen und wachsenden Druck der öffentlichen Meinung eine Sicherheitspolitik zu erzwingen, die
- eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen Waffenplattform der USA nicht zuläßt;
- Abrüstung für wichtiger hält als Abschreckung;
- die Entwicklung der Bundeswehr an dieser Zielsetzung orientiert.

Gert Bastian. Würzburg · Prof.Dr.Dr. h.c.KarI Bechert, Weilmünster · Petra K. Kelly, Nürnberg Dr. Martin Niemöller; Wiesbaden Prof. Dr. Helmut Ridder, Gießen· Christoph Strässer, Münster . Gösta von Uexküll, Hamburg . Josef Weher, Köln.

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Der Oppositionsführer und Vorsitzende der CDU, Helmut Kohl, zum NATO-Doppelbeschluß und zu Fragen der Abrüstung in der Bundestagsdebatte über die Regierungserklärung vom 26. November 1980

Der Oppositionsführer und Vorsitzende der CDU, Helmut Kohl, zum NATO-Doppelbeschluß und zu Fragen der Abrüstung in der Bundestagsdebatte über die Regierungserklärung vom 26. November 1980

Die CDU fCS U hält weltweite und – Ost/West-Verhandlungen über die Begrenzung von Waffen in einer Zeit der Massenvernichtungstechnik und zunehmender Not in der Welt für eine politische, für eine menschliche Pflicht. Wir haben deshalb alle wesentlichen Verhandlungspositionen der Bundesregierung in internationalen Gremien mitgetragen. Dies gilt insbesondere für die Abrüstungspositionen der Bundesrepublik Deutschland in Brüssel, Wien, Genf und New York. Den Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 - jeder weiß dies - haben wir in seinen beiden Teilen angemessen gefördert und mitvertreten. Wir sehen jedoch mit wachsender Sorge die Zunahme von Kräften und Tendenzen innerhalb der SPD, die gerade diesen NATO-Beschluß auszuhöhlen bereit sind. Sie werden auf unseren entschiedenen
Widerstand treffen.
(Beifall bei der CDUICSU)
Ost/West-Verhandlungen über die Minderung der Rüstungslasten mit dem Ziel, unverminderter Sicherheit auf einem niedrigeren militärischen Niveau zu erreichen, finden unsere Unterstützung. Wir, die CDU/CSU, wollen Abrüstung mit Sicherheit. Wovor wir warnen, ist: Abrüstung ohne Sicherheit.
(Beifall bei der CDU/CSU)

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Rücktrittsdrohung von Bundeskanzler Helmut Schmidt bei Ablehnung des Doppelbeschlusses durch die SPD, Mai 1981
Rücktrittsdrohung von Bundeskanzler Helmut Schmidt bei Ablehnung des Doppelbeschlusses durch die SPD, Mai 1981

Rücktrittsdrohung von Bundeskanzler Helmut Schmidt bei Ablehnung des Doppelbeschlusses durch die SPD, Mai 1981

 

Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte am 16. Mai 1981 in Recklinghausen, mit den im NATO-Doppelbeschluß geforderten Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über eine Rüstungsbegrenzung in Europa "stehe ich und falle ich" ....
In Bayern ließ der Kanzler keinen Zweifel daran, daß er zurücktritt, falls die SPD ihre Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluß zurücknimmt. Auf dem Landesparteitag der bayerischen SPD in Wolfratshausen (am /7. 5. /98/) kündigte der Kanzler an, in diesem Falle "die Verantwortung nicht länger tragen zu können". Eine Entscheidung der Bundes-SPD gegen den Doppelbeschluß hätte, laut Helmut Schmidt, "nicht nur schwerwiegende außen- und sicherheitspolitische Konsequenzen, sondern auch innenpolitische". Die Entscheidung würde dazu führen, daß die gegenwärtige Bundesregierung und die Regierungskoalition abgelöst würde.

 

 

Auf dem Kölner Sonderparteitag der SPD am 18. und 19. November 1983, wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung des Bundestags über den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses, entschieden sich die Sozialdemokraten mit überwältigender Mehrheit gegen die Stationierung neuer US-Raketen. Nur 14 der 400 SPD-Delegierten wollten am NATO-Doppelbeschluß festhalten, darunter der bereits im Oktober 1982 durch ein konstruktives Mißtrauensvotum der CDU/CSU/FDP gestürzte Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt sowie die ehemaligen Bundesminister Georg Leber, Hans Apel, Hans Matthöfer und Hans-Jürgen Wischnewski.

 

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Aus dem Bundesprogramm der Grünen, 1981
Aus dem Bundesprogramm der Grünen, 1981

 

2. Der Aufstieg der Grünen und die Bündnisdebatte in der SPD

 

In der im Jahre 1980 gegründeten Partei "Die GRÜNEN" bündelten sich die parlamentarischen Bestrebungen einer breit gefächerten Protestbewegung, die sich an den vier Grundsätzen ökologisch - sozial- basisdemokratisch - gewaltfrei orientierte. Die GRÜNEN konnten sich als neue politische Kraft trotz vielfacher scharfer Auseinandersetzungen zwischen reformorientierten "Realos" und systemoppositionellen "Fundis" im Laufe der achtziger Jahre schnell im Parteiengefüge der Bundesrepublik etablieren und sie übernahmen auf kommunaler Ebene und auch in verschiedenen Landesregierungen (Hessen, Niedersachen, Berlin) in Koalitionen mit der SPD politische Verantwortung. Innerhalb der SPD löste die Frage einer möglichen Zusammenarbeit mit den neuen sozialen Bewegungen bzw. den GRÜNEN eine z.T. mit erheblicher Schärfe geführte Kontroverse aus, in der die alten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zielkonflikte zwischen rechtem und linkem Parteiflügel erneut aufbrachen. Das Ende der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Machtverlust der SPD im Jahre 1982 sind neben anderen Faktoren nicht zuletzt auch aus dieser Perspektive zu interpretieren.

Aus dem Bundesprogramm der Grünen, 1981

1. Präambel (Entwurf)

Einleitung
Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien. Hervorgegangen sind wir aus einem Zusammenschluß von grünen, bunten und alternativen Listen und Parteien. Wir fühlen uns verbunden mit all denen, die in der neuen demokratischen Bewegung mitarbeiten: den Lebens-, Natur- und Umweltschutzverbänden. den Bürgerinitiativen, der Arbeiterbewegung, christlichen Initiativen, der Friedens- und Menschenrechts-, der Frauen- und Dritte-Welt-Bewegung. Wir verstehen uns als Teil der grünen Bewegung in aller Welt…
Die Zerstörung der Lebens- und Arbeitsgrundlagen und der Abbau demokratischer Rechte haben ein so bedrohliches Ausmaß erreicht, daß es einer grundlegenden Alternative für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bedarf. Deshalb erhob sich spontan eine demokratische Bürgerbewegung. Es bildeten sich Tausende von Bürgerinitiativen, die in machtvollen Demonstrationen gegen den Bau von Atomkraftwerken antreten, weil deren Risiken nicht 15 zu bewältigen sind und weil deren strahlende Abfälle nirgends deponiert werden können; sie stehen auf gegen die Verwüstung der Natur, gegen die Betonierung unserer Landschaft, gegen die Folgen und Ursachen einer Wegwerfgesellschaft, die lebensfeindlich geworden ist.
Ein völliger Umbruch unseres kurzfristig orientierten wirtschaftlichen Zweckdenkens ist notwendig. Wir halten es für einen Irrtum, daß die jetzige Verschwendungswirtschaft noch das Glück und die Lebenserfüllung fördere; im Gegenteil, die Menschen werden immer gehetzter und unfreier. Erst in dem Maße, wie wir uns von der Überschätzung des materiellen Lebensstandards freimachen, wie wir wieder die Selbstverwirklichung ermöglichen und uns wieder auf Grenzen unserer Natur besinnen, werden auch die schöpferischen Kräfte frei werden für die Neugestaltung eines Lebens auf ökologischer Basis ....
Gegenüber der eindimensionalen Produktionssteigerungspolitik vertreten wir ein Gesamtkonzept. Unsere Politik wird von langfristigen Zukunftsaspekten geleitet und orientiert sich an vier Grundsätzen: sie ist ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei.

Ökologisch
Ausgehend von den Naturgesetzen und insbesondere von der Erkenntnis, daß in einem begrenzten System kein unbegrenztes Wachstum möglich ist, heißt ökologische Politik, uns selbst und unsere Umwelt als Teil der Natur zu begreifen. Auch das menschliche Leben ist in die Regelkreise der Ökosysteme eingebunden: wir greifen durch unsere Handlungen ein und dies wirkt auf uns zurück. Wir dürfen die Stabilität der Ökosysteme nicht zerstören ..

Sozial
Eine zukünftige soziale Politik muß zum Ziele haben, ein stabiles Sozialsystem zu errichten. Sozial hat vor allem eine ökonomische Komponente.... Sowohl aus der Wettbewerbswirtschaft als auch aus der Konzentration wirtschaftlicher Macht in staats- und privatkapitalistischen Monopolen gehen jene ausbeuterischen Wachstumzwänge hervor, in deren Folge die völlige Verseuchung und Verwüstung der menschlichen Lebensbasis droht. Hier genau verbinden sich die Umweltschutz- und Ökologiebewegung mit der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung ....
Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse produzieren massenhaftes soziales und psychisches Elend. Besonders betroffen von dieser Situation sind ethnische, soziale, religiöse und sexuell diskriminierte Bevölkerungsteile. Das soziale System wird zunehmend unstabiler. Die Folgen sind steigende Kriminalität, erhöhte Selbstmordraten. Drogenkonsum und Alkoholismus. Offensichtlich wird dieser gesellschaltliehe Zustand auch durch die Tatsache, daß die Frauen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt und unterdrückt werden.

Basisdemokratisch
Basisdemokratische Politik bedeutet verstärkte Verwirklichung dezentraler, direkter Demokratie. Wir gehen davon aus, daß der Entscheidung der Basis prinzipiell Vorrang eingeräumt werden muß .... Wir setzen uns in allen politischen Bereichen dafür ein, daß durch verstärkte Mitbestimmung der betroffenen Bevölkerung in regionalen, landesweiten und bundesweiten Volksabstimmungen Elemente direkter Demokratie zur Lösung lebenswichtiger Planungen eingeführt werden ....
Kerngedanke ist dabei die ständige Kontrolle aller Amts- und Mandatsinhaber und Institutionen durch die Basis (Öffentlichkeit, zeitliche Begrenzung) und die jederzeitige Ablösbarkeit, um Organisation und Politik für alle durchschaubar zu machen und um der Loslösung einzelner von ihrer Basis entgegen zu wirken.

Gewaltfrei
Wir streben eine gewaltfreie Gesellschaft an, in der die Unterdrückung von Menschen und Gewalt von Menschen gegen Menschen aufgehoben ist. Unser oberster Grundsatz lautet: Humane Ziele können nicht mit inhumanen Mitteln erreicht werden.
G
ewaltfreiheit gilt uneingeschränkt und ohne Ausnahme zwischen allen Menschen, also ebenso innerhalb sozialer Gruppen und der Gesellschaft als Ganzem als auch zwischen Volksgruppen und Völkern. Das Prinzip der Gewaltfreiheit berührt nicht das fundamentale Recht auf Notwehr und schließt sozialen Widerstand in seinen mannigfachen Varianten ein. Widerstand kann langfristig am wirksamsten auf soziale Weise geführt werden, wie das Beispiel der Anti-Atombewegung zeigt. Wir sind ebenso grundsätzlich gegen die Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt durch
Kriegshandlungen.

 

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Joschka Fischer, führender Vertreter der "Realos", zur heterogenen Herkunft der GRÜNEN (1984)

Joschka Fischer, führender Vertreter der "Realos", zur heterogenen Herkunft der GRÜNEN (1984)

Drei wesentliche historische Linien kreuzen sich dort, wo die Partei der GRÜNEN entstanden ist: die außerparlamentarischen Protestbewegungen mit ihren neuen ökologischen und weniger neuen pazifistischen Inhalten und ihren Erfahrungen von direkter Demokratie in der Aktion; die radikalen großstädtischen Subkulturen mit ihren alternativen Milieus, ihren Versuchen anderer Produktions- und Lebensformen und der gesamten bunten Palette der Aussteigerei (die Landkommunen kann man als deren ländliche Pendants ansehen); und schließlich die Bürgerinitiativbewegung, die politisch, sozial und kulturell wesentlich breiter ausgelegt ist als das alternative Ghetto, viel weniger radikal auch, auf konkrete Einzelfragen des Lebens und der Umwelt bezogen, generationenübergreifend und in ihren Verkehrsformen der Mehrheitskultur in vielem näher als den Alternativen. In allen drei Bewegungen wirken die Traditionen, Mythen und Kampfformen der Studentenbewegung der späten sechziger Jahres mittelbar oder unmittelbar fort, und so wundert es nicht, wenn man in ihnen viele Vertreter dieser Revolte wiederfindet. Die alten Kader und Militanten der zahllosen Organisationsversuche dieser später im subkulturellen Ghetto eingeschlossenen Revolte, all die ehemaligen Jusos, Judos, DKPisten, SBler, K-Gruppen kunterbunt, Trotzkisten, Spontis, Anarchos und Feministinnen haben sich in den neuen sozialen Bewegungen mit den Aktivisten der Bürgerinitiativbewegung vermischt, in der die politisch Bewußteren eher vom anderen Flügel des politischen Spektrums kamen, von rechts, vom sogenannten Wertkonservativismus, und daraus entstand die Partei "DIE GRÜNEN".
Möglich gemacht hat diese seltsame Verbindung des studentischen Missionars der proletarischen Weltrevolution mit dem kniebundbehosten, heimatliebenden Naturfreund vor allem eines: die Einsicht, daß man es gemeinsam schaffen könnte, in die Parlamente einzuziehen.

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Identität und Zukunft der SPD. Aus den sechs Thesen des Berliner Politologen und langjährigen SPD-Mitglieds Richard Löwenthai, Dezember 1981

Identität und Zukunft der SPD. Aus den sechs Thesen des Berliner Politologen und langjährigen SPD-Mitglieds Richard Löwenthai, Dezember 1981

1. Unsere Partei befindet sich zur Zeit in der Krise ihrer Identität .... Es handelt sich darum, daß einerseits die Anziehungskraft der Sozialdemokratie auf die Jungwähler zugunsten diverser "grüner" und "alternativer" Gruppen und die Nichtwähler zurückgeht, während andererseits eine erhebliche Anzahl sozialdemokratischer "Stammwähler" zur CDU abschwimmt oder zu Hause bleibt. Dieser gleichzeitige Verlust nach zwei entgegengesetzten Richtungen zeigt an, daß die Partei in einer brennenden Streitfrage unserer Zeit keine eindeutige und überzeugende Entscheidung getroffen hat - mithin eine Krise ihrer Identität durchmacht.
2. Die Streitfrage, um die es geht, ist die Frage nach dem Primat der Lebensfähigkeit unserer Industriegesellschaft und der maximalen Beschäftigung ihrer Mitglieder einerseits oder dem Primat nichtindustrieller Lebensformen und der absoluten Verhinderung ökologischer Schäden andererseits. Natürlich wollen alle Sozialdemokraten maximale Beschäftigung, und alle Sozialdemokraten sind gegen Vergiftung der Umwelt. Aber die Weltanschauung der "Alternativen" ist der Industriegesellschaft grundsätzlich feindlich und hält sie für einen geschichtlichen Irrweg der Menschheit; und sie setzt das Ziel des Umweltschutzes als so absolut, daß es mit der Fortentwicklung einer industriellen Gesellschaft unvereinbar wird ....
3. Nach der Natur der Schichten, die die eine oder andere der entgegensetzten Positionen in der Streitfrage unterstützen, hat man häufig von einem Gegensatz zwischen industriellen Arbeitern, insbesondere Facharbeitern, und Angehörigen der neuen "nachindustriellen" Schichten, insbesondere Jugendlichen, gesprochen. Das trifft die wirkliche Scheidelinie nicht. Auf der industriellen Seite findet sich die große Mehrheit aller in der Arbeitsteilung unserer Gesellschaft eingegliederten Berufstätigen - ob Arbeiter, Angestellte, Angehörige des öffentlichen Dienstes oder Selbständige, mit teilweiser Ausnahme solcher stark "ideologisch" ausgerichteten Berufe wie Lehrer und Pfarrer. Auf der anderen Seite findet sich vor allem ein Teil der Jugendlichen, die oft ohne ihr Verschulden nicht in die berufliche Arbeitsteilung eingegliedert sind, oft aber auch sich gar nicht in diese eingliedern wollen - nicht, weil sie "faul" wären, sondern weil sie die Freiheit wechselnder Beschäftigungen einer beruflichen Festlegung vorziehen, die sie als Beschränkung ihrer Selbstbestimmung empfinden. Dabei sind freilich die frei gewählten wechselnden Tätigkeiten solcher "Aussteiger" meist nicht in der Lage, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern: sie bedürfen der öffentlichen Unterstützung (etwa durch Bafög) oder der privaten (etwa durch Eltern). Sie handeln aus menschlich verständlichen altruistischen Motiven, aber sie leben überwiegend auf Kosten der berufstätigen Mehrheit.
4. Diejenigen, die der Sozialdemokratie die Aufgabe einer Integration der neuen Welle "kritischer Jugend" stellen wollen, verweisen auf eine vermeintliche Gemeinschaft der grundlegenden Ziele. Das ist eine Fehleinschätzung. Es gibt in vielen Fällen ein Gemeinschaft humaner Motive und kritischer Anschauungen zwischen Sozialdemokraten und "Aussteigern", aber keine Gemeinschaft mit ihren politischen oder antipolitischen Zielen. Die Sozialdemokratie will die Industriegesellschaft fortentwickeln und vermenschlichen - sie will sie nicht verteufeln oder abbauen, da sie weiß, daß ohne ihre Leistungen die Milliardenbevölkerung unseres Planeten nicht existieren könnte ....
5. Die Ablehnung der arbeitsteiligen Industriegesellschaft und der Rückzug auf Inseln der "Selbstverwirklichung" führen logisch häufig auch zum Rückzug aus den Institutionen unserer Demokratie. Umweltschützerische Bürgerinitiativen und kommunalpolitische Mitarbeit von "Grünen" können Formen belebender demokratischer Partizipation sein, ob ihre Vorschläge im einzelnen vernünftig sind oder nicht. Die Entgegenstellung solcher Forderungen gegen bereits rechtsgültige Mehrheitsentscheidungen der gewählten demokratischen Körperschaften aber beruht auf einem Versuch der Abkapselung lokaler Interessen von den Bedürfnissen der Gesamtgesellschaft, der zur Nichtachtung unserer demokratischen Institutionen und häufig auch zur Nichtachtung der Rechtsordnung führt, die unsere Gesellschaft zusammenhält.
6. Die Sozialdemokratie kann also die gegenwärtige Identitätskrise nur überwinden, wenn sie sich klar für die arbeitsteilige Industriegesellschaft und gegen ihre Verteufelung, für die große Mehrheit der Berufstätigen und gegen die Randgruppen der Aussteiger entscheidet. Eine solche Entscheidung ist mit realistischen Maßstäben der Umweltpolitik, wie sie seit 1969 mit sichtbarem Erfolg stetig entwickelt, aber zum Teil zuwenig bekanntgeworden sind, durchaus vereinbar. Wenn sie diese Politik sowohl in der Diskussion wie vor allem in der Praxis eindeutig vertritt, kann sie sicher schließlich auch Teile der Aussteiger, die zum Lernen aus Erfahrungen fähig sind, integrieren. Wenn die Partei um der lntegrierung dieser Gruppen willen eine klare Entscheidung vermissen läßt, kann sie nur sich selbst desintegrieren.

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Ökopax - die neue Kraft. Kritische Bewertung der Thesen Löwenthais durch Peter von Oertzen, Exponent des linken Flügels der SPD, September/Oktober 1982

Ökopax - die neue Kraft. Kritische Bewertung der Thesen Löwenthais durch Peter von Oertzen, Exponent des linken Flügels der SPD, September/Oktober 1982

Die Thesen Löwenthais von der notwendigen Entscheidung der SPD zwischen den - fleißigen - Arbeitnehmern der arbeitsteiligen Industriegesellschaft und den - faulenzenden - "Aussteigern" wird schlicht und einfach von der gesellschaftlichen Realität widerlegt. Daß die Glieder der neuen sozialen Bewegung und die Grün/Alternativen in ihrer großen Mehrheit keine "Aussteiger" sind, sondern - vielleicht mehr oder weniger zähneknirschend - in der "arbeitsteiligen Industriegesellschaft" mitwirken, ist offensichtlich, auch wenn sie den Zielen, Werten und Verhaltensweisen dieser Gesellschaft zunehmend kritisch begegnen ....
Das Sozialprofil der Grün/Alternativen ist dabei völlig klar: Überwiegend Dienstleistung, Angestellte/Beamte, höhere Qualifikation, nach 1945 geboren und überproportional im öffentlichen Dienst. Bemerkenswert ist nun freilich, daß diese Feststellungen auch für einen großen Teil der Wähler der SPD, für die Mehrheit ihrer Mitglieder und für die große Mehrheit ihrer Funktionäre zutreffen. Der von Helmut Schmidt so oft und so gerne berufene Typ des Industriefacharbeiters repräsentiert schon heute unter den Arbeitnehmern - und den sozialdemokratischen Wählern - nur noch eine Minderheit (wenn auch eine wegen ihrer gewerkschaftlichen und betrieblichen Schlüsselpositionen, ihres hohen Organisationsgrades und ihrer sozialen Disziplin immer noch sehr einflußreichen Minderheit). Gestützt auf diese Gruppe allein sind gesellschaftliche Mehrheiten jedoch schon heute nicht mehr möglich; und die ökonomisch-soziale Entwicklung geht weiter: weg von der Produktions- und hin zur Dienstleistungsgesellschaft, weg vom klassischen Industriehandwerker und -facharbeiter hin zu einer neuen Arbeitnehmermehrheit aus einer Vielzahl spezialisierter Berufs- und Statusgruppen ....
Eine kurze Musterung der bisher zusammengetragenen Fakten zeigt, daß eine "rot-grüne" Zusammenarbeit keinen größeren Schwierigkeiten begegnen würde als eine Zusammenarbeit zwischen SPD und einer demokratischen links-sozialistischen Partei, freilich auch keinen geringeren: - Ökonomie - Ökologie - Gesellschaftspolitik. Das so zentrale Wachstumsproblem ist durch die kapitalistische Stagnation selbst relativiert worden. Die Stichworte: "welches Wachstum?" und "humanes Wachstum" sind durch die SPD selbst gegeben worden ....
- Auf den Feldern von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit liegt der eigentliche Streitpunkt "nur" bei der prinzipiellen Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Dies bedeutet nicht, daß jedes ungerechte Gesetz und jede idiotische Entscheidung der Bürokratie politisch widerstandslos hingenommen werden muß, wohl aber die Einsicht, daß Politik dort aufhört, wo der offene Bürgerkrieg anfängt...
- Eine Politik, die die "Nachrüstung", das heißt die Aufstellung von "Pershing II" und "Cruise missile" in Westeuropa erübrigt, ist der außenpolitische Mindestkonsens. Über alles übrige: Neues konventionelles Verteidigungskonzept, atomwaffenfreie Zonen, größere politische Unabhängigkeit von den USA - ohne Anlehnung an die UdSSR - sollte und müßte diskutiert werden
können ...
- Eine Übereinstimmung der objektiven Interessen (auch wenn das subjektiv geleugnet werden sollte) besteht zwischen grün/alternativer "Partei" und SPD schließlich auch in der allgemeinen strategischen Grundfrage nach den politischen Mehrheiten in den Parlamenten und vor allem in der Bevölkerung selbst. Die grün/alternative "Partei" wird eine Minderheit bleiben und werde sie auch so stark wie die französische oder die italienische KP (was nicht sehr wahrscheinlich ist); sie braucht Verbündete, wenn sie Teile ihres Programms verwirklichen will. Die SPD kann unter den Bedingungen der spätkapitalistischen Dauerstagnation zwar mit CDU/CSU und FDP noch Regierungen bilden; sozialdemokratische Reformpolitik wird sie mit diesen Parteien für lange Zeit nicht mehr treiben können. Sozialdemokraten und Grün/Alternative gemeinsam könnten - vielleicht und unter bestimmten Bedingungen - wenigstens Teile ihre jeweiligen Programms verwirklichen.

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Ökonomische Auswirkungen der Ölkrise von 1973/74 im Urteil des Sachverständigenrates
Ökonomische Auswirkungen der Ölkrise von 1973/74 im Urteil des Sachverständigenrates
Ökonomische Auswirkungen der Ölkrise von 1973/74 im Urteil des Sachverständigenrates

3. Der Strategiewechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik

Die sozialliberale Koalition übernahm politische Verantwortung in einer konjunkturellen Boomphase, was günstige Voraussetzungen für ein weitgestecktes innenpolitisches Reformprogramm schuf. Die in der Großen Koalition praktizierte "Globalsteuerung" schien darüber hinaus die Garantie dafür zu geben, daß man zuküftig konjunkturelle Abschwünge auch ohne größere wirtschaftliche Einbrüche würde meistern können. Die Entwicklung verlief aber ganz anders, wozu insbesondere zwei Ölpreisexplosionen, eine Weltwirtschaftskrise und schwer lösbare wirtschaftliche Strukturprobleme beitrugen. Einen kritischen Verlauf nahm die Wirtschafts- und Finanzpolitik der neuen Regierung indessen schon vor der ersten großen Ölpreiserhöhung. Ein ehrgeiziges Reformprogramm, eine expansive Lohnpolitik der Gewerkschaften und eine Dollarschwemme ' aufgrund der Finanzierung der amerikanischen Vietnam-Kriegskosten durch Notenbankkredite bewirkten einen sich beschleunigenden Preisanstieg. Da die haushaltspolitischen Sparpläne der Bundesminister der Finanzen, Möller und Schiller, im Kabinett keine Unterstützung fanden, traten beide 1971 bzw. 1972 von ihrem Amt zurück.
Die Krise spitzte sich weiter zu, als zwischen Herbst 1973 und Mitte 1974 die Ölpreise je Barrel Rohöl von 3 Dollar auf 11 Dollar anstiegen. Dadurch verstärkte sich noch einmal der Preisauftrieb in der Bundesrepublik (Zunahme der Verbraucherpreise in 1973 und 1974 um je 7%). Dieser Entwicklung suchte die Bundesbank mit einer harten restriktiven Geldpolitik zu begegnen. Das führte zwar schließlich zu der beabsichtigten Verringerung der Inflationsrate, zugleich aber zu einem schweren Konjunktureinbruch mit Massenarbeitslosigkeit, nachdem nach einer Verzögerungsphase auch die Auslandsnachfrage zurückging (Weltwirtschaftskrise).
Die Bundesregierung unter dem neuen Kanzler Helmut Schmidt reagierte auf die Produktions- und Beschäftigungskrise des Jahres 1975 mit einer expansiven Haushaltspolitik, wobei die gesamtstaatliche Kreditaufnahme 1975 mit 536 Mrd DM oder 5,2 % des Bruttosozialprodukts ihren bis dahin höchsten Wert erreichte. Diese Politik des "deficit spending" blieb nicht ohne Wirkung, die Konjunktur erholte sich und ab 1978 nahm auch die Zahl der Erwerbstätigen wieder deutlich zu, ohne daß allerdings die Zahl der Arbeitslosen wegen der demographisch bedingten Zunahme der Erwerbsbevölkerung auf wesentlich unter eine Million absank. Gleichzeitig wuchs die Staatsverschuldung weiter an, wobei sich ihr Anteil am Bruttosozialprodukt zwischen 1974 und 1979 von 195 % auf 29 6 % erhöhte.
Die keynesianische Politik der Regierung geriet daher in große Schwierigkeiten, als die zweite große Ölverteuerung von 1979/80, durch die der Ölpreis von 13 Dollar auf 36 Dollar je Barrel anstieg, einen neuen Inflationsschub auslöste, zumal die Tarifparteien den mit der Ölpreiserhöhung verbundenen Kaufkraftentzug jeweils über die Löhne bzw. über die Preise von sich abzuwälzen versuchten. Wieder sah sich die Bundesbank zu einer einschneidenden Stabilitätspolitik genötigt. Da wachsende Strukturprobleme (vgl. 3.1) zudem die internationale Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft schwächten und die Regierung angesichts der hohen Staatsverschuldung und der beträchtlichen Inflationsraten sich ihrerseits zu einer Politik der Haushaltssanierung entschloß, mündete die Stabilisierungspolitik der Bundesbank erneut in eine schwere Stabilisierungskrise. Die Zahl der Arbeitslosen erhöhte sich auf fast zwei Millionen. Zwischen den Koalitionspartnern SPD und FDP aber entstand ein heftiger Streit um die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik, der in der Öffentlichkeit und unter den Wirtschaftswissenschaftlern unter dem Stichwort Angebotspolitik contra Nachfragepolitik" ausgetragen wurde.
Indem die Parteiführung der FDP den sich daraus ergebenden Dissens mit der SPD zuspitzte, kam es im Herbst 1982 zum Bruch der sozialliberalen Koalition und im Rahmen eines konstruktiven Mißtrauensvotums zur Wahl Helmut Kohls (CDU) zum Bundeskanzler einer christlich-liberalen Koalition. Sie sah sich vor allem vier Hauptproblemen gegenüber: einer zunehmenden Massenarbeitslosigkeit, einer hohen Inflationsrate, einer anwachsenden Staatsverschuldung und einem heftigen Streit um die Nachrüstung im Zusammenhang des NATO-Doppelbeschlusses.
In den Mittelpunkt ihrer innenpolitischen "Wendepolitik" stellte die Regierung die Haushaltssanierung und die Anregung eines neuen konjunkturellen Aufschwungs auf der Grundlage einer sogenannten „Angebotspolitik" Tatsächlich gelang es der Koalition in wenigen Jahren die Inflation zu stoppen, die Wachstumsrate der Staatsverschuldung deutlich zu verringern und einen dauerhaften Konjunkturaufschwung einzuleiten. Allerdings kamen ihr dabei günstige andere Einflußfaktoren zur Hilfe: insbesondere die Geldpolitik der Bundesbank, die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Verfall der Rohstoffpreise. Besonders umstritten war die Vorgehensweise der Regierung bei der für die weitere wirtschaftliche Entwicklung wichtigen Konsolidierung des Haushalts und der Sozialkassen. Nach Meinung der Gewerkschaften programmierten die dazu verabschiedeten Gesetze einen Sozialabbau vornehmlich zu Lasten der sozial schwächeren Volksschichten, wohingegen die Regierung behauptete, angemessenere, nämlich familienpolitische Schwerpunkte in der Sozialpolitik zu setzen und im übrigen lediglich überzogene soziale Ansprüche zu beschneiden, durch die der Wille der Bürger zur ökonomischen Eigenverantwortlichkeit in Mitleidenschaft gezogen werde.
Langfristig blieb die Angebotspolitik der Regierung und die damit verbundene erhebliche Verbesserung der Gewinnsituation der Unternehmen nicht ohne Wirkung. Nicht nur wurde mit ihrer Hilfe 1983 der längste Konjunkturaufschwung der Bundesrepublik mit der durchschnittlich geringsten Preissteigerungsrate eingeleitet, sondern als gegen Ende des Jahrzehnts zusätzliche Nachfragefaktoren wirksam wurden (europäischer Binnenmarkt, Übersiedlerzustrom, deutsche Vereinigung) beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum, so daß die Arbeitslosenquote zu sinken begann und von 1983 bis 1990 insgesamt zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.
Vor völlig neue Probleme wurden jedoch seit 1990 Regierung und Wirtschaft aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Vereinigung der beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten gestellt.

Ökonomische Auswirkungen der Ölkrise von 1973/74 im Urteil des Sachverständigenrates

1. Die Ölkrise hat dem arbeitsteiligen System der Weltwirtschaft einen Schock versetzt. Sie schuf Risiken und weckte Sicherheitsbedürfnisse, die viele Jahre nicht akut gewesen sind. Sie sollten auch nicht bestehen müssen. Das Verhalten der Länder des OPEC-Kartells war ein grober Verstoß gegen die Spielregeln der arbeitsteiligen Weltwirtschaft, in der im Prinzip jeder wegen der großen Vorteile, die daraus für ihn und für alle erwachsen, das Risiko wechselseitiger Abhängigkeit in Kauf nehmen muß. Manche sind jedoch weniger abhängig als andere oder haben Macht, weil sie Schaltstellen innehaben. Halten diese die Spielregeln nicht ein, müssen die anderen damit rechnen, daß ihnen großer Schaden entsteht, es sei denn, sie verfügten über Gegenmacht. Das ist geschehen. Über die Motive der OPEC-Länder ist hier nicht zu rechten. Sie werden die gleichen sein wie überall in der Welt, wo es Kartelle gibt. Die Preispolitik des Kartells und seine Drohung mit Mengenbeschränkungen zwingen jetzt die übrige Welt zu aufwendigen Vorkehrungen, damit die Energieversorgung wieder sicher und billiger wird. Wegen im Prinzip vermeidbarer und damit ökonomisch funktionsloser Risiken müssen die ölverbrauchenden Länder riesige Beträge aufwenden, um eine von den Produktionskosten her billigere, aber jetzt monopolistisch verteuerte und vorsätzlich unsicher gemachte Energieversorgung durch eine sichere eigene zu ersetzen. Alte Energieträger, wie Kohle, werden zu stark genutzt, neue, wie Kernenergie, forciert entwickelt und Ölreserven der Welt mobilisiert die man wegen der ungünstigen Lagerung eigentlich erst zu einem sehr fernen Zeitpunkt, möglicherweise sogar niemals hätte nutzen müssen. Solche Vorkehrungen gegenüber dem Marktverhalten des 0PEC-Kartells und die dafür nötigen Aufwendungen dürften zwar unumgänglich sein, doch ihr ökonomischer Sinn für die Welt ist nicht größer als der von Waffen.
2. Kurzfristig stellt die Ölkrise eine schwere Belastung vor allem deshalb dar, weil die drastische und plötzliche Umlenkung von Einkommensströmen die Anpassungsfähigkeit auch der marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften Überforderte, so daß sie mit beschleunigter Inflation reagierten. Mittelfristig gesehen, ist eine Änderung der realen Austauschrelation im Außenhandel, also des Verhältnisses der Einfuhrpreise zu den Ausfuhrpreisen, wie sie 1974 erzwungen worden ist, für die reichen Industriestaaten kein Problem dem sie nicht gewachsen sein müßten. Denn die Verteuerung von Erdöl und vielen anderen Rohstoffen machte, so bedeutend man sie finden muß, doch nur wenig mehr als den halben Zuwachs an Realeinkommen aus, den diese im Rahmen ihres wirtschaftlichen Wachstums erzielen, und zwar Jahr für Jahr. So abrupt erzwungen, kam es jedoch allenthalben zu Verwerfungen der Preis- und Einkommensstruktur, die in den meisten Ländern zu einer abermals erhöhten lnflationsrate, in anderen auch zu Arbeitslosigkeit führte. Vor allem im Verteilungskampf der Gruppen gab es einen inflationsträchtigen Streit über die Zuweisung der im ganzen jedenfalls nicht abwälzbaren Lasten,

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Die Krise von 1980/82 als Folge einer ungenügenden gesamtwirtschaftlichen Nachfragepolitik. Stellungnahme von Fritz W. Scharpf, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (1987)

Die Krise von 1980/82 als Folge einer ungenügenden gesamtwirtschaftlichen Nachfragepolitik. Stellungnahme von Fritz W. Scharpf, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (1987)

Nachdem aber seit 1979 das weltweite Zinsniveau zu steigen begonnen hatte, war nicht nur die Wachstumspolitik wesentlich schwieriger, sondern es war auch möglich geworden, die Einkommensinteressen der Kapitalbesitzer abgekoppelt von Wachstum und Beschäftigung unmittelbar auf den nationalen und internationalen Kapitalmärkten zu befriedigen. Während also zuvor Kapitalinteressen und Arbeitnehmerinteressen trotz allfälliger Verteilungskonflikte nur gemeinsam gewinnen konnten, war jetzt die Wachstumspolitik für die FDP- Klientel weniger wichtig geworden als die Verteilungs- und Steuerpolitik - von der es schließlich abhing, wieviel man von den erzielten Kapitaleinkommen behalten konnte. Erst dadurch wurde die politische Ökonomie der sozialliberalen Koalition zum Nullsummenkonflikt.
Ihren ideologischen Ausdruck fand die neue Interessenkonstellation in der Auseinandersetzung zwischen der keynesianischen "Nachfragetheorie" und der sogenannten "Angebotstheorie"1, die sich in den siebziger Jahren in der akademischen Ökonomie, im Sachverständigenrat und nun auch in der Wirtschaftspolitik der FDP immer mehr durchsetzte, Aus der richtigen Prämisse, daß bei weltweit hohen Zinsen die zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit notwendigen zusätzlichen Investitionen nur noch bei höheren Gewinnerwartungen zustande kommen konnten, wurde der einseitige Schluß gezogen, daß die Gewinnerwartungen in erster Linie durch Senkung der Lohnkosten und der Abgabenbelastung verbessert werden mußten - und nicht durch die von den keynesianischen Ökonomen, den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten favorisierte Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Vermutlich hätten sich die Sozialdemokraten sogar mit den Verteilungsfolgen der von der FDP praktizierten Angebotspolitik abgefunden, wenn sie wenigstens hätten sicher sein können, daß die höheren Kapitaleinkommen auch den Investitionen und am Ende der Beschäftigung zugute kommen würden. Da das deutsche Steuerrecht jedoch seit den sechziger Jahren eine systematische Begünstigung der reinvestierten gegenüber den entnommenen Gewinnen nicht mehr kennt, sprach vieles für die Vermutung, daß angebotstheoretisch begründete Steuerentlastungen und Subventionen nur den Kapitaltransfer aus den Unternehmen in die internationalen Geldmärkte und in hochverzinsliche Staatsanleihen beschleunigten.
Nach der Bundestagswahl (1980) fand die neue politisch-ökonomische Konstellation ihren Ausdruck in einer scheinbar finanzwirtschaftlich inkompetenten und ökonomisch konterproduktiven Sparpolitik der Bundesregierung…. Die Durchsetzung des Sparprogramms folgte nämlich einem simplen strategischen Muster, gegen das die SPD bis zuletzt keine wirksame Verteidigung fand: Die zur Haushaltskonsolidierung notwendigen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen mußten selbstverständlich beim Sozialkonsum und bei den Masseneinkommen ansetzen, wenn sie quantitativ zu Buche schlagen sollten; und wenn dann die SPD bei steigenden Arbeitslosenzahlen gegen den hinhaltenden Widerstand der FDP neue beschäftigungspolitische Initiativen durchsetzte, dann mußten diese ebenso selbstverständlich die Abgabenbelastung der Kapitalseite vermindern oder die Kapitalsubventionen erhöhen. Und da überdies die Opposition im Bundesrat in der Lage war, unpopuläre Steuererhöhungen zu blockieren, zu denen die Koalition sich schließlich durchgerungen hatte, machte die politische Selbstverpflichtung zur Haushaltskonsolidierung neue Sparaktionen erforderlich, die sich selbstverständlich dann wieder vor allem gegen die von der SPD vertretenen Interessen richteten. Kein Wunder, daß schließlich sogar die bis zur Selbstverleugnung loyalen DGB-Gewerkschaften Massenproteste gegen die regierenden Sozialdemokraten organisierten.
Mit der „Operation 83" war dann endlich die Leidensgrenze der Sozialdemokraten und Gewerkschaften doch überschritten. Als Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff im Spätsommer 1982 für den Kanzler die noch viel weitergehenden Umverteilungsforderungen der FDP zu Papier brachte, mußten auch koalitionstreue Sozialdemokraten einsehen, daß gegenüber der Restriktionspolitik der Bundesbank, der Umverteilungspolitik der FDP und der Blockadepolitik der CDU/CSU im Bundesrat das wirtschaftspolitische Spiel nicht mehr zu gewinnen war. Bis es so weit war, hatte freilich die SPD den einschneidensten Kürzungen im "sozialen Netz" schon zugestimmt und die politische Verantwortung für den Anstieg der Arbeitslosigkeit bis zur Zwei- Millionen-Grenze auf sich geladen.

 

1 Nachfrage- und Angebotspolitik: Die Nachfragepolitiker sehen den Ansatzpunkt zur Krisenüberwindung in direkten Maßnahmen zur Steuerung der Gesamtnachfrage (höhere Staatsausgaben. Erhöhung der Masseneinkommen). Die Angebotspolitiker wollen die Krise durch Verbesserung der Produktionsbedingungen (Abbau von hemmenden Vorschriften) und der Gewinne der Unternehmen (Minderung der Kosten), lösen, damit zunächst zusätzliche Investitionen als Voraussetzung für eine wachsende Gesamtnachfrage angeregt bzw. ermöglicht werden.

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Die Krise von 1980/82 und die Notwendigkeit einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Stellungnahme von Gerhard Fels, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (1983)

Die Krise von 1980/82 und die Notwendigkeit einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Stellungnahme von Gerhard Fels, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (1983)

Die Wirtschaftspolitik, mit der die Bundesrepublik Deutschland bis vor kurzem versucht hat, der Beschäftigungsprobleme Herr zu werden, hat sich nicht als tragfähig erwiesen. Dem Staat wurde zu viel, den Tarifparteien zu wenig Verantwortung zugemutet. Die vitalen Kräfte des Marktes haben sich in überzogenen staatlichen Regulierungen verfangen. Am Ende stehen eine hohe und weiter zunehmende Staatsverschuldung, ein nicht mehr finanzierbares Sozialsystem. ein überhöhtes Kostenniveau und erstarrte Marktstrukturen. Die weltwirtschaftlichen Störungen, die in unsere Wirtschaft hineingetragen wurden, sind durch die Politik nicht abgeschwächt, sondern verstärkt worden. Der wachstumsnotwendige Strukturwandel stockt. Seit Jahren gibt es kein wirtschaftliches Wachstum mehr. Die Arbeitslosigkeit erreicht den höchsten Stand seit der Nachkriegszeit. Was wir seit Anfang der achtziger Jahre in der Weltwirtschaft beobachten, ist die abrupte Realisierung von Kapitalverlusten1. Im Gefolge der Ölpreisschübe kam es zu einer Inflationswelle, der vor allem die Vereinigten Staaten mit einer Politik der Geldverknappung entgegentraten. Hohe Zinsen signalisierten Unsicherheit und ungelöste Anpassungsprobleme. Überkapazitäten in alten Industrieländern und verstärkte Exportanstrengungen in jungen lndustrieländern ließen einen starken Angebotsdruck auf den internationalen Märkten entstehen. Viele Arbeitsplätze wurden vernichtet, müssen durch neue an anderer Stelle ersetzt werden. Bei uns hat der Strukturwandel große Teile unseres Kapitalstocks. unseres Know-how und unserer Forderungen gegenüber ausländischen Gläubigern entwertet. Die Kapitalverluste nagen am Risikopolster von Unternehmen und Banken. Viele Produktionen rentieren sich nicht mehr, neue Produktionschancen werden wegen hoher Kosten, großer Unsicherheit und Mangel an risikotragendem Kapital nicht zügig genutzt.
Erst nachdem die Inflation unter Kontrolle war, konnten die Notenbanken ihre Politik des knappen Geldes lockern. Inzwischen zeichnet sich unter dem Einfluß niedrigerer Zinsen und niedrigerer Ölpreise eine wirtschaftliche Belebung ab. Die Bedingungen für einen soliden Aufschwung, der zur Vollbeschäftigung zurückführt, sind jedoch noch nicht vorhanden. In der Rezession von 1967 gab es 0,6 Millionen Arbeitslose in der Rezession von 1976 waren es 1,2 Millionen. In der gegenwärtigen Krise hat sich die Zahl wiederum verdoppelt. Die Gefahr liegt darin, daß sich der Abwärtstrend fortsetzt, weil bei den gegebenen ordnungspolitischen Bedingungen die konjunkturellen Aufschwungsphasen immer kürzer und die konjunkturellen Abschwungsphasen immer länger werden. Diesen Abwärtstrend gilt es zu durchbrechen. Die Herausforderung trifft den Staat mit seiner Finanzpolitik und seiner Sozialpolitik, die Tarifparteien mit ihrer Lohnpolitik. Sie stellt genauso Gesetze und Institutionen in Frage, die sich heute als Wachstumshemmnis erweisen. Fundamentalkorrekturen sind unvermeidlich.
Ein Redynamisierung der Wirtschaft kann nur über eine angebotsorientierte Politik erreicht werden. Mangel an Dynamik hat seine Ursachen darin, daß die Anreizmechanismen gestört sind, vor allem daß die Löhne überhöht und die Lohnrelationen verzerrt sind, daß übermäßige Staatsdefizite einen großen Teil der privaten Ersparnis vernichten, daß die Höhe und die Art der Besteuerung die Kapitalbildung und das Investieren erschweren, daß Regulationen wichtige Märkte außer Funktion setzen, daß Zugangsbarrieren Unternehmensgründungen und Neuerungswettbewerb abwürgen, daß soziale Sicherungsmechanismen den Strukturwandel lähmen und daß eine weiche Sozialtechnik Arbeit und Leistung wenig attraktiv erscheinen läßt. Angebotspolitik will diese Störungen in den volkswirtschaftlichen Regelkreisen beseitigen. Der Staat ist dabei nicht in der Rolle jener Superinstanz, die all das korrigiert, was als Defekt der Privatwirtschaft angesehen wird. Er ist Verursacher der Störungen, deshalb Objekt der Therapie, nicht Subjekt, Teil des Problems, nicht dessen Lösung.
Die Probleme so zu sehen, heißt die Vorstellung zu verwerfen, daß die Misere ganz oder überwiegend auf einem Nachfragemangel beruht, der durch expansive Geldvermehrung und weitere kreditfinanzierte Staatsausgaben zu beheben wäre. Jeder Versuch einer solchen Nachfragepolitik würde erneut Inflationsfurcht erzeugen und die Zinsen wieder steigen lassen.

1 Kapitalverluste, hier: Entwertung von Produktionsanlagen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben, weil zu teuer produziert oder zu wenig nachgefragt wird.

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Der "Wende-Brief" des FDP-Vorsitzenden Genscher vom 20. 8. 1981

Der "Wende-Brief" des FDP-Vorsitzenden Genscher vom 20. 8. 1981

Am 20. August 1981 verbreitete der Pressedienst der FDP einen Brief des Bundesvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher an die Mitglieder der Führungsgremien und an die Mandatsträger der FDP. Auszüge:

Unser Land steht an einem Scheideweg .... Nicht nur die Diskussion über die Ergänzungsabgabe, sondern ganz allgemein die Diskussion über unsere Auffassung, daß Ausgabenverminderungen der bessere Weg sind als Einnahmeerhöhungen, zeigt, daß unter veränderten Bedingungen und mit deshalb auch veränderten Fragestellungen und Antworten eine ähnliche grundsätzliche Auseinandersetzung zu führen ist wie beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.
Damals wie heute lag die Entscheidung, welcher Weg eingeschlagen werden soll, weitgehend in unserer Hand ...
Ganz allgemein ist es erforderlich, die Einsicht zu stärken, daß keine Leistung von Staat und Gesellschaft gewährt werden kann, die nicht vorher oder nicht hinterher von der Allgemeinheit, also von jedem einzelnen von uns, aufgebracht werden müßte. Es gilt, eine Anspruchsmentalität zu brechen, die nicht deshalb entstand, weil die heute lebende und arbeitende Generation weniger leistungsbereit wäre als ihre Vorgänger, sondern weil manches Gesetz geradezu zur Inanspruchnahme auffordert, um nicht zu sagen verleitet. Eine Wende ist notwendig ...

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Erklärung von Bundeskanzler Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bundestag am 1. Oktober 1982 anläßlich des gegen ihn angestrengten Mißtrauensvotums

Erklärung von Bundeskanzler Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bundestag am 1. Oktober 1982 anläßlich des gegen ihn angestrengten Mißtrauensvotums

Herr Präsident, meine Damen und Herren!
Die sozial-liberale Koalition, deren gewählter Bundeskanzler heute durch ein Mißtrauensvotum gestürzt werden soll, hat 1980 durch die Wählerinnen und Wähler eine überzeugende Bestätigung und einen Auftrag für weitere vier Jahre bekommen ....
Dieser Regierungswechsel, den Sie anstreben, berührt die Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Institutionen. Aber auch andere Werte könnten auf dem Spiele stehen. lch habe die Absicht, mich dazu in zwölf Punkten zu äußern ....
Wir haben zwischen zwei extremen ökonomischen Theorien, wie sie heute in einigen Staaten des Westens tatsächlich ausprobiert werden, einen mittleren Kurs gewählt. Wir haben weder eine inflationistische Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betrieben. Das hat sich ausgezahlt: Unsere Zahlungsbilanz ist gesund, unsere Währung ist stabil, der Preisanstieg in der Bundesrepublik ist der geringste in der Europäischen Gemeinschaft, aber unsere realen Löhne sind die höchsten in der Europäischen Gemeinschaft.
Ich warne vor den Folgen einer deflationistischen Politik, CDU, CSU und FDP wollen nach ihren veröffentlichten Vereinbarungen die Haushalte kürzen und die allgemeine Nachfrage senken oder drosseln. Sie wollen für die Wirtschaft Steuern senken, obgleich schon heute die steuerliche Situation für die Unternehmen die günstigste sei der Währungsreform ist, schon heute! Es soll hier die ,Angebotspolitik' kopiert werden. Sie wird genau wie in Amerika, wo das zwei Jahre früher probiert wurde, im Ergebnis zu stärkerer Arbeitslosigkeit führen.
Die Sache wird nicht dadurch besser, daß CDU/CSU- und FDP-Führung die Steuervergünstigung durch eine Umsatzsteuererhöhung ausgleichen wollen, die jedermann tragen muß und die Sie, meine Damen und Herren von der CDU, uns Anfang des Jahres, als wir sie für die Investitionszulage verwenden wollten, mit der Begründung angeblicher Wirtschaftsfeindlichkeit abgelehnt haben ....
Der Gesamtansatz ihrer öffentlich dargelegten Finanz- und Wirtschaftspolitik ist verfehlt. Er kann bestensfalls eine kurze Scheinblüte auslösen, die nach wenigen Monaten einer sich verstärkenden Arbeitslosigkeit weichen wird. Ich verstehe, daß Sie für diesen Pali schon heute vorbauen möchten, indem Sie den Sozialdemokraten nachträglich und wider besseren Wissen Schuld anlasten wollen. Aber der kritische Bürger durchschaut diese Absicht Ihrer bösen Legendenbildung!

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Auszüge aus der Regierungserklärung Bundeskanzler Helmut Kohls am 13. Oktober 1982
Auszüge aus der Regierungserklärung Bundeskanzler Helmut Kohls am 13. Oktober 1982
Auszüge aus der Regierungserklärung Bundeskanzler Helmut Kohls am 13. Oktober 1982

Auszüge aus der Regierungserklärung Bundeskanzler Helmut Kohls am 13. Oktober 1982

Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Koalition der Mitte, zu der sich CDU, CSU und FDP zusammengeschlossen haben, beginnt ihre Arbeit in der schwersten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Diese Krise hat das Vertrauen vieler Menschen, vieler Mitbürger in die Handlungsfähigkeit unseres Staates erschüttert.
Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.
Spätestens seit dem Münchner Parteitag der SPD wurde immer deutlicher, daß sich die Wege der bisherigen Koalitionspartner trennten. In drängenden Fragen der Innen- und der Außenpolitik ließ die SPD ihren eigenen Regierungschef im Stich. Bundeskanzler Schmidt verlor seine Mehrheit.
Die Freie Demokratische Partei hat sich, wie wir alle wissen und auch gerade in der Auseinandersetzung in diesem Plenarsaal miterlebt haben, ihre Entscheidung nicht leicht gemacht. Im Interesse unseres Landes hat sie, wie die Verfassung es will, eine neue Regierung ermöglicht. Diese Koalition der Mitte wird unser Land aus der Krise führen…
Wie ist die Lage der Bundesrepublik Deutschland?
1. Die wirtschaftliche und geistig-politische Krise
Die Wirtschafts- und Finanzkrise
Wir erleben zur Zeit eine Arbeitslosigkeit, die schlimmer ist als jene in den Jahren des Wiederaufbaus. Fast jeder vierzehnte Erwerbstätige in der Bundesrepublik ist arbeitslos. Im Winter können fast 2,5 Millionen Menschen arbeitslos sein. Noch mehr Mitbürger bangen um ihren Arbeitsplatzt.Nach zweijähriger Stagnation geht die gesamtwirtschaftliche Produktion seit Monaten zurück.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es so viele Firmenzusammenbrüche gegeben wie in diesem Jahr, und noch nie sind so viele selbständige Existenzen vernichtet worden. Allein dadurch sind in den letzten Jahren rund 500000 Arbeitsplätze vernichtet worden. In diesem Jahr wird dieser traurige Rekord an Konkursen noch einmal überboten werden. 15000, vielleicht noch mehr Unternehmen müssen Konkurs anmelden. Damit gehen noch einmal weit über 100000 Arbeitsplätze verloren. Was das schlimmste ist: Fast 200000 Jugendliche sind arbeitslos. Viele finden keinen Ausbildungsplatz und sind damit nicht n ur ohne Arbeit, sondern auch ohne Chance, sich beruflich zu qualifizieren.
Die Fähigkeit unserer Wirtschaft, durch Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist erheblich geschwächt.
Die Wachstums- und Beschäftigungskrise, meine Damen und Herren, hat zugleich in aller Deutlichkeit die Finanzkrise unseres Staates offengelegt. Der erste Kassensturz, den die neue Bundesregierung in diesen wenigen Tagen vornehmen mußte, hat eine noch wesentlich kritischere Lage der Staatsfinanzen offenbart, wesentlich kritischer, als selbst wir, die CDU/CSU in der Opposition, annehmen konnten.
Meine Damen und Herren, diese Eröffnungsbilanz ist bestürzend: Ende dieses Jahres, in wenigen Wochen, wird sich der Schuldenstand des Bundes auf über 300 Milliarden DM erhöhen; bei Bund, Ländern und Gemeinden zusammengenommen auf über 600 Milliarden DM; mit Bahn und Post zusammen addiert auf rund 700 Milliarden DM. Allein der Zinsendienst der öffentlichen Hand wird Ende dieses Jahres rund 60 Milliarden DM betragen…
Die geistig-politische Krise
Wir stecken, meine Damen und Herren, nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise. Es besteht eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit. Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung. vor Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor der Zukunft. Manche dieser jungen Mitbürger fühlen sich ratlos, steigen aus, flüchten in Nostalgie und Utopie. Hier sehen wir eine Herausforderung an unsere Pflicht als Bürger, als Eltern, an unseren Gemeinsinn und an unsere Überzeugungskraft. Die Ideologien der Macher und Heilsbringer haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschürft, die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt.
Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes.
Die Frage der Zukunft lautet nicht, wieviel mehr der Staat für seine Bürger tun kann, Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können, Auf dieser Idee gründet die Koalition der Mitte.
Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt: der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und - wir sollten es ehrlich sagen- wir alle auf Kosten der nachwachsenden Generationen, Es ist jetzt auch ein Gebot des sozialen Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, daß wir der Ehrlichkeit, der Leistung und der Selbstverantwortung eine neue Chance geben,

 

 

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Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) zur wirtschaftspolitischen Position der Freien Demokraten in einem Zeitungsaufsatz vom 24.12.1982
Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) zur wirtschaftspolitischen Position der Freien Demokraten in einem Zeitungsaufsatz vom 24.12.1982
Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) zur wirtschaftspolitischen Position der Freien Demokraten in einem Zeitungsaufsatz vom 24.12.1982
 

Es ist richtig, daß die Zahl der Arbeitslosen weiterhin viel zu hoch bleibt und daß sie zunächst noch weiter steigen wird, Aber ich sehe nicht, wie sie mit massiven Arbeitsbeschaffungsprogrammen nennenswert und vor allem langfristig vermindert werden kann, Es stimmt ja nicht, daß wir in Bonn die keynesianisehen Lehren verdrängt hätten, Sie würden gegenwärtig nur nicht wirken, Auch jetzt ist Keynes nicht vergessen, Die massive Förderung der Wohnungsbaunachfrage wäre durchaus in seinem Sinne: nicht nur die Bereitstellung zusätzlicher öffentlicher Mittel, sondern auch die Verbesserung der Angebotsbedingungen für den Wohnungsbau. Beides zusammen wird schnell neue Nachfrage und neues Angebot auf einem Markt bewirken, der für die Beschäftigung von besonderer Bedeutung ist.
Darum geht es doch in der Wirtschaftspolitik der neuen Regierung: Angebot und Nachfrage zu stärken, und dies nicht nur für kurzfristige Programmzeiträume, sondern auf längere Sicht. Dabei steht heute und wohl noch einige Zeit die Verbesserung der Angebotsbedingungen für neue Investitionen im Vordergrund unserer Anstrengungen…
Es kommt darauf an, die privaten Investoren zu neuen Aktivitäten zu veranlassen. Private Investitionen - jedenfalls in unserer Wirtschaftsordnung - ermöglichen es, sich an weltweit veränderte Wirtschaftsstrukturen anzupassen. Sie halten uns international konkurrenzfähig. Für ein Außenhandelsland wie die Bundesrepublik ist das eine unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Und zugleich sind die privaten Investitionen der Motor, um einen neuen Wachstumsprozeß im Inneren in Gang zu setzen, der mehr ist als ein kurzlebiges Feuerwerk ....
Aber wir müssen im eigenen Haus beginnen. Wenn die Investitionsneigung und die Investitionstätigkeit gefördert und gesteigert werden sollen, muß der Staat dafür Bedingungen schaffen. Das ist in einem anderen Sinne, als Buccerius gemeint hat, eine Stunde des Staates. Denn zunächst ist es notwendig, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand zu stärken. Das schafft man nicht durch neue Schuldenaufnahme, sondern durch nachprüfbare Schritte auf dem Weg, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Im Bundeshaushalt 1983 ist damit ein Anfang gemacht worden.
Damit allein ist es nicht genug. Es kommt auch darauf an, staatliche Konsumausgaben (zumindest relativ) zu verringern und die Investitionsausgaben zu erhöhen. Zu einer solchen Politik gehört weiter, daß wir die Leistungsbereitschaft und die Privatinitiative fördern, indem wir die Steuerquote und die Abgabenquote begrenzen und die Steuerlast allmählich etwas anders verteilen. Über Erhöhung der indirekten Steuern läßt sich durchaus reden, wenn im Zusammenhang damit, die direkte Steuerlast verringert wird. Auch damit beginnen wir 1983, ebenso mit stärkeren öffentlichen Investitionen, zum Beispiel durch eine bessere Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben.
Für mehr Beschäftigung brauchen wir mehr Investitionen. Dafür ist weiterer Zinsabbau nötig, der ohne Haushaltskonsolidierung, ohne Preisstabilisierung, ohne Leistungsbilanzausgleich nicht kommen wird. Die Regierung muß zugleich Zeichen für die Lohnpolitik setzen, die ebenfalls vor einem Drahtseilakt zwischen ausreichender Nachfrage und Kostendämpfung steht

 
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Wirtschaft und Wirtschaftsentwicklung in der Ära Kohl. Rückblick des Sachverständigenrates auf die wirtschaftliche Entwicklung in den 80er Jahren (November 1989)

Wirtschaft und Wirtschaftsentwicklung in der Ära Kohl. Rückblick des Sachverständigenrates auf die wirtschaftliche Entwicklung in den 80er Jahren (November 1989)

Das in diesem Jahr zu Ende gehende Jahrzehnt stellt wegen der langen Dauer der konjukturellen Aufwärtsbewegung einen außergewöhnlichen Abschnitt in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik dar. Die günstige Entwicklung der letzten beiden Jahre hat nahezu vergessen lassen, daß sich zu Beginn der achtziger Jahre im Hinblick auf die Aussichten für das bevorstehende Jahrzehnt tiefer Pessimismus in der Wirtschaft ausgebreitet hatte. Nach der überraschend schnellen und kräftigen Erholung von dem Ölpreisschock 1973/74 war die westdeutsche Wirtschaft zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre in den Sog einer weltweiten Rezession geraten, die wiederum in einer absoluten Schrumpfung des Welthandelsvolumens kulminierte.
Der Pessimismus in der deutschen Wirtschaft wurde indessen weniger von den weltwirtschaftlichen als von den hausgemachten Problemen genährt. Er wurzelte auch nicht in erster Linie in der Inflationsfurcht, wenngleich die Geldentwertungsrate auch in der Bundesrepublik deutlich gestiegen war. Im Zentrum stand vielmehr die Sorge, daß Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr die Flexibilität und Dynamik aufbringen könnten, die für einen raschen Wandel der Produktions- und Beschäftigungsstrukturen an Veränderungen der Nachfrage, der Faktorpreisrelationen, des technischen Wissens und der Wettbewerbsverhältnisse auf den Weltmärkten erforderlich waren.
In der Bundesrepublik Deutschland wie in nahezu allen Industrieländern hatte man erkannt, daß die in den siebziger Jahren zeitweise betriebene geldpolitische und finanzpolitische Expansion nicht die erwarteten Wirkungen hatte, weil die Arbeitslosigkeit größtenteils entweder strukturell bedingt war oder sich zu einem Strukturproblem verfestigt hatte. Als wirtschaftspolitische Alternative bot sich die Verbesserung der Angebotsbedingungen an, insbesondere der lnvestitionsbedingungen. Diese Konzeption umfaßt im Kern drei Teile:
- Eindämmung der Inflation und Reduzierung der Budgetdefizite zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Staates und zur Wiedergewinnung des Vertrauens von Investoren und Konsumenten·
- Abbau von Hemmnissen und Regelungen, die die wirtschaftliche Aktivitäten erschweren, verteuern oder in eine unproduktive Richtung führen; hierzu gehören die Senkung der Besteuerung sowie der Abbau von staatlichen Eingriffen und Regulierungen auf den Geldmärkten·
- Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes: insbesondere durch die Rückführung der Lohnsteigerungsrate auf die gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung und die Differenzierung der Lohnrelationen, soweit Maßnahmen zur Förderung der Mobilität, Flexibilität und Qualifikation des Arbeitskräfteangebots nicht ausreichen.
Dieser wirtschaftliche Richtungswechsel wurde in nahezu allen Industrieländern vollzogen, doch gab es im Hinblick auf den Zeitpunkt, die Dosierung und die Priorität der einzelnen Schritte zum Teil erhebliche Unterschiede .... Ziel der Finanzpolitik in den achtziger Jahren war es, die Beanspruchung der volkswirtschaftlichen Ressourcen durch den Staat zurückzuführen, um mehr Raum für private Aktivitäten zu schaffen. Zunächst hatte dabei die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte über die Ausgabenseite Vorrang. Die Weichen für die Begrenzung des Ausgabenanstiegs wurden mit der sogenannten Operation '82 sowie mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 gestellt. Nach der Reduzierung der Neuverschuldung sollte die Begrenzung des Ausgabenanstiegs zur steuerlichen Entlastung der Einkommen genutzt werden. Die Senkung der Einkommensteuer wurde auf drei Stufen verteilt und für die Jahre 1986, 1988, 1990 in Kraft gesetzt. Auf lange Sicht sollte die Konsolidierung der Haushalte und die Entlastung der Einkommen über die Verringerung der Zinslast und über die Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums aber auch wieder mehr Spielraum für staatliche Leistungen eröffnen.
Die Bilanz der Finanzpolitik der achtziger Jahre ist im ganzen positiv. Das "Gesetz der wachsenden Staatsausgaben" verlor zumindest vorübergehend seine Gültigkeit, damit wurden das Kapitalangebot für produktive Investitionen vergrößert, eine nachhaltige Senkung der Abgabensätze begonnen und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates gestärkt. Negativ fällt dagegen die Bilanz hinsichtlich der qualitativen Konsolidierung aus, die eine wachstumsfreundliche Umgestaltung der Ausgabenstruktur zum Ziel haben sollte. Bei der Steuerreform wäre eine stärkere wachstums- und beschäftigungspolitische Orientierung wünschenswert gewesen ....

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Brundtland-Bericht über den Zusammenhang von Weltwirtschaft, Umwelt und Entwicklung. Stellungnahme der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung unter Leitung der Norwegerin Gro Harlem Brundtland (1987)

Veränderte Anforderungen an die Umwelt- und Entwicklungspolitik

Die siebziger und achtziger Jahre schufen auch für die Politik der Bundesrepublik veränderte weltwirtschaftliche und umweltpolitische Rahmenbedingungen. Bis gegen Ende der sechzig er Jahre hatte ein unbekümmertes Streben nach Wiederaufbau und raschem wirtschaftlichen Wachstum das Denken der Menschen bestimmt. Mit dem Wachstum der Wirtschaft sollte eine immer bessere Lösung der sozialen Probleme im Rahmen eines modernen Wohlfahrtsstaates bewirkt werden. Von der Übertragung des westlichen Entwicklungsmodells auf den "Süden" erwartete man die baldige Lösung der Probleme der "Unterentwicklung". Ein gemeinsamer Weltmarkt und der freie Kapitaltransfer sollten dafür die Voraussetzungen schaffen. Eine langanhaltende Nachkriegsexpansion von Wirtschaft und Welthandel schien solche Hoffnungen zu bestätigten.
Beide Erwartungen aber wurden von der weiteren Entwicklung mehr oder weniger enttäuscht. Schon die Bilanzierung der Ergebnisse der von den Vereinten Nationen proklamierten ersten Entwicklungsdekade (1961-1970) zeigte, daß die Nord-Süd-Kluft sich vergrößert und die Probleme der Entwicklungsländer sich zugespitzt hatten. Die weltwirtschaftliehe Entwicklung der siebziger Jahre brachte der Dritten Welt zusätzliche Schwierigkeiten. Zwar konnten in dieser Dekade relativ hohe Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts aufrechterhalten werden, doch nur auf Kosten einer unverhältnismäßig hohen Auslandsverschuldung und vermehrter ökonomischer und sozialer Verwerfungen im eigenen Land. Diese ungesunde Entwicklung wurde neben dem zweiten Ölpreisschock 1979/80 zur unmittelbaren Ursache für die schwere Krise, in die in den achtziger
Jahren vor allem die afrikanischen und lateinamerikanischen Entwicklungsländer gerieten. Neben großen Mängeln in der nationalen Politik und der übermäßigen Verschuldung trugen dazu auch weltwirtschaftliehe Faktoren wie wachsende Realzinsen, ein geringeres Wachstums des Welthandels, sinkende Rohstoffpreise und protektionistische Maßnahmen der Industrieländer bei. Faktoren, die aus der gleichfalls vielfach krisenhaften Lage dieser Staaten resultierten.
Abnehmende Wachstumsraten, Massenarbeitslosigkeit und hohe Staatsverschuldung in den Industrieländern begannen die weitere Finanzierung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu gefährden, während andererseits die fatalen Folgen eines ungehemmten wirtschaftlichen Wachstums immer offenkundiger wurden. Zwei wissenschaftliche Untersuchungen am Anfang und am Ende dieser Dekade trugen zusätzlich zur Sensibilisierung des ökologischen Denkens bei. 1972 erschien der erste Bericht des "Club at Rome" über die "Grenzen des Wachstums", der anhand eines speziellen Prognosemodells für die erste Hälfte des nächsten Jahrhunderts eine Weltkatastrophe aufgrund einer Überbeanspruchung der verfügbaren Ressourcen und der Biosphäre voraussagte. 1980
wurde „The Global Report 2000" dem amerikanischen Präsidenten vorgelegt. Erstmalig wurde hier die globale Umweltzerstörung detailliert dargestellt und wurden katastrophale Konsequenzen bis zum Jahre 2000 für den Fall prognostiziert, daß eine entschiedene Trendwende ausbleibt.
Stärker noch als zuvor haben in den achtziger Jahren neue Erfahrungen das Bewußtseins von der unauflöslichen Vernetzung aller Teile des Ökosystems Erde ausgebreitet. "Ozonloch" und "Treibhauseffekt" werden als Gefahren gesehen, die global verursacht und global wirksam werden. Nur gemeinsam werden Nord und Süd eine sichere Zukunft schaffen können. Für die Dritte Welt setzt das die Lösung des Armutsproblems voraus. Die Industriestaaten aber sehen sich vor die Aufgabe gestellt, dafür einerseits angemessene weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, andererseits aber ihr wirtschaftliches Wachstum und ihre technologische Entwicklung so zu steuern, daß dabei die Erhaltung der ökologischen Lebensgrundlagen ebenso wie die soziale Befriedung der Gesellschaft gewährleistet werden können.

Brundtland-Bericht über den Zusammenhang von Weltwirtschaft, Umwelt und Entwicklung. Stellungnahme der U N-Kommission für Umwelt und Entwicklung unter Leitung der Norwegerin Gro Harlem Brundtland (1987)

Die Kluft zwischen arm und reich wird größer, nicht kleiner, und es besteht kaum Aussicht, daß sieh dies bei Fortschreibung bestehender Trends und Gegebenheiten in absehbarer Zeit ändern könnte.
Parallel hierzu gibt es Umwelt-Entwicklungen, die unseren Planeten grundlegend zu verändern drohen und die das Überleben vieler auf ihm lebender Arten - den Menschen eingeschlossen - gefährden. So verwandeln sich Jahr für Jahr weitere 6 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Flüche in unfruchtbare Wüste. Über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten entspricht dies einer Fläche etwa so groß wie Saudi-Arabien. Mehr als 11  Millionen Hektar Wald werden jährlich vernichtet; eine Fläche, die - ebenfalls auf dreißig Jahre hochgerechnet - der Größe Indiens entspricht. Ein Großteil dieser ehemaligen Waldflächen verwandelt sich in landwirtschaftliche Niedrigertragsflächen, die den besiedelnden Bauern kein Überleben sichern. In Europa führt der Saure Regen zum Waldsterben sowie des Absterbens des Lebens in Gewässern und zerstört das künstlerische und architektonische
Erbe ganzer Nationen. Riesige Gebiete sind möglicherweise bereits derart versauert, daß eine dauerhafte Abhilfe gar nicht mehr möglich ist. Die Verbrennung fossiler Energieträger führt zu einem Anstieg des Kohlendioxids in der Luft und damit zu einer allmählichen weltweiten Erwärmung. Bereits Anfang des nächsten Jahrhunderts kann der durch diesen Treibhauseffekt verursachte weltweite Temperaturanstieg zu einer Verlagerung der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen, sowie - bedingt durch den Anstieg des Meeresspiegels - zu einer Überflutung von Küstenstädten und zu wirtschaftlichem Chaos führen. In der industriellen Fertigung verwendete flüchtige Gase bedrohen den schützenden Ozonschild der Erde derart, daß bei einem weiteren Abbau der Ozonschicht mit einem drastischen Anstieg der Krebsraten bei Mensch und Tier sowie darüber hinaus mit einer Unterbrechung der Nahrungskette in den Meeren zu rechnen ist. Über Industrie und Landwirtschaft gelangen giftige Stoffe in die menschliche Nahrungsmittelkette und in das Grundwasser und verursachen dort nicht wiedergutzumachende Umweltschäden.
Nationale Regierungen und internationale Organisationen werden sich zunehmend der Tatsache bewußt, daß Fragen wirtschaftlicher Entwicklung und der Umwelt nicht länger voneinander zu trennen sind. Vieles, was unter der Bezeichnung "Entwicklung" distanziert wird, geht unverantwortlich mit den hierfür benötigten Umweltressourcen um, und letzlich wird eine geschädigte Umwelt sich auch nachteilig auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Die Armut ist gleichzeitig eine der Hauptursachen und Hauptfolgen globaler Umweltprobleme. Es ist daher müßig, Umweltprobleme in den Griff bekommen zu wollen, wenn man nicht über eine breit angelegte Perspektive verfügt, die auch die Ursachen für die Armut in der Welt sowie die Ungerechtigkeit in den internationalen Beziehungen zu Kenntnis nimmt…
Die Verlangsamung des Aufschwungs der wirtschaftlichen Entwicklung und die Stagnation des Welthandels während der 80er Jahre hat die Fähigkeit aller Nationen in Frage gestellt, zu reagieren und sich anzupassen. Die Entwicklungsländer, die auf den Export von Primärprodukten angewiesen sind, waren besonders hart von den fallenden Güterpreisen betroffen. Zwischen 1980 und 1984 haben die Entwicklungsländer etwa 55 Mrd. Dollar bei Exporteinnahmen wegen der fallenden Güterpreise verloren, ein Verlust, den Lateinamerika und Afrika besonders schneidend verspüren.... Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, damit der internationale Wirtschaftsaustausch vorteilhaft für alle Beteiligten wird. Die Dauerhaftigkeit des Ökosystems, von dem die Weltwirtschaft abhängt, muß gewährleistet sein. Und für die Wirtschaftspartner muß die Basis des Austausches gerecht sein. Beziehungen, die unausgeglichen sind und auf der Herrschaft der einen oder anderen Seite basieren, sind keine gute und dauerhafte Basis gegenseitiger Abhängigkeit. Für viele Entwicklungsländer ist keine dieser Bedingungen erfüllt.
Die wirtschaftlichen und ökologischen Verbindungen zwischen den Staaten haben rasch zugenommen. Dies verstärkt noch die Unausgeglichenheit in der wirtschaftlichen Entwicklung und Stärke der Staaten. Die Asymmetrie in internationalen Wirtschaftsbeziehungen verschärft noch die Unausgewogenheit, da die Entwicklungsländer im allgemeinen durch internationale wirtschaftliche Bedingungen beeinflußt werden, aber diese selbst nicht beeinflussen können.
Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen werfen ein besonderes Problem für die armen Länder auf, die versuchen, ihre Umweltbedingungen im Gleichgewicht zu halten, da die Ausfuhr von Naturrohstoffen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist; vor allem trifft dies die am wenigsten entwickelten Länder. Die meisten dieser Länder sind mit Instabilität und ungünstigen Preistrends konfrontiert; dadurch können sie ihre natürliche Ressourcenbasis nicht für dauerhafte Produktionen erhalten. Die Last der Schuldendienste steigt, und der neue Kapitalzufluß sinkt; dies begünstigt die Kräfte, die zu Umweltzerstörung und Ressourcenerschöpfung führen, all dies auf Kosten langfristiger Entwicklung. In vielen Entwicklungsländern erfordert Wachstum auch Auslandkapitalzuflüsse in Form von Entwicklungshilfe. Ohne angemessene Kapitalzuflüsse ist die Aussicht jeglicher Verbesserungen des Lebensstandards trübe. Denn die Armen werden gezwungen sein, ihre Umwelt übermäßig zu nutzen, um ihr eigenes Überleben sicherzustellen.
Langfristige Entwicklung wird somit viel schwieriger und in einigen Füllen unmöglich. Dennoch gibt die Entwicklung in der Kapitalbewegung zu Sorge Anlaß. Der Netto-Kapital-Zufluß in Entwicklungsländer ist in absoluten Zahlen gefallen; alles in allem findet jetzt ein Netto-Kapital-Abfluß statt.

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Über den Zusammenhang zwischen Umweltpolitik und wirtschaftlichem Wachstum. Stellungnahme von Prof. Kurt Biedenkopf (CDU) von 1989

Über den Zusammenhang zwischen Umweltpolitik und wirtschaftlichem Wachstum. Stellungnahme von Prof. Kurt Biedenkopf (CDU) von 1989

Die Verschmutzung und Vergiftung der Böden und des Grundwassers, die Gefährdung der Lebensfähigkeit der Meere, die zunehmende Belastung der Luft und der Nahrung, die Verwüstung von Landschaften, die Zerstörung der Tropenwälder. die zunehmende Erschöpfung von Rohstoffquellen. die Dezimierung der Artenvielfalt bei Tieren und Pflanzen und die Klimaveränderungen, die durch menschliches Handeln verursacht werden: Alles sind Symptome einer zunehmenden Erschöpfung der Natur. Zum ersten Mal seit Beginn der Menschheitsgeschichte können wir das Leben auf unserem Planeten und damit unsere eigene Zukunft in Frage stellen: durch die atomare und durch die ökologische Katastrophe. Beide unterscheiden sich im Ergebnis nur durch die zeitliche Dimension. Die endgültige Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ist in den Bereich der Möglichkeiten gerückt.
Vor rund 15 Jahren warnte der Bericht des Club of Rome - erstmals mit politischer Wirksamkeit - vor der selbstzerstörerischen Bedeutung exponentieller Wachstumsverläufe. Inzwischen, nur eine halbe Generation später, sind die Probleme bereits drängend und die zeitlichen Horizonte bis zur möglichen Katastrophe so eng geworden, daß sie nicht mehr nur die Zukunft künftiger, sondern bereits die der heute lebenden Generationen betreffen. Die Weltwirtschaftsgipfel in Bonn von 1978 und 1985 sahen im Wirtschaftswachstum noch den alleinigen Schlüssel zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihrer Länder. ... Erst in ihrer Wirtschaftserklärung von Paris (Juli
1989) stellen die sieben Staats- und Regierungschefs einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz her. Die drei großen Herausforderungen, die die Wirtschaftslage 1989 berge, seien: "Wahl und Durchführung der Maßnahmen, die erforderlich sind, um ein ausgewogenes und dauerhaftes Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, der Inflation entgegenzuwirken, Arbeitsplätze zu schaffen und die soziale Gerechtigkeit zu fördern"; zum zweiten "die Entwicklung der zunehmenden Einbindung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft"; als drittes die "dringende Notwendigkeit, die Umwelt für künftige Generationen zu erhalten". . . .
Damit hat sich zunächst die Erkenntnis von der Bedrohung durchgesetzt, die für unsere Lebensweise und unsere Zukunft von der Zerstörung der Umwelt durch die Industrialisierung ausgeht. Dies ist bereits ein großer Fortschritt. Wir erkennen, daß wir vom Naturkapital, nicht vom Einkommen der Erde leben .... Damit steht unsere westliche Industriegesellschaft einer Aufgabe gegenüber, für die es in ihrer bisherigen historischen Entwicklung kein Vorbild gibt: Sie muß selbst eine inhaltliche Begrenzung ihrer Handlungsspielräume finden. Sie muß ihr gesellschaftliches und individuelles Handeln in einer Weise begrenzen, die enger ist als die Grenzen, welche ihr durch ihr jeweiliges, tatsächliches technisch-naturwissenschaftliches Können gezogen sind. Eine Begrenzung durch Einsicht und Notwendigkeit also. Letztlich geht es um eine Begrenzung durch eine Ethik der Verantwortung (Hans Jonas) ....
Versuche, die Expansion von Produktion und Konsum zu begrenzen, stehen in offenem Widerspruch zur herrschenden Ansicht von der Notwendigkeit weiteren Wachstums. Wie immer diese Notwendigkeit im einzelnen begründet werden mag - Überwindung der Arbeitslosigkeit, besserer sozialer Ausgleich, Notwendigkeit von Zukunftsinvestitionen, Erleichterung des Umweltschutzes, politisch problemlosere Bewältigung von Verteilungskonflikten, Unterstützung der Dritten Welt, Ausgleich weltwirtschaftlicher Ungleichgewichte usw. - sicher ist, daß uns die Vorstellung fremd ist, das quantitative Wachstum der Wirtschaft könne normativen Begrenzungen unterworfen werden, die sich aus unserer Zukunftsverantwortung ergeben ....
Jede ökologische Politik wird deshalb auf massive Widerstände stoßen, an denen sie scheitern kann. Selbst wenn sie sich auf Dauer durchsetzt, ohne von ökologischen Katastrophen überholt zu werden, wird sie von erheblichen gesellschaftlichen Konflikten begleitet sein ....
Auf den Punkt gebracht werden sich zwei Konzepte gegenüberstehen:
1. Eine wachstumsorientierte Gesellschaft, die unter dieser Bedingung - angemessenes Wirtschaftswachstum - auch die sozialen und ökologischen Fragen lösen kann.
2. Eine ökologisch und sozial orientierte Gesellschaft, die unter diesen Bedingungen - ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit - auch wachsen kann, aber nicht wachsen muß.
Das eine Konzept beruht auf dem Primat der Wachstumsorientierung, das andere auf dem Primat ökologischer und sot1aler Gerechtigkeit. Beide Konzepte schließen sich im Prinzip aus. Die Anhänger der wachstumsorientierten Gesellschaft werden argumentieren: Ohne Wirtschaftswachstum sind alle Forderungen, ökologisch und sozial verantwortlich zu handeln, Schwärmerei. Sie scheitern an der Unmöglichkeit, Prioritäten durch Eingriffe in Besitzstände zu ändern. . . .
Die Anhänger der ökologisch und sozial orientierten Gesellschaft werden antworten: Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahrzehnte zeigen, daß die am ständigen Wachstum orientierte Gesellschaft nur Gegenwartsinteressen kennt und berücksichtigt. Die Zukunft kommt in ihr als politische Kategorie nicht vor. Sie hat keine Lobby und ist daher machtlos.

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Die "ökologische Schadensbilanz" der Bundesrepublik Deutschland ("rechenbare" Schäden in Milliarden Mark pro Jahr)
Die "ökologische Schadensbilanz" der Bundesrepublik Deutschland ("rechenbare" Schäden in Milliarden Mark pro Jahr)
Die "ökologische Schadensbilanz" der Bundesrepublik Deutschland ("rechenbare" Schäden in Milliarden Mark pro Jahr)

Die "ökologische Schadensbilanz" der Bundesrepublik Deutschland ("rechenbare" Schäden in Milliarden Mark pro Jahr)

Gesamtbeurteilung der Schätzung: Die genannten Zahlen basieren auf einer Reihe neuerer, fundierter in- und teilweise auch ausländischer Untersuchungen. Verbliebene Lücken wurden in vielen Fällen durch eigene Berechnungen ergänzt. Da es sich um eine systematische, solide Schätzung handelt, kann sie für die von Politikern und Umweltschützern geforderte erweiterte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die auch Umweltschäden einbezieht, verwendet werden.

 

 

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Umweltschäden in der ehemaligen DDR

Umweltschäden in der ehemaligen DDR

Das Versagen der sozialistischen Planwirtschaft wird nicht nur durch den wachsenden Rückstand in der quantitativen und qualitativen Güterversorgung dokumentiert, sondern auch im Mangel an öffentlichen Gütern. Es ist bezeichnend, daß die schwersten Versäumnisse in den beiden Bereichen festzustellen sind, für die man noch am ehesten eine Überlegenheit der staatlichen gegenüber der marktliehen Steuerung hätte vermutet werden können, im Umweltschutz und in der Ausstattung mit Infrastruktur. Zugunsten der Güterversorgung wurden die Umwelt ausgebeutet und die Infrastruktur vernachlässigt.
Die Umweltbelastung in der ehemaligen DDR ist auch im Weltmaßstab beispiellos. Im Jahre 1988 wurde mit 5,2 Mio. Tonnen die fünffache Menge Schwefeldioxis ausgestoßen als in der Bundesrepublik. Je Einwohner gerechnet waren die Emissionen an Schwefeldioxid sogar achtzehnmal so hoch. In keinem anderen Land wurde eine so hohe Staubbelastung wie in der DDR erreicht; der jahrliehe Ausstoß belief sich auf 130 kg je Einwohner (Bundesrepublik knapp 10 kg/ Einwohner). Auch der Ausstoß an Kohlendioxid je Einwohner war der höchste der Welt. Gravierend ist auch die Versehmutzung der Gewässer. Obwohl Ostdeutschland aufgrund des knappen Grundwasservorkommens auf das Reservoir der Oberflächengewässer angewiesen ist, ist die Hälfte der Fließgewässer für die Trinkwassergewinnung nicht mehr verwendbar, ein weiteres Drittel nur mit sehr hohen Aufbereitungskosten. Nur zwei Drittel der Schmutzfrachten aus der Industrie werden gereinigt und dies auch nur mechanisch, nicht mit biologischen Klärverfahren. Die Abwässer der Haushalte werden zu 40 vH nicht geklärt (Bundesrepublik 14 vH), der Rest nur unzureichend. Das Grundwasser wird in hohem Maß durch die großflächige Ausbringurig von Pflanzenschutzmitteln, deren Verwendung in westlichen Ländern teilweise verboten ist, sowie durch intensive Verwendung von Dünger und Wachstumsregulatoren belastet.
Sehr hoch ist auch die Schädigung durch toxische Schadstoffe. Zur hohen Grundbelastung mit Dioxin kommt die toxische Verseuchung an den Produktionsstandorten und im Umkreis von Anlagen, in denen teilsweise noch offen verbrannt wird. Besonders brisant ist die Luft- und Wasserbelastung im Raum Dresden/Oberes Elbtal sowie im Raum Leipzig/Bitterfeld/Halle, in dem noch eine enorme Landschaftszerstörung durch den Braunkohletagebau hinzutritt. Rund die Hälfte der Schwefeldioxid-Emission und über die Hälfte der Staubemission konzentrieren sich auf den südlichen Industriegürtel. ...
Ein besonderes Problem, vor allem für die Industriesiedlung, stellen die Altlasten dar; auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind nach Schätzung 15000 bis 20000 Verdachtsflächen vorhanden. Die durchschnittlichen Kosten pro Sanierungsfall von Altstandorten belaufen sich in der Bundesrepublik auf 3,7 Mio. DM, bei besonders umfangreichen Sanierungen überschreiten die Kosten die 20-Mio.-DM-Grenze. Da die Entsorgung von Altstandorten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als aufwendiger einzuschätzen ist, werden die Kosten noch höher anzusetzen sein. Allein für die Sanierung des Uranbergbaus der Wismut AG schätzt das Bundesumweltministerium den Aufwand auf 5 Mrd. DM.

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Die Risikogesellschaft als Ergebnis des Modernisierungsprozesses. Stellungnahme von Ulrich Beck, Professor für Soziologie (1986)

5. Modernisierungsprozeß und gesellschaftlicher Wandel

Nach dem Ende der Wiederaufbauphase im Übergang zu den sechziger Jahren ist die Bundesrepublik wie viele andere westliche Gesellschaften in eine Phase beschleunigter "Modernisierung" eingetreten. Unter Modernisierung sollen nicht nur die durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik bedingten Veränderungen in den materiellen Produktions- und Lebensverhältnissen verstanden werden, sondern die der Lebensumwelt der Menschen überhaupt. Wesentliche Elemente dieses Modernisierungsprozesses waren:
- die Verwandlung der früheren Mangelgesellschaft in eine Überflußgesellschaft durch ein historisch einmaliges Wachstum der Arbeitsproduktivität;
- die Verschiebung der Erwerbsstruktur von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft;
- die elektronische Revolution in Form des wachsenden Einflusses, den die elektronische Datenverarbeitung, computergesteuerte Arbeitsprozesse, immer umfassendere Kommunikationsmöglichkeiten und die visuellen Medien auf das Leben der Menschen ausüben;
- die beispiellose Erweiterung der individuellen Moblitätsmöglichkeiten;
- der fortschreitende Ausbau des Sozial-, Bildungs- und Wohlfahrtsstaates, der neue Wahlfreiheiten für alternative Lebenswege mit sich brachte.
Alle diese Basisprozesse haben in ihrem Zusammenwirken zu einem fundamentalen Wandel im Lebensgefühl und im Lebensverhalten geführt, den man schlagwortartig als Individualisierungs- und Emanzipationsprozeß bezeichnen kann und der sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen nachweisen läßt. Dazu gehören insbesondere:
- die Veränderungen im generativen Verhalten der Menschen, die seit Mitte der sechzig er Jahre zu einer "säkularen Nachwuchsbeschränkung" geführt hat;
- der Einstellungswandel zu Ehe und Familie, der sie immer stärker dem Anspruch bzw. dem Druck emanzipativer Selbstverwirklichungsziele aussetzt;
- das Aufkommen des Feminismus und der neuen Frauenbewegung seit Anfang der siebziger Jahre;
- der Abbau bzw. der Verfall autoritärer Erziehungsformen in Verbindung mit einer neuen Einschätzung der Stellung des Kindes und Jugendlichen in Familie und Gesellschaft;
- die Aufhebung der einst engen Bindung zwischen Wohnort, Arbeitsplatz und Freizeitraum sowie der scharfen Trennung zwischen Stadt und Land durch die neuen Mobilitäts- und Kommunikationsmittel; - die Zunahme postmaterieller Bedürfnisse in der Bewertung der verschiedenen Lebensbereiche und ein Trend in der Gesellschaft von der Arbeits- zur Freizeitorientierung.
Dieser Modernisierungsprozeß geht allerdings einher mit Entwicklungen, die gerade umgekehrt die Autonomie der Menschen und die Lebensqualität gefährden. Dazu gehören nicht zuletzt die Zerstörung der Umwelt und die wachsenden Risiken der modernen Technik- und Wissenschaftsentwicklung, aber auch psychosoziale Folgeprobleme wie die Zunahme von Suchtanfälligkeit und Kriminalität, von sozialen Aussteigern und gesellschaftlichen Randgruppen. Qualitativ neue, politisch kontrovers diskutierte Probleme für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland resultieren im übrigen aus dem verstärkten Immigrationsdruck von Asylbewerbern und Übersiedlern, dem sich die Bundesrepublik seit den achtziger Jahren und insbesondere nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsimperiums in Osteuropa im Übergang zu den neunziger Jahren ausgesetzt sieht.

Die Risikogesellschaft als Ergebnis des Modernisierungsprozesses. Stellungnahme von Ulrich Beck, Professor für Soziologie (1986)

In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen ....
In den hochentwickelten reichen Wohlfahrtsstaaten des Westens geschieht nun ein Doppeltes: Einerseits verliert der Kampf um das "tägliche Brot" - verglichen mit der materiellen Versorgung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein und mit der vom Hunger bedrohten Dritten Welt - die Dringlichkeit eines alles in den Schatten stellenden Kardinalproblemes. An die Stelle des Hungers treten für viele Menschen die "Probleme" der "dicken Bäuche". Dem Modernisierungsprozeß wird damit jedoch seine bisherige Legitimationsgrundlage entzogen: die Bekämpfung des evidenten Mangels, für die man auch so manche (nicht mehr ganz) ungesehene Nebenfolge in Kauf zu nehmen bereit war.
Parallel verbreitet sich das Wissen, daß die Quellen des Reichtums "verunreinigt" sind durch wachsende "Nebenfolgengel1ihrdungen". Dies ist keineswegs neu, blieb aber lange Zeit im Bemühen der Überwinden von Not unbemerkt. Die Nachtseite gewinnt über dies durch die Überentwicklung der Produktivkräfte an Bedeutung. Im Modernisierungsprozeß werden mehr und mehr auch Destruktivkräfte in einem Ausmaß freigesetzt, vor denen das menschliche Vorstellungsvermögen fassungslos steht. Beide Quellen nähren eine wachsende Modernisierungskritik, die lautstark und konfliktvoll die öffentliche Auseinandersetzung bestimmt.
Systematisch argumentiert, beginnen sich gesellschaftsgeschichtlich früher oder später in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen die sozialen Lagen und Konflikte einer "reichtumsverteilenden" mit denen einer "risikoverteilenden" Gesellschaft zu überschneiden. In der Bundesrepublik stehen wir - das ist meine These - spätestens seit den siebziger Jahre am Beginn dieses Übergangs. Das heißt: hier überlagern sich beide Arten von Themen und Konflikten. Wir leben noch nicht in einer Risikogesellschaft. aber auch nicht mehr nur in Verteilungskonflikten der Mangelgesellschaft. In dem Maße, in dem dieser Übergang vollzogen wird, kommt es dann wirklich zu einem Gesellschaftswandel, der aus den bisherigen Kategorien und Bahnen des Denkens und HandeIns hinausführt. ...
Auch wenn der politische Ausdruck offen, die politischen Konsequenzen mehrdeutig sind. Im Übergang von der Klassen- zur Risikogesellschaft beginnt sich die Qualität von Gemeinsamkeit zu ändern. Schematisch gesprochen, kommen in diesen zwei Typen moderner Gesellschaften völlig andersartige Wertesysteme zum Durchbruch. Klassengesellschaften bleiben in ihrer Entwicklungsdynamik auf das Ideal der Gleichheit bezogen (in seinen verschiedenen Ausformulierungen von der "Chancengleichheit" bis zu Varianten sozialistischer Gesellschaftsmodelle). Nicht so die Risikogesellschaft. Ihr normativer Gegenentwurf, der ihr zugrunde liegt und sie antreibt, ist die Sicherheit. An die Stelle des Wertesystems der "ungleichen" Gesellschaft tritt also das Wertesystem der "unsicheren" Gesellschaft. Während die Utopie der Gleichheit eine Fülle inhaltlich-positiver Ziele der gesellschaftlichen Veränderung enthält, bleibt die Utopie der Sicherheit eigentümlich negativ und defensiv. Hier geht es im Grunde genommen nicht mehr darum, etwa "Gutes" zu erreichen, sondern nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern. Der Traum der Klassengesellschaft heißt: Alle wollen und sollen teilhaben am Kuchen. Ziel der Risikogesellschaft ist: Alle sollen verschont bleiben vom Gift.
Entsprechend unterscheidet sich auch die soziale Grundsituation, in der Menschen sich hier wie dort befinden, zusammenschließen, die sie bewegt und auseinanderdividiert oder zusammen schweißt. Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft läßt sich in dem Satz fassen: Ich habe Hunger! Die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft in Gang gesetzt wurde, kommt dem- gegenüber in der Aussage zum Ausdruck: Ich habe Angst! An die Stelle der Gemeinsamkeit der Not tritt die Gemeinsamkeit der Angst. Der Typus der Risikogesellschaft markiert in diesem Sinn eine gesellschaftliche Epoche, in der die Solidarität aus Angst entsteht und zu einer politischen Kraft wird.
Noch ist aber völlig unklar, wie die Bindekraft dieser Angst wirkt. Wie weit sind Angst-Gemeinsamkeiten belastbar? Welche Motivationen und Handlungsenergien setzen sie frei? Wie verhält sich die neue Solidargemeinde der Ängstlichen? Sprengt die soziale Kraft der Angst tatsächlich das individuelle Nutzenkalkül? Wie kompromißfähig sind angsterzeugende Gefährdungsgemeinsamkeiten? In welchen Handlungsformen organisieren sie sich? Treibt die Angst die Menschen in Irrationalismus, Extremismus, Fanatismus? Angst war bisher keine Grundlage rationalen HandeIns. Gilt auch diese Annahme nicht mehr? Ist Angst vielleicht - anders als materielle Not - ein sehr schwankender Grund für politische Bewegungen? Kann die Gemeinsamkeit der Angst vielleicht schon durch die dünne Zugluft von Gegeninformationen auseinander geblasen werden?

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Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
Indikatoren ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels
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Wandlungsprozesse im generativen Verhalten und im Ehe- und Familienbereich
Wandlungsprozesse im generativen Verhalten und im Ehe- und Familienbereich
Wandlungsprozesse im generativen Verhalten und im Ehe- und Familienbereich
Wandlungsprozesse im generativen Verhalten und im Ehe- und Familienbereich
Wandlungsprozesse im generativen Verhalten und im Ehe- und Familienbereich
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Warum organisieren wir uns als Frauen separat? Thesenpapier, vorgelegt auf dem Bundesfrauenkongreß in Frankfurt/M. am 11./12. März 1972

Warum organisieren wir uns als Frauen separat? Thesenpapier, vorgelegt auf dem Bundesfrauenkongreß in Frankfurt/M. am 11./12. März 1972

1. Frauen organisieren sich separat, weil ihnen eines Tages auffällt, daß die Gesellschaft aktiv von Männern bestimmt wird und wurde, so daß wir die Gesellschaft und ihre Institutionen von den verschiedenen Frauenstandpunkten her untersuchen müssen, um selbst aktiv an der Gestaltung unseres Lebens und unserer Zukunft teilzuhaben.
2. Frauen organisieren sich separat, weil sie gemeinsame Probleme haben die im sogenannten „Privatbereich" besonders massiv auftreten und von den bisherigen Organisationen als "unpolitisch" abgetan werden, oder wiederum von der Sichtweise der "aktiven" Männer angegangen werden. An den "Privatproblemen" der Frauen bereichern sich außerdem Psychoanalytiker und Zeitschriften, die die Auslöser der Probleme (u. a. die Institution von Ehe und Familie) gar nicht infragestellen, die wiederum "Männerstandpunkte" vertreten (machen Sie sich "sexy" für ihn!).
3. Frauen organisieren sich separat, weil sie oft so konkret unter dem Druck z. T. auch der Gewaltandrohung von Männern stehen, daß sie einen "Freiraum" brauchen, um sich eigene Frauenvorbilder zu schaffen, um neue Lebensstile für sich zu erproben, um sich zu informieren, um mit anderen Frauen von der Gesellschaft hochgehaltene Ideale wie "Mutterschaft" und "Wesen Frau" auf ihre unterdrückende Wirkung auf uns Frauen hin zu untersuchen.        
4. Frauen organisieren sich separat, weil sie dazu erzogen worden sind, ihr ganzes Leben auf Männer hin auszurichten (Kleidung, Beruf, Berufung), und eines Tages feststellen, daß sie für sich gar nichts sind. Solidarisch statt in Konkurrenz mit anderen Frauen überprüfen sie, wo sie in Sprache, Gestik, Auftreten etc. andere Frauen herabsetzen, um Männern zu gefallen - und damit nur ausdrücken, daß sie auch von sich selbst oft noch wenig halten. Durch diese Erfahrung können Frauen miteinander ein unabhängiges Selbstwertgefühl entwickeln.
5. Frauen organisieren sich separat, weil sie erkannt haben, daß sie als einzelne aufgeschmissen sind, und um ihre Lage zu verbessern, mit vielen Frauen denen es genauso geht (Abtreibung!), zusammenarbeiten müssen. Die Misere ihrer Lage (Verantwortung für die Kinder, schlechtere Ausbildung, Einsamkeit in der Vorstadt ete.) wird von Frauen erlebt. Männer können sie nur theoretisch "nachempfinden". Deshalb müssen Frauen aktiv werden, weil nur sie wissen, was ihnen stinkt und wie sie anders leben wollen.
6. Frauen organisieren sich separat, um ihre eigensten Ansprüche, entwickelt aus der Tatsache ihrer besonderen Unterdrückung, ihre Vorstellungen von ihrer Zukunft im gemeinsamen Kampf mit anderen Gruppen wirkungsvoll durchsetzen zu können, so daß eine Zukunft nicht schon wieder ohne sie und über ihre Köpfe hinweg gemacht wird. Diese Ansprüche gehen weiter, als eine formale oder inhaltliche Gleichberechtigung mit Männern zu erstreben. Indem Frauen die jetzigen Zustände zwar als kapitalistisch, besonders aber auch als "patriarchalisch", als "männlich" erfahren, wollen sie mehr und etwas anderes als was Männer schon haben. Frauen, die sich miteinander solidarisiert haben, können nicht mehr wünschen, wie Männer über Frauen, Männer, Kinder und Völker zu herrschen.

 

 

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Maria Friese: Wie geht es der Familie, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.10.1991
Maria Friese: Wie geht es der Familie, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.10.1991
Maria Friese: Wie geht es der Familie, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.10.1991

Maria Friese: Wie geht es der Familie, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.10.1991

Krisenhafte Symptome zeichnen die Familie nun schon seit Jahrzehnten. Der Übergang von der Großfamilie zur drei- oder vierköpfigen Kernfamilie ist mit gelegentlichen Verlustgefühlen verbunden. Der Wandel von einer Selbstversorger-Gemeinschaft zur Vereinzelung in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft macht vielfältige Kompensationen nötig. Früher selbstverständliche Kontakte verkümmern oder sind nur mit besonderen Bemühungen aufrechtzuerhalten. Arbeit und Familie, einst untrennbar eng miteinander verflochten, sind zu zwei verschiedenen Welten geworden, zwar abhängig voneinander, aber doch auch in fast feindlicher Rivalität. Schließlich die "Neue Frau", die beides will- Beruf und Familie - und deshalb mindestens drei Rollen gleichzeitig übernehmen muß, weil der "Neue Mann" sich weigert oder einfach noch nicht in der Lage ist, das familiäre Gleichgewicht auszutarieren und der Frau einen besseren Platz in der Arbeitswelt einzuräumen. Immer mehr Familien brechen auseinander, weil die Ansprüche aneinander unerträglich erscheinen. Jede dritte Ehe wird geschieden. In Amerika bereits jede zweite. Und nicht nur das, die Beziehungen zwischen den Generationen reißen ab. Daß Großeltern mit Kindern und Enkeln zusammenleben, ist die Ausnahme, entferntere Verwandtschaft spielt kaum noch eine Rolle. Kinder sind mehr denn je allein auf ihre Eltern angewiesen. Ist die Familie also ein von Krisen, Überlastung und Entfremdung bedrohtes geschrumpftes Ensemble, das seinen Part nicht mehr spielen kann und deshalb laut um Hilfe nach dem Staat schreit? ...
Das alte Familienmodell war eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der Gefühle wie Liebe sich wohl entwickelten, aber nicht die entscheidende Voraussetzung für den Zusammenhalt waren. Kinder waren als Erben erwünscht und später als Versorger ihrer alten Eltern nötig, auf ihre Bedürfnisse nahm man wenig Rücksicht. Heute stehen Eltern voll im Dienst ihrer Kinder, an deren Wohlergehen und Erfolgen in der Schule oder im Sportverein sie ihre eigene Qualität messen. Es sind beachtliche Anstrengungen nötig, um den Ansprüchen, die sie selbst oder die Nachbarschaft stellen, zu genügen. Nichts mehr, so scheint es, ist selbstverständlich. Denn nur selten sind unsere Lebensverhältnisse Kindern angemessen. Stadtplaner haben zwar "autogerechte" Entwürfe entwickelt, oft aber die Bedürfnisse von Familien vernachlässigt. Für Kinder ist in manchen Stadtteilen kein Platz mehr. ...
Ehen werden heute später geschlossen, weil die Ausbildung länger dauert, weil auch Frauen im Beruf Fuß fassen möchten, bevor sie sich fest binden. Der Wunsch nach Kindern wird hinausgezögert, nicht selten auch bewußt verdrängt oder ganz aufgegeben. Oft leben Paare lange zusammen, bevor sie sich entschließen, zu heiraten, manchmal verzichten sie überhaupt darauf; auch Kinder sind nicht immer ein Grund, zum Standesamt zu gehen. Ob verheiratet oder nicht, in ihrer Lebensgemeinschaft ähneln sich die Paare. Eine Gefahr für die Familie, wie vielfach vermutet wird, sind die "wilden Ehen" nicht. Sie nehmen ja auch ernst, was die Familie zusammenhält: Treue, Rücksicht, Gemeinsamkeit. Nur möchten sie sich ihre Freiwilligkeit nicht durch einen amtlichen Akt, wie sie es sehen, beeinträchtigen lassen. Trennungen sind bei Ehen ohne Trauschein genauso schmerzlich wie bei jenen, die sich im Standesamt oder in der Kirche "für immer" verbunden haben ....
Heute wollen die meisten jungen Frauen - nicht anders als ihre Männer - beides, Beruf und Familie. Das heißt, beide, Mann und Frau, brauchen, um ihre Wünsche erfüllen zu können, Entlastung. Beide sind häufig gleich gut ausgebildet und gerade dabei, Karriere zu machen, zumindest aber finden beide einen großen Teil Befriedigung im Beruf. Doch nach wie vor sind die Chancen ungleich verteilt. Sobald sie Kinder bekommt, gerät die Frau im Beruf ins Hintertreffen. Sie findet einfach nicht die treue Seele, die ihr die Arbeit Zu Haus abnimmt. Großmütter sind nicht zur Stelle, und Kindergärten und Horte, sofern sie da überhaupt einen Platz bekommt, entsprechen nicht immer ihren Vorstellungen. Die Neuen Väter, die freudig ihren Beruf an den Nagel hängen und als Hausmann Familiendienst leisten, sind bisher vielbeachtete und, je nachdem, hochgelobte oder bespöttete Ausnahmeerscheinungen geblieben ....
Familienfrauen haben inzwischen gelernt, daß Emanzipation nicht unbedingt mit bezahlter Arbeit zusammenhängt - das selbstverdiente Geld kann sie allerdings erleichtern. Nur sollte "Familienfrau" ein freiwillig akzeptierter Status sein, ja auch als Privileg empfunden werden und nicht aufgezwungen sein mangels geeigneter Möglichkeiten oder verpaßter Berufschancen. Auch Selbstverwirklichung, das zweite Stichwort, das zeitweise ein Reizwort war, ist nicht nur am Arbeitsplatz außer Haus zu finden. Frei verfügbare Zeit ist heute vielleicht das Kostbarste, was wir haben. Einen Sinn in dieser freien Zeit finden, an der es Berufstätigen oft so mangelt, Aufgaben übernehmen und Initiativen ergreifen - das gelingt heute immer mehr Frauen. Allein oder noch öfter zu mehreren setzen sie ihre Interessen durch, schließen sich Zu Selbsthilfegruppen zusammen, gründen zweckbestimmte Initiativen, gewinnen auch Männer für ihre Vorhaben.
Was wäre unser Gemeinwesen, wenn es diese Reserven nicht gäbe, und was wären die Familien ohne solche Kraftquellen? Schulen und Kindergärten rechnen fest mit unterstützender Elternarbeit. Oft entstehen gerade dort, wo es um die Interessen der Kinder geht, aktive Kleingruppen. die sich darum kümmern, daß Spielplätze gebaut oder Verkehrsumleitungen beschlossen werden. Darüber hinaus führt der Weg von solcher Art Einsatz und Verantwortungsgefühl nicht selten unmittelbar in die Kommunalpolitik. Immer mehr Frauen sind dort vertreten. Familienarbeit. und erst recht, wenn sie über den engen Rahmen der Familie erweitert wird, macht kompetent für viele Entscheidungen im Gemeinwesen.

 

 

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Kritik des rationalen Denkens. Aus Fritjof Capras Buch "Wendezeit", 1988

Kritik des rationalen Denkens. Aus Fritjof Capras Buch "Wendezeit", 1988

Unsere Kultur ist überaus stolz auf ihre Wissenschaftlichkeit und bezeichnet unsere Zeit als das Wissenschaftliche Zeitalter. Es wird vom rationalen Denken beherrscht; wissenschaftliche Kenntnisse gelten oft als die einzig annehmbare Art von Wissenschaft. Daß es ein intuitives Wissen oder Bewußtsein geben kann, das genauso gültig und zuverlässig ist, wird im allgemeinen nicht anerkannt. ...
Wie sehr unsere Kultur das rationale Denken bevorzugt, wird in knappster Form an der berühmten Feststellung von Descartes deutlich "Cogito ergo sum" - "Ich denke, also bin ich". Dieser Satz ermutigt den Menschen der abendländischen Kultur, sich eher mit dem rationalen Verstand als mit seinem ganzen Organismus zu identifizieren .... Indem wir uns allein auf unseren Verstand verlassen, haben wir vergessen, wie wir mit unserem ganzen Körper zu "denken" vermögen und wie wir ihn als Vermittler von Wissen nutzen können. So haben wir uns von unserer natürlichen Umwelt isoliert und vergessen, wie wir mit einer Vielfalt von Organismen kommunizieren und kooperieren können.
Die Spaltung von Geist und Materie führte dazu, das Universum als ein mechanisches System zu sehen, das aus getrennten Objekten besteht, die ihrerseits auf fundamentale Bausteine der Materie zu reduzieren sind, deren Eigenschaften und Wechselspiel alle Naturerscheinungen bestimmen. Diese kartesianische Vorstellung von der Natur wurde dann auch auf die lebenden Organismen übertragen, die man als aus getrennten Teilen konstruierte Maschinen ansah ....
Die heutige gesamtgesellschaftliche Krise (ist) eine Folge der Tatsache, daß wir versuchen, die Begriffe einer längst überholten Weltanschauung - des mechanistischen Weltbildes der kartesianisch-Newtonsehen Naturwissenschaft - auf eine Wirklichkeit anzuwenden, die sich mit den Begriffen dieser Vorstellungswelt nicht mehr begreifen läßt. Wir leben heute in einer in allen Aspekten auf globaler Ebene verwobenen Welt, in der sämtliche biologischen, psychologischen, gesellschaftlichen und ökologischen Phänomene voneinander abhängig sind. Um diese Welt angemessen beschreiben zu können, brauchen wir eine ökologische Anschauungsweise, welche das kartesianische Weltbild uns jedoch nicht bietet.
Es fehlt uns also ein neues "Paradigma" - eine neue Sicht der Wirklichkeit; unser Denken, unsere Wahrnehmungsweise und unsere Wertvorstellungen müssen sich grundlegend wandeln.

 

 
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Was soll das neue "Paradigma" leisten?
Was soll das neue "Paradigma" leisten?
Was soll das neue "Paradigma" leisten?
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Der Umschlag in die Irrationalität. Aus einem Aufsatz von Christof Schorsch, 1989

Der Umschlag in die Irrationalität. Aus einem Aufsatz von Christof Schorsch, 1989

Nicht daß die Moderne nicht erfolgreich gewesen wäre, sie erwies sich, im Gegenteil, in ihrer Vereinseitigung als zu erfolgreich. Es sind das technisch-industriell halbierte und ins Äußerste vorangetriebene Fortschrittsprojekt, der SelbstIauf der Mittel und die Korruption durch Geld und Macht, welche nicht nur in die Krise, sondern auch zum dialektischen Umschlag des modernen Denkens in neue A- und Ir-Rationalität geführt haben. Hierin kommt das wachsende Unbehagen an der wissenschaftlich-technischen Zivilisation besonders deutlich zum Ausdruck. Denn weithin wird Vernunft nicht mehr im emphatischen Sinn als Medium von Aufklärung und Emanzipation verstanden, sondern als Herrschaftsinstrument und als Gedankenpolizei - oder sogar als Urheberin aller Übel dieser, der modernen Welt. Wo Rationalität insgesamt abgewirtschaftet zu haben scheint (und nicht bloß ihre Engführung auf formale Zweckrationalität), sucht man Wissen und Weisheit beispielsweise in den magischen und mythischen Überlieferungen sogenannter Naturvölker und in den vom kulturellen Hauptstrom der Moderne verdrängten und verschütteten Traditionen .... "Wiederverzauberung der Welt" könnte in der Tat das von der New-Age-Bewegung verfolgte Gegenprogramm zum "Projekt der Moderne" lauten. Wurde in den sechziger und siebziger Jahren das Prinzip Hoffnung rein innerweltlich und in erster Linie politisch verstanden, so richten sich die Hoffnungen jetzt auf Überwindung der Vernunft durch ihr Anderes, auf Entzauberung eier Ratio und die frei schwebende Einbildungskraft. Darin ist die New-Age-Bewegung ein nachgerade postmodernes Phänomen ....
Postmodernismus - das ist Denken in der Krise in dem doppelten Sinn, daß dieses Denken nicht nur in der Krise situiert, sondern selbst krisenhaft ist, insofern als es seinen rationalen Grundlagen nicht mehr vertraut und den aufklärerischen Anspruch aufgibt, Ordnung in die heillose Verwirrung der Welt bringen zu wollen. Statt dessen identifiziert es Ordnung mit Terror und ist gegenüber seinen eigenen universalistischen Ansprüchen zutiefst mißtrauisch. Aufgrund dessen ist es ein wesentliches Merkmal der Postmoderne, daß die Gültigkeit der einen Vernunft, der einen Geschichte, der einen Subjektivität forciert bestritten wird. Laßt viele Blumen blühen, dieses Motto der Postmoderne steht für das Ende der neuzeitlichen Grundideen. der wissenschaftlichen Wahrheitssuche. eier Weltgeschichtsphilosophien Lind der sozial-utopischen Globalentwürfe. Das bedeutet im Extremfall freilich auch die Abkehr vom Sonderweg der abendländischen Kultur (die meist aber mehr verkündet als tatsächlich vollzogen wird).

 

 

 

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Bevölkerungsveränderungen von 1980 bis 1990 (in Tausend)
Bevölkerungsveränderungen von 1980 bis 1990 (in Tausend)
Bevölkerungsveränderungen von 1980 bis 1990 (in Tausend)
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Deutschland nur den Deutschen? Aus einer Streitschrift von Ute Knight und Wolfgang Kowalsky, November 1991

Deutschland nur den Deutschen? Aus einer Streitschrift von Ute Knight und Wolfgang Kowalsky, November 1991

Um unvoreingenommen, das heißt ohne ideologische Scheuklappen, die Immigrationspolitik zu sichten, sind einige liebgewordene Gewohnheiten abzulegen. Der einen, der rechten Seite ist vorzuhalten, daß "deutschstämmig" ein Begriff ist, der aus dem vorigen Jahrhundert herrührt und mit dem die NS- Ideologen ihr rassistische Politik begründet haben - mit anderen Worten: ein Anachronismus, verglichen mit modernen rechtlichen Auffassungen, wie sie in Frankreich oder den USA seit langem gang und gäbe sind. Eine Revision dieser fossilen Vorstellung vom "Deutschtum" ist überfällig.
Auf der anderen, der linken Seite ist der Begriff "Ausländerfeindlichkeit" zu einer Allzweckwaffe im politischen Streit um die Immigrationspolitik geworden. Jegliche Kritik an Ausländern wird so tabuisiert und unter den Verdacht der "Ausländerfeindlichkeit" gestellt. Selbsternannte "Ausländerfreunde" haben dem Begriff durch inflationäre Verwendung Substanz genommen ...
Es drängt sich der Eindruck auf, die ganze Ausländerproblematik werde von 'linker Seite angegangen unter der traumatischen Erfahrung, die Auschwitz hinterlassen hat. Folglich sei es nur recht und billig, wenn die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des NS-Staats großzügig Asyl gewährt. Dieser Logik zufolge hätten die Deutschen ein für allemal das Recht verwirkt Ausländern den Zutritt zu verwehren. Darüber hinaus sei es unzulässig, Ausländern Regeln vorzuschreiben ...
Auf das Bekenntnis "Deutschland über alles" antworten viele Linke mit der gegenteiligen Aussage. In Berlin war zu lesen: "Ausländer! Lqßt uns mit den Deutschen nicht allein" ...  Xenophilie und deutscher Selbsthaß erscheinen als zwei Seiten einer Medaille. Diese Verbindung ist bei den Grünen häufig anzutreffen. In ihren Darstellungen erscheinen die Bundesrepublik und ihr Verhalten gegenüber Ausländern als abgrundtiefschlecht, als rassistisch, diskriminierend, die Ausländer als gut und nett, als exotische Farbtupfer im grauen deutschen Einerlei. Die Ausländer brächten "Anregung" und "Bereicherung". Alle Bedingungen, an die die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geknüpft ist, erhalten etwas Anrüchiges…
Sicher existiert Fremdenhaß in Deutschland wie auch in anderen Ländern, aber er ist kein vorherrschendes Phänomen. Die Behauptung der Deutsche sei "fremdenfeindlicher" als ein Durchschnittsfranzose, -engländer oder -italiener, ist eine Legende, um deren Aufrechterhaltung sich einige Linke eifrig bemühen.
Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die miserable Situation in der viele Ausländer leben, wird mit Vorliebe ausgeblendet, daß in deutschen Landen nicht nur viele Ausländer, sondern auch viele Deutsche vom Wohlstandskuchen nur Krümel abbekommen: Hunderttausende von Obdachlosen, Millionen, die ihre Arbeit dauerhaft verloren haben, zahlreiche Menschen, die Objekte der Sozialfürsorge geworden sind, Bezieher kleiner Renten. Wenn die Leitlinie sein soll, die Ausgeschlossenen der Zwei-Drittel-Gesellschaft zu integrieren, dann muß sie verallgemeinerbar sein, das heißt, es muß um alle gehen und nicht nur um einige. Es zeugt von Einseitigkeit, mit Eifer
alle möglichen Diskriminierungen bei Ausländern aufzuspüren ...
Es kann kein Zufall sein, daß im Zusammenhang mit Immigration stets der Nationalismus zur Sprache kommt. Das Thema "deutsche Nation(alität)" ist für Linke wie für Rechte heikel aufgrund der besonderen deutschen Vergangenheit, nicht zuletzt der NS-Zeit.
Solange die deutsche Linke ein gestörtes Verhältnis zur Nation hat, kann sie sich zu einer nationalen Immigrationspolitik nicht durchringen; denn eine solche Politik unterstellt eine gewisse Homogenität der Einheimischen. Eine solche Sicht der Dinge widerspricht Gesellschaftskonzeptionen, die von einem alles determinierenden Klassengegensatz, einer tiefgehenden Zerrissenheit der Gesellschaft, ausgehen und ein Gemeinsames Schlichtweg leugnen oder für irrelevant erklären.
Viele Linke vermögen keinen Unterschied zwischen Nationalbewußtsein und Nationalismus zu erkennen; für sie ist der Nationalismus ein Zwillingsbruder des Faschismus. Mit anderen Worten: Wer von Nation redet, ist schon ein potentieller Faschist. Jeder Deutsche weiß, daß der letzte große nationale Rausch in Auschwitz endete. Diese Erfahrung hat tiefe Spuren hinterlassen.
Die Deutschen sind seit der NS-Zeit dagegen, daß die Individualität auf dem Altar der Nation geopfert wird. Eine plausible Auffassung von Nation ist möglich. Jürgen Habermas hat den Begriff des „Verfassungspatriotismus" in die Diskussion eingebracht, um ein in der deutschen Geschichte neuartiges Pflänzchen, die demokratisch-republikanische Verbundenheit mit den Grundsätzen der Nation, zu benennen. Zum ABC der Linken sollte gehören: Es gibt eine deutsche Nation, eine nationale Gemeinschaft, ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, aber - und dies gehört ins Stammbuch der Rechten - dieses Nationalgefühl ist nicht herzuleiten aus Rasse oder Blut.
Das Problem ist kein nationales, sondern ein internationales: Vielen lmmigranten erscheint das Haus Europa als ein Palast, und der Anstieg der Flüchtlingszahlen und der Asylanträge ist ein weltweites Phänomen. Darauf angemessen zu reagieren ist eine Herausforderung unserer Zeit. Eine Abstimmung mit den europäischen Nachbarn ist unerläßlich. Bislang existiert kein gesamteuropäisches Einwanderungskonzept. Ein Bestandteil einer europäischen Einwanderungspolitik wäre eine "kontrollierte Öffnung". Wie die aussehen könnte demonstriert seit langem die USA, Australien und Kanada: Sie kontingentieren die Zuwanderung. Gemeinsam entscheiden Vertreter aller gesellschaftlich relevanten Gruppen über das Kontingent...
Anders sieht die Situation in der Bundesrepublik aus. Hier gilt weiterhin das obsolete Prinzip des ius sanguinis. Daher können Polen, Rumänen, Sowjetbürger und andere, die weder Deutsch sprechen noch jemals deutschen Boden betreten haben, allein aufgrund der Tatsache, daß sie eine Bescheinigung über die Existenz deutscher Vorfahren vorlegen können, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.
Hingegen können türkische Jugendliche der zweiten oder dritten Generation, die ihr ganzes Leben in der Bundesrepublik verbracht haben und mit der deutschen Kultur, Arbeits- und Lebensweise bestens vertraut sind, die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erlangen - es sei denn, sie legten die eigene, die türkische Staatsangehörigkeit ab ...
Die politische Krankheit "Mangel des Willens" lähmt in Deutschland jede beherzte politische Initiative. Eine Quotierung ist nötig und klare Regeln, wer bleiben darf und wer nicht. Denn jedes Land hat das Recht, selbst demokratisch zu bestimmen, wie viele Immigranten aufgenommen werden sollen.

 

 

 

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Das Ende des kalten Krieges und die Wiederherstellung der Deutschen Einheit

1. Der KSZE-Prozeß und die Europäische Integration von der Helsinki-Konferenz 1975 bis zur Ära Gorbatschow

Die europäische Integration hatte im Zeichen des Kalten Krieges 1957 als westeuropäische Integration mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge und Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch sechs Staaten einen ersten Abschluß gefunden. Zusammen mit der "Europäischen Atomgemeinschaft" und der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl"
(Montanunion) bildet dieser Zusammenschluß seit 1967 in Form der "Europäischen Gemeinschaften" (EG) einen westeuropäischen Verbund mit gemeinsamer Führungsspitze (EG-Kommission, Ministerrat) und gemeinsamem Parlament.
Von Anfang an bestand das Ziel einer Fortbildung der Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Politischen Union und zur Erweiterung des Mitgliederkreises - wenn auch mit unterschiedlichen Vorbehalten bei den verschiedenen EG-Staaten. Tatsächlich vergrößerte sich die ursprüngliche Sechser-Gemeinschaft in den Jahren 1973, 1981 und 1986 durch Hinzutritt weiterer Länder zur Zwölfer-Gemeinschaft (Stand 1990). Obwohl die EG für die beteiligten Staaten zugleich eine Freihandelszone und Zollunion herstellte, existierten nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Steuer-, Wirtschafts- und Sozialgesetze weiterhin Barrieren im zwischenstaatlichen Waren- und Kapitalverkehr. Die 1985 in Luxemburg beschlossene "Einheitliche Europäische Akte" verpflichtete die EG-Kommission und die Mitgliedsstaaten zur Etablierung der Voraussetzungen für einen einheitlichen Binnenmarkt bis zum 31. 12. 1992 und damit zur Harmonisierung von Steuer-, Wirtschafts- und Sozialgesetzen. Sie stellte einen bedeutenden Fortschritt in Richtung auf eine immer engere Integration der westeuropäischen
Länder dar. Die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Notenbank, einer einheitlichen Währung, einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie schließlich einer Politischen Union bleiben die weitergehenden Ziele. Vergeblich versuchte die Sowjetunion, der westeuropäischen Integration eine entsprechende osteuropäische entgegenzustellen. Paradoxerweise leitete sogar Anfang der siebzig er Jahre der von der Sowjetunion immer wieder vorgebrachte Wunsch nach einer Fixierung des Status quo und der Anerkennung ihres Besitzstandes in Osteuropa durch eine europäische Sicherheitskonferenz eine Entwicklung mit ein, die schließlich in die Auflösung des Ostblocks und in die Wiedervereinigung Deutschlands mündete. Die westliche Einwilligung zu einer solchen Konferenz gründete auf der Hoffnung, dadurch die Härten der europäischen Teilung mildern und die Menschenrechte in den osteuropäischen Staaten besser sichern zu können. Die Schlußakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", die nach dreijährigen Verhandlungen am 1. 8. 1975 von 33 europäischen Staaten sowie von den USA und Kanada in Helsinki feierlich unterzeichnet wurde, trug diesen unterschiedlichen Erwartungen Rechnung. In dem sogenannten Dekalog, dem eigentlichen Kern der Akte, garantierten die Unterzeichnerstaaten einerseits die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa und verpflichteten sie sich andererseits dazu die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit zu achten und einzuhalten.
Da die KSZE-Konferenz nicht als einmalige Veranstaltung konzipiert war, sondern seit 1975 regelmäßige Folgekonferenzen zur Überprüfung und zum weiteren Ausbau des bisher Erreichten stattfanden, unterstützte diese eine Entwicklung, die schließlich im Jahre 1989/90 zu einer Überwindung des europäischen Status quo führte. Am 21. 11. 1990 unterzeichneten die Teilnehmerstaaten auf der Pariser KSZE-Konferenz die "Charta für ein neues Europa", mit der der Schlußstrich unter die Konfrontation der Nachkriegszeit gezogen und ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der europäischen Einheit deklariert wurde.

Aus der Schlußakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE), verabschiedet in Helsinki am 1. August 1975
Aus der Schlußakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE), verabschiedet in Helsinki am 1. August 1975

Aus der Schlußakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE), verabschiedet in Helsinki am 1. August 1975

1. Prinzipien der Beziehungen

a) Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der
Teilnehmerstaaten leiten:

Die Teilnehmerstaaten, unter Bekräftigung ihrer Verpflichtung zu Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit ... erklären ihre Entschlossenheit, die folgenden Prinzipien, '" zu achten und in die Praxis umzusetzen:
I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte: Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit: Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen ....
II. Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt: Die Teilnehmerstaaten werden sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in ihren internationalen Beziehungen im allgemeinen der
Androhung oder Anwendung von Gewalt, die gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet oder auf irgendeine andere Weise mit den Zielen der UN und mit der vorliegenden Erklärung unvereinbar ist, enthalten ....
III. Unverletzlichkeit der Grenzen: Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben.
IV. Territoriale Integrität der Staaten: Die Teilnehmerstaaten werden die territoriale Integrität eines jeden Teilnehmerstaates achten ....
V. Friedliche Regelung von Streitfällen: Die Teilnehmerstaaten werden Streitfalle zwischen ihnen mit friedlichen Mitteln auf solche Weise regeln, daß der internationale Frieden und die internationale Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden…
VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten: Die Teilnehmerstaaten werden sich ungeachtet ihrer gegenseitigen Beziehungen jeder direkten oder indirekten, individuellen oder kollektiven Einmischung in die inneren oder äußeren Angelegenheiten enthalten, die in die innerstaatliche Zuständigkeit eines anderen Teilnehmerstaates fallen. Sie werden sich dementsprechend jeder Form der bewaffneten Intervention oder der Androhung einer solchen Intervention gegen einen anderen Teilnehmerstaat enthalten. '"
VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit: Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen. In diesem Rahmen werden die Teil- nehmerstaaten die Freiheit des Individuums anerkennen und achten, sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion oder einer Überzeugung in Übereinstimmung mit dem, was sein Gewissen ihm gebietet, zu bekennen und sie auszuüben. Die Teilnehmerstaaten, auf deren Territorium nationale Minderheiten bestehen, werden das Recht von Personen, die zu solchen Minderheiten gehören, auf Gleichheit vor dem Gesetz achten; sie werden ihnen jede Möglichkeit für den tatsächlichen Genuß der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewähren und werden auf diese Weise deren berechtigten Interessen in diesem Bereich schützen. Die Teilnehmerstaaten anerkennen die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen ist, die ihrerseits erforderlich sind, um die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen sowie zwischen allen Staaten zu gewährleisten. Sie werden diese Rechte und Freiheiten in ihren gegenseitigen Beziehungen stets achten und sich einzeln und gemeinsam, auch in Zusammenarbeit mit den UN, bemühen, die universelle und wirksame Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern. Sie bestätigen das Recht des Individuums, seine Rechte und Pflichten auf diesem Gebiet zu kennen und auszuüben. Auf dem Gebiet der Menschenrechte und Grundfreiheiten werden die Teilnehmerstaaten in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der UN und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handeln. Sie werden ferner ihre Verpflichtungen erfüllen, wie diese festgelegt sind in den internationalen Erklärungen und Abkommen auf diesem Gebiet, soweit sie an sie gebunden sind, darunter auch in den Internationalen Konventionen über die Menschenrechte.
VIII. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker: Die Teilnehmerstaaten werden die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht achten ....
IX. Zusammenarbeit zwischen den Staaten: Die Teilnehmerstaaten werden ihre Zusammenarbeit miteinander und mit allen Staaten in allen Bereichen gemäß den Zielen und Grundsätzen der Charta der UN entwickeln ....
X. Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und GIauben: ... Die Teilnehmerstaaten erklären ihre Entschlossenheit, diese Prinzipien, so wie sie in der vorliegenden Erklärung dargelegt sind, voll in allen Aspekten in ihren gegenseitigen Beziehungen und ihrer Zusammenarbeit zu achten und anzuwenden, umjedem Teilnehmerstaat die Vorteile zu sichern, die sich aus der Achtung und der Anwendung dieser Prinzipien durch alle ergeben ....

 

 
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Der EG-Gipfel in Luxemburg am 2./3. Dezember 1985: Die in Luxemburg beschlossene institutionelle Reform der Gemeinschaft bildete die Grundlage der "Einheitlichen Europäischen Akte", die am 17./18. Februar1986 von den Außenministern der EG unterzeichnet wu
Der EG-Gipfel in Luxemburg am 2./3. Dezember 1985: Die in Luxemburg beschlossene institutionelle Reform der Gemeinschaft bildete die Grundlage der "Einheitlichen Europäischen Akte", die am 17./18. Februar1986 von den Außenministern der EG unterzeichnet wu
Der EG-Gipfel in Luxemburg am 2./3. Dezember 1985: Die in Luxemburg beschlossene institutionelle Reform der Gemeinschaft bildete die Grundlage der "Einheitlichen Europäischen Akte", die am 17./18. Februar1986 von den Außenministern der EG unterzeichnet wu
Der EG-Gipfel in Luxemburg am 2./3. Dezember 1985: Die in Luxemburg beschlossene institutionelle Reform der Gemeinschaft bildete die Grundlage der "Einheitlichen Europäischen Akte", die am 17./18. Februar1986 von den Außenministern der EG unterzeichnet wu
Der EG-Gipfel in Luxemburg am 2./3. Dezember 1985: Die in Luxemburg beschlossene institutionelle Reform der Gemeinschaft bildete die Grundlage der "Einheitlichen Europäischen Akte", die am 17./18. Februar1986 von den Außenministern der EG unterzeichnet wurde
 

Am 2. und 3. Dezember fand in Luxemburg die 33. Konferenz der Staatsbzw. Regierungschefs der EG-Staaten statt. Bei dieser Gelegenheit einigten sich die 10 EG-Länder nach 30stündigen Verhandlungen über eine institutionelle Reform der Gemeinschaft, deren Kernpunkte folgende sind: 1. Einführung eines weitgehend durchlässigen Binnenmarktes bis Ende 1992; für Richtlinien zur Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung sollen im wesentlichen Mehrheitsentscheidungen ausreichen; Einstimmigkeit wird u. a. für die Angleichung der MWSt-Sätze verlangt; nationale Sonderregelungen dürfen keine willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Behinderung des innergemeinschaftlichen Handelns darstellen; die Kommission und jedes Mitgliedsland können den Europäischen Gerichtshof anrufen, wenn sie glauben, daß ein Mitglied diese Vollmachten mißbraucht. 2. Ausweitung der Zuständigkeiten der EG in Fragen der Währung; in der Präambel erklären sich die Mitgliedsstaaten bereit, die Konvergenz ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik zu sichern und zu diesem Zweck zusammenzuarbeiten; dabei sollen Erfahrungen mit dem EWS und dem ECU berücksichtigt werden; institutionelle Änderungen müssen einstimmig beschlossen und von den Parlamenten gebilligt werden; vorher sind die Kommission, der Währungsausschuß und die Notenbanken zu konsultieren. 3. Technologie-Politik und Umweltschutz gehören künftig zu den EG-Aufgaben; die Gemeinschaft kann einstimmig mehrjährige Rahmenprogramme in der technologischen Forschung beschließen und mehrheitlich Sonderprogramme mit festgelegter Dauer und feststehenden Modalitäten verabschieden. 4. Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments; danach soll der Rat fortan seine Beschlüsse dem EP zuleiten, das innerhalb von drei Monaten dazu Stellung nehmen kann; das Parlament kann mit absoluter Mehrheit Ratsbeschlüsse ablehnen oder Abänderungen vorschlagen; der Rat kann solche Entscheidungen in zweiter Lesung nur einstimmig umstoßen. 5. Intensivierung der außenpolitischen Zusammenarbeit im Rahmen der EPZ, wobei auch sicherheitspolitische Konsultationen vorgesehen sind; für die Koordinierung soll ein Sekretariat in Brüssel geschaffen werden; die Außenminister der EG sollen sich mit einem Kommissionsmitglied viermal im Jahr zu EPZ-Sitzungen tretfen. 6. Zur Frage des Zusammenhalts ("Kohäsion") der EG heißt es: "Die Gemeinschaft entwickelt und verfolgt weiterhin eine Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung einer EG als Ganzes zu fördern. Sie setzt sich insbesondere zum Ziel, das Gefälle zwischen den verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern ... Die Gemeinschaft unterstützt diese Bemühungen durch die Politik, die sie mit Hilfe der Strukturfonds, der EIB und der sonstigen vorhandenen Finanzierungsinstrumente verfolgt." (HPA- Nachrichtenspiegel)

 
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Das gemeinsame Haus Europa. Auszug aus Michail Gorbatschows Buch "Perestroika", 1987

Das gemeinsame Haus Europa. Auszug aus Michail Gorbatschows Buch "Perestroika", 1987

Notwendigkeit:
Imperative für eine gesamteuropäische Politik

 

 

Man kann eine ganze Reihe von sachlichen Argumenten aufzählen, die eine gesamteuropäische Politik notwendig machen:
1. Das dicht besiedelte und stark urbanisierte Europa ist sowohl mit Kernwaffen als auch mit konventionellen Waffen gespickt .... Tausende von nuklearen Sprengköpfen werden hier gelagert, während lediglich einige Dutzend ausreichen würden, um Europa in eine Hölle zu verwandeln.
2. Selbst ein konventioneller Krieg hätte heute für Europa katastrophale Folgen, von einem Atomkrieg ganz zu schweigen .... Die Zerstörung ... im Laufe konventioneller Feindseligkeiten würde den Kontinent unbewohnbar machen.
3. Europa gehört zu den industriell am höchsten entwickelten Regionen der Welt. Industrie und Transportwesen haben sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem die Gefahr für die Umwelt fast schon kritisch wird. Dieses Problem geht bereits über nationale Grenzen hinaus und erstreckt sich heutzutage auf ganz Europa.
4. In beiden Teilen Europas vollziehen sich in zunehmendem Maß Integrationsprozesse .... Die Erfordernisse der wirtschaftlichen Entwicklung in bei den Teilen Europas sowie der wissenschaftliche und technologische Fortschritt machen es notwendig, unverzüglich nach einer Form der Zusammenarbeit zu suchen, die für beide Seiten von Vorteil ist. Ich meine damit nicht eine Art "europäische Autarkie", sondern eine bessere Nutzung des gesamten europäischen Potentials zum Wohle der Menschen und in Verbindung mit der übrigen Welt.
5. Die beiden Teile Europas haben eine Menge vom eigenen Problemen, die unter dem Zeichen des Ost-West-Konflikts stehen, aber sie haben auch ein gemeinsames Interesse daran , das äußerst dringliche Nord-Süd-Problem zu lösen. Das heißt natürlich nicht, daß die Länder Osteuropas sich an der Verantwortung für die koloniale Vergangenheit der Westmächte beteiligen. Doch darum geht es nicht. Wenn man das Schicksal der Völker in den Entwicklungsländern außer acht läßt und über das vordringliche Problem der Überwindung der Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern hinwegsieht, dann könnte das für Europa und die übrige Welt verheerende Folgen haben ....
Dies sind im großen und ganzen die Imperative einer gesamteuropäischen Politik, wie sie von den Interessen und Bedürfnissen Europas als einem  einheitlichen Ganzen bestimmt wird.

 

 

Möglichkeiten für Europa

 

 

Und nun zu den Möglichkeiten der Europäer und zu den notwendigen Voraussetzungen für das Zusammenleben in einem "gemeinsamen Haus".
1. Die Nationen Europas haben in den beiden Weltkriegen sehr schmerzliche und bittere Erfahrungen gemacht. Das Bewußtsein, daß der Ausbruch eines neuen Krieges verhindert werden muß, hat sich tief in ihr Gedächtnis eingeprägt. Es ist kein Zufall, daß es gerade in Europa die größte und maßgeblichste Antikriegsbewegung gibt und daß sie alle sozialen Schichten umfaßt.
2. Was die Handhabung internationaler Angelegenheiten betrifft, so ist die politische Tradition Europas die reichhaltigste der Welt. Die europäischen Staaten haben realistischere Vorstellungen voneinander, als dies in jeder anderen Region der Fall ist. Ihre gegenseitige politische "Bekanntschaft" ist umfassender, dauert bereits länger und ist daher enger.
3. Kein anderer Kontinent verfügt insgesamt gesehen über ein derart weitverzweigtes Netz von bilateralen und multilateralen Handelsbeziehungen, Konferenzen, Verträgen und Kontakten aufnahezu jeder Ebene. Es spricht für Europa, daß es eine in der Geschichte der internationalen Beziehungen einmalige Leistung wie die Vereinbarungen von Helsinki zustande
gebracht hat. ...
4. Das wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Potential Europas ist gewaltig. Es ist zwar verzettelt, und die Kraft eier Abstoßung zwischen Ost und West ist größer als die Anziehungskraft. Dennoch sind der gegenwärtige Stand der Dinge in wirtschaftlicher Hinsicht sowohl im Westen als auch im Osten sowie die realen Aussichten so, daß sie es durchaus ermöglichen, einen Weg für eine Verknüpfung von ökonomischen Prozessen in beiden Teilen Europas zum Wohle aller zu finden.
So sieht der einzig vernünftige Weg zur Weiterentwicklung der materiellen Zivilisation in Europa aus. "Von Atlantik bis zum Ural" ist Europa ein kulturhistorisches Ganzes, vereint durch das gemeinsame Erbe der Renaissance und der Aufklärung sowie der großen philosophischen und sozialen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts. Dies sind starke Magneten, die den Politikern bei ihrer Suche nach Wegen zur gegenseitigen Verständigung und Kooperation auf der Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen eine Hilfe sind. Im kulturellen Erbe Europas liegt ein enormes Potential für eine Politik des Friedens und der gutnachbarlichen Beziehungen. Im großen und ganzen findet die neue, heilsame Perspektive in Europa einen fruchtbareren Boden als in irgendeiner anderen Region, wo die beiden Gesellschaftssysteme aufeinandertreffen ....

 

 

 

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Curt Gasteyger, Die historische Bedeutung des INF-Abkommens vom 8.Dezember 1987

Curt Gasteyger, Die historische Bedeutung des INF-Abkommens vom 8.Dezember 1987

Fast scheint es inmitten dieses dramatischen Wandels, daß Europa anfangs der achtziger Jahre auf lange, vielleicht auf unabsehbare Zeit hinaus seinen letzten Kampf um neue nukleare Rüstung ausgetragen hat. [so Kap. III, 1.] Vier Jahre nach der Dislozierung der amerikanischen Pershing-Raketen und Marschflugkörper (cruise missiles) in Europa und nach drei Jahren Verhandlungen kam es zum ersten Durchbruch an der "Abrüstungsfront": dem Abkommen über eine Beseitigung aller amerikanischen und sowjetischen Raketen mittlerer und längerer Reichweite (Internationale-Range Nuclear Forces = INF). Es wurde anlässlich des Besuches von Generalsekretär Gorbatschow in Washington von ihm und Präsident Reagan am 8. Dezember 1987 feierlich unterzeichnet.
Das INF-Abkommen verpflichtet die beiden Weltmächte, sämtliche Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km zu beseitigen und diesen Vorgang sowohl auf ihrem eigenen Territorium wie auf jenem der europäischen Stationierungsländer (der Bundesrepublik. Belgien, Italien, Großbritannien und den Niederlanden auf westlicher, der DDR, Polen und der Tschechoslowakei auf östlicher Seite) zu verifizieren. Verschwinden sollen also nicht nur die erwähnten amerikanischen Raketen vom Typ Pershing-2 und Pershing-lA sowie die landgestützten Marschflugkörper, sondern auch die sowjetischen Mittelstreckenraketen vom Typ SS-12 und SS.23 (500-1000 km) 211 sowie SS-4 und SS-5 (2000 km bzw. 2300 km Reichweite) und natürlich SS-20 (bis 5500 km) .
. . . Nicht nur werden erstmals ganze Kategorien nuklearer Waffen aus Europa entfernt; vielmehr wird damit ein Vorhaben in Gang gesetzt, das ohne ein erhebliches Maß an gegenseitigem Vertrauen kaum zu verwirklichen ist. Es kann somit den Auftakt zu weiteren Abrüstungsabkommen bilden. Damit wird deutlich, daß der Rüstungswettlaufnichts Zwangsläufiges an sich hat, daß er gebremst und möglicherweise sogar rückgängig gemacht werden kann. Michail Gorbatschow tat in seiner Rede vom 7. Dezember 1988 vor den Vereinten Nationen in New York einen ebenso überraschenden wie willkommenen Schritt in diese Richtung: Er kündigte einen einseitigen Abbau sowjetischer Streitkräfte um eine halbe Million Mann an. Damit löste er einen Prozeß aus, der den Weg zu einer auch konventionellen Abrüstung und einem ersten Rückzug sowjetischer und amerikanischer Streitkräfte aus Mitteleuropa öffnete.

 

 

 

 

 

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Hans-Peter Schwarz: Auf dem Weg zum post-kommunistischen Europa, Auszüge aus einem im Mai 1989 publizierten Aufsatz des Bonner Politikwissenschaftlers

2. Der Weg zur deutschen Einheit 1989-1990

Der Weg zur deutschen Einheit wurde möglich aufgrund der politisch-ökonomischen Krise der sozialistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetunion. Sie hatte zwar in jedem dieser Staaten ihr eigenes, von den nationalen Besonderheiten geprägtes Gesicht, doch lag ihr in allen Fällen der schleichende Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft und die Reformunfähigkeit der herrschenden Parteidiktaturen zugrunde. Beider Versagen hatte auch zum Zerfall der ideologischen Hegemonie der kommunistischen Weltanschauung in diesen Ländern geführt.
Den sichtbaren Anfang einer Entwicklung, die zum Zusammenbruch der sozialistischen Ordnungen in Osteuropa führte, machte Polen, wo schon zu Anfang der achtzi.ger Jahre in Gestalt der freien Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ sich eine Gegenmacht zur kommunistischen Staatsmacht herausgebildet hatte, die durch die Verhängung des Kriegsrechts (1981) nur vorübergehend an ihrer weiteren Ausbreitung gehindert werden konnte. Einen zusätzlichen Impuls erhielt die Entwicklung In Osteuropa seit 1985 durch die Einsetzung Gorbatschows als neuen Generalsekretär der KPdSU, und zwar nicht nur durch sein Reformprogramm der Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit) sondern auch durch die von ihm veranlaßte Aufhebung der Breschnew-Doktrin wodurch den osteuropäischen Ländern die gesellschaftspolitische Gestaltungsfreiheit zurückgegeben wurde. Wiederum anders als in Polen oder der Sowjetunion lagen die Dinge in der DDR. Hier waren die Gorbatschowschen Reformforderungen bei der politischen Führung auf taube Ohren gestoßen, obwohl auch in der DDR eine autoritäre Gesellschafts- und verfehlte Wirtschaftspolitik schwer auf den Menschen lastete. Der positiven Resonanz, auf die die Parolen von Perestroika und Glasnost bei den Bürgern der DDR stießen, suchte die Führung durch repressive Maßnahmen zu begegnen. andererseits sah sie sich bald immer weniger in der Lage, die oppositionellen Kräfte, die Ihre umwelt-, friedens- und gesellschaftspolitischen Anliegen vor allem im Schutz der Kirche diskutierten, bedingungslos zu unterdrücken. Nach der Fälschung der Kommunalwahlen im März 1989 stellte daher die offizielle Glorifizierung der DDR-Verhältnisse aus Anlaß der Feier des 40jährigen Gründungstages der DDR eine Provokation der Bevölkerung dar, auf die diese mit Massendemonstrationen reagierte, während zur gleichen Zeit Zehntausende über Ungarn, das seine Grenzen nach Österreich geöffnet hatte in die Bundesrepublik flüchteten.
Angesichts dieser Lage versuchte zwar eine parteiinterne Fronde durch den Sturz des starrsinnigen Generalsekretärs, Erich Honecker, den Systemerhalt zu sichern, doch scheiterte dieser Versuch an der Dynamik, die die oppositionelle Bewegung Inzwischen überall in der DDR angenommen hatte. Sehr bald verwandelte sich auch der Ruf auf den Straßen "Wir sind das Volk" in die Forderung Wir  sind ein Volk". Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ergriff Bundeskanzler Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan zur Entwicklung konföderativer Strukturen zwischen der Bundesrepublik und der DDR die politische Initiative und bereitete, auch gedrängt von der Entwicklung in der DDR selbst, zielstrebig die Einigung der beiden deutschen Staaten vor. Eine entscheidende innenpolitische Wegmarke in diesem Prozeß war der in dieser Form unerwartet klare Wahlsieg der konservativen "Allianz für Deutschland" bei den Volkskammerwahlen in der DDR am 18 März 1990, der die Voraussetzungen dafür schuf, daß die Bundesregierung und die erste frei gewählte DDR-Regierung mit Lothar de Maiziere als Ministerpräsidenten sich rasch über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 und die Modalitäten des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3, Oktober 1990 verständigen konnten.
Zur außenpolitischen Absicherung des Einigungsprozesses waren Verhandlungen mit der Sowjetunion ebenso wie mit den eigenen Verbündeten erforderlich. Nachdem Gorbatschow im Februar 1990 der staatlichen Einheit Deutschlands die grundsätzliche sowjetische Einwilligung erteilt hatte, wurden die Modalitäten der Eingliederung eines geeinten Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft auf der Grundlage sogenannter 2 + 4-Gespräche, also von Gesprächen zwischen den vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs und den beiden deutschen Staaten, ausgehandelt. Mit einer gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs der NATO- und der Warschauer-Paktstaaten im November 1990 wurde zugleich das Ende des Kalten Krieges verkündet und zeitgleich von der Pariser KSZE-Konferenz eine "Charta von Europa“ verabschiedet, die die Rückkehr Osteuropas und der Sowjetunion zu den Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte bekräftigte.

Hans-Peter Schwarz: Auf dem Weg zum post-kommunistischen Europa, Auszüge aus einem im Mai 1989 publizierten Aufsatz des Bonner Politikwissenschaftlers

 

Das europäische Staatensystem befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Viele Anzeichen sprechen für tektonische Verschiebungen, die die seit den fünfziger Jahren vertraute Geschichtslandschaft stark verändern könnten - vielleicht bis zur Unkenntlichkeit verändern. Immer in der Vergangenheit,
wenn sich das europäische Staatensystem fundamental verändert hat, ist es auch zu fundamentalen Neugestaltungen in Deutschland gekommen. Daher stellt sich die Frage: In welchem europäischen Koordinatensystem wird die Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zukunft ihren Weg suchen müssen?

Drei große Veränderungen für Europa
Drei objektive Entwicklungen in Europa erscheinen derzeit als die wichtigsten:
1. Europa erlebt den inneren Zusammenbruch des Kommunismus als Idee und als Praxis zur Organisation von Großgesellschuften. Das ist ein welthistorischer Vorgang erster Ordnung, dessen mittelfristige und langfristige Auswirkungen sich erst in Umrissen erahnen lassen. Was aus dem Zusammenbruch entsteht, ist noch nicht absehbar; aber die 40 Jahre ostmitteleurpäischer Abkoppelung von der Moderne gehen zu Ende. In der einen oder anderen Form wird es zu einer Wiedervereinigung Europas kommen.
2. Der Prozeß der europäischen Integration im EG-Rahmen hat eine Qualität erreicht, in der die beteiligten Staaten ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik - die Zentralelemente moderner Souveränität - nicht mehr autonom bestimmen können. Westeuropa befindet sich inmitten eines Entwicklungsprozesses, aus dem eine neuartige politische und wirtschaftliche Einheit entstehen muß - man kann diese nun Föderation, Union oder Konföderation nennen.
3. Parallel dazu geht das amerikanische Jahrhundert zu Ende. Die Vereinigten Staaten werden zwar weiter die stärkste Macht in der Gemeinschaft nordatlantischer Demokratien bleiben. Doch die Tage, da sie als Hegemonialmacht und alleinige Schutzmacht Westeuropas begriffen werden konnten, sind gezählt.
Die drei eben knapp skizzierten Entwicklungstrends wirken dialektisch aufeinander ein. Die Bundesrepublik Deutschland wird darauf nur dann die angemessenen Antworten finden, wenn sie diese Veränderungen in den Teilbereichen als Herausforderung eines großen, einmaligen Wandlungsprozesses begreift, in dem sich die Konturen der europäischen Staatenwelt in den Anfangen des 21. Jahrhunderts herauszuformen beginnen ....
Zusammenbruch des Kommunismus
Der innere Zusammenbruch des ost- und ostmitteleuropäischen Kommunismus, der sich heute vor aller Augen abspielt, stellt den dramatischsten Vorgang dar, den Europa seit den fünfziger Jahren erlebt hat.
Zusammenbruch des Kommunismus, was heißt das? In Polen und in Ungarn ist das marxistisch-leninistische System in allen Dimensionen zusammengebrochen: ideologisch, als wirtschaftliches Steuerungssystem, als System totalitärer Gesellschaftskontrolle durch die Staatspartei, auch als System indirekter Kontrolle zum Zweck der Sicherung sowjetischer Herrschaft. Dies heißt noch nicht, daß die kommunistische Nomenklatura ihre entscheidenden Machtpositionen geräumt hat. Aber sie ist nicht mehr in der Lage Wirtschaft Gesellschaft und die politischen Prozesse zu steuern. Die Länder sind mit den spezifisch kommunistischen Methoden nicht mehr regierbar. Und die Führungschichten der Nomenklatura müssen das offen zugeben.
. . . Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Pluralismus nicht mehr zu unterdrücken sein, welche Rückschläge es auch immer geben wird. Und was noch wichtiger ist: Von Reformkommunismus ist kaum mehr die Rede. Hoffnung auf Reformen innerhalb des sozialistischen Systems gibt es nicht mehr. Was auf der Tagesordnung steht, ist der Aufbau post-kommunistischer Systeme. Alle Augen richten sich auf die westlichen Modelle: westlicher Rechtsstaat, westliche Menschen- und Bürgerrechte, politischer Pluralismus in vielen Formen, Marktwirtschaft in vielerlei Formen, nationale Selbstbestimmung. In der Sowjetunion liegen die Verhältnisse viel komplizierter. Das Machtmonopol der Nomenklatura ist noch ungebrochen. Wie lange das Experiment Gorbatschow dauert und wie es gegebenenfalls nach ihm weitergeht, weiß niemand. Dennoch ist der Marxismus-Leninismus auch dort aus einer Phase der Stagnation in die Phase offener Dekadenz geraten ....
Es ist eine Konsequenz dieser inneren Schwäche, daß die Sowjetunion derzeit nicht mehr in der Lage ist, den tiefgreifenden Wandel in Ostmitteleuropa zu kontrollieren. Während die Führung um Michail Gorbatschow alle Hände voll zu tun hat, um mit den fast unlösbaren Problemen im eigenen Innern fertigzuwerden , verändert sich das frühere Satellitenreich in Polen und in Ungarn bis zur Unkenntlichkeit - und Moskau muß das zulassen .... Doch wenn die Bewegung auch auf die DDR übergreift - wird sich dann die deutsche Frage nicht wieder neu stellen, und zwar, wie seit Jahren formuliert, als Teil einer grundlegenden Umgestaltung Europas? ...

 

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Dokumente und indirekte Gewalt als entscheidende Wirkungsprinzipien des "realen Sozialismus". Eine Analyse von Hans-Joachim Maaz, seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle (1990)
Dokumente und indirekte Gewalt als entscheidende Wirkungsprinzipien des "realen Sozialismus". Eine Analyse von Hans-Joachim Maaz, seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle (1990)
Dokumente und indirekte Gewalt als entscheidende Wirkungsprinzipien des "realen Sozialismus". Eine Analyse von Hans-Joachim Maaz, seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle (1990)
Dokumente und indirekte Gewalt als entscheidende Wirkungsprinzipien des "realen Sozialismus". Eine Analyse von hans-Joachim Maaz, seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle (1990)
 

Das entscheidende Wirkungsprinzip des "real existierenden Sozialismus" war Gewalt: Es gab die direkte offene Gewalt durch Mord, Folter, Schießbefehl, Inhaftierung und Ausbürgerung, und es gab die indirekte Gewalt durch Rechtsunsicherheit, Repressalien, Drohungen, Beschämungen, durch Indoktrination und durch ein System von Nötigung, Einschüchterung und Angst. Mit "demokratischem Zentralismus" war ein gnadenlos autoritäres Herrschaftssystem verharmlosend umschrieben, das als ständige Einbahnstraße nur von oben nach unten Maßnahmen und Entscheidungen "durchstellte". In der Gegenrichtung lief gar nichts. Die Parole "Plane mit, arbeite mit, regiere mit!" war der blanke Hohn, denn jede Initiative von unten blieb nicht nur ohne sinnvollen Effekt, sondern hat den eigenständig Mitdenkenden und Handelnden fast automatisch zum Provokateur, Unruhestifter. "Weltverbesserer" (konnte ein einzelner denn bessere Erkenntnisse haben als die allmächtige Partei?) gestempelt. So lief man sich mit innovativer Aktivität und Kreativität nicht nur wund, sondern wurde regelmäßig diffamiert, belehrt und eingeschüchtert. Die errichtete Diktatur ergoß sich als ein System von Nötigungen über den Alltag der DDR-Bürger: Gehorchen, Lippenbekenntnisse liefern, sich an Kundgebungen, Veranstaltungen, Initiativen, Wettbewerben, Programmen beteiligen, Massenorganisationen beitreten, Losungen, Parolen und verzerrte Wahrheiten über sich ergehen lassen und wenn es ganz schlimm kam, nachplappern. Jeder Widerstand wurde systematisch gebrochen. War man noch Kind, dann durch Belehrung, Beschämung, Ausgrenzen und Distanzieren. War man erwachsen, dann durch Behinderung, Bedrohung und Bestrafung. Die ganz einfachen Rechte eines jeden Menschen, die Rechte auf unverstelltes Dasein, auf eine eigene Meinung, auf Verstanden- und Angenommensein in den persönlichen Eigenarten, auf Individualität, waren in dieser Gesellschaft nirgendwo gesichert. Die Rechte auf Gemeinschaft, auf Bildung, auf Förderung und Entwicklung, auf Anerkennung wurden nur gewährt bei Wohlverhalten und Unterwerfung unter die Normen der Macht. Wohnungen, Reisen, Auszeichnungen, berufliche Karriere waren Privilegien für die Meister der Verstellung und Anpassung. In diesem System konnte nur halbwegs unbehelligt leben, wer sich anpaßte und das heißt, wer seine spontane Lebendigkeit, seine Offenheit und Ehrlichkeit, seine Kritikfähigkeit dem öden und einengenden, aber relativ ungefährlichen Leben eines Untertanen opferte. Wer ehrgeizig war und zur Geltung kommen wollte, mußte "mit den Wölfen heulen" und der Preis für seinen Erfolg war unvermeidbar der Verlust an moralischer Würde und persönlicher Integrität. ...

 
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Für unser Land. Aufruf von DDR-Intellektuellen vom 26. November 1989

Für unser Land. Aufruf von DDR-Intellektuellen vom 26. November 1989

Unser Land steckt in einer tiefen Krise. Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben. Die Führung einer Partei hatte sich die Herrschaft über das Volk und seine Vertretungen angemaßt, vom Stalinismus geprägte Strukturen hatten alle Lebensbereiche durchdrungen. Gewaltfrei. durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozeß der revolutionären Erneuerung erzwungen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluß zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.

Entweder:
können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.

Oder:
wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschalt und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird. Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen.

Berlin, den 26. November 1989
Zu den Erstunterzeichnern gehören u. a. Frank Beter, Regisseur; Götz Berger, Rechtsanwalt; Volker Braun, Schriftsteller; Tamara Danz, Rocksängerin; Sieghard Gille, Maler; Stefan Heym , Schriftsteller; Uwe Jahn, Konstruktionsleiter; Dieter Klein, Gesellschaftswissenschaftler; GÜnter Krusche, Generalsuperintendent; Sebastian Pflugbeil, Physiker; Ulrike Poppe, Hausfrau; Friedrich Schorlemmer. Pfarrer ; Konrad Weiß, Filmemacher; Christa Wolf, Schriftstellerin.

 

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Für Euer Land, für unser Land. Erklärung westdeutscher Intellektueller vom 2. Dezember 1989

Für Euer Land, für unser Land. Erklärung westdeutscher Intellektueller vom 2. Dezember 1989

Nicht nur Euer Land, die Deutsche Demokratische Republik, steckt in einer tiefen Krise. Entgegen allem Schein des Wohlstandes weiß auch der "Westen" nicht die Zukunftsprobleme zu lösen. Immer mehr, immer schneller, immer naturzerstörerischer - das sind keine Antworten, die zu Hoffnung auf Überleben berechtigen.
In dem entstehenden großmächtigen Wirtschaftskoloß, der Europäischen Gemeinschaft, wird gegenwärtig zum verschärften weltweiten Konkurrenzkampf gerüstet. So werden die ökologischen und die enormen sozialen Probleme immer erneut weiter produziert. Das Wettrüsten und die Konzentration der Rüstungsindustrie werden vorangetrieben, trotz aller Friedensworte der Politiker. Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken, wenn auch sehr unterschiedlich, in einer tiefen Krise.
In dieser Situation werden bewußt nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem "Zehn-Punkte-Plan" die „Wiedervercinigung" zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. Schon heute ist die Bundesrepublik Deutschland in Europa ökonomisch eindeutig überlegen. Eine Vereinigung beider Staaten würde Deutschland zur europäischen Vormacht werden lassen. Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserem Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden, wenn sich die Kräfte des Kampfes um den Weltmarkt und nicht die für eine humane Gestaltung menschlichen Lebens durchsetzten. Deshalb stellen wir uns gegen alle Versuche der Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik an Eure Seite.
Auf einen realen Pluralismus, der Wege in eine friedliche, ökologische und gerechte Gesellschaft erlaubt, nicht auf ein Europa unbegrenzten Konsums kommt es an. Heute scheint eine Chance hierzu gegeben zu sein: Nicht zuletzt auch dank Eurer gewaltfreien Revolution gegen bürokratische Herrschaft, polizeiliche und politisch-juristische Staatswillkür. An den Bürgerinnen und Bürgern in West und Ost liegt es nun, die basisdemokratisch-menschenrechtliche Einmischung fortzusetzen. Jede und jeder im eigenen Land, in enger Zusammenarbeit.

 

 

Otl Aicher, Designer, Schriftsteller; Inge Aicher-Scholl, Publizistin; Heinrich Albertz, Pastor, ehem. Regierender Bürgermeister von Berlin ; Prof. Ulrich Albrecht, Friedensforscher; Dr. Hans-Georg Backhaus, Politikwissenschaftler; Georg Benz, Gewerkschafter; Karin Benz-Overhage, Gewerkschafterin; Dr. Karola Bloch, Publizistin; Dr. Annemarie Böll, Schriftstellerin ; Prof. Karl Bonhoeffer, Arzt; Prof Heinz Brakemeier, Politikwissenschaftler; Prof Margherita von Brentano, Philosophin, Publizistin; Dr. Andreas Buro, Politikwissenschaftler; Prof Walter Dirks, Publizist; Prof. Helga Einsele, Kriminologin; Annemarie und Prof Walter Fabian, Publizisten; Prof. Ossip K. Flechtheim, Futurologe; Prof Helmut Gollwitzer, Theologe; Prof. Martin Hirsch, ehem. Richter am Bundesverfassungsgericht; Prof Robert Jungk, Zukunftsforscher; Prof Arno Klönne, Politikwissenschaftler, Historiker; Dieter Lattmann, Schriftsteller; Prof. Margarethe Mitscherlich, Psychoanalytikerin ; Prof Wolf-Dieter Narr, Politikwissenschaftler: Hinrich Oetjen, Gewerkschafter; Prof. Joachim Perels. Politikwissenschaftler; Prof. Helmut Ridder, Rechtswissenschaftler; Luise Rinser, Schriftstellerin; Prof. Dorothee Stille, Theologin, Schriftstellerin; Dr. Martin Stöhr, Dozent; Hanne und Klaus Vack; Werner Vitt, Gewerkschafter

 

 
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"Für die Einheit auf die Straße". Zu den Zielen und Motiven der Leipziger Montags-Demonstrationen nach dem Fall der Mauer im November 1989 schreibt Fritz Ulrich Fack in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 14. Dezember 1989
"Für die Einheit auf die Straße". Zu den Zielen und Motiven der Leipziger Montags-Demonstrationen nach dem Fall der Mauer im November 1989 schreibt Fritz Ulrich Fack in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 14. Dezember 1989
 

Leipzig ist der Seismograph der politischen Beben, die die DDR seit dem Frühherbst erschüttern. Sie sind nicht abgeklungen, sondern werden jetzt von einem Motiv vorangetrieben, das die Politiker in Ost und West frösteln macht: Der Ruf nach der Einheit Deutschlands wird auf den Demonstrationen von Woche zu Woche lauter.
Nicht die Lust am Protest ist es, was die Menschen mit dieser Forderung auf die Straße treibt, sondern die Sorge, die Wiedervereinigung könne unter dem Druck nationaler und internationaler Gegenkräfte auf Sankt Nimmerlein vertagt werden. Daß die Politik in beiden deutschen Staaten dazu neigt – im einen mehr, im anderen weniger -, ist unverkennbar. Die amtierende Führung der DDR unter Ministerpräsident Modrow und Parteichef Gysi hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie die deutsche Einheit nicht nur nicht anstrebt, sondern ablehnt. Und der Bundeskanzler äußert sich zu seinem Mehrstufenplan nur noch verhalten. Er weigert sich, irgendeinen Zeithorizont anzugeben. seitdem Verbündete und Nachbarn ihn haben spüren lassen, wie sehr ihnen seine Pläne mißfallen. Die verbrieften Zusagen der Westmächte von einst, die deutsche Einheit zu unterstützen, sind brüchig geworden. Die Menschen auf den Straßen der DDR besitzen ein durch lange Jahre der Diktatur geschärftes politisches Bewußtsein. Sie wissen die Erklärungen auch der neuen Politiker, einschließlich der jäh zu politischem Leben erwachten ehemaligen Blockparteien und der Opposition, richtig zu deuten: Nicht nur sozialistisch soll der Staat der Zukunft sein, sondern auch eigenständig und unabhängig. Wenig Aussicht also, die bedrückenden Lebensverhältnisse grundlegend zu verbessern. Wenig Hoffnung auch, den reichen Nachbarn im Westen stärker in Anspruch nehmen zu können. Denn jeder kann sich ausrechnen, daß die Landsleute in der Bundesrepublik wenig geneigt sein werden dauerhaft einen Staat zu alimentieren, der sich selbst als "sozialistische Alternative" zur Gesellschaftsordnung des Nachbarn begreift.
Die Menschen auf den Straßen Leipzigs haben erkannt, daß nur ein gesamtdeutscher Staat sich ihrer Bedrängnisse wirksam annehmen könnte, ja müßte, wenn er denn - nach dem Verfassungs-Vorbild der Bundesrepublik - für halbwegs gleiche Lebensverhältnisse in allen Landesteilen zu sorgen gehalten wäre. Nur auf diese Weise könnten der große Ressourcen-Transfer und ein Strom von privatem Kapital, Wissen, Organisationstalent und Unternehmungsgeist in Richtung DDR in Bewegung kommen. Mit ein paar Hermes-Milliarden oder Staatskrediten und einigen inmitten der Staatswirtschaft dahin dümpelnden Gemeinschaftsunternehmen (Zauberwort: Joint ventures) ist hingegen angesichts des gigantischen Ausmaßes der Misere so gut wie nichts zu bewirken.
Das alles haben die Menschen vor Augen, die heute im Osten nach der deutschen Einheit rufen. Sie wissen um die unheilige Allianz in- und ausländischer Kräfte, die sich zum Ziel gesetzt hat jeden Schritt in diese Richtung zu verhindern. Sie wissen um das Bestreben auch der neuen Führungsschicht der DDR, quer durch fast alle Parteien und Gruppen, die entstehende Staatsstruktur zu sichern und zu befestigen. Ist das erst einmal geschehen, wird es die dringlichste Sorge der neuen Amtsinhaber und Würdenträger sein, die Zweistaatlichkeit zu konservieren.
Den zweiten Pfeiler der Allianz bilden die vier Siegermächte die sich Schritten zur deutschen Einheit entweder offen widersetzen, wie die Sowjetunion, oder mit verdeckten Karten spielen, wie die drei Westmächte. Moral und rechtliche Bindungen, zum Beispiel aus dem Deutschlandvertrag, sagen Ihnen zwar, daß sie der Selbstbestimmung der Deutschen nichts in den Weg legen dürfen. Irrationale Angste vor dem entstehenden "Koloß" und höchst rationale Konkurrenzängste vor einer effizienten gesamtdeutschen Wirtschaft lassen sie aber zögern und zu allerlei Vorbehalten und Einwänden Zuflucht nehmen. Die Rückzugsformel lautet, es dürfe "nichts überstürzt werden".
Als Dritter im Bunde wirkt seit langem die westdeutsche Linke, beheimatet vor allem bei Grünen und Alternativen sowie auf dem linken Flügel der SPD. Sie kann nicht verwinden, daß der erste Probelauf des Sozialismus auf deutschem Boden - das Experiment mit dem Realsozialismus - kläglich gescheitert ist. Ihr Ziel ist es, einen zweiten Probelaufunter günstigeren Bedingungen ins Werk zu setzen. Deshalb plädieren Politiker wie Lafontnine so vehement für die Zweistaatlichkeit.
Unter diesen Umständen und angesichts des wirksamen Drucks, der auf die politische Führung der Bundesrepublik ausgeübt wird, halten tatsächlich die Menschen in Leipzig, Dresden oder Ost-Berlin das künftige Schicksal der Nation in ihren Händen. Nur wenn wenigstens ein Teil der Gegenkräfte davon überzeugt werden kann, daß die Stimmung der geschundenen Halbnation in der DDR explosiv werden könnte, falls die Einigung weiterhin so rigoros blockiert wird, besteht Hoffnung auf Einsicht und vielleicht auch auf Umkehr. Daß dazu Geduld nötig ist, daß der Prozeß der Einigung nicht von heute auf morgen zum Ziele führt und die mißtrauischen Nachbarn geduldig von seiner Richtigkeit überzeugt werden müssen, wird niemand bezweifeln. Es geht allein darum, den Deutschen die Gewißheit zu geben, daß ihr Wunsch nach staatlicher Einheit definitiv Gehör finden wird - morgen und nicht erst an Sankt Nimmerlein.

 
 
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1989: Eine Revolution im klassischen Verständnis. Aus einem Leitartikel des Journalisten Gustav Seibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Dezember 1989

1989: Eine Revolution im klassischen Verständnis. Aus einem Leitartikel des Journalisten Gustav Seibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Dezember 1989

Was bedeuten die Ereignisse dieses Jahres im Zusammenhang der europäischen Geschichte? Jedenfalls handelt es sich um eine Revolution, wenn man darunter den Zusammenbruch von alter Legitimität und die dadurch notwendige Neubegründung von Staatsordnungen versteht ... Es handelt sich um Revolutionen im klassischen Verständnis.
Die osteuropäische Revolution ist keine Revolution im marxistischen Sinne. Nirgendwo ist sie Ausdruck von Klassenkonflikten, auch wenn soziale und ökonomische Probleme eine bedeutende Rolle spielen ... Es geht nicht um Utopien und ferne Geschichtsziele, sondern um Ziele, die, wie unvollkommen auch immer, an einigen Stellen der Welt längst verwirklicht sind: die selbstverständliche Achtung der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, die im Jahre 1789 endgültig formuliert wurden. Es geht um die Abschaffung der Folter, um Rede- und Versammlungsfreiheit, um Rechtsstaat, um Freizügigkeit, um all jene Sicherungen, die den einzelnen vor dem Terror von Staat und Kollektiv bewahren. Und es geht um die nationale Selbstbestimmung ...
Trotzdem ist die politisch-bürgerliche Revolution des Jahres 1989 in einem Punkt wesentlich verschieden von ihrer Vorläuferin von 1789. Niemand kann mehr an ihre geschichtliche Gesetzmäßigkeit glauben. 1789 meinten die Revolutionäre, die Bewegung der Zeit, die historische Notwendigkeit selbst, trage sie voran; sie waren der Zukunft gewiß. Revolution, das hieß zwangsläufiger Fortschritt. Wer dagegen war, durfte als Reaktionär ausgeschaltet werden. Revolution wurde zum aktivistischen Pflichtbegriff der seinen Inhaber ins Recht setzte, auch wenn er geltendes Recht brach ...
Nach dem zwanzigsten Jahrhundert weiß man: Das Rad kann überall und zu jedem Zeitpunkt wieder zurückgedreht werden. Der Rückfall in die Barbarei kann sich immer als geschichtlicher Fortschritt maskieren. Es gibt keine Sicherheit und deshalb kein Recht mehr, das Recht zu brechen. Jetzt zählt nur noch, was hier und heute Wirklichkeit ist, ob Menschen in den Folterkammern sterben müssen oder ob sie frei atmen können.

 

 

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Das Recht des deutschen Volkes auf staatliche Einheit: Erklärung von Bundeskanzler Kohl über das Ergebnis des Treffens mit dem sowjetischen Partei- und Staatschef, Michail Gorbatschow, in Moskau, 10. Februar 1990
Das Recht des deutschen Volkes auf staatliche Einheit: Erklärung von Bundeskanzler Kohl über das Ergebnis des Treffens mit dem sowjetischen Partei- und Staatschef, Michail Gorbatschow, in Moskau, 10. Februar 1990
 

Meine Damen und Herren!
Ich habe heute abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln. Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein daß es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will.
Generalsekretär Gorbatschow hat mir unmißverständlich zugesagt, daß die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird, und daß es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen.
Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns ebenfalls einig, daß die deutsche Frage nur auf der Grundlage der Realitäten zu lösen ist; das heißt, sie muß eingebettet sein in die gesamteuropäische Architektur und in den Gesamtprozeß der West-Ost- Beziehungen.
Wir müssen die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und unserer Freunde und Partner in Europa und in der Welt berücksichtigen.
Es liegt jetzt an uns Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR, daß wir diesen gemeinsamen Weg mit Augenmaß und Entschlossenheit gehen. Generalsekretär Gorbatschow und ich haben ausführlich darüber gesprochen, daß auf dem Wege zur deutschen Einheit die Fragen der Sicherheit in Europa herausragende Bedeutung haben. Wir wollen die Frage der unterschiedlichen Bündniszugehörigkeit in enger Abstimmung auch mit unseren Freunden in Washington, Paris und London sorgfältig beraten, und ich bin sicher, daß wir eine gemeinsame Lösung finden.
Ich danke Generalsekretär Gorbatschow, daß er dieses historische Ergebnis ermöglicht hat.
Wir haben vereinbart, im engsten persönlichen Kontakt zu bleiben. Meine Damen und Herren, dies ist ein guter Tag für Deutschland und ein glücklicher Tag für mich persönlich.

 
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Deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990
Deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990
Deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990
Deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990
Deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990
 

Nachdem die Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 ein eindeutiges Votum für die möglichst rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten erbracht hatte, verständigten sich die Regierungen in Sonn und Ost-Berlin innerhalb weniger Wochen über die ersten großen Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die zwischen ihnen getroffenen Vereinbarungen bildeten den Inhalt eines Staatsvertrags, der am 18. Mai 1990 unterzeichnet und am 21./22. Juni 1990 von Bundestag, Bundesrat und Volkskammer gebilligt wurde. Am 1. Juli 1990 trat der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Das umfangreiche Vertragswerk regelt den Zusammenschluß zweier Volkswirtschaften, die sich in den vierzig Jahren deutscher Teilung weit auseinanderentwickelt hatten. Für die DDR geht es dabei im Kern um die Übernahme des westlichen Wirtschafts- und Sozialsystems, während sich die Bundesrepublik bereit erklärt, mit massiven Finanzhilfen zur Überwindung der Anpassungsprobleme in der DDR beizutragen.
Seit dem 1. Juli 1990 bilden die beiden deutschen Staaten ein einheitliches Währungsgebiet mit der D-Mark als gemeinsamer Währung und der Deutschen Bundesbank als alleiniger Währungs- und Notenbank. Sämtliche Ostmark-Forderungen und -Verbindlichkeiten wurden auf DM umgestellt. Alle Einwohner der DDR konnten - je nach Alter - 2000, 4000 oder 6000 Mark im Verhältnis 1:1I in DM eintauschen. Die Umwandlung sonstiger Guthaben und Schulden erfolgte im Verhältnis 2: 1. Laufende Zahlungen wie Löhne und Gehälter, Stipendien, Renten, Mieten und Pachten wurden 1:1 fortgeführt.
Grundlage der vereinbarten Wirtschaftsunion, ist die Soziale Marktwirtschaft, die vor allem durch privates Eigentum, freien Leistungsweltbewerb, freie Preisbildung und Freizügigkeit für Menschen, Kapital, Güter und Dienstleistungen bestimmt wird. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, mußte die DDR zahlreiche Regelungen aus dem Wirtschafts- und Arbeitsrecht der Bundesrepublik übernehmen und die Relikte der sozialistischen Planwirtschaft außer Kraft setzen. Auch im Finanz- und Steuerwesen erfolgte eine Anpassung an die in der Bundesrepublik geltenden Grundsätze. Die Reorganisation und Privatisierung des volkseigenen Vermögens wurde einer Treuhandanstalt übertragen.
Zur Verwirklichung der Sozialunion führte die DDR eine gegliederte Sozialversicherung (mit Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung) und ein System der Sozialhilfe nach westdeutschen Vorbild ein. Im Rahmen der neuen Arbeitsrechtsordnung wurden Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie,
Arbeitskampfrecht, Mitbestimmungsrechte und Kündigungsschutz für die DDR übernommen

 
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"Eine eminente Fehlentscheidung". Spiegel-Gespräch mit SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine über die Währungs- und Wirtschaftsunion mit der DDR, 24. Mai 1990
"Eine eminente Fehlentscheidung". Spiegel-Gespräch mit SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine über die Währungs- und Wirtschaftsunion mit der DDR, 24. Mai 1990
"Eine eminente Fehlentscheidung". Spiegel-Gespräch mit SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine über die Währungs- und Wirtschaftsunion mit der DDR, 24. Mai 1990
 

Spiegel: Sie haben mit Ihrem Rücktritt gedroht, falls die SPD nicht beim Nein zum Staatsvertrag bleibt. ... Die SPD läßt sich auf Dauer nicht erpressen, Rücktrittsdrohungen nutzen sich ab.
Lafontaine: Das Wort Erpressung ist unangebracht ... Es geht bei dem Staatsvertrag um die wichtigste wirtschaftspolitische, sozialpolitische und finanzpolitische Entscheidung der letzten Jahrzehnte. Man muß schon, wenn man die Position des Kanzlerkandidaten kennt, versuchen, die Entscheidung der Partei mit ihm abzustimmen. Ich habe vor meiner Nominierung unmißverständlich gesagt, was ich von der überhasteten Einführung der D-Mark in der DDR halte.     
Spiegel: Sie haben ein vorläufiges Nein zum Vertrag in der jetzt vorliegenden Form durchgesetzt. Reicht das, um den Wählern klarzumachen, Kandidat und SPD tragen keine Verantwortung für die Folgen?
Lafontaine: Die Diskussion der nächsten Wochen muß deutlich machen, daß wir keine Verantwortung für jene Teile des Vertrages tragen, die ich für nicht verantwortbar halte. Ich halte die Ausdehnung des Geltungsbereichs der D-Mark zum 1. Juli in der DDR nach wie vor für einen schweren Fehler, weil sie Massenarbeitslosigkeit zur Folge hat. Das habe ich schon vor der Volkskammerwahl in der DDR gesagt, obwohl es damals nicht populär war.
Spiegel: Mit entsprechender Quittung für die Ost-SPD.
Lafontaine: Ein Sieg auf der Grundlage falscher Versprechungen ist ein Pyrrhus-Sieg. Ohne das Wahlergebnis in der DDR zu kennen, sagte ich, wer die erste Wahl in der DDR gewinnt, verliert die zweite. Wer glaubt, die Volkskammerwahl sei ein echtes Bild der politischen Kräfteverhältnisse in der DDR, irrt sich.
Spiegel: Was mißfällt Ihnen außerdem im Staatsvertrag?
Lafontaine: Wir wurden nicht beteiligt. Er ist mit heißer Nadel gestrickt und daher mit erheblichen Mängeln behaftet. Die wirklichen Kosten des Staatsvertrages kennt niemand und die zeitlichen Vorgaben zum Aufbau der notwendigen Verwaltung sind unrealistisch. … Im Vertrag wird außerdem die Spaltung Deutschlands in zwei Sozialstaatsbereiche festgeschrieben, in denen es auf längere Zeit unterschiedliche Renten, Arbeitslosengelder und Sozialhilfen gibt. Die Regierungsparteien werden sich ihrer Worte erinnern müssen, daß dies eine Politik der Herzlosigkeit, der sozialen Kälte sei, daß hier eine neue Mauer in Deutschlandgezogen werde…
Spiegel: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren daß Ihnen nach wie vor die Einheit suspekt ist, nicht nur das Tempo, mit dem Kohl sie anstrebt. Sie haben stets gesagt, die europäische Integration sollte Priorität haben.
Lafontaine: Es gibt Leute, die unter Einheit nur die staatliche Einheit verstehen. Die Sozialdemokraten verstehen darunter aber auch die Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Die abrupte Einführung der D-Mark ist der teuerste Weg für beide Teile Deutschlands. Den richtigen Weg haben Sachverständigenrat, Bundesbank, Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministerium vor dem 7. Februar gewiesen: Konvertibilität der Ost-Mark herstellen und einen festen Wechselkurs anpeilen, um sich des marktwirtschaftlichen Instruments - und dies ist das Entscheidende - der außenwirtschaftlichen Anpassung nicht zu begeben. Was machen die ganzen Helden in Bonn, die den falschen Weg befürworten, wenn die Produktivität und die Löhne auseinanderdriften? Dann haben sie keine Antwort außer der, den deutschen Steuerzahler ständig zur Kasse zu bitten.
Spiegel: Das Modell des behutsamen Angleichens der Währungen ist durch den Druck aus der DDR-Bevölkerung überrollt worden.
Lafontaine: Was ökonomisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein. Der Bundeskanzler hat gegen die eigenen Ministerien und gegen den Rat der Sachverständigen und der Bundesbank entschieden. Auf welcher Grundlage, frage ich ....
Spiegel: In der DDR sind alle Parteien, auch die SPD, für die Radikalkur.
Lafontaine: Ich kann eine Radikalkur nicht akzeptieren. Sie kann jemand vorschlagen, der hier in sicheren Verhältnissen lebt und keinerlei Sorge hat, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Sicherlich gibt es in der DDR große Erwartungen in die Einführung der D-Mark, die im Wahlkampf leichtfertig geschürt wurden. Man kann einer Bevölkerung, die jahrzehntelang nicht im marktwirtschaftlichen System gelebt hat, nicht abverlangen, daß sie die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit ihrer eigenen Wirtschalt und damit ihrer Arbeitsplätze überblickt. Das wäre Aufgabe der verantwortlichen Politiker gewesen, die hier eklatant versagt haben.

 
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Bundestag: Debatte und Abstimmung über den Staatsvertrag. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in seiner Regierungserklärung zu Beginn der Debatte vom 21. 6. 1990
Bundestag: Debatte und Abstimmung über den Staatsvertrag. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in seiner Regierungserklärung zu Beginn der Debatte vom 21. 6. 1990
 

Die Bundesregierung will jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, daß bald alle Deutschen gemeinsam in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können. Wir stehen damit vor einer der größten Gestaltungsaufgaben der Nachkriegsgeschichte ....
Ich bin mir bewußt, daß der Weg, den wir jetzt einschlagen, schwierig sein wird. Das wissen auch die Menschen in der DDR. Aber sie sagen uns allen auch unmißverständlich: Der Staatsvertrag muß kommen ....
Wer jetzt behauptet, man hätte sich doch mehr Zeit lassen können, der verkennt die Realitäten in Deutschland, und er verdrängt die Erfahrungen der letzten Monate. Es sind die Menschen in der DDR, die das Tempo der Entwicklung bestimmt haben und im übrigen weiter bestimmen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hunderttausende von Übersiedlern sind in die Bundesrepublik gekommen, weil Sie In der DDR keine Zukunftsperspektive mehr sahen, Menschen, die für den Aufbau in der DDR dringend gebraucht werden. Erst die Aussicht auf die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hat viele unserer Landsleute wieder Hoffnung schöpfen lassen.
Ein Hinauszögern des Staatsvertrages - mit welchen Argumenten auch immer - hätte den Zusammenbruch der DDR bedeutet. Die Übersiedlerzahlen wären erneut sprunghaft angestiegen - wie wir alle wissen, mit verheerenden Folgen. Wer wollte dafür die Verantwortung übernehmen?
Es wird harte Arbeit, auch Opfer, erfordern, bis wir Einheit und Freiheit, Wohlstand und sozialen Ausgleich für alle Deutschen verwirklichen können. Viele unserer Landsleute in der DDR werden sich auf neue und ungewohnte Lebensbedingungen einstellen müssen und auch auf eine gewiß nicht einfache Zeit des Übergangs. Aber niemandem werden dabei unbillige Härten zugemutet. Den Deutschen in der DDR kann ich sagen, was auch Ministerpräsident de Maiziere betont hat: Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor - dafür vielen besser.

 
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Die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit: Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl über die Ergebnisse seines Besuchs in der Sowjetunion, abgegeben von der Presse in Schelesnowodsk im Kaukasus am 16. Juli 1990
Die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit: Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl über die Ergebnisse seines Besuchs in der Sowjetunion, abgegeben von der Presse in Schelesnowodsk im Kaukasus am 16. Juli 1990
Die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit: Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl über die Ergebnisse seines Besuchs in der Sowjetunion, abgegeben von der Presse in Schelesnowodsk im Kaukasus am 16. Juli 1990
 

Ich kann heute mit Genugtuung und in Übereinstimmung mit Präsident Gorbatschow feststellen:
1. Die Einigung Deutschlands umfaßt die Bundesrepublik, die DDR und Berlin.
2. Wenn die Einigung vollzogen wird, werden die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten vollständig abgelöst. Damit erhält das vereinigte Deutschland zum Zeitpunkt seiner Vereinigung seine volle und uneingeschränkte Souveränität.
3. Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Das entspricht der KSZE-Schlußakte. Ich habe als die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, daß das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte und ich bin sicher, dies entspricht auch der Ansicht der Regierung der DDR.
4. Das geeinte Deutschland schließt mit der Sowjetunion einen zweiseitigen Vertrag zur Abwicklung des Truppenabzuges aus der DDR, der innerhalb von drei bis vier Jahren beendet sein soll. Gleichzeitig soll mit der Sowjetunion ein Überleitungsvertrag über die Auswirkung der Einführung der D-Mark in der DDR für diesen Zeitraum von drei bis vier Jahren abgeschlossen werden.
5. Solange sowjetische Truppen noch auf dem ehemaligen DDR-Territorium stationiert bleiben, werden die NATO-Strukturen nicht auf diesen Teil Deutschlands ausgedehnt. Die sofortige Anwendung von Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages bleibt davon von Anfang an unberührt. Nicht integrierte Verbände der Bundeswehr, das heißt Verbände der territorialen Verteidigung, können ab sofort nach der Einigung Deutschlands auf dem Gebiet der heutigen DDR und in Berlin stationiert werden. Für die Dauer der Präsenz sowjetischer Truppen auf dem ehemaligen DDR-Territorium sollen nach der Vereinigung nach unserer Vorstellung die Truppen der drei Westmächte in Berlin verbleiben. Die Bundesregierung wird die drei Westmächte darum ersuchen und die Stationierung mit den jeweiligen Regierungen vertraglich regeln.
7. Die Bundesregierung erklärt sich bereit, noch in den laufenden Wiener Verhandlungen eine Verpflichtungserklärung abzugeben, die Streitkräfte eines geeinten Deutschlands innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370 000 Mann zu reduzieren. Die Reduzierung soll mit dem lnkrafttreten des ersten Wiener Abkommens begonnen werden.
8. Ein geeintes Deutschland wird auf Herstellung, Besitz und Verfügung über ABC-Waffen verzichten und Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages bleiben.

 
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"Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR und den Vereinigten Staaten, unterzeichnet in Moskau am 12. September

 "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR und den Vereinigten Staaten, unterzeichnet in Moskau am 12. September 1990

Die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland. die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten Amerikas ... sind wie folgt übereingekommen:

Artikel 1
(1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrages endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.
(2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.
(3) Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch nicht in Zukunft erheben ....

Artikel 2
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärung, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.

Artikel 3
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese
Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Vepflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.
(2) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat in vollem Einvernehmen mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik am 30. August 1990 in Wien bei den Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa folgende Erklärung abgegeben:
„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, die Streitkräfte des vereinten Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370 000 Mann (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu reduzieren. Diese Reduzierung soll mit dem Inkrafttreten des ersten KSE-Vertrags beginnen. Im Rahmen dieser Gesamtobergrenze werden nicht mehr als 345 000 Mann den Land- und Luftstreitkräften angehören, die gemäß vereinbartem Mandat allein Gegenstand der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa sind. Die Bundesregierung sieht in ihrer Verpflichtung zur Reduzierung von Land- und Luftstreitkräften einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa. Sie geht davon aus, daß in Folgeverhandlungen auch die anderen Verhandlungsteilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa, einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung der Personalstärken, leisten werden." Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat sich dieser Erklärung ausdrücklich angeschlossen…

Artikel 4
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklären, das das vereinte Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in vertraglicher Form die Bedingungen und die Dauer des Aufenthalts der sowjetischen Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins sowie die Abwicklung des Abzugs dieser Streitkräfte regeln werden, der bis zum Ende des Jahres 1994 im Zusammenhang mit der Verwirklichung der Verpflichtungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, auf die sich Absatz 2 des Artikels 4 dieses Vertrags bezieht, vollzogen sein wird ....

Artikel 5
(1) Bis zum Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins in Übereinstimmung mit Artikel 4 dieses Vertrags werden auf diesem Gebiet als Streitkräfte des vereinten Deutschland ausschließlich deutsche Verbände der Territorialverteidigung stationiert sein, die nicht in die Bündnisstrukturen integriert sind, denen deutsche Streitkräfte auf dem übrigen deutschen Territorium zugeordnet sind. Unbeschadet der Regelung in Absatz 2 dieses Artikels werden während dieses Zeitraums Streitkräfte anderer Staaten auf diesem Gebiet nicht stationiert oder irgend welche andere militärische Tätigkeiten dort ausüben. (2) Für die Dauer des Aufenthalts sowjetischer Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins werden auf deutschen Wunsch Streitkräfte der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika auf der Grundlage entsprechender vertraglicher Vereinbarung zwischen der Regierung des vereinten Deutschland und den Regierungen der betreffenden Staaten in Berlin stationiert bleiben. Die Zahl aller nichtdeutschen in Berlin stationierten Streitkräfte und deren Ausrüstungsumfang werden nicht stärker sein als zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Vertrags.
Neue Waffenkategorien werden von nichtdeutschen Streitkräften dort nicht eingeführt. Die Regierung des vereinten Deutschland wird mit den Regierungen der Staaten, die Streitkräfte in Berlin stationiert haben, Verträge zu gerechten Bedingungen unter Berücksichtigung der zu den betreffenden Staaten bestehenden Beziehungen abschließen.
(3) Nach dem Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.

Artikel 6
Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.

Artikel 7
(1) Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.
(2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten ....

Artikel 9
Dieser Vertrag tritt für das vereinte Deutschland, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika am Tag der Hinterlegung der letzten Ratifikations- oder Annahmeurkunde durch diese Staaten in Kraft. ...

Moskau am 12. September 1990

Für die Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher

Für die Französische Republik Roland Dumas

Für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Eduard Sehewarandase

Für die Deutsche Demokratische Republik Lothar de Maiziere

Für das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland Douglas Hurd

Für die Vereinigten Staaten von Amerika James Baker

 

 

 

 

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Rückkehr nach Europa. Am Ende zweier Sonderwege? Aus einem Gespräch mit Prof. Wjatscheslaw Daschitschew einem der führenden sowjetischen Deutschlandexperten und zeitweiligen Berater von Präsident Gorbatschow, am Vorabend der Vereinigung der beiden deutsch
Rückkehr nach Europa. Am Ende zweier Sonderwege? Aus einem Gespräch mit Prof. Wjatscheslaw Daschitschew einem der führenden sowjetischen Deutschlandexperten und zeitweiligen Berater von Präsident Gorbatschow, am Vorabend der Vereinigung der beiden deutsch
Rückkehr nach Europa. Am Ende zweier Sonderwege? Aus einem Gespräch mit Prof. Wjatscheslaw Daschitschew einem der führenden sowjetischen Deutschlandexperten und zeitweiligen Berater von Präsident Gorbatschow, am Vorabend der Vereinigung der beiden deutsch
Rückkehr nach Europa. Am Ende zweier Sonderwege? Aus einem Gespräch mit Prof. Wjatscheslaw Daschitschew einem der führenden sowjetischen Deutschlandexperten und zeitweiligen Berater von Präsident Gorbatschow, am Vorabend der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, September/Oktober 1990
 

"Es gab einen Sonderweg der Sowjetunion"

Daschitschew: Vieles wird von den inneren Entwicklungen in der Sowjetunion abhängen. Mein Gedanke ist, daß wir jetzt vielleicht das schwierigste Problem in unserer Entwicklung lösen: die Überwindung der Unvereinbarkeit unseres politischen, wirtschaftlichen Systems mit den westlichen demokratischen Systemen. Das ist das politische Problem Nummer Eins. Diese Inkompatibilität entstand 1917. Die Entwicklung der Sowjetunion ging in ganz andere Bahnen, es gab einen Sonderweg der Sowjetunion ... Ohne Überwindung dieser Unvereinbarkeit können wir keine normalen, zivilisierten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und einem geeinten Deutschland organisieren. Das ist meine feste Überzeugung und ich denke, daß die Sowjetunion und einzelne Republiken in diese Richtung gehen werden. Darin besteht die Voraussetzung für neue Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion und für die Entstehung eines gesamteuropäischen Hauses, eines gesamteuropäischen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen Raumes. Alles hängt von uns ab; wir müssen uns ändern. Natürlich wird auch die Bundesrepublik bestimmte Änderungen zu durchlaufen haben, aber nicht in einem so großen Ausmaß, wie wir das tun müssen.

"Die Bundesrepublik wurde zu einem demokratischen, friedliebenden Staat"

"Blätter": Wieweit hat die Bundesrepublik, die ja kein Nationalstaat im alten Sinn war, mit Traditionslinien deutscher Geschichte gebrochen? Konkret: Kann man ihr einen Vertrauensvorschuß einräumen, wie das in Schelesnowodsk bei den Gesprächen zwischen Präsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl geschehen ist?
Daschitschew: Zweifellos. Die Bundesrepublik wurde zu einem demokratischen, friedliebenden Staat mit einer gänzlich veränderten Mentalität der Bürger, mit einer hocheffizienten Wirtschaft, mit großem Wohlstand, einem entwickelten geistigen Leben und einer hohen politischen Kultur der Elite. Das muß man zugestehen. Aus meiner Sicht kann von der Bundesrepublik keine Gefahr für den Frieden oder für die Demokratie ausgehen. Die Außenpolitik nicht nur gegenüber der Sowjetunion, sondern auch in Verhältnis zu Polen, wurde geschickt gehandhabt, mit großem Verständnis, mit Toleranz, Geduld, Umsicht und Vorsicht ...
"Blätter": Einspruch!
Daschitschew: ... abgesehen vielleicht von der Diskussion über die Oder-Neiße-Grenze. Aber das war durch innerpolitische Überlegungen bestimmt. Im großen und ganzen meine ich, daß die Politik der Bundesregierung auf die Zukunft gerichtet und besorgt ist um die Verständigung mit den Nachbarvölkern, um die Aufrechterhaltung der politischen und wirtschaftlichen Stabilität und die Stärkung der Sicherheit....

"Die DDR war ein künstliches Gebilde"
Blätter": Sie haben vom außenpolitischen Einfühlungsvermögen der Bundesrepublik gesprochen. Für die Art und Weise, wie der Vereinigungsprozeß betrieben wurde, trifft diese Vokabel wohl kaum zu. Daschitschew: Die DDR war ein künstliches Gebilde, ein künstliches Staatsgefüge, aufgezwungen, vom Volk nicht getragen. Die Herrschaft der SED war nicht legitim, basierte nicht auf dem Prinzip der Souveränität des Volkswillens, sondern auf Gewalt. Deswegen hat m. E. der vor einigen Monaten entbrannte Streit, aufgrund welchen Grundgesetz-Artikels die DDR in den Bestand eines zukünftigen Deutschland eingehen sollte, keine Bedeutung. Denn wir können nicht von einer vollständigen Souveränität der DDR sprechen, einer Souveränität, die vom Volk ausgeht. Mir scheint die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in einem Nationalstaat durch Beitritt der DDR ein Weg zu sein, der ganz normal ist.
"Blätter": Der Beitritt war sicherlich eine der vorhandenen Möglichkeiten. Die Frage ist nur: Mußte man ihn so abwickeln? Die schnelle Angleichung der DDR um den Preis der Zerstörung der vorhandenen Infrastruktur - schneidet das nicht Lernmöglichkeiten ab, die es bei einer schrittweisen Transformation der DDR gegeben hätte?                
Daschitschew: Die Notwendigkeit, so bald wie möglich das administrative Kommandosystem durch einen anderen Wirtschaftsmechanismus abzulösen, hat das Tempo des Einigungsprozesses bestimmt. Sie müssen im Auge behalten, wie gefährlich und wie kostspielig die langwierigen Prozesse der Überführung unserer Wirtschaft in eine Marktwirtschaft sind, welche Unkosten, materielle, soziale und menschliche, dabei entstehen. Ich denke, daß dieser Prozeß so kurz wie möglich sein muß. Die schrittweise Vereinigung, die sich in die Länge zöge, würde mehr soziale Kosten verursachen als eine rasche ....

"Ohne Überwindung der deutschen Teilung kann die Sowjetunion nicht in die Familie der europäischen Völker zurückkehren"

„Blätter": Wie bewerten Sie das Ergebnis von 2 + 4?
Daschitschew: Das Hauptproblem in den 2 + 4-Verhandlungen bestand darin, die Vorbehalte der Sowjetunion gegenüber der Vereinigung Deutschlands zu überwinden. In unserem Land offenbarten sich in den letzten Jahren zwei Linien in der Deutschlandpolitik: Die alte, die sich an den Status quo klammerte, das waren meist die Anhänger von Gromyko, die darauf bestanden, zwei deutsche Staaten in Europa als konstante Erscheinung zu betrachten ...
"Blätter": Das gab es doch auch z. B. in England und Frankreich, wie sich bei 2 + 4 und im Vorfeld der Verhandlungen gezeigt hat.
Daschitschew: Nicht in so starkem Maße wie bei uns. Denn die Träger der alten Politik waren im Außenministerium und im ZK stark vertreten. Ihrer Ansicht nach diente die Teilung Deutschlands den nationalen Interessen der Sowjetunion. Sie konnten nicht begreifen, daß diese Teilung die eigentliche Quelle der Konfrontation der Sowjetunion mit dem ganzen Westen war. Diese Konfrontation im Verbund mit den Unzulänglichkeiten unseres wirtschaftlichen und politischen Systems wurde zu einer unerträglichen Bürde für das Volk, für die Wirtschaft, für die ganze Gesellschaft in unserem Land. Aus diesem Zustand mußte man so schnell wie möglich herauskommen.
"Blätter": Das war das Ziel der anderen Linie, zu deren herausragenden Verfechtern Sie zählen. Deschitschew: Ja. Die Widerstände gegen das neue Denken in der Deutschlandpolitik waren sehr stark. Deswegen war auch unsere politische Führung so unentschlossen, waren die Äußerungen unserer Spitzenpolitiker ziemlich widersprüchlich .... Erst in diesem Sommer kam es zu einer richtigen Wende in der Deutschlandpolitik.
"Blätter": Wodurch?
Daschitschew: Aus meiner Sicht, weil unsere Führung endlich verstand, daß die Wiedervereinigung unseren Interessen entspricht, daß es zweitens unrealistisch gewesen wäre, sich dem Prozeß der Wiedervereinigung entgegenstellen zu wollen, und drittens, daß ohne die Überwindung der Teilung der Kalte Krieg nicht hätte enden können. An vierter Stelle muß man die Änderungen in der politischen Philosophie und in der Strategie der NATO nennen. Man hat sich vergewissert, daß von selten der NATO keine Gefahr ausgeht. Diese BedrohungsvorsteIlungen wurden künstlich, durch die Propaganda, ins Leben gerufen und in einem großen Maße wurden unsere Politiker und unsere Bevölkerung zum Opfer dieser Propaganda.
"Blätter": Warum soll die NATO denn ihre Strategie ändern?
Daschitschew: Die NATO hat ihre Strategie geändert, weil auch unsererseits wichtige Schritte in Richtung Entspannung getan wurden; die Aufgabe unserer Herrschaft über Osteuropa. die Änderung unserer außenpolitischen Konzeption. Für den Westen stellt die Sowjetunion keine Gefahr mehr dar, anders als unter Beschnew. Daß früher eine Gefahr von der sowjetischen Politik ausging, haben Afghanistan, die ganze Affäre um die SS 20 Raketen und die Hochrüstung der Sowjetunion. die mit den Verteidigungsaufgaben und Sicherheitsbedürfnissen unseres Landes nichts gemein hatte gezeigt….

"Die Europäische Gemeinschaft kann als Vorbild für das zukünftige Europa dienen"
Blätter": Von der NATO abgesehen: Treten Polen, die Tschecheslowakei, Ungarn, auch die Sowjetunion, in absehbarer Zeit der EG bei?
Daschitschew: Die Europäische Gemeinschaft kann als ein Vorbild für das zukünftige Europa dienen. Denn sie hat sich als sehr effektivere Form der Zusammenarbeit mehrerer Staaten bewährt, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Bereich, bei der Organisation der menschlichen Kontakte usw. Wenn in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion der Prozeß der Aufhebung der Unvereinbarkeit, von dem ich gesprochen habe, abgeschlossen ist, wird die Frage über den Beitritt dieser Länder in eine Europäische Gemeinschaft gestellt. Zuerst als assoziierte Mitglieder, dann als Vollmitglieder. Das entspricht den Zielen der sowjetischen Politik, den sowjetischen Interessen, die die Rückkehr der Sowjetunion in die europäische Völkerfamilie beinhalten.
"Blätter": Sie reden von einer Rückkehr. Andersherum könnte man die Frage stellen: Besteht nicht die Gefahr einer dauerhaften Abkoppelung, weil in Westeuropa insbesondere auch in der deutschen Abteilung die exzessiv betriebene Beschäftigung mit sich selbst Interessen und Kräfte weitgehend absorbiert? Osteuropa könnte an seinen inneren Schwierigkeiten untergehen ...
Daschitschew: Eine Abkoppelung kann in Anbetracht der inneren Prozesse in der Sowjetunion natürlich passieren - wenn wir nicht schnell einen Rechtsstaat, basierend auf der freien Marktwirtschaft schaffen. Das wäre tragisch nicht nur für die Sowjetunion. sondern auch für Westeuropa. denn in einem solchen Fall kann sich in der Sowjetunion oder in Rußland eine Macht entwickeln, die zu dem Rest Europas feindselig eingestellt ist. ...

 
 
 
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Der Vertrag zur deutschen Einheit vom 20. September 1990 - Erläuterungen

Der Vertrag zur deutschen Einheit vom 20. September 1990 - Erläuterungen

Über den Inhalt dieses Vertrages, ist gemessen an der Schwierigkeit der Materie, extrem kurz verhandelt worden. Zwar füllt der Vertrag mit seinen 45 Artikeln, drei Anlagen und einer Protokollnotiz mehr als tausend Schreibmaschinenseiten, aber das sagt wenig über die Regelungsintensität im Einzelfall. ... Mit dem ersten Staatsvertrag war die Währungs-, Wirtschult- und Sozialunion mit der DDR hergestellt worden. Der zweite Staatsvertrag - "Einigungsvertrag" genannt - überträgt das gesamte rechtliche System, einschließlich des Verwaltungsaufbaus der Bundesrepublik, auf die fünf noch zu gründenden Länder der vergehenden DDR, "Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990", so heißt es in Artikel I des Vertrages, "werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland." ...
Wegen des Beitritts der DDR zum Grundgesetz mußte dieses - teils aus normalen Gründen, teils aber auch wegen der zu erwartenden Übergangsschwierigkeiten - in mehreren Artikeln ergänzt oder geändert werden .. " In der Präambel werden künftig auch die neuen DDR-Länder erwähnt. Der Passus, das deutsche Volk bleibt aufgefordert, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, soll ersetzt werden durch den Satz: "Damit gilt das Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk." Der Artikel 23 wird gestrichen… Im Artikel 143 ... soll künftig, aber nur übergangsweise. festgelegt werden, daß es im beigetretenen Teil Deutschlands zu Abweichungen vom Grundgesetz kommen kann ....
Auch das Recht der Europäischen Gemeinschaften nebst Änderungen und Ergänzungen wird nun auf dem Gebiet der DDR in Kraft gesetzt. Grundsätzlich geIten völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen, denen die Bundesrepublik angehört, nun auch dort; die Ausnahmen, zu denen etwa die NATO-Mitgliedschaft gehört, finden sich in den Anlagen. Hingegen heißt es zu den Vertragen, die die DDR abgeschlossen hat, es sei mit deren Vertragspartnern zu erörtern, "um ihre Fortgeltung, Anpassung oder ihr Erlöschen zu regeln beziehungsweise festzustellen." …
Mit dem neu eingefügten Artikel 143 des Grundgesetzes wird nicht nur bestimmt, daß Recht in der ehemaligen DDR bis Ende 1995 vom Grundgesetz ... abweichen kann. Der neue Artikel soll vielmehr zugleich sicherstellen, daß in den Jahren 1945 bis 1949 vorgenommene Enteignungen nicht rückgängig gemacht werden. Enteignungen, die nach 1949 stattgefunden haben, sollen grundsätzlich und wo immer es möglich erscheint, rückgängig gemacht werden.

 

 

 

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Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2.12.1990
Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2.12.1990
Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2.12.1990

Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2.12.1990

Bei den ersten Wahl zum gesamtdeutschen Bundestag am 2. Dezember 1990 wurde die in Bonn regierende CDU-CSU-FDP-Koalition durch das Wählervotum klar bestätigt. Während die Liberalen (mit 11,0 % der Zweitstimmen) einen ihrer größten Wahltriumphe feiern konnten, erfüllte sich die Hoffnung der Unionsparteien auf einen deutlichen Stimmenzuwachs mit 43,8% jedoch nicht. Die Sozialdemokraten rutschten bundesweit auf nur noch 33,5 % ab. Noch schlimmer traf es die im alten Bundesgebiet angetretenen Grünen, die an der Solo-Hürde scheiterten. Die im Osten erfolgreiche Listenverbindung Bündnis 90/Grüne und die SED-Nachfolgepartei PDS schafften dagegen den Sprung in den 12. Bundestag.

 

 

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Das Ende des Kalten Krieges: Gemeinsame Erklärung von Nato und Warschauer Pakt vom 19.11.1990 und die "Charta für ein neues Europa" der KSZE-Konferenz vom 21.11.1990, beschlossen auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 34 Teilnehmerstaat
Das Ende des Kalten Krieges: Gemeinsame Erklärung von Nato und Warschauer Pakt vom 19.11.1990 und die "Charta für ein neues Europa" der KSZE-Konferenz vom 21.11.1990, beschlossen auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 34 Teilnehmerstaat

3. Das vereinte Deutschland im internationalen System nach dem Ende des Kalten Krieges

Mit dem Bekenntnis Gorbatschows zur Schaffung einer pluralistischen Demokratie auch in der Sowjetunion, mit der Entlassung der osteuropäischen Staaten aus der sowjetischen Hegemonie in eine nichtsozialistische Selbstbestimmung und mit der Wiedervereinigung Deutschlands waren die Voraussetzungen für ein völlig neues Verhältnis der westlichen und östlichen Staaten Europas zueinander geschaffen worden. In gemeinsamen Erklärungen von NATO und Warschauer Pakt (noch vor seiner Auflösung) am 19. November sowie der nunmehr 34 KSZE-Staaten (nach dem Ausscheiden der DDR) am 21. November 1990 in Paris konnten die dort versammelten Staats- und Regierungschefs daher versichern, daß sie nunmehr nicht mehr Gegner, sondern Partner sein und ein neues Europa der Demokratie, des Friedens und der Einheit aufbauen wollen. Die Epoche des Kalten Krieges, durch die seit 1945 die Weltpolitik bestimmt worden war, hatte damit ein unerwartet rasches Ende gefunden.
Auch für die Bundesrepublik machte der Prozeß der Wiedervereinigung und der Erlangung der vollen Souveränität eine neue Bestimmung ihrer Aufgabe im Rahmen des internationalen Systems erforderlich. Die erste Regierungserklärung einer Bundesregierung nach der gesamtdeutschen Wahl vom 2. Dezember 1990 versuchte unter dem Motto "Es darf für Deutschland keine Flucht aus der Verantwortung geben" die Grundlinien dieser neuen Verantwortung des vereinten Deutschlands aufzuzeigen.

Das Ende des Kalten Krieges: Gemeinsame Erklärung von Nato und Warscheru Pakt vom 19.11.1990 und die "Charta für ein neues Europa" der KSZE-Konferenz vom 21.11.1990, beschlossen auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 34 Teilnehmerstaaten in Paris

 

 
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"Der neuen Verantwortung gerecht werden." Aus der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl nach der gesamtdeutschen Wahl vom 2. Dezember 1990, abgegeben vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 1991
"Der neuen Verantwortung gerecht werden." Aus der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl nach der gesamtdeutschen Wahl vom 2. Dezember 1990, abgegeben vor dem Deutschen Bundestag am 30. Januar 1991
 

Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu. So sehen es auch unsere Partner in der Welt. Sie erwarten vom vereinten Deutschland, daß es dieser neuen Rolle gerecht wird. Es geht dabei überhaupt nicht um nationale Alleingänge oder gar Machtambitionen; denn für uns gibt es auf dieser Welt nur einen Platz: in der Gemeinschaft der freien Völker. Gefordert sind jetzt mehr denn je Vernunft und Augenmaß und vor allem auch das Festhalten an den Zielen, die wir uns vorgenommen haben. Wir alle wissen, wir stehen am Beginn eines langen und auch beschwerlichen Weges:
- Wir wollen Deutschland zusammenführen, und zwar in jeder Hinsicht: geistig, kulturell, wirtschaftlich und sozial.
- Wir wollen mitwirken am Bau einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für Europa, die alle Völker unseres so lange geteilten Kontinents in gemeinsamer Freiheit zusammenführt.
- Wir wollen an einer Weltfriedensordnung mitarbeiten, die auf die Herrschaft des Rechts gegründet ist: auf die Achtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker sowie auf den gemeinsamen Willen zur Bewahrung der dem Menschen anvertrauten Schöpfung ...
Über vier Jahrzehnte hinweg mußten die Deutschen in Ost und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gestalten. Wohlverhalten und offener Widerspruch, Anpassung und innere Emigration, Selbstverleugnung aus Angst vor Gefährdung der eigenen Zukunft, der Zukunft der Familie und im Beruf, dies alles waren Verhaltensweisen und Erfahrungen unter dem SED-Regime. Jene Deutschen, die das Glück hatten, in dieser Zeit auf der Sonnenseite unseres Landes und unserer Geschichte in Freiheit in der Bundesrepublik leben zu dürfen, haben diese bitteren Erfahrungen nicht machen müssen. Sie sollten sich vor Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit hüten. Wir müssen gerade vor denjenigen Landsleuten höchsten Respekt bezeugen, die ihren unbeugsamen Freiheitswillen bekundeten und oft Schlimmes erdulden mußten.
Wir müssen aber auch Verständnis dafür haben, daß manche in über 40 Jahren Diktatur ohne große Hoffnung auf Veränderungen versuchten, im Privaten ihr Glück zu finden. Wir alle wissen, daß dies oft nur unter Kompromissen möglich war. Die Diktatur der SED hat gerade auch in den Herzen der Menschen Wunden geschlagen. Gezielt versuchten die kommunistischen Machthaber, Menschen gegeneinander auszuspielen, Vertrauen zu zerstören und Haß zu säen. Wir dürfen jetzt nicht zulassen, daß noch im nachhinein die Saat der SED aufgeht. Wir müssen unbeirrt den Weg des Rechtsstaates gehen; auch wenn mancher aus seiner bitteren Erfahrung dies nicht sofort versteht. Denn nur im Rechtsstaat verbindet sich die Forderung nach Gerechtigkeit mit dem Willen zum inneren Frieden…
Dabei bleibt unser Kernziel die politische Einigung Europas. Natürlich wissen wir alle daß die Europäische Gemeinschaft nicht das ganze Europa ist. Deshalb muß die Gemeinschaft grundsätzlich für andere europäische Länder offen sein ....
Die Gemeinschaft wird auf diese Weise zum Kristallisationspunkt für das Europa der Freiheit, für die Vereinigten Staaten von Europa…
Unverzichtbarer Sicherheitsverbund zwischen Europa und Nordamerika und bleibt die Nordatlantische Allianz. Zwar hat der politische Wandel in Europa die Konfrontation zwischen Ost und West abgebaut, und die Sicherheitslage auf unserem Kontinent hat sich trotz verbleibender Risiken spürbar verbessert; gleichwohl ist das Bündnis, dem gerade wir, die Deutschen, so viel verdanken, in keiner Weise überf1üssig geworden. Man kann nicht ofl genug daran erinnern: Es war nicht zuletzt das Bündnis, das den Wandel in Europa und in Deutschland entscheidend mit herbeigeführt hat ....
Der neuen Verantwortung gerecht zu werden, erfordert Abkehr von manchen bequemen Denkschablonen der Vergangenheit. Es erfordert Mut zur Zukunft. Mit der Vereinigung unseres Vaterlandes ist Deutschland in eine neue Epoche eingetreten. Nach fast 200 Jahren hat das Ringen um .die politische Gestalt unseres Vaterlandes, um seine innere Ordnung und seinen Platz in Europa zu einem glücklichen Ende gefunden. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gehen Einheit, Freiheit und friedliches Einvernehmen mit unseren europäischen Nachbarn eine untrennbare Verbindung ein, und dafür sind wir dankbar. Ganz Deutschland hat jetzt die Chance, sein inneres Gleichgewicht, seine Mitte zu finden. Dazu gehört, daß sich auch in Deutschland entfalten kann, was in anderen Nationen selbstverständlich ist: gelebter Patriotismus ein Patriotismus in europäischer Perspektive, ein Patriotismus, der sich der Freiheit verpflichtet…
Es geht jetzt darum, daß das vereinte Deutschland seine Rolle im Kreis der Nationen annimmt - mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Dies wird mit Recht von uns erwartet - und wir müssen dieser Erwartung gerecht werden. Es gibt für uns Deutsche keine Nische in der Weltpolitik. Es darf für Deutschland keine Flucht aus der Verantwortung geben. Wir wollen unseren Beitrag leisten zu einer Welt des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit. Das ist unsere Vision: eine neue Ordnung für Europa und die Welt, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, der Unantastbarkeit der Menschen würde und der Achtung der Menschenrechte beruht. Der Weg dorthin wird beschwerlich sein und - wie wir heute mehr denn je wissen - voller Risiken ja Gefahren. Aber es lohnt sich, ihn zu gehen - zum Wohle der Menschen in Deutschland und in Europa und im Bewußtsein unserer Verantwortung für den Frieden in der Welt. Wir sind dazu bereit!

 
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Ansprache des tschechoslowakischen Staatspräsidenten, Vaclav Havel, am Sitz der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO) in Brüssel am 21. März 1991
Ansprache des tschechoslowakischen Staatspräsidenten, Vaclav Havel, am Sitz der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO) in Brüssel am 21. März 1991
 

Als die totalitären Systeme in Mittel- und Osteuropa zusammenbrachen und die Demokratie dort dic Oberhand gewann, und als dann, als Konsequenz hieraus, der Eiserne Vorhang, der Europa geteilt hatte, ebenfalls fiel, in diesen ersten Wochen und Monaten der Freiheit - Wochen und Monate voller Enthusiasmus - erschien uns alles klar und einfach: Der Warschauer Pakt, ein Relikt des Kalten Krieges und formeller Ausdruck unserer Satellitenposition und Unterordnung unter Stalins und später Breschnews Sowjetunion - dieser Warschauer Pakt würde friedlich aufgelöst werden, während die NATO ihre Umwandlung weiter schnell vorantreiben würde, um so möglicherweise in einer völlig neuen Sicherheitsstruktur aufzugehen, die ganz Europa abdecken und es auf der einen Seite mit dem Nordamerikanischen Kontinent und auf der anderen Seite mit der ehemaligen Sowjetunion verbinden würde. Es schien uns, daß die angemessenen politischen Rahmenbedingungen für die Schaffung einer solchen Sicherheitsstruktur durch die KSZE geboten werden könnten, die notwendigerweise neue Impulse und eine neue Ordnung erhalten würde. Es schien uns, daß ein so weitreichendes System von Sicherheitsgarantien einen guten Hintergrund und zugleich eine Garantie liefern könnte für ein Europa auf dem Weg zur Integration. Wir wußten von Anfang an, daß die NATO jetzt das einzige funktionierende und zeiterprobte Verteidigungsbündnis auf europäischem Boden, eine wichtige Rolle in diesem Prozeß spielen würde. Wir glaubten, daß die NATO ein solider Kern, Eckstein oder Stützpfeiler einer solchen zukünftigen paneuropäischen Sicherheitsunion sein könnte. Wir in der Tschecheslowakei waren mit solchen Gedanken nicht alleine - die Überlegungen einiger anderer europäischer Politiker und eines beachtlichen Teils der Öffentlichkeit gingen in ähnliche Richtungen ....
Dennoch, wie ich schon sagte, wird der Fortschritt hin zu dieser Vision wahrscheinlich komplizierter sein als es ursprünglich schien, und die Umstände verlangen von uns, daß wir bei all unseren kühnen Gedanken an eine zukünftige Ordnung nicht versäumen sollten, die Probleme und Gefahren des Augenblicks zu berücksichtigen und angemessene Konsequenzen zu ziehen. Ich möchte die gewichtigeren dieser Probleme nur kurz erwähnen.
1. Es ist offensichtlich geworden, daß der Aufbau demokratischer Systeme und der Übergang zu Marktwirtschaft in den Ländern Mittel- und Osteuropas von mehr Hindernissen betroffen sind, als ursprünglich erwartet wurde und daß das unselige Vermächtnis, das diese Länder zu bewältigen haben, tiefer geht und weiter verzweigt ist als irgendjemand sich vorstellen konnte. Die allgemeine Demoralisierung, die das kommunistische Regime hinterlassen hat, ist tief verwurzelt, und der Schock für die Gesellschaft, ausgelöst durch die plötzliche Invasion ihres Lebens durch die Freiheit, war unerwartet stark. Unsere Länder sehen sich der Bedrohung politischer und sozialer Unruhe, materieller Entbehrungen, krimineller Aktivitäten, zu nehmend intensiver Gefühle der Hoffnungslosigkeit in der Gesellschaft und folglich auch der Gefahr des Populismus gegenüber. Die dort errichteten Demokratien sind sehr zerbrechlich und deswegen leicht zu verletzen, da jedes ihrer Elemente eine fundamentale Veränderung durchmacht. Die Wirtschaften dieser Länder werden kaum fähig sein, sich in absehbarer Zukunft ohne massive ausländische Hilfe zu erholen. Der völlig unnatürliche Markt, basierend auf dem Zwangsaustausch von Waren schlechter Qualität, der über Jahre innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe aufrechterhalten wurde, ist zusammengebrochen und die Unternehmen sehen sich unter den neuen Voraussetzungen bei der Suche nach neuen Märkten für ihre Produkte in Schwierigkeiten.
2. Der lange unterdrückte Wunsch nach Selbstbestimmung der Völker Mittel- und Osteuropas hat sich plötzlich in all seiner nicht bedachten Dringlichkeit bemerkbar gemacht, einige Male als Nationalismus, Xenophobie und Intoleranz gegenüber anderen Nationalitäten.
3. Einige Aspekte der Entwicklungen in der Sowjetunion geben uns triftige Gründe zur Beunruhigung. Der Portschritt in Richtung Demokratie, Selbstbestimmung der Völker und einer funktionierenden Wirtschaft in der Sowjetunion wird von ernsten Komplikationen behindert…
Dem Westen dessen Zivilisation auf universellen Werten basiert, kann das Schicksal des Ostens nicht gleichgültig sein, aus Prinzip-, aber auch aus praktischen Gründen. Instabilität, Armut, Unglück und Unordnung in den Ländern, die sich von despotischer Herrschaft befreit haben, können für den Westen genauso bedrohlich werden wie die Waffenarsenale der ehemaligen despotischen Regierungen. Was die Menschen im Osten aus gutem Grunde fürchten sollte auch dem Westen ein Grund zur Furcht sein. Ich weiß, daß Ihnen das alles wohl bewußt ist und daß Sie uns deshalb eine helfende Hand entgegenstrecken ....

 
 
 
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"Prager Thesen" vereinbart vom Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Dietrich Genscher, und dem Außenminister der CSFR, Jiri Dienstbier, in Prag arn 11. April 1991
"Prager Thesen" vereinbart vom Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Dietrich Genscher, und dem Außenminister der CSFR, Jiri Dienstbier, in Prag arn 11. April 1991
 

l. Es entspricht der Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft für die Zukunft Europas, daß sie den neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa zur Mitgliedschaft offensteht.
2. Die Sicherheit und Stabilität der Staaten Westeuropas ist eng verbunden mit dem Erfolg der demokratischen und wirtschaftlichen Veränderungen der Staaten in Mittel- und Osteuropa.
3. Für das ganze Europa ist es wichtig, den KSZE-Prozeß auf der Grundlage der Charta von Paris für ein ncues Europa auszubauen und mit neuen Institutionen zu versehen.
4. Es ist unser gemeinsames Ziel, Stabilität in Europa im umfassenden Sinne zu gewährleisten, das heißt auch ökonomisch, ökologisch und sicherheitspolitisch.
5. Für die Stabilität in Europa sind die Europäische Gemeinschaft und der Europarat von großer Bedeutung. NATO und WEU werden auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
6. Für die Sicherheit Europas wird auch in der Zukunft die transatlantische Dimension, das heißt die enge Zusammenarbeit mit den USA und Kanada unerläßlich sein.
7. Die europäische Friedensordnung, die wir anstreben, bezieht die Sowjetuniuon ein, die auch in der Zukunft für die Entwicklung auf unserem Kontinent eine wichtige Rolle zu erfüllen hat. Die Grenze, die Europa geteilt hat, darf nicht an die sowjetische Westgrenze verlegt werden.
8. Die Staaten Mittel- und Osteuropas sollen im Rahmen gesamteuropäischer Institutionen und aufgrund bilateraler Vereinbarungen ihre Stabilität und ihren Platz in Europa finden.

 
 
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Anhang

Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 Grundgesetz). Das demokratische Prinzip besagt, daß die politische Willensbildung vom Volk ausgeht; dies geschieht der Form nach vor allem durch die Wahl von Abgeordneten zum Parlament. Aus dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich die Verpflichtung des Staates, zu einer gerechten Sozialordnung beizutragen. Das föderative Prinzip gibt den Bundesländern das Recht, ihr staatliches Leben im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung frei zu gestalten; es verpflichtet sie zugleich, die gesamtstaatlichen Belange zu wahren und an der Erfüllung zentraler Aufgaben mitzuwirken.
Das Rechtsstaatsprinzip bindet die Staatsgewalt an Recht und Gesetz und unterwirft sie der Überprüfung durch unabhängige Gerichte.
Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung werden die verschiedenen Funktionen der Staatsgewalt durch mehrere voneinander unabhängige Staatsorgane ausgeübt. Oberstes gesetzgebendes Organ ist der Bundestag, dessen Abgeordnete alle vier Jahre in allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl unmittelbar vom Volk gewählt werden. Durch den Bundesrat, der das föderative Element im Staatsautbau verkörpert, wirken die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mit. Im Gesetzgebungsverfahren ist je nach dem Gegenstand des Gesetzes die Zustimmung des Bundesrats erforderlich oder doch zumindest sein Einspruch möglich.
Die völkerrechtliche Vertretung des Bundes liegt beim Bundespräsidenten, der von der Bundesversammlung auf jeweils fünf Jahre gewählt wird. Die Bundesversammlung besteht aus den Bundestagsabgeordneten und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Parlamenten der Bundesländer entsandt werden. Auf Vorschlag des Bundespräsidenten wählt der Bundestag mit den Stimmen der Mehrheit seiner Mitglieder den Bundeskanzler. Die vom Bundeskanzler ausgewählten Mitglieder der Bundesregierung werden auf seinen Vorschlag von Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Er kann nur durch ein sogenanntes konstruktives Mißtrauensvotum abgewählt werden, dann nämlich, wenn der Bundestag mit der erforderlichen Mehrheit einen neuen Bundeskanzler wählt.
Die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt liegt beim Bundesverfassungsgericht, den Bundesgerichten und den Gerichten der Länder. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Grundgesetzes besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern. Sie werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt.

Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland
Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland
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Die 16 Bundesländer im vereinten Deutschland
Die 16 Bundesländer im vereinten Deutschland
Die 16 Bundesländer im vereinten Deutschland
Am 3. Oktober 1990 ist die Deutsche Demokratische Republik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Die neugebildeten fünf ostdeutschen Länder sind von diesem Zeitpunkt an in den föderativen Aufbau des vereinten Deutschland eingebunden. Gleiches gilt
für das Land Berlin, das aus der Vereinigung von West- und Ost-Berlin hervorgegangen ist.
Die gesamtdeutsche Bundesrepublik besteht damit aus 16 Bundesländern mit einer Fläche von 357000 qkm und einer Bevölkerung von rund 78,7 Mio. Menschen. Das frühere Bundesgebiet (einschließlich West-Berlin) hat 248700qkm und 62,4 Mio. Einwohner, die ehemalige DDR (einschließlich Ost-Berlin) 108300 qkm und 16,4 Mio. Einwohner in das vereinte Deutschland eingebracht.
Wegen ihrer geringen Wirtschafts- und Steuerkraft werden die ostdeutschen Länder noch auf Jahre hinaus eine finanz- und wirtschaftspolitische Sonderstellung einnehmen. So findet vorerst kein gesamtdeutscher Länderfinanzausgleich statt. Vielmehr erhalten die Ost-Länder neben einem Umsatzsteueranteil, der 1991-94 stufenweise von 55 auf 70 % des westdeutschen Niveaus steigt, besondere Zuweisungen aus dem Fonds "Deutsche Einheit".
Im Bundesrat, der als Länderkammer an der Bundesgesetzgebung mitwirkt, sind die ostdeutschen Länder mit jeweils vier Stimmen vertreten. Die großen westdeutschen Länder, die ihre Position gegenüber den kleineren, finanzschwächeren Ländern gefährdet sahen, konnten eine Grundgesetzänderung zu ihren Gunsten durchsetzen. So verfügen Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen nunmehr über sechs Stimmen Im Bundesrat. Die Gesamtzahl der Stimmen erhöht sich auf 69 (früher 45).
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Entwicklung wirtschaftlicher Grunddaten 1961-1990
Entwicklung wirtschaftlicher Grunddaten 1961-1990
Entwicklung wirtschaftlicher Grunddaten 1961-1990
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Wahlen zum Deutschen Bundestag 1949-1990
Wahlen zum Deutschen Bundestag 1949-1990
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Zeittafel

1966

 

1.12

Wahl von Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum Bundeskanzler. Bildung des Kabinetts der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD mit Willy Brandt (SPD) als Vizekanzler und Außenminister

In 1966

Verstärkung der US-Truppen in Südvietnam auf 425 000 Mann. Die direkte und offizielle Beteiligung der USA am Krieg zwischen Nord- und Südvietnam erstreckte sich von 1964 bis 1973

1967

 

14.2.

Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (S PD) richtet die "Konzertierte Aktion" ein

14.6.

Das "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" (Stabilitätsgesetz) tritt in Kraft

14.12.

Im Harmel-Bericht des Nordatlantikrates werden der Allianz die doppelte Aufgabe der militärischen Sicherung und der Förderung einer Entspannungspolitik zwischen Ost und West gestellt

1968

 

6.4.

Annahme einer neuen Verfassung der DDR, die im Unterschied zur Verfassung von 1949 der realsozialistischen Charakter der DDR und den FÜhrungsanspruch der SED festschreibt

11.4.

Mordanschlag in Berlin auf Rudi Dutschke, den führenden Ideologen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)

30.5.

Der Bundestag verabschiedet eine Änderung des Grundgesetzes, durch die verfassungsrechtlich umgrenzte Vorkehrungen für den Fall eines Notstandes getroffen weren (Notstandsgesetze)

15.7.

Formulierung der „Breschnew-Doktrin" von der begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten

21.8.

Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages in die CSSR zur Beendigung des ,,Prager Frühlings"

1969

 

5.3.

Gustav Heinemann (SPD) wird mit den Stimmen von SPD und FDP zum Nachfolger von Heinrich Lübke (CDU) zum Bundespräsidenten gewählt

13.9.

Nach der Wahl zum 6. Deutschen Bundestag kommt es zur Bildung
einer SPD-FDP-Koalition mit Willy Brandt (SPD) als Bundeskanzler und Walter Scheel (FDP) als Vizekanzler und Außenminister

24.10.

Die Deutsche Mark wird um 8,5 Prozent aufgewertet

28.11.

Die Bundesrepublik tritt dem Atomwaffensperrvertrag

1970

 

19.3./21.5.

Innerdeutsches Gipfeltreffen von Bundeskanzler Brandt und DDR-Ministerpräsident Stoph in Erfurt und Kassel

7.8.

Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Vertrages (Moskauer Vertrag), durch den die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen erklärt wird

7.12.

Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrages (Warschauer Vertrag) durch den die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze anerkannt wird

1971

 

3.9.

Unterzeichnung des Viermächteabkommens über Berlin

1972

 

28.1.

Verabschiedung des Extremistenbeschlusses (Radikalen-Erlaß)

27.4.

Der Antrag der CDU/CSU-Opposition auf ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt durch Wahl von Rainer Barzel zum neuen Bundeskanzler scheitert

22.-30.5.

Präsident Nixon und Parteichef Breschnew unterzeichnen in Moskau das SALT  I-Abkommen (Strategie Arms Limitations Talks) das eine zahlenmäßige Begrenzung strategischer Atomwaffen vorsieht

17.5.

Der Bundestag ratifiziert den Moskauer und den Warschauer Vertrag

19.11.

Vorgezogene Wahlen zum 7. Deutschen Bundestag. Die SPD wird erstmals stärkste Partei und erneuert die sozialliberale Koalition

21.12.

Unterzeichnung des „Vertrag(es) über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR" (Grundlagenvertrag)

1973

 

1.1.

Erweiterung der Sechser-Gemeinschaft der EG durch die Aufnahme Englands, Dänemarks und Irlands

16.3.

Freigabe der Wechselkurse der EG-Länder gegenüber dem Dollar. De-facto-Ende des Bretton-Woods-Systems von 1944, d. h. eines Systems fester Wechselkurse mit dem US-Dollar als Leitwährung und der Verpflichtung der USA, Devisen-Dollars ausländischer Notenbanken zum festen Preis gegen Gold einzutauschen

18.9.

Aufnahme der Bundesrepublik und der DDR in die UNO

Okt.

Ölembargo und anschließende Preiserhöhungen der OPEC im Zusammenhang mit dem 4. israelisch-arabischen Krieg

11.12.

Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen zur CSSR

1974

 

7.10.

Novellierung der DDR-Verfassung von 1968 und dabei Tilgung aller gesamtdeutschen Zielsetzungen und Hinweise aus der bisherigen Verfassung der DDR

15.5.

Der FDP-Vorsitzende Walter Scheel wird zum neuen Bundespräsidenten gewählt

 

16.5.

Der amtierende Bundesfinanzminister Helmut Schmidt (SPD) wird zum Kanzler gewählt, nachdem Willy Brandt am 6. 5. wegen des Spionagefalls Guillaume (DDR-Spion im Kanzleramt) zurückgetreten war

1975

 

27.2.

Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch die RAF

1.8.

Vertreter von 35 Staaten (aus Europa sowie den USA und Kanadas) unterzeichnen in Helsinki die Schlußakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE)

1976

 

3.10.

Beginn der Stationierung der gegen Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen durch die Sowjetunion.

Bei den Wahlen zum 8. Deutschen Bundestag wird die sozialliberale Koalition bei leichten Verlusten bestätigt. Am 15. 12. wird Helmut Schmidt erneut zum Bundeskanzler gewählt

1977

 

1.1.

Gründung der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta '77

5.9.

Nach voraufgegangenen Morden an Generalbundesanwalt Buback und dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank Ponto wird der Präsident der Arbeitgeber- und Industrieverbände, Martin Schleyer, entführt

 

18.10.

Erstürmung einer nach Mogadischu (Somalia) entführten Lufthansamaschine. Selbstmord führender in Stuttgart-Stammheim einsitzender RAF-Terroristen. Mord an Martin Schleyer

 

1979

 

13.3.

Das Europäische Währungssystem (EWS) tritt in Kraft und schafft einen festen Währungsverbund mit festen Wechselkursen zwischen den EG-Ländern mit Ausnahme Englands

 

23.5.

Karl Carstens (CDU) wird zum neuen Bundespräsidenten gewählt

18.6.

Der sowjetische Partei- und Regierungschef Breschnew und der US-Präsident Carter unterzeichnen in Wien den SALT II-Vertrag

12.12.

Die Mitgliedstaaten der NATO verabschieden den sogenannten
NATO-Doppelbeschluß über die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa

31.12.

Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan

1980

 

13.1.

Gründung der Partei "Die Grünen" als Bundespartei

14.8.

Ein Streik auf der Danziger Lenin-Werft wird zum Ausgangspunkt der Gründung der unabhängigen polnischen Gewerkschaft "Solidarnosc"

5.10.

Bei den Wahlen zum 9. Deutschen Bundestag behauptet sich Helmut Schmidt gegen seinen Herausforderer Franz Josef Strauß (CSU).

4.11.

Der Republikaner Ronald Reagan siegt bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen mit 51 % über seinen demokratischen Vorgänger Jimmy Carter

1981

 

1.1.

Griechenland wird zehntes Mitglied der EG

 

 

 

Nov.

In Genf beginnen die INF-Verhandlungen zwischen den USA und der SU, im Jahr darauf die START-Verhandlungen

 

11.-13.12.

Treffen zwischen Bundeskanzler Schmidt und DDR-Staats- und Parteichef Honecker am Werbellinsee in der DDR

 

1982

 

 

10.6.

Während der NATO-Gipfelkonferenz in Bonn demonstrieren 350 000 Anhänger der Friedensbewegung gegen die Aufrüstung in Ost und West

 

1.10.

Durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt wählt der Bundestag den Vorsitzenden der CDU/CSU-Franktion, Helmut Kohl, zum neuen Bundeskanzler

 

4.10.

Bildung einer christlich-liberalen Koalition mit Hans-Dietrich Genscher als Außenminister und Vizekanzler

 

1983

 

 

6.3.

Die vorgezogenen Wahlen zum 10. Deutschen Bundestag bestätigen die christlich-liberale Koalition unter Bundeskanzler Kohl. Den Grünen gelingt mit 5,6 % erstmals der Einzug in den Bundestag

 

22.11.

Der Bundestag billigt gegen die Stimmen der SPD und der Grünen die Aufstellung von US-Nuklearraketen in der Bundesrepublik gemäß dem NATO-Doppelbeschluß von 1979

 

7.11.

Gründung der rechtsextremen Partei der "Republikaner" in Bayern

 

1984

 

 

6.1.

US-Präsident Reagan gibt den Beginn des SDI-Programms bekannt

 

23.5.

Richard von Weizsäcker (CDU) wird auch mit den (meisten) Stimmen der SPD zum Bundespräsidenten gewählt

 

26.6.

Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) tritt wegen seiner Verwicklung in die Flick-Parteispendenaffäre zurück

 

1985

 

 

1.2.

Die Arbeitslosenquote steigt auf 10,6 Prozent an, dem höchsten Stand seit Gründung der Bundesrepublik (1950: 10,4 %)

 

11.3.

Michail Gorbatschow wird Generalsekretär der KPdSU

 

3.12.

Der Europäische Rat, die Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG, beschließt die "Einheitliche Europäische Akte", die bis Ende 1992 die Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes vorsieht

 

1986

 

 

1.1.

Erweiterung der Zehner-Gemeinschaft der EG zur Zwölfer- Gemeinschaft durch den Beitritt Spaniens und Portugals

 

26.4.

Im Atomkraftwerk Tschernobyl (UdSSR) kommt es zum Gau (größter anzunehmender Unfall). Große Teile Europas werden durch radioaktiven Fall-out belastet

 

 

1987

 

 

25.1.

Die Wahlen zum 11. Deutschen Bundestag bestätigen unter leichten Verlusten die christlich-liberale Koalition

 

7.9.

Erich Honecker besucht als erster Staatsratsvorsitzender der DDR die Bundesrepublik und wird in Bonn mit allen protokollarischen Ehren empfangen

 

3.12.

Der amerikanische Präsident Reagan und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow vereinbaren in Washington die Doppel- Null-Lösung zum Abbau ihrer nuklearen Mittelstreckenraketen kürzerer und längerer Reichweite in Europa. Am 1. 9. 1989 werden die ersten der in der Bundesrepublik stationierten Pershing ll-Raketen abgezogen.

 

 

1988

 

 

14.4.

Die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Pakistans und Afghanistans unterzeichnen in Genf das Abkommen zur Lösung des Afghanistankonflikts. Am 15. 2. 1989 verlassen die letzten sowjetischen Truppen Afghanistan

 

3.10.

Der CSU-Vorsitzende und Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß gestorben

 

8.11.

Der Republikaner George Bush wird als Nachfolger Ronald Reagans zum 41. Präsidenten der USA gewählt

 

1989

 

 

Bearbeiter: Kutsch Patricia
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