
Die Jüdische Gemeinde Marburg blickt im Jahr 2017 auf die urkundliche Ersterwähnung einer Synagoge vor 700 Jahren zurück. Ein umfängliches und abwechslungsreiches Programm lädt Bürgerinnen und Bürger ein, ganz unterschiedliche Facetten des jüdischen Lebens über die Jahrhunderte und das heutige Gemeindeleben besser kennen zu lernen. Das Staatsarchiv Marburg, das Archiv der Philipps-Universität und das Stadtarchiv Marburg beteiligen sich hieran mit einer Ausstellung, die den Schwerpunkt auf die Stadt Marburg und ihre Umgebung im ausgehenden 18. und vor allem im 19. Jahrhundert legt, eine Zeit, in der Juden sukzessive die bürgerliche Gleichstellung zugestanden wurde. Die Ausstellung fragt danach, welche Aktionsräume sich für Juden eröffneten und wie sie diese besetzten, welche Widerstände sich ihnen entgegenstellten und inwiefern dieser Prozess als gelungen bezeichnet werden kann.
Der Raum Marburg bildet einen interessanten Mikrokosmos. In der einst landgräflichen Residenz lebten seit dem Mittelalter mehr oder weniger kontinuierlich Juden. Seit der Gründung der Universität 1527 war das Leben in dieser Stadt zudem akademisch geprägt. Darüber hinaus lebte im ländlichen Umland Marburgs seit dem 16. Jahrhundert vielerorts eine jüdische Dorfbevölkerung, welche sich religiös und wirtschaftlich auf die Stadt hin orientierte.
In sieben Abteilungen beleuchtet die Ausstellung zunächst die Zeit der Schutzjudenschaft und der prekären Lebensverhältnisse am Ende des Ancien Régimes, um anschließend den hessischen „Zickzack-Kurs“ der rechtlichen Gleichstellung nachzuvollziehen, welche erst nach dem Übergang an Preußen 1869 vollendet wurde. Sie vermittelt, wie schwierig es war, an der Marburger Philipps-Universität als Wissenschaftler jüdischen Glaubens zu reüssieren und eine Professur zu erlangen oder als studentische Verbindung akzeptiert zu werden. Gleichzeitig zeigt sie auf, dass sich in Marburg ein geschäftlich erfolgreiches jüdisches Bürgertum etablierte und auch die Landjuden einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg erlebten. Am Ende der sozialen Leiter existierte allerdings weiterhin eine kleine Schicht von Juden in prekären Lebensverhältnissen, die vor allem in kurhessischer Zeit als „Nothändler“ rechtlich besonders diskriminiert blieb. Das gesamte 19. Jahrhundert war von wirtschaftlichen Krisen gekennzeichnet, die besonders die hessische Landbevölkerung trafen. Am Ende des Jahrhunderts machten scharfe antisemitische Agitatoren wie Otto Böckel die wirtschaftlich aufstrebenden Juden für die Misere verantwortlich und gaben dem sich im gesamten Reich ausbreitenden politischen Antisemitismus eine spezifisch hessische Ausprägung. Marburg mit seinem Umland war eine Hochburg dieses Antisemitismus‘, dem sich trotz aller Erfolge engagierte Bürger aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus publizistisch und in Vorträgen sowie auf juristischem Wege auch von Verleumdungen Böckels betroffene Juden entgegenstellten. Somit ist die Emanzipation der Juden aus dem lokalen Blickwinkel betrachtet wechselvoll und ambivalent. Das alltägliche Leben der Juden um die Jahrhundertwende, namentlich ihre religiösen Praktiken, Geschäftstätigkeiten, ihr Bildungsstreben und gesellschaftliches Engagement, veranschaulichen insbesondere Objekte aus öffentlichen und privaten Sammlungen.
Die ausgestellten und hier abgebildeten Dokumente stammen vornehmlich aus den beteiligten Archiven, Objekte in nicht unerheblichem Umfang liehen die Religionskundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg und der Arbeitskreis Landsynagoge Roth aus, weitere Einzelstücke die Martin-Luther-Schule in Marburg, die Universitätsbibliothek Marburg, Das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, das Landesarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg, Annemarie und Werner Schlag aus Fronhausen, Anna Koch und Konrad Pfeffer.

Im Mittelalter und in der Neuzeit waren die Juden im deutschen Kulturraum eine gesellschaftlich randständige Minderheit. In den frühesten Quellenbelegen treten sie als Händler auf, die gegen die Zahlung einer Abgabe in den königlichen Schutz genommen wurden. Dieses „Judenregal“ beanspruchten nach und nach auch die bedeutenderen Adelsgeschlechter und Städte, so dass es sich zunehmend zu einem Recht entwickelte, das vor allem auf den finanziellen Nutzen desjenigen abzielte, der diesen Schutz gewährte.
Christen war das Zinsennehmen aus religiösen Gründen verboten. Dennoch bestand zu jeder Zeit ein Bedarf an Krediten und, wegen der Vielfalt der Währungen, auch an Geldhandel. Da es Juden verwehrt wurde, Grund und Boden zu erwerben, und ihnen die Zünfte verschlossen blieben, fanden sie vor allem im Handel ein Auskommen, der häufig um „Geldgeschäfte“ ergänzt wurde. Als religiös und sozial ausgegrenzte Händler und Kreditgeber bestand für die Juden in Krisenzeiten immer die Gefahr, dass ihnen die Rolle des „schwarzen Schafes“ angehängt wurde und sie des Wuchers bezichtigt wurden. Derartige Anschuldigungen verbanden sich nicht selten mit Vorwürfen wie Hostienschändungen, ja Ritualmorden oder Brunnenvergiftungen und konnten in brutalen Verfolgungen kulminieren, wie z.B. während der Pestumzüge im 14. Jahrhundert in Fulda, Gelnhausen, Friedberg oder Frankfurt.
Die im Spätmittelalter mehr und mehr vom Handel und insbesondere vom Fernhandel profitierenden und florierenden Städte drängten die Handel treibenden Juden als Konkurrenten ab in den Lokal- und ländlichen Kleinhandel. Da auch dieser mit Kreditgeschäften verbunden war, breitete sich die Aversion gegen Juden nun auch unter Kleinhändlern, Handwerkern und Bauern aus. Dies bot den Landesherren und Städten die lukrative Gelegenheit, Juden unter ihren Schutz zu nehmen. Die Schutzzusagen mussten jedoch immer wieder gegen Geld ausgehandelt werden, denn sie beschränkten sich in der Regel nur auf wenige Jahre, in Hessen auf drei, manchmal auf sechs Jahre.
Im 16. Jahrhundert wurde die individuelle Schutzbriefpraxis ersetzt durch den Erlass allgemeiner Judenordnungen, die fortan Wohnrecht, Steuern usw. festlegten. Diese Ordnungen entsprangen dem Anspruch des sich festigenden Territorialstaats, sich nicht mehr nur für die Nutzung von Rechten zu interessieren. Vielmehr ging es den Landesherren nun um die Gestaltung der staatlichen Ordnung und um die Fürsorge gegenüber ihren christlichen (!) Untertanen.
Stilbildend für die Landgrafschaft Hessen-Kassel war die Judenordnung Philipps des Großmütigen 1539. Auf ihr basiert auch die vergleichsweise modernste neuzeitliche hessische Judenordnung, die Landgraf Carl 1679 erließ. Für die Juden bedeuteten die Judenordnungen keine Fortschritte, sie festigten hingegen den Status quo einer isolierten Minderheit. So bedurfte ihre Duldung nicht mehr der förmlichen Privilegierung, sondern nur noch eines „amtlichen“ Schutzbriefes. Juden sollten nur unter sich wohnen, durften bei Christen nicht aufgenommen werden, auch durften keine Christen bei Juden dienen. Die Religionsausübung wurde gestattet, doch sollte die öffentliche Wahrnehmung auf ein Minimum beschränkt werden. Das Schächten von Tieren wurde für den Eigenbedarf erlaubt. Der Handel wurde auf Garn, Häute, Leder beschränkt und nur soweit gestattet, dass er nicht den Zunftordnungen entgegenstand. Der Zinssatz für Geldleihe wurde auf 5% beschränkt, Zinsgeschäfte mit größeren Summen mussten amtlich bestätigt werden.
Im 17. Jh. wurde es gestattet, Grundstücke bei Juden zu beleihen, und es fiel die bis dahin gültige Kennzeichnungspflicht, die Juden auferlegte, ein gelbes Tuch oder einen aufgenähten gelben Ring zu tragen. Gaben die Judenordnungen auch eine gewisse Rechtssicherheit, so räumten sie den Juden dennoch kaum mehr als rechtliche Mindestpositionen ein. Damit blieb es in Hessen bei der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Es wurden den Juden nur schmale ökonomische Spielräume gelassen, die gerade so zum Leben ausreichten, vor allem aber die Geschäfte der Christen nicht störten oder ihnen, wie die Kreditgewährungen, nutzen konnten. Hatten Juden einen Schutzbrief erworben, so konnten sie immerhin erwarten, im Rahmen der Judenordnungen toleriert zu werden, was einschloss, dass ihr Leben und ihr Eigentum vor Gewalt geschützt waren.
Somit lebten die Juden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als unterprivilegierte religiöse Minderheit am Rande der ständischen christlichen Gesellschaft. Sie machten nur wenige Prozent der Bevölkerung aus und blieben lediglich geduldete Untertanen, die zwar einen gewissen Schutz des Staates genossen, für die aber keine Aussicht bestand in die Gesellschaft integriert zu werden. Von den meisten Gewerben blieben sie ausgeschlossen, konnten Liegenschaften nur mit besonderer Erlaubnis erwerben, kein Handwerk erlernen oder betreiben und nur in reglementierten Bahnen Handel treiben, so dass sie gesellschaftlich abgedrängt als wenig geachtete Kleinhändler oder Geldwechsler, auf dem Lande als „Nothändler“, also vor allem vom Hausier-, Leih- und Trödelhandel lebten. Den einer Familie gewährten Schutz konnte darüber hinaus nur der älteste Sohn übernehmen, die übrigen Söhne und Töchter mussten zusehen, wo sie blieben. Durch diese Praxis existierte eine jüdische Unterschicht, die keine feste Bleibe besaß. Nur sehr wenigen Juden gelang es, als Hoffaktoren, Bankiers oder Unternehmer zu Ansehen zu kommen. Die Masse der Juden lebte in prekären Verhältnissen und stellte für den Staat ein soziales Problem dar.
(Hg)
Herrmann und Adelheid, Kinder des verstorbenen Herrmanns des Schusters, verkauften ihr Haus mit Grund und Boden, gelegen gegenüber der Schule der Juden und angrenzend an das Haus des Konrad von Biedenkopf, an Arnold von Gambach, seine Ehefrau Mechthild und deren Erben für 11 Mark.
Transkription
- Noverint universi presentium [litterarum] inspectores et omnes, quos nosse fuerit oportunum, quod nos Hermannus et Alheydis, liberi quondam Hermanni
- calcificis dicti »vor de gazzen«, recognoscimus nos de libera et bona voluntate nostra communicataque manu vendidisse domum nostram
- cum fundo et area sitam ex opposito domus aut scolis [recte: scolae] Iudeorum contiguam domui Conradi de Bidenkap cum omnibus iuribus suis in longum
- et in latum honesto viro Arnoldo de Gambach, Mecclen, eius uxori legitime, et eorum heredibus ve successoribus pro undecim marcis
- denariorum gwarandie tribus hallensibus pro denario computatis nobis numeratis traditis et plenius persolutis ad habendam, tenendam, possidendam iure proprietario
- cum omni felicitate perpetue, pacifice et quietes [recte: quiete] transferentes in eos omne ius et dominium plenum cum tenuta eiusdem, prout ad nos specta-
- bat et spectare videbatur iure de communi, renuntiantesque simpliciter et precise de iam dicti domo et fundo et de universis actionibus, questionibus
- et exceptionibus iuris canonici et civilis, que nobis in dicta domo, area et fundo competebant et nostris heredibus in futurum possent comparare ullo modo,
- nichil penitus iuris nobis in dicta domo, area et fundo aliqualiter reservantes. In cuius venditionis evidentiam firmiorem damus atque dedemus [recte: dedimus]
- predictis Arnoldo et Mecclin et eorum heredibus presentem litteram sigilli universitatis in Marpurg munimine sigillatam cum testimonio Echardi Kolis,
- Hartungi Bruningi [et] Ernesti scabinorum in Marpurg et aliorum quam plurium fide dignorum. Datum anno Domini Mo [= millesimo] CCCo [= trecentesimo] XVIIo [= septimo decimo] Ydus [recte: Idibus] Maii.
Übersetzung
Mögen sämtliche, die die vorliegende Urkunde einsehen, und alle, denen zu wissen es günstig sein wird, dass wir, Hermann und Adelheid, Kinder des verstorbenen Hermann des Schusters, genannt »vor der Gasse«, bekunden, dass wir mit unserem freien und guten Willen und mit gemeinsamer Hand unser Haus mit Grund und Boden, das gegenüber dem Tempel beziehungsweise der Schule der Juden gelegen ist und an das Haus des Konrad von Biedenkopf grenzt, mit allen seinen Rechten in Länge und Breite dem ehrsamen Mann Arnold von Gambach und dessen rechtmäßiger Ehefrau Mechthild und deren Erben oder Nachfolgern für elf Mark gängiger Pfennige, drei Heller auf den Pfennig gerechnet, die uns bar übergeben und ganz bezahlt worden sind, verkauft haben, damit sie es mit allem Segen beständig, friedlich und ungestört innehaben, bewahren und nach Eigentumsrecht besitzen, wobei wir ihnen alles Recht und volle Verfügungsgewalt samt dessen Grundbesitz, wie es uns gehörte und nach allgemeinem Recht zu gehören schien, übertragen und wobei wir zugleich arglos und ohne Bedingungen auf das bereits genannte Haus und Grundstück wie sowohl auf alle gerichtlichen Prozesse und Untersuchungen als auch auf Einschränkungen nach kanonischem und weltlichem Recht, welche uns an dem besagten Haus, Grund und Boden zustanden und unseren Erben in Zukunft in irgendeiner Weise verschafft werden könnten, verzichten und indem wir uns überhaupt nichts an Recht an dem besagten Haus, Grund und Boden irgendwie vorbehalten.
Zum sichereren Beweis dieses Verkaufes geben wir und haben gegeben den vorgenannten Arnold und Mechthild und deren Erben die vorliegende Urkunde, die durch die Anbringung des Siegels der Gemeinde zu Marburg besiegelt worden ist, unter Zeugenschaft des Eckard Kol, des Hartung Bruning und des Ernst, Schöffen zu Marburg, und etliche andere Vertrauenswürdige mehr.
Gegeben im Jahre des Herrn 1317, an den Iden des Mai [= Mai 15].
Transkription und Übersetzung: Dr. Wolfhard Vahl, Hessisches Staatsarchiv Marburg
Landgraf Carl erlaubt dem Juden Moses, sich in Widdershausen im Amt Friedewald mit Frau und Kindern niederzulassen. Er verleiht ihm Handelserlaubnis und weist seine Beamten an, Moses mit seiner Familie im ganzen Land zu schützen. Im Gegenzug erwartet er, dass Moses keinen Wucher treibt und niemanden übervorteilt, das übliche Schutzgeld und weitere Abgaben entrichtet, als Einzugsgeld in den Ort 10 Gulden bezahlt sowie Jesus Christus und die christlichen Mitbewohner nicht lästert. Bei Zuwiderhandlung geht er des Schutzes verlustig und wird bestraft.
Die gedruckte Aufstellung der Rentkammer unterscheidet drei Gruppen: A. diejenigen, die weiterhin mit ihren Familien Judenschutz erhalten und im Land verbleiben dürfen, B. die, die für „untauglich“ erklärt werden und das Land verlassen müssen, schließlich C. die (erwachsenen) Juden, die noch bis zu ihrer Heirat geduldet werden. Die Aufstellung wurde an die Orte gesandt, in denen Juden lebten, damit die dortigen Beamten sie umsetzten. Der Staat ging rigoros gegen die Juden vor und wies selbst solche aus, die einen landesherrlichen Schutzbrief besaßen.
Die „Judenstättigkeit“ wurde von Karl E. Demandt ediert und untersucht. Demandt kommt zu der Einschätzung, dass seinerzeit rund 4000 Juden in der Landgrafschaft Hessen-Kassel lebten. Während das Verzeichnis bei denjenigen, die bleiben durften (A.), nur die Familienvorstände auflistet, werden in dem Verzeichnis B. akribisch die gesamten Familienmitglieder namentlich erfasst. Die Zahl ergibt sich also aus einer Hochrechnung, ausgehend von den 96 voll erfassten Familien und deren durchschnittlicher Stärke von 4,3 Personen. Insgesamt waren 414 Personen zur Ausweisung vorgesehen und damit gut 10 Prozent. Der Begriff „untauglich“ bildete sicherlich das Synonym für eine geringe Wirtschaftskraft des jeweiligen Familienvorstands. Damit gingen die Schwächsten innerhalb der Judenschaft ihres Schutzes verlustig und wurden in eine prekäre Existenz hineingestoßen.
Karl E. Demandt: Die hessische Judenstättigkeit von 1744, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 23, 1973, S. 292-332; zu der Berechnung S. 293, Anm. 6.
Nach der Territorialisierung des Judenrechts wurde dieses in detaillierten landesherrlichen Judenordnungen codifiziert, die über die individuellen Schutzbriefe hinaus das Leben der Juden eng reglementierten. Sie enthielten ausführliche Bestimmungen zu den Voraussetzungen für die Erlangung eines Schutzbriefs, zum Wohnrecht, zu Handel und Geldgeschäften, den Abgaben, dem Verhalten gegenüber den christlichen Mitmenschen, das Verbot, Ackerbau zu treiben.
Die letzte von einem hessischen Landgrafen erlassene Judenordnung stammt von Friedrich I., der bereits 1744 die „Judenstättigkeit“ veranlasst hatte. Sie formuliert in 30 Paragraphen restriktive Bestimmungen für den Aufenthalt von Juden in den Dörfern und Städten des Landes. Nur Juden mit einem Schutzbrief werden dort geduldet (§ I.), Judenansiedlungen dürfen nicht über die bestehenden ausgedehnt werden (§ II.). Die Voraussetzungen für den Erwerb eines Schutzbriefes werden sehr hoch gehängt (§ III.): Nur der älteste, mindestens 25 Jahre alte und über eigenes Vermögen von mindestens 500 Reichstalern verfügende Sohn, der zudem einen guten Lebenswandel nachweisen kann und die Zustimmung der christlichen Einwohner erlangt sowie eine Bestätigung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erhält einen Schutzbrief. Die Wirtschaftstätigkeit im Handel wird genau reguliert (§ XIX.), dabei wird besonders ausführlich auf die Kreditvergabe eingegangen (§ XXII.). Der Erwerb von Feldgütern wird untersagt, somit die Landwirtschaft unmöglich gemacht (§ XXIX).
Die ersten Juden, die zur Universität in ein „Dienstverhältnis“ traten, waren Rabbiner. Die ihnen zugedachte Aufgabe war es, den Studenten die „rabbinischen“ Sprachen nahezubringen.
Der erste Rabbi, der Studenten unterrichtete, war um 1700 Löw von Gosfeld. Über seinen Namen hinaus ist nichts von ihm bekannt. Besser sind wir über seinen Nachfolger unterrichtet.
Der Professor für Orientalistik Johann Schröder hatte auf einer Reise in Amsterdam den aus Metz stammenden Rabbiner Alexander Samuel kennengelernt. Wegen seiner großen Gelehrsamkeit und der Kenntnis der rabbinischen Sprachen erhielt er 1711 zunächst einen Schutzbrief auf ein Jahr, um an der Universität Marburg diese Sprachen zu lehren.
Nach einer Denunziation durch einen zum Christentum konvertierten Juden, der sich vermutlich Hoffnungen machte, an Samuels Stelle zu treten, verfügte der Landgraf 1716 seine Ausweisung. Interventionen des Professors Schröder dagegen blieben ohne Erfolg. Nur ein Jahr Aufschub bis zur definitiven Ausweisung wurde Alexander Samuel zugebilligt.
Zum Ausdruck ihrer großen Zufriedenheit und um Alexander Samuel eine Starthilfe für einen Neuanfang an anderem Ort zu geben, stellte die Philosophische Fakultät ihm angesichts der sich abzeichnenden Ausweisung ein gedrucktes Zeugnis aus.
Trotz der verfügten Ausweisung ist Alexander Samuel aber auch nach 1717 noch in Marburg nachweisbar. Auf welcher Basis dieser Aufenthalt gründete, ist den Akten nicht zu entnehmen.
Die längste Dienstzeit der Marburger Universitätsrabbiner hatte der 1692 in Prag geborene Ephraim ben Israel, der seit 1735 die rabbinischen Sprachen lehrte. Vermutlich übte er diese Tätigkeit bis zu seinem Tod in den 1770er Jahren aus. In seiner Dienstzeit bat er wiederholt um eine Aufbesserung seiner schmalen Einkünfte.
Immer wieder geriet er dennoch in die Schuldenfalle. Das bei der Universität verwahrte Testament seiner Ehefrau vermerkt denn auch nur ein Bett und alte Kleider als deren Hinterlassenschaft.

Ende des 18. Jahrhunderts setzte als Folge der Aufklärung, aber auch der verstärkten Wahrnehmung der prekären und marginalisierten Lebensumstände des weit überwiegenden Teils der Judenschaft eine allgemeine Diskussion über die Hebung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ein. Als Auslöser und Markstein kann die 1781 veröffentlichte und breit rezipierte Schrift des preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohms mit dem Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ gelten. Dohms setzte die Eckpunkte, entlang derer in den folgenden Jahrzehnten argumentiert und auch entschieden wurde, freilich in jedem deutschen Territorium mit unterschiedlichen Lösungen, mit Fortschritten und Rückschritten, weswegen die Emanzipation der Juden zu einem „Zickzack-Kurs“ geriet. Dohms hatte einerseits die volle rechtliche und politische Gleichstellung der Juden gefordert, andererseits formulierte er die Idee, Juden müssten sich sozial und kulturell „verbessern“, und vermischte somit die Emanzipation mit einem Erziehungsprozess. Je nachdem, wie stark die Gewichte der jeweiligen Argumentation die Waagschale in Richtung Erziehungsprozess neigten, beeinflussten sie Art und Umfang der zugestandenen Rechte.
In Kurhessen verlief die Entwicklung nicht wesentlich anders. 1807 gelangte das eben gegründete Kurfürstentum unter französische Herrschaft. Für die Juden bedeutete dieses eine Befreiung, wurden sie doch seit 1808 mit einem Federstrich aller rechtlichen Einschränkungen und Sonderabgaben ledig und gleichberechtigte Bürger des Staates. Diese Phase währte indessen nur kurz. Nach den Befreiungskriegen konnte man in Kurhessen das Rad jedoch nicht vollends wieder zurückdrehen. Man rezipierte die Judengesetzgebung anderer deutscher Territorialstaaten, und die Diskussionen zeigen, dass auch hier aufklärerische Ideen Einzug gehalten hatten. Sie mündeten in eine Verordnung vom 14. Mai 1816, in der die Dichotomie von Gleichberechtigung und Erziehungsgedanken deutlich ausgeprägt war. Denn die Juden erlangten die bürgerliche Gleichstellung nur unter Einschränkungen. Die jüdische Unterschicht, welche vom sog. Nothandel (Viehhandel im Kleinen, Leih-, Hausier- und Trödelhandel) lebte, blieb von den bürgerlichen Rechten gänzlich ausgeschlossen. Ihre Existenz wurde restriktiven Bedingungen unterworfen: Pflicht, einen Schutz- oder Toleranzbrief zu erlangen, und Verbot zu heiraten. Den übrigen wurde zwar gestattet, ja es war sogar gewünscht, ihre Wirtschaftstätigkeit in Handwerk und Landwirtschaft zu entfalten, doch auch dieses nur unter Einschränkungen und Zwangsmaßnahmen. In der Öffnung von Handwerk und Landwirtschaft kam auch ein erzieherischer Aspekt zum Tragen, denn expressis verbis beabsichtigte man die Juden von dem allgemein als volkswirtschaftlich und moralisch verderblich betrachteten Handel abzubringen. Die Voraussetzungen, um sich in diesen Sektoren tatsächlich zu etablieren, waren für die Juden freilich ausgesprochen ungünstig.
Die kurhessische Judengesetzgebung machte im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kaum Fortschritte. Aufgrund des Einflusses der Julirevolution 1830 in Frankreich kam zwar eine Verfassungsdiskussion in Gang, die auch die Stellung der Juden in den Blick nahm. In der Verfassung von 1831 wurde aber dennoch die Ausübung bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte auf Christen aller Konfessionen beschränkt, während die Rechte der Juden besonders geregelt werden sollten. Das entsprechende Gesetz von 1833 zeitigte kaum Fortschritte gegenüber 1816, lediglich der Zugang zu öffentlichen Ämtern und das passive Wahlrecht wurden jetzt zugestanden. Von alledem waren jedoch die Nothändler weiterhin ausgeschlossen, sie mussten hingegen alle drei Jahre ihre Konzessionen erneuern lassen. Errungenschaften der 1848er Revolution, in deren Gefolge Kurhessen allgemeine Religionsfreiheit gewährt und als Konsequenz auch die Diskriminierung der Nothändler aufgehoben hatte, wurden mit der Verfassung von 1852 wieder rückgängig gemacht. Insbesondere diese „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ unter den Juden blieb bis zum Anfall an Preußen 1866 erhalten. Die volle Emanzipation erlangten die vormals kurhessischen Juden so erst durch das Gesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, das alle noch bestehenden, aus dem religiösen Bekenntnis herrührenden Einschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufhob.
(We)
Nach der französischen Eroberung Kurhessens und der Errichtung des Königreichs Westphalen kamen die Juden in den Genuss der allgemeinen bürgerlichen Gleichstellung mit den übrigen Untertanen. Deren Emanzipation wurde in einem eigenen Dekret am 27. Januar 1808 geregelt. Das Dekret verfügt in Artikel 1, dass die Untertanen jüdischen Glaubens die gleichen Rechte und Freiheiten wie die übrigen Untertanen genießen. Auf dieser Grundlage wurden alle allein Juden auferlegten Abgaben und Einschränkungen abgeschafft. Sie erlangten Freizügigkeit, Handelsfreiheit, Heiratserlaubnis und Erbrecht.
Gesetz-Bulletin des Königreichs Westphalen, Erster Theil, No. 1-37, Cassel 1808, Bibliothek des HStAM, IX B 4496
Mit dem Schlagwort der "bürgerlichen Verbesserung" der Juden zielte man auf die Hebung von deren sozialen Verhältnissen, verband damit aber zugleich erzieherische Maßnahmen. In merkantilistischer Denkweise wurden die Säulen der Volkswirtschaft und des Wohlstandes nämlich in der Landwirtschaft und dem produktiven Zweig des Handwerks gesehen, dagegen bewertete man den von den Juden betriebenen Handel und das Kreditwesen negativ. Indem man Juden den Zugang zu Landwirtschaft und Handwerk eröffnete, beabsichtigte man, ihren Wohlstand zu fördern, gleichzeitig sollten sie von Geschäften, dem ihnen unterstellten „Wucher“ und dem „Schachern“ abgebracht und zu moralisch wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden.
Die Kasseler Regierung greift in ihrem Gutachten seit der Aufklärung geführte Diskussionen um die sog. bürgerliche Verbesserung der Juden auf und setzt sich mit der Gleichstellungspolitik anderer deutscher Staaten auseinander. Sie kommt zu dem Schluss, dass die jüdische Religion in ethischer Hinsicht der christlichen in nichts nachsteht und dass die „Verdorbenheit“ der Juden in ihren sozialen Verhältnissen wurzelt, welche daher dringend einer „Verbesserung“ bedürfen. Trotz ihrer aufgeklärten Analyse und empathischen Haltung formuliert sie die Rechte einschränkende Empfehlungen.
Nach der bürgerlichen Gleichstellung der Juden während des Königreichss Westphalen konnte Kurhessen das Rad nicht vollends zurückdrehen und räumte den Juden eine bessere Rechtsstellung ein. So sollten ihnen alle „Nahrungszweige“, also auch Handwerk und Landwirtschaft, offenstehen. Diese Rechte wurden jedoch nicht allen Juden gewährt: Der den Kleinsthandel (sog. Nothandel) treibenden jüdischen Unterschicht wurden sie versagt; ihnen konnten nur Schutz- und Toleranzscheine verliehen werden, sie durften auch nicht heiraten.
Der kurhessische Staat schuf damit eine Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Judenschaft, deren Aktivitäten engmaschig kontrolliert wurden.
Diese Bestimmungen fanden zunächst keine Anwendung in den Provinzen Fulda, Hanau und Schaumburg, hier bestanden also die alten Verhältnisse fort.
Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreiben und sonstigen allgemeinen Verfügungen für die kurhessischen Staaten, Bd. 1, 1813-1816; HStAM, Best. Slg. 9
Das Gesetz schrieb im Wesentlichen die Bestimmungen der Verordnung von 1816 fort; als neue Zugeständnisse kamen der Zugang zu öffentlichen Ämtern und passives Wahlrecht hinzu. Diese Verordnung wurde auf das gesamte Land ausgedehnt. Insbesondere hinsichtlich der Situation der Nothändler brachte es jedoch keinerlei Verbesserung. Alle drei Jahre mussten sie eine Handelskonzession beantragen.
Den vier von Trödel- und Hausierhandel lebenden Haushaltsvorständen standen zwölf Marburger Juden gegenüber, die Staatsbürger sein durften; folglich lebten 25 Prozent der Marburger Juden in diesem prekären Verhältnis.
Konzessionen zum Nothandel wurden auf drei Jahre ausgestellt. Abraham Hirschs Konzession lief vom 1. Januar 1852 bis zum 31. Dezember 1854. Am linken Rand befindet sich eine Art Steckbrief, welcher die Übertragung des Scheins auf andere Personen verhindern sollte. Auffallend ist das mit 70 Jahren hohe Alter des Händlers.
Erst nach der Annexion Kurhessens durch Preußen kamen die hier lebenden Juden durch ein Gesetz des Norddeutschen Bundes in den Genuss voller bürgerlicher und staatsbürgerlicher Gleichberechtigung. Was ihnen de jure gewährt wurde, bedeutete noch lange keine Umsetzung in der Praxis. Gerade Positionen in Staat, Wissenschaft und Militär blieben Juden noch lange verwehrt oder waren nur unter erschwerten Bedingungen zu erwerben.

Das Universitätsstudium war Juden über Jahrhunderte verschlossen. Erst im 18. Jahrhundert öffneten die Universitäten ihre Türen zumindest einen Spalt weit. Marburg war nach Frankfurt an der Oder, Halle und Gießen die vierte deutsche Universität, die Juden den Zugang ermöglichte. Von den ersten jüdischen Studenten gibt uns die Matrikel allerdings keine Nachricht, denn eine Immatrikulation und damit die Verleihung des akademischen Bürgerrechts blieb ihnen in Marburg versagt. Aus einer Gießener Quelle ist aber bekannt, dass sich bereits um 1710 jüdische Hörer in den Veranstaltungen von Marburger Medizinprofessoren fanden.
Medizin war das Studienfach, das sich zuerst für jüdische Studenten öffnete. Es war auch auf jüdischer Seite beliebt, denn Ärzte genossen im Judentum hohes Ansehen. Die Anstellung eines Arztes zählte zu den religiösen Pflichten jüdischer Gemeinden.
Ebenso geschah die Verleihung des Doktorgrades an Juden zuerst in der Medizinischen Fakultät. In Marburg wurde mit Nathanael Speyer 1758 der erste jüdische Arzt promoviert. Ihm folgten im 18. Jahrhundert noch drei weitere jüdische Promovenden: 1775 Jordan Israel aus St. Goar, 1776 Joseph Speyer aus Kassel und 1796 Heinemann Wolff aus Marburg.
Die erste Promotion eines Juden erschien der Fakultät so heikel, dass sie sich zunächst in Kassel bei ihrem Landesherrn eine Genehmigung einholte. Sie hatte gegenüber dem Landgrafen auf die bereits an anderen deutschen Universitäten erfolgten Promotionen von Juden hingewiesen und auch angemerkt, dass die Verleihung eines Doktorgrades an Juden den Privilegien der Hochschule nicht entgegenstünde. Nach erteilter Genehmigung wurde der Akt mit einer angepassten Eidesformel vorgenommen. 17 Jahre später erörterte die Universität die Problematik der Promotion eines jüdischen Aspiranten erneut und erarbeitete ein Prozedere, nach dem in Zukunft verfahren werden sollte. Im Besonderen wurde bestimmt, dass der Promotionsakt ohne Festlichkeiten vor sich gehen sollte und eine an die Religion des Doktoranden angepasste Verpflichtungserklärung zu würdigem Verhalten und Lebenswandel von diesem zu unterschreiben war.
In den 1780er Jahren gestattete der Landgraf schließlich auch die Einschreibung jüdischer Studenten in die Matrikel der Universität Marburg. Der vermutlich erste immatrikulierte jüdische Student war am 12. April 1786 der schon erwähnte Heinemann Wolff. Ihm folgten bis zum Ende des Jahrhunderts aber nur sehr wenige weitere Juden. Sicher belegt sind nur vier jüdische Studierende. Erst das 19. Jahrhundert brachte ein stärkeres Ansteigen der Zahlen.
Eine Besonderheit ist dabei, dass ab 1823 erstmals eine Prüfung und ab 1824 die Ausbildung von Rabbinern der Landesuniversität zugewiesen wurde. Künftige Rabbiner sollten ein zweijähriges Studium absolvieren und durch „die geeigneten Mitglieder der Philosophischen Fakultät“ geprüft werden. Selbstverständlich wurde diese Prüfung durch eine weitere vor dem Landesrabbinat ergänzt. In der Matrikel begegnet nun gelegentlich als Studienfach „Theologia Mosaica“. Im Jahr 1825 legte der erste angehende Rabbiner seine Prüfung in Marburg ab.
Immatrikulation und Promotion waren wichtige Meilensteine auf dem Weg der Juden in die akademische Welt. Im 19. Jahrhundert eröffneten sich ihnen auch die Habilitation und Dozentur, aber der Platz auf dem Lehrstuhl blieb ihnen weiterhin versagt. In Marburg mussten der Altphilologe und Historiker Joseph Rubino und der Mediziner Leopold Eichelberg diese bittere Erfahrung machen. Rubino wurde erst nach seiner Konversion zum Christentum zum ordentlichen Professor berufen. Eichelberg kam, obwohl er der Universität bis zu seinem Tod lehrend verbunden blieb, nie über den Status des Privatdozenten hinaus. Erst Hermann Cohen gelangte als Jude auf eine ordentliche Professur der alma mater marburgensis.
Die erfreuliche Tendenz der Entwicklung, die auf Integration und Emanzipation der Juden auch in Universität und Wissenschaft hinzuweisen schien, stieß freilich bei einem nicht geringen Teil selbst der Gebildeten auf Ablehnung, die zum Ende des 19. Jahrhunderts sogar zunahm und politische Organisationsformen fand. So übte die antisemitische Böckelbewegung gerade auf Studenten eine nicht unerhebliche Anziehung aus. Aber auch das universitäre „Establishment“ der Professoren und Beamten übte sich häufig in stillschweigender Billigung antijüdischer Haltungen. Der ordentliche Professor der abendländischen Sprachen und Literaturen Edmund Max Stengel war einer der wenigen, der dem grassierenden Antisemitismus entschieden entgegentrat.
In vielen studentischen Korporationen wurde ein offensiver Antisemitismus gepflegt. Jüdische Studenten sahen sich Herabwürdigungen und Beleidigungen ihrer Kommilitonen ausgesetzt, die – wenn überhaupt – nur milde seitens der Universität sanktioniert wurden. Dem Verein jüdischer Studenten verweigerte der Ausschuss der Korporationen an der Universität Marburg die Aufnahme mit der Begründung, „dass der nationale Charakter der aufzunehmenden Korporation […] nicht vorhanden ist.“ Auch die Entgegnung, „dass unsere Korporation auf deutsch-vaterländischem Boden steht“, änderte die Haltung des Ausschusses nicht.
Das Verhältnis der Universität zu ihren jüdischen Angehörigen zeigte im langen 19. Jahrhundert einen Januskopf, dessen Gesichter beide in die Zukunft wiesen. Eines blickte auf Gleichberechtigung und Miteinander, das andere fratzenhaft verzerrt in die Abgründe des kommenden 20. Jahrhunderts.
(Li)
Der 1743 geborene Joseph Speyer war der dritte jüdische Mediziner, der an der Universität Marburg promoviert wurde. Bereits 1758 war ihm sein Bruder Nathanael Speyer, der erste jüdische Doktorand in Marburg, darin vorangegangen.
Das Doktordiplom wurde Johann Speyer in einer vereinfachten Zeremonie – „ohne weitere solennitaeten“ – überreicht. Auch glaubte die Universität nicht, auf einen Hinweis auf den jüdischen Glauben des Doktoranden im Diplom verzichten zu können. Für den Druck der Dissertation machte die Universität freilich die Auflage, dass ein Hinweis auf die Religion des Verfassers zu unterbleiben habe. Man fürchtete sonst eine werbende Wirkung auf andere jüdische Studenten.
Johann Speyer ließ sich in Kassel als Arzt nieder. Zwei Jahre nach seiner Promotion trat er zum evangelischen Bekenntnis über und wurde auf den Namen Johann Valentin August Speyer getauft. Er starb im Jahr 1805 in Kassel.
Die Verordnung bestimmte unter anderem, dass angehende Rabbiner sich - neben der Prüfung durch das Rabbinat - einer Prüfung vor einer Kommission der Philosophischen Fakultät der Marburger Universität zu unterziehen hatten. Später wurde ebenfalls ein vorhergehender Universitätsbesuch angeordnet. Die Rabbinerausbildung wurde mit dieser Heranführung an die Universität standardisiert und für den Staat prüfbar.
Joseph Rubino war 1799 als Sohn des jüdischen Kaufmanns Moses Ruben geboren worden. Nach dem Besuch der jüdischen Schule in Kassel und des Marburger Pädagogs hatte er zunächst in Marburg und Göttingen Jura studiert. Danach wandte er sich in Heidelberg dem Studium der klassischen Philologie und der Geschichte zu. 1821 wurde er in Marburg zum Dr. phil. promoviert.
Die angestrebte akademische Karriere eröffnete sich ihm zunächst nicht. Eine Bewerbung in Marburg blieb ohne Erfolg. Nach zehnjähriger Tätigkeit als Privatgelehrter, öffnete sich 1832 erstmals die Tür zu einer Laufbahn als Hochschullehrer. Er wurde als provisorischer Dozent für Alte Geschichte und Klassische Philologie auf ein Jahr eingestellt. Im folgenden Jahr wurde aus dem Provisorium zwar eine Festanstellung, aber statt der erhofften Professur erhielt Rubino nur das Prädikat „Professor“. Der klangvolle Titel hatte allerdings wenig Bedeutung und machte ihn nicht zum Mitglied des Lehrkörpers. Im Kreis der Privatdozenten, Honorar-, außerordentlichen und ordentlichen Professoren hatte er keinen Platz. Ein Beförderungsgesuch wurde ihm auf Betreiben der Universität 1840 abgeschlagen.
Erst der Übertritt zur evangelisch-reformierten Kirche 1842 befähigte ihn in den Augen seiner Kollegen zum ordentlichen Professor. Von 1843 bis zu seinem Tod 1864 war er nun ein vollberechtigtes Mitglied des Lehrkörpers.
Rubinos Schicksal ist symptomatisch für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Trotz der Judenemanzipation am Beginn des Jahrhunderts führte der Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung für Juden dennoch meist über das Taufbecken.
Joseph Rubino war der erste jüdische Professor der Universität Marburg im Ordinariat, aber das „Entrebillet“ für diesen Aufstieg musste er 1842 am Taufbecken einer reformierten Kirche lösen.
Nach seiner Promotion zum Dr. phil. 1821 hatte er sich zunächst 1825 vergeblich um eine außerordentliche Professur in Marburg beworben. Im Jahr 1832 – der Theologe August Vilmar hatte sich für ihn verwandt - bestellte man ihn zum Dozenten der Alten Geschichte und Klassischen Philologie. Sein Versuch, zum ordentlichen Professor berufen zu werden, wurde 1840 maßgeblich wegen seines jüdischen Glaubens abgeschlagen. Erst nach seinem Übertritt zur reformierten Konfession bequemten sich die Marburger Professoren 1843, ihm eine ordentliche Professur übertragen zu lassen.
Der 1842 in Coswig als Sohn eines Kantors geborene Hermann Cohen wurde nach dem Studium in Halle und seiner 1873 in Marburg erfolgten Habilitation im Sommersemester 1875 a.o. Professor an der Universität Marburg. Bereits 1876 erfolgte seine Berufung zum ordentlichen Professor. Bis zu seiner Entpflichtung im Jahr 1912 hielt er der Universität Marburg die Treue. Hermann Cohen wurde gemeinsam mit seinem Kollegen Paul Natorp zum Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus. Neben seiner Bedeutung für den Neukantianismus ist Cohen vor allem als Religionsphilosoph hervorgetreten. Er selbst stand für ein liberales Judentum. Durch den „Berliner Antisemitismusstreit“ herausgefordert bezog er wiederholt öffentlich Stellung gegen Hass und Verachtung, die den Juden im deutschen Kaiserreich entgegengebracht wurde.
In den Jahren nach seiner Emeritierung wirkte er in Berlin an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Seine letzte Ruhestätte fand er im April 1918 auf dem jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee.
August Vilmar (1800-1868), der spätere Direktor des Marburger Gymnasiums und ab 1855 Professor der Universität, verwandte sich für eine Anstellung Rubinos an der Universität Marburg. In seinem Schreiben wandte er sich besonders gegen Vorbehalte, die den jüdischen Hintergrund Rubinos betrafen.
So schrieb er: „daß ich für meine Person das von manchen Seiten gegen die Anstellung des Dr. Rubino an der Universität geäußerte Bedenken, welches aus der Religion desselben hergenom[m]en wird, nicht theile, am Wenigsten, in so fern dasselbe auf die Wissenschaft bezogen werden will, im Gegentheile kann es nur erfreulich und für das Gedeihen der Wissenschaft förderlich sein, wenn Geister ganz verschiedener Art und Richtung – nur seien es eben Geister – auf einer Universität versammelt sind […]“
Die Ablehnung Rubinos gründete nicht zuletzt auf seiner jüdischen Religionszugehörigkeit. Es wurde u.a. ausgeführt, dass der „Akademische Senat […] sich verpflichtet halte, das christliche Prinzip der Korporation gegen jedes Präjudiz zu wahren […] Es ist auch bisher, so viel wir wissen, noch auf keiner deutschen Universität ein Israelit, bevor er zur christlichen Confession übergegangen, als ordentlicher Professor angestellt worden.“
Ausgangspunkt dieser Stellungnahme war ein Gesuch Rubinos um Aufnahme in die Philosophische Fakultät und die damit verbundene Verleihung einer ordentlichen Professur.
Besonders problematisch erschien dem Senat eine Mitwirkung Rubinos in den Organen der Selbstverwaltung der Universität, deren Mitglieder „Richterqualität“ aufwiesen.
Fenner hatte in einer öffentlichen Versammlung behauptet, der Talmud fordere Juden dazu auf, Nichtjuden zu betrügen. Eine Beschwerde des Marburger Rabbiners führte schließlich zu Ermittlungen und staatsanwaltlicher Anklage. Das Landgericht forderte zur Frage des ethischen Werts des Talmud zwei Gutachten an. Ein bejahendes Urteil formulierte dabei der Marburger Philosophieprofessor Hermann Cohen, ein verneinendes stammte aus der Feder des Göttinger Orientalisten und antisemitischen Vordenkers Paul de Lagarde.
Der Prozeß erregte nicht zuletzt wegen der Prominenz der Gutachter reichsweites Interesse. Lagardes Gutachten, das wissenschaftlichen Grundsätzen nicht gerecht wurde, überzeugte das Gericht nicht und Fenner wurde zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt.
Der vorliegende Bericht stammt, obwohl ohne Verfasserangabe gedruckt, aus der Feder des Antisemiten Bökel und erschien in dessen Verlag „Reichsherold“. Der natürlich durchaus parteiischen Darstellung sollte durch einen sachlichen Titel ein objektiver Anstrich gegeben werden.
Prof. Paul de Lagarde war als Gutachter im Prozess bestellt worden. Er erschien allerdings nicht vor dem Gericht in Marburg, sondern gab sein gedrucktes Gutachten vor dem Amtsgericht Göttingen ab und beglaubigte es mit seiner Unterschrift. Es bestritt den ethischen Wert des Talmud in wenig überzeugender Weise.
Lagarde hatte sich zunächst als Orientalist einen Namen gemacht. Wissenschaftlich war die Erarbeitung einer historisch-kritischen Edition der griechischen Übersetzung des Alten Testaments sein größtes Projekt, das jedoch nicht zum Abschluss kam.
Bekannter wurde er aber durch seine zeit- und kulturkritischen Schriften, die einer nationalistischen Antimoderne das Wort redeten und für liberale Anschauungen keinen Platz ließen. Er stand außerdem an der Wiege des modernen Antisemitismus. Es verwundert daher nicht, dass auch die Nationalsozialisten seine Schriften noch für ihre Zwecke instrumentalisieren konnten.
Der Marburger Philosophieprofessor Hermann Cohen vertrat die Gegenposition zu den herabsetzenden Einschätzungen des Talmuds. Obwohl er von Hause aus kein Religionswissenschaftler war, befähigten ihn ausführliche Studien jüdischer Glaubensschriften in seiner Jugend und die Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Standards als Gutachter in dieser Frage. Obwohl er zu Beginn seiner Ausführungen betonte, kein Fachmann für jüdische „Alterthumswisenschaft“ und Dogmatik zu sein, erkannte er seine Zuständigkeit: „Dennoch habe ich geglaubt, in diesem Falle durch sorgsame Arbeit zu Wort und Eid mich rüsten zu sollen; und ich denke, daß ich hierbei auch meinem Amte diene. Denn der Wahrheit die Ehre zu verschaffen, insbesondere auch den geschichtlichen Wahrheiten auf dem Gebiete der Ideen, das hat zu allen Zeiten als Sache der Philosophie gegolten. Und die Kriterien für die Gewißheit der menschlichen Überzeugungen hat die Philosophie aufzustellen und gegen die Affekte des Hasses und der Liebe als die Sache der Vernunft zu vertheidigen.“
Er war zudem als ausgewiesener Bekämpfer antisemitischer Haltungen für diese Aufgabe prädestiniert.
Hermann Cohen ließ sein Gutachten später auch im Druck erscheinen.
Im Oktober 1906 gründeten zehn Studenten einen verbindungsähnlichen Verein für jüdische Studenten an der Universität Marburg. Die Mitgliedschaft in anderen Studentenverbindungen war Juden verwehrt. Die Studenten baten nun den damaligen Rektor, den Historiker Heinrich von Sybel, um Genehmigung. Diese wurde schließlich erteilt, obwohl es massive Widerstände dagegen gab.
Die Ablehnung des Vereins seitens der anderen Verbindungen wurde schon im Frühjahr 1907 manifest als ihm die Aufnahme in den Marburger Studentenausschuss, in dem die übrigen Marburger Verbindungen vertreten waren, mit der Begründung verweigert wurde, dass „der nationale Charakter der aufzunehmenden Korporation nach Ansicht des Ausschusses nicht vorhanden ist.“
Nachdem ein Vereinsmitglied 1911 auf ein von anderen Studenten in einem öffentlichen Lokal gesungenes antisemitisches Lied – Refrain: „Schmeisst sie heraus, die dreckige Judenbande“ – mit einer Duellforderung geantwortet hatte, wurde in Reaktion auf die daraus entstandenen Weiterungen der Verein für drei Semester von der Universität verboten. Er ist danach nicht wiederaufgelebt.
Das Gutachten des Universitätsrichters und Landgerichtsdirektors Dr. jur. Theodor Jeß gibt ein beredtes Beispiel für die auch in der akademisch gebildeten „Mitte der Gesellschaft“ des Kaiserreichs gepflegten antisemitischen Stereotype.
So führte der Universitätsrichter neben anderem aus: „Ich betrachte das Judentum als ein eigentümliches internationales Volksgebilde, welches stolz auf seine vieltausendjährige Geschichte und an besonderen Sitten und Gebräuchen festhaltend über die ganze Erde zerstreut nie und nimmer in den einzelnen Nationalitäten aufgehen will und wird. Der Sonderbündelei, welche die Juden diesem ihrem Volkscharakter entsprechend überall treiben, dadurch Halt und Stütze zu gewähren, daß man ihnen gestattet, auf den Universitäten in besonderen Vereinen öffentlich hervorzutreten, halte ich für eine nationale Gefahr, und überdies würde eine jüdische Vereinsbildung die Gegnerschaft der gesamten übrigen Studentenschaft herausfordern und zu endlosen Kämpfen und Reibungen Anlaß geben. […]“
Zwei Tage später legte er noch verschärfend nach, „daß es sich hier um eine internationale, deshalb antideutsche Vereinsbildung handelt.“
Diese Einwendungen setzten sich aber nicht durch. Der Verein wurde nach Rückfragen bei anderen deutschen Universitäten und Veränderung von dessen Statuten genehmigt.

In der Zeit, als die Landgrafschaft Hessen-Kassel Teil des Königreichs Westphalen war, öffneten sich den Juden völlig neue Möglichkeiten der ökonomischen Entwicklung und der sozialen Integration. 1808 hob König Jérôme Bonaparte den Zunftzwang auf, im Folgejahr führte er die Gewerbefreiheit ein und stellte die Juden allen anderen Staatsbürgern rechtlich gleich. Nun war es Juden erlaubt, ihre beruflichen Betätigungsfelder auszudehnen und neue für sich zu gewinnen, auch bestanden prinzipiell keine Schranken mehr, sich an einem Ort seiner Wahl anzusiedeln.
Doch mit dem Untergang des Königreichs Westphalen und der Restitution Kurhessens 1814/1815 wurde die Teilhabe der Juden an den bürgerlichen Errungenschaften wieder zurückgenommen. Eine ganze Reihe von Verordnungen stellte erhebliche Teile der alten Rechtsverhältnisse wieder her. Den Auftakt bildete die Verordnung vom 14. Mai 1816. Auch wenn diese vorgab, „gleichförmige Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen als Staatsbürger“ anzustreben und beabsichtigte, die ökonomische Situation und die Juden selbst als Mitglieder der Gesellschaft „zu bessern“ und sie zu integrieren, so gelang dies, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten.
Einerseits waren die restriktiven Regeln selbst, denen die Juden nun – erneut – unterworfen wurden, wenig geeignet, ihre soziale und wirtschaftliche Lebenssituation zu verbessern, geschweige denn, dass sie ihnen echte Chancen gesellschaftlicher Integration geboten hätten. Andererseits stellte sich ihnen die nun wieder weitgehend etablierte ständisch geprägte soziale Ordnung in den Weg. Die staatlichen Regelungen und Maßnahmen sorgten sich zuvorderst um die „eigene“ christliche Bevölkerung und bezweckten, die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden zu minimieren, beispielsweise den Nothandel einzuschränken. Daher durfte ein jüdischer Haushalt, der sich vom Handel ernährte, nur an einen (!) Sohn übertragen werden. Die anderen Söhne mussten sehen, wie sie ihr Leben bestreiten konnten.
Beabsichtigte die Verordnung von 1816 auch erklärtermaßen, Juden den Zugang zum Ackerbau und zum Handwerk zu eröffnen, so erwies sich dies in der Praxis als überaus schwierig. Denn im Jahr 1816 wurde auch die alte Zunftverfassung wieder eingeführt, die zwar formal die Aufnahme von Juden nicht verbot, doch entschieden darüber die Zünfte selbst und verschlossen sich häufig jüdischen Aufnahmeanträgen. Erst nach Jahren sollte es einzelnen Juden gelingen, beruflich im Handwerk Fuß zu fassen. Beinahe ausgeschlossen war ein Umstieg auf die Landwirtschaft, da es hierfür erforderlich war, in größerem Umfang Grund und Boden zu erwerben, was den Juden nur ausnahmsweise ermöglicht wurde. In Einzelfällen konnten sie in der Verwaltung Fuß fassen.
Die Statistik 1842 für den Kreis Marburg dokumentiert für das Kurfürstentum Hessen-Kassel typische Verhältnisse: Von 346 Juden, die insgesamt im Kreis lebten, waren 72 als erwerbstätig registriert, davon 41 als Händler und 13 als Handwerker (=18%); sechs arbeiteten im öffentlichen Dienst und zwei als Bauern. Im selben Jahr betrieben in Kurhessen 65% der Juden Handel und immerhin 25% waren im Handwerk untergekommen.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts lebte der Großteil der jüdischen Bevölkerung in Kleinstädten oder Dörfern, und der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Betätigung blieb der Handel. Einige Handelszweige, wie der Ellenwaren-, Vieh- und der Fellhandel sowie der Geldverleih, wurden sogar fast ausschließlich von Juden betrieben, und der Immobilienhandel lag zunehmend in jüdischen Händen. Das heißt, dass sich an der Lage der Juden nur graduell etwas geändert hatte: Sie blieben eine religiöse Minderheit und betrieben in der großen Mehrheit in bestimmten Bereichen Handel und Kreditgeschäfte, was ihnen eine sich langsam verbessernde Lebensgrundlage bot.
Doch suchten zum Ende des 19. Jahrhunderts viele Juden ihr Glück in der Stadt. Denn spätestens nach der Annexion Kurhessens durch Preußen erfuhren die Industrialisierung und die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur auch in Hessen weiteren Auftrieb. Das Wachstum der Städte bestimmte nun die Entwicklung. Vor allem eröffneten die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung vergleichsweise gute Perspektiven. Der Handel profitierte unmittelbar von den Industrieprodukten, und vor allem wuchs der Bedarf an Kapital. Teilen der jüdischen Bevölkerung gelang nun der wirtschaftliche Aufstieg. Besondere Erfolge konnten einige Handelsgeschäfte verbuchen, insbesondere aber die jüdischen Banken, in Marburg namentlich die Bank Hermann Wertheim, das Bankhaus Baruch Strauß und die Privatbank Eichelberg.
Anders als in den Städten gerieten die ländlichen Erwerbszweige, und vor allem die Landwirtschaft, immer stärker in Bedrängnis. Dies führte vielfach dazu, dass Bauern die nun unbeschränkten Möglichkeiten nutzten, Kredite bei jüdischen Gläubigern aufzunehmen. Da die Juden im Grundstückshandel Gewinnabsichten suchten und ihnen im Insolvenzfall die als Sicherheit gebotenen Grundstücke und Immobilien zufielen, nährte dies gerade auf dem Lande den Vorwurf des jüdischen „Güterschachers“. In der Tat eröffneten der Handel und die Kreditgeschäfte der ländlichen jüdischen Bevölkerung nun immer noch bescheidene, insgesamt aber deutlich bessere wirtschaftliche Möglichkeiten.
(Hg)
Soweit überhaupt nachweisbar, lebten Rother Juden im 18. und frühen 19. Jh. in äußerst bescheidenen Wohnverhältnissen. Die Gebäude waren sehr klein, es gehörte höchstens ein winziges Höfchen dazu, aber kein Garten. Sie wohnten im unteren Teil des Dorfes, nahe der Lahn. Im Laufe des 19. Jhs. waren die meisten jüdischen Familien finanziell in der Lage, ein Gehöft, also ein Wohnhaus mit Nebengebäuden wie Scheune, Stall und Schuppen sowie einen angrenzenden Garten zu erwerben. Sie zogen nun auch mehrheitlich in die Mitte des Dorfes, an die Hauptstraße. Zusätzlich erwarben sie in gewissem Umfang landwirtschaftlich nutzbare Flächen. Die Sozialtopographie illustriert die wirtschaftliche Besserstellung der Mehrzahl der Rother Juden im 19. Jh.
Die Verordnung vom 14. Mai 1816 beabsichtigte, die jüdischen Mitbewohner in Kurhessen zu „bessern“, den Nothandel zu begrenzen und die Juden dazu anzuhalten, sich in der Landwirtschaft zu betätigen oder ein Handwerk zu erlernen. Das Protokoll vom 28. Juni 1816 belegt, dass die Behörden unverzüglich auf die Verordnung reagierten. Es wurde eine Befragung sämtlicher Juden aus Fronhausen, Lohra und Roth durchgeführt. Ihnen wurde zunächst der Inhalt der Verordnung erläutert, sodann wurden sie nach ihren Wohn- und Familienverhältnissen befragt und nach ihren wirtschaftlichen Betätigungsfeldern.
Das Protokoll macht deutlich, dass die Juden die Jahre der bürgerlichen Rechtsgleichheit im Königreich Westfalen nutzten, ihren Wohnort wechselten und nach eigenen Vorstellungen heirateten. Die meisten der zehn jüdischen Haushalte fanden ihr Auskommen jedoch weiter im Handel.
Die Befragten bemühten sich mit Erfolg darum, den Eindruck zu vermeiden, sie lebten hauptsächlich vom Nothandel. Denn dies hätte ihnen verwehrt, die rechtliche Gleichstellung mit den anderen kurhessischen Bürgern zu erlangen. So betonten die meisten, dass sie speziellen Handel, etwa mit Ellenwaren, insbesondere aber mit Vieh betrieben. Einige gaben darüber hinaus an, die gekauften Tiere auch zu schlachten, und dass auch dies zu ihrem Lebensunterhalt beitragen würde.
Das Erlernen eines Handwerks oder gar die Gründung eines Handwerksbetriebs war trotz der beabsichtigten „Besserung“ für Juden nicht leicht. Handwerk und Handel waren fast durchgängig zünftisch organisiert. Juden mussten von den – zudem christlich geprägten – Zünften aufgenommen werden. Da die Zünfte darauf ausgerichtet waren, drohende Konkurrenz von der eigenen Branche fernzuhalten, um ihren Zunftgenossen ein auskömmliches Geschäft zu sichern, fanden Juden hier nur schwer Zugang.
So legte die Marburger Fleischerzunft im Juli 1818 in einem Schreiben an den Kurfürsten Wilhelm I. dar, dass es in der Umgebung Marburgs kein Dorf gebe, in dem nicht mindestens ein Jude Schlachterei betreibe. Dies führe dazu, dass die Zunft auf dem Lande gar nichts mehr absetze und in Marburg selbst weniger als eigentlich möglich und dem Bedarf an Fleischwaren zuträglich wäre. Die Juden würden über Land ziehen und hausieren – unter dem Vorwand, dass das Fleisch bestellt worden sei. Die Lasten des Gewerbes, zumal die Steuern, würden ungerechter Weise jedoch nur die zünftigen Fleischer aufbringen. Dies sei ungerecht. Daher bat die Zunft den Kurfürsten, den Juden den Fleischhandel in den Städten wie auf dem Lande und insbesondere das Hausieren zu verbieten.
Juden, die im Kurfürstentum Hessen über keinen festen Wohnsitz oder eine Wohnberechtigung verfügten, konnten sich legal nur wenige Tage an einem Ort aufhalten oder versuchen, eine längerfristige Aufenthaltsgenehmigung in Form eines „Toleranzscheines“ zu erlangen. Dies betraf nicht nur „wandernde“ Juden, sondern auch die Kinder der ansässigen Juden, denn nur der erstgeborene Sohn konnte den bestehenden Haushalt ggf. auch als Nothändler weiterführen. Weitere Kinder mussten andere Wege finden, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die Chance, ein Handwerk zu erlernen und auszuüben, war nicht sehr hoch, da sich die Zünfte gegenüber Juden häufig verschlossen. Sie konnten auch versuchen, in die Dienste anderer Juden zu treten. Diese Möglichkeit blieb beispielsweise auch den Religionslehrern. Jedoch blieben die kurhessischen Behörden bei der Ausstellung von Toleranzscheinen restriktiv und waren immer darauf bedacht, die Zahl der Juden in Hessen insgesamt klein zu halten.
Der Toleranzschein für Salomon Lewi zeigt eindrucksvoll, wie konsequent die kurhessische Verwaltung vorging. Lewi war von Abraham Nathan aus Lohra als Religionslehrer eingestellt worden. Nathan musste lange und hartnäckig dafür kämpfen, dass Lewi den erforderlichen Toleranzschein erhielt, um die Lehrerstelle längerfristig auszufüllen. Die Toleranzscheine wurden in der Regel für die Dauer eines Jahres ausgestellt und mussten immer wieder verlängert werden. Außerdem enthielten sie strikte Regeln, die dafür sorgen sollten, dass der Inhaber keine Chance hatte, sich auf Dauer niederzulassen.
Im Falle des Salomon Lewi wurde zur Bedingung gemacht, dass er nicht heirate, keinen „Nothandel oder ein sonstiges bürgerliches Gewerbe“ betreibe und sich „überall zur Zufriedenheit betrage“. Sollten sich die Bestimmungen für den Religionsunterricht in dem laufenden Jahr verändern, so mussten sich Abraham Nathan und Salomon Lewi schon im Vorhinein verpflichten, sich diesen „willig zu unterwerfen“.
Seit der Verordnung vom 14. Mai 1816 erhoben die kurhessischen Behörden systematisch, in jährlichem Turnus und zunehmender Informationsdichte Angaben über die familiären- und gewerbsmäßigen Verhältnisse der jüdischen Bevölkerung. Die Aufstellungen ermöglichten einen Überblick über die Wirkungen der staatlichen Regelungen, aber auch die Kontrolle über die jüdische Bevölkerung. Die statistischen Erhebungen erlauben auch heute noch einen differenzierten Einblick in deren sich langsam verändernde Lebensverhältnisse.
Die Übersicht von 1858 lässt gut erkennen, dass etwa der jüdische „Nothandel“ zumal auf dem Lande fast keine Rolle mehr spielte. Nur in Marburg war 1858 noch ein Dutzend Nothändler registriert. Alle anderen Juden im Kreise hatten inzwischen das Staatsbürgerrecht erlangt.
Ferner wird deutlich, dass die Zahl der ansässigen Juden begrenzt blieb. Nur in Marburg und Treis lebten überhaupt zehn oder mehr Familien. Von den insgesamt 73 jüdischen Familien gingen nur drei in Marburg einer freien oder akademischen Profession nach, ein Lehrer lebte in Roth. Einige Juden hatten es in handwerkliche Berufe geschafft, auffälliger Weise eine ganze Reihe in Fronhausen, Lohra und Roth. Viel breiter differenziert sind hingegen die Beschäftigungen im Handel vertreten, wobei der Klein- und Trödelhandel und vor allem der Viehhandel – mit Schwerpunkt in Treis – die dominierende Rolle spielt.
In den Städten wie in den Dörfern war es den Judengemeinden gestattet, ihren Glauben zu praktizieren und Synagogen zu unterhalten, die der zentrale Ort der religiösen und sozialen Selbstvergewisserung und -organisation waren. Wie die Christen unterhielten auch die jüdischen Gemeinden Schulen, deren besonderes Anliegen der Religionsunterricht war – auf dem Land schlossen sich häufig mehrere Gemeinden zusammen, um eine Schule zu unterhalten. Dabei wurden die jüdischen Schulen ebenso unter staatliche Kontrolle gestellt wie die christlichen – in Kurhessen unter die Aufsicht staatlich bestellter Provinzialrabbiner. Der für die Provinz Oberhessen und damit auch das Marburger Umland zuständige Provinzialrabbiner hatte seinen Sitz in Marburg.
Das ausgewählte Beispiel der Schule Fronhausen aus dem Jahr 1865 zeigt, wie differenziert und wie kritisch die jährlichen Visitationen den Schulbetrieb prüften. Der Bezirksrabbiner kontrollierte die Verhältnisse des Lehrers, die allgemeinen Bedingungen („Gesamtzustand“), vor allem aber den Lernstand („Fortschritte der Jugend“) sowie die Lehrmethoden („Belehrungen, Ermunterungen und Zurechtweisungen“), den Schulbesuch und den Bedarf an materiellen Rahmenbedingungen („Desiderien“). So konnten nicht nur Hindernisse und Probleme benannt, sondern auch deren Behebung begleitet werden. Dies belegt der Bericht über die Schule in Fronhausen für das Jahr 1865. Ohne Umschweife bemerkt der Provinzialrabbiner, dass der Weg der Kinder aus Lohra, welche die Fronhäuser Schule besuchen, im Winter nicht bewältigt werden kann und deshalb ein Lernrückstand zu beklagen ist (Ziff. V. u. III.4). Die Gemeinde Fronhausen unterhielt einen typisch ländlich-bescheidenen Schulbetrieb: Dort unterrichtete ein Lehrer ganze fünf Schüler, wovon drei aus Lohra herlaufen mussten. Zudem handelte es sich um eine „Wechselschule“, denn es wurde „täglich in Fronhausen und [im Wechsel in] Roth unterrichtet“ (Ziff. III, 3). Vor dem Hintergrund dieser einfachen Umstände ist es nicht erstaunlich, dass der Schulerfolg zwischen „gut“, „ziemlich“ und „wenig“ schwankte. Das Pensum stellte zwar den Religionsunterricht in den Mittelpunkt, zu dem das Lesen, die Grammatik und das Schreiben der hebräischen Sprache, Bibelkunde, biblische Geschichte, das Übersetzen der Gebete und des Pentateuch bzw. der Tora gehörten. Und wie in den christlichen Schulen umfasste er auch Unterricht in Schön- und Rechtschreiben, Rechnen sowie die Fächer „Gemeinnützliche Kenntnisse“, „sittliche“ und „Verstandesbildung“.

Marburgs jüdische Bewohner waren während des Königreichs Westphalen nicht nur in den Genuss der bürgerlichen Gleichstellung gekommen, sondern der Stadt war mit der Einrichtung eines Districtrabbinats für das Werra-Departement erstmals auch eine Mittelpunktfunktion für die geistlich-administrativen Angelegenheiten der Juden zugewachsen.
Nach der Restitution des Kurfürstentums behielt Marburg diese Funktion, denn es wurde 1823 Sitz des für die Provinz Oberhessen zuständigen Provinzialrabbinats. Provinzialrabbiner des 19. Jahrhunderts waren Moses Salomon Gosen (1824-1862), Liebmann Gersfeld (1862-1876) und Dr. Leo Munk (1876-1917). Ihre Funktion bestand in der seelsorgerlichen und rituellen Betreuung der jüdischen Gemeinden der Provinz und Marburgs. Sie überwachten den Unterricht der Jugend und die Kultusausübung, prüften die Schächter und ließen sie zu und standen in engem Kontakt mit der für das israelitische Religionswesen zuständigen kurfürstlichen Regierung.
Von den durch die Verordnung von 1816 erreichten Verbesserungen profitierte das jüdische Wirtschaftsleben in Marburg, da es nun in Grenzen erlaubt war, Handwerk und Gewerbe auszuüben sowie Haus- und Grundbesitz zu erwerben. Auch die Wahl des Wohnortes unterlag geringeren Restriktionen, so dass einige im Umland lebende jüdische Familien nach Marburg zogen.
Die jüdische Gemeinde in Marburg wuchs bereits während der französischen Regierungszeit von acht auf zwölf Familien an. Im Jahr 1824 gab es 14 jüdische Haushalte, von denen vier ein eigenes Haus bewohnten. Gut 30 Jahre später (1855) hatte sich die Zahl der Haushalte zwar auf 24 vermehrt, aber die Zahl der jüdischen Hausbesitzer war nur auf sechs angestiegen. Für das Jahr 1874 lässt das Marburger Adressbuch eine weitere Zunahme um etwa zehn jüdische Haushalte annehmen. Dieses zunächst eher allmähliche Anwachsen beschleunigte sich zunehmend. 1889 erwähnt das Adressbuch bereits 67 jüdische Haushaltungen.
Zuzugsorte waren zumeist Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung Marburgs. So stammte die hier zu Wohlstand gelangte Bankiersfamilie Strauß zum Beispiel aus Amöneburg. Einige wanderten auch aus entfernteren, aber doch zumeist hessischen Orten zu. In der Stadt Marburg steigerte sich durch die genannten Entwicklungen der Anteil der jüdischen Bevölkerung von einem Prozent in der kurhessischen Zeit auf drei Prozent um das Jahr 1885.
Die Entwicklung im 19. Jahrhundert führte nicht nur zu einem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung, sondern auch zu einer stärkeren Diversifizierung in ihrer Erwerbstätigkeit. Im ersten Viertel des Jahrhunderts benennen Kaufmann oder Trödler beinahe ausschließlich die jüdischen Gewerbe. Im Jahr 1855 hatte sich die Bandbreite der Tätigkeiten um handwerkliche und akademische Professionen verbreitert, eine Tendenz, die auch nach der Reichsgründung fortdauerte. Freilich ist nicht zu übersehen, dass der Schwerpunkt jüdischen Erwerbslebens weiterhin im Bereich des Handels lag. Die Spanne darin war aber sehr breit. Zu ihrem oberen Ende zählen am Ausgang des 19. Jahrhunderts vier jüdische Bankhäuser, zwei Juweliere und Uhrmacher, das moderne Warenhaus der Familie Erlanger sowie Textilgeschäfte für den gehobenen Bedarf. An ihrem unteren Ende existierten weiterhin jüdischer Kleinhandel und –gewerbe.
Der Lebensweg des Privatdozenten Dr. med. Leopold Eichelberg zeigt, dass es Juden allmählich gelang, in die gehobenen bürgerlichen Kreise Marburgs aufgenommen zu werden, denn er gehörte über Jahre u. a. dem Vorstand des Marburger Museumsvereins an.Sein Beispiel ist symptomatisch für den wirtschaftlichen und schließlich auch gesellschaftlichen Aufstieg, der nun möglich war. Wenn dieses auch nicht allen gelang, so war das 19. Jahrhundert in der Tendenz für die jüdische Bevölkerung Marburgs eine Zeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. Zur Mitte des Jahrhunderts hatte sich in Marburg zunächst eine breite jüdische Unterschicht gebildet. Der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung in den Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende führte schließlich aber zur deutlichen Verringerung der Unterschicht zugunsten eines Anwachsens einer jüdischen Mittelschicht.
Das demographische Wachstum, der zunehmende Wohlstand und das gestiegene soziale Ansehen der jüdischen Gemeinde sollten ihren Spiegel auch in deren Synagogen finden. So wurden die Gottesdienste am Anfang des 19. Jahrhunderts in zwei angemieteten Räumen einer Bäckerei in der Barfüßer Straße abgehalten, die bald zu klein waren. Im Jahr 1817 kaufte die Gemeinde das Haus Ritterstraße 2 an und baute es zur Synagoge um. Am 14. August 1818 wurde die neue Synagoge in Anwesenheit von Vertretern aller drei christlichen Konfessionen feierlich eingeweiht. Da die jüdische Gemeinde 1886 auf 400 Personen angewachsen war, reichten die Räume in der Ritterstraße nicht mehr aus und man bemühte sich um einen Neubau. Die Suche nach einem geeigneten Grundstück führte schließlich zu einem Garten von 1.135 m² Größe, der neben dem Waisenhaus und unterhalb der Stadtmauer lag. Hier sollte die neue Synagoge entstehen, gelegen zwischen der Oberstadt als Geschäftsviertel und der Südstadt, dem bevorzugten Wohngebiet, in der heutigen Universitätsstraße. In nur 16 Monaten Bauzeit entstand ein stattlicher Sandsteinbau mit einer Kuppel, der Platz für 230 Männer im Erdgeschoß und 175 Frauen auf der Empore bot. Die Einweihung fand am 15. September 1897 unter Teilnahme sämtlicher Marburger Honoratioren statt. Die neu erbaute Synagoge zeigte durch ihre Größe und prominente Platzierung, dass die jüdischen Bürger ein fester Bestandteil der städtischen Gesellschaft in Marburg waren.
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Die zum Teil mit Illustrationen ausgestalteten Werbeanzeigen, die jüdische Geschäftsleute in den ab 1868 regelmäßig gedruckten Marburger Adressbüchern veröffentlichten, sowie die Verzeichnisse selbst zeigen, dass die geschäftlichen Aktivitäten, die sie entwickelten, immer vielfältiger wurden. Sie betätigten sich v. a. als Kaufleute und handelten z. B. mit Textilien, Wäsche, und Kurzwaren, Leder und Fellen, sowie Kolonialwaren. Ferner gab es Bankiers, Immobilienhändler, Uhrmacher und Juweliere, Metzger und Restaurantbetreiber. Aus dem akademischen Spektrum trifft man Ärzte, Rechtsanwälte und Professoren an, außerdem Funktionsträger der Jüdischen Gemeinde.
Ein Grundriss, Querschnitte nach Osten und Westen sowie eine Fassadenansicht dokumentieren das Bauvorhaben der Synagoge. Sie wurde von 1896-1897 in 16 Monaten nach Entwürfen des Architekten Wilhelm Spahr auf dem Grundstück Universitätsstraße 11, unterhalb der Stadtmauer, erbaut. Der stattliche Sandsteinbau, errichtet im spätromanischen Stil, gekrönt von einer Kuppel mit aufgesetztem Davidstern, bot Platz für 405 Personen. Dieser Synagogenbau in der neugeschaffenen Universitätsstraße dokumentiert wie kein zweites Zeugnis das Aufstreben des jüdischen Bürgertums im 19. Jahrhundert in Marburg.
Der Handelsmann Salomon Eichelberg ist mit seinen Söhnen Loeb Eichelberg, Student, und Mentel Eichelberg, Kaufmann, in die Kantonsliste eingetragen, außerdem sind drei namentlich nicht genannte Töchter verzeichnet. In dieser Kantonsliste werden erstmals Tätigkeiten und Berufe erwähnt, die vorher für Juden nicht zugänglich waren.
Leopold Löb Eichelberg hatte von 1812 bis 1819 das Gymnasium besucht und anschließend an der Marburger Universität bis 1824 ein Medizinstudium absolviert. In den Jahren 1825 und 1826 folgten Promotion und Staatsexamen. Als niedergelassener Arzt habilitierte er sich noch im Jahr der Promotion. Eine Professur erhielt er nicht.
1831 ging er nach Polen, um den dortigen Aufstand gegen das zaristische Russland als Arzt zu unterstützen. Nach seiner Rückkehr ins hessische Marburg war er bis 1835 Mitglied des judenschaftlichen Vorsteheramtes. In dieser Funktion gehörte er zu den Übersendern einer Denkschrift an den Kurfürsten, in der die völlige Gleichstellung der Juden gefordert wurde. Eichelberg bewegte sich auch im Umfeld von Georg Büchner und verfasste selbst politische Aufrufe. Dieses Engagement trug ihm eine von 1835 bis 1848 währende Festungshaft ein, die er ungebeugt und ungebrochen überstand. Nach dem Scheitern der 48er Revolution wandte er sich von der Politik ab. In der Stadt engagierte er sich aber weiterhin, etwa im Vorstand der Marburger Museumsgesellschaft. Auch hielt er bis in das Jahr seines Todes 1879 Vorlesungen.
Nachdem das Marburger Gymnasium Leopold Eichelberg die Studierfähigkeit testiert hatte, gestattete der Kurfürst bzw. das zuständige Ministerium ihm die Aufnahme eines Studiums an der Landesuniversität Marburg.
Soche " Dispensationen" waren seit 1774 für die studierwilligen Söhne von Bauern und Bürgern verpflichtend.
Transkription:
Ich bin durch ein Schreiben des Herrn General Commissairvon Wolff sowohl, als durch eine Petition der hiesigenMetzgerzunft unterrichtet worden, daß die Juden aus denbenachbarten Dorfschaften nicht allein Fleisch in der hiesigenStadt feil tragen, sondern daß auch gegründete Besorgnißzu hegen seye, daß diese Juden oft ungesundes Viehzum Verkaufe schlachteten.Obwohl den Juden, sobald sie ein Patent gelöst haben, dasSchlachten und der Verkauf des Fleisches nicht verhindertwerden kann, so ist man Polizey wegen jedoch darauf sorgsamzu sehen, daß dieselben nicht durch den Verkauf von ungesundemFleische, die Gesundheit ihrer Mitbürger untergraben, auchebenso wenig durch das feiltragen desselben dieser Aufsichtsich zu entziehen suchen.Beides ist zu vermeiden, sobald man den Juden einenöffentlichen Ort bestimmt, wo sie das Fleisch feil haltenkönnen, und wo dasselbe zuvor von dem Markt und denSchaumeistern besichtigt und taxirt werden kann. Sollte es sichbei dieser Besichtigungergeben, daß die israelitischen Mitbür-ger ungesundes Vieh geschlachtet und zur Stadt gebracht haben,so sind sein nach den nach bestehenden ältern Gesetzen in dieserPolizey-Sache zu bestrafen und das ungesunde Fleisch in dieLahn zu werfen.Ich beauftrage sie zu dem Ende den Juden in der hiesigenSchirne einen schicklichen Ort zu diesem Zwecke anzuweisen, solcheauch sowohl durch besondere Schreiben als durch die hiesige Zeitungvon dieser Verfügung in Kenntniß zu setzen unddabei demselben bei einer nahmhaften Strafe das feil-tragen in hiesiger Stadt zu untersagen.Zugleich werden sie hiervon den Metzgern dahierNachricht geben.Marburg den 16ten Maerz 1809Der Praefect des Departements der WerraUnterschriftAn den Herrn Maire von Breidenstein hierselbst
Diese städtische Bekanntmachung, welche an die umliegenden Städte und Gemeinden zur Kenntnisnahme geschickt wurde, zeigt, dass Vieh- und Krammärkte ohne die Teilnahme jüdischer Händler nicht attraktiv gewesen wären. Gleichzeitig schützte die Verlegung diie Juden vor geschäftlichem Schaden.
Transkription:
Bekanntmachung
Wegen der eintretenden jüdischen Feiertage ist der auf den 27ten September fallende Marburger Viehmarkt sowohl als auch der auf den 29ten September angesetzte Michaelis Krammarkt auf Montag den 1ten October d.[ieses] J.[ahres] verlegt und angesetzt worden, an welchem letztere Tage beide Märkte zusammen abgehalten werden sollen, welches hierdurch den Handelsleuten und Marktbesuchenden bekannt gemacht wird.
Marburg am 5ten September 1821
Bürgermeister und Rath allhier
Provinzialrabbiner Dr. Munk stellte am 4. Februar 1895 beim Landrat den Bauantrag für die Marburger Synagoge. Oberbürgermeister Schüler notierte auf dem Schreiben "Bedenken gegen die Baugestattung liegen diesseits nicht vor […] 18. Februar 1995"
Von den Einweihungsfeierlichkeiten hat sich kein Programm erhalten, insofern sind Zeitungsberichte wichtige Quellen für deren Ablauf und den Teilnehmerkreis. Der Bericht in der Oberhessischen Zeitung dokumentiert das umfangreiche Programm, das die Jüdische Gemeinde aus diesem Anlass aufgelegt hatte, die große Festlichkeit, mit der das Ereignis begangen wurde und die Teilnahme vieler herausragender Repräsentanten des öffentlichen Lebens in Marburg. Ohne namentliche und abschließende Aufzählung werden "die Spitzen der Behörden, der Universität, der Garnison etc." genannt. Das Ansehen der Jüdischen Gemeinde kommt hierin sinnfällig zum Ausdruck.

VI. Politischer Antisemitismus und bürgerliche Gegenwehr
Antijüdische Agitationen und gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden ereigneten sich während des gesamten 19. Jahrhunderts. Mit der Entstehung des politischen Antisemitismus am Ende dieses Säkulums erlangte die Judenfeindschaft jedoch eine neue Qualität. Unter dem Einfluss einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise, eines erstarkenden Nationalismus, der Verdrehung der wissenschaftlichen Erkenntnisse eines Darwin bildete der sogenannte Berliner Antisemitismusstreit, eine von dem konservativen Historiker und Reichstagsabgeordneten Prof. Heinrich von Treitschke 1879 ausgelöste Debatte über den Einfluss des Judentums, den Ausgangspunkt für die Entstehung des politischen Antisemitismus. Anders als zuvor spielte für dessen Vertreter die Zugehörigkeit der Juden zu einer bestimmten Religion als ausgrenzendes Merkmal keine Rolle mehr, sondern ihnen wurden, scheinbar wissenschaftlich belegt, Rassemerkmale und negative Eigenschaften zugeschrieben, die ihre Wesensart angeblich determinierten. Bald schon organisierten sich Vertreter des Antisemitismus in Vereinen und Parteien. 1880/81 wurde die sogenannte Antisemitenpetition in den Reichstag eingebracht, mit der die rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden abgeschafft werden sollte.
Der politische Antisemitismus war keine einheitliche Bewegung, sondern es entwickelten sich verschiedene Richtungen mit entsprechenden Gruppierungen und Parteien. Als erster direkt gewählter, explizit antisemitischer Reichstagsabgeordneter zog 1887 der Hilfsbibliothekar an der Marburger Universitätsbibliothek Dr. Otto Böckel für den Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg-Vöhl in den Berliner Reichstag ein.
Die Böckelsche Richtung des Antisemitismus entfaltete ihre Wirkungen vornehmlich in Oberhessen, d.h. im Marburger Raum bis in die Wetterau, sowie Teilen Südhessens. Otto Böckel (1859-1923) wurde als Sohn eines Bauunternehmers in Frankfurt geboren. Der schon als Kind offenbar schwärmerisch veranlagte junge Mann studierte auf Druck seines Vaters zunächst Jura und Nationalökonomie, schwenkte dann aber in Gießen auf Germanistik und neuere Sprachen um. In Marburg wurde er 1882 von dem Philologen Prof. Edmund Max Stengel zu einem Thema aus der altfranzösischen Lyrik promoviert. Im Jahr darauf erhielt er seine Anstellung an der Universitätsbibliothek.
Bereits während seiner Gießener Studienzeit zog Böckel über die Dörfer, sammelte Volkslieder und betrieb Volksliedforschung. 1885 veröffentlichte er eine Sammlung „Volkslieder aus Oberhessen“ und bis zu seinem Tod weitere Studien, die sich mit Volksliedern und -sagen beschäftigten. Hierdurch erlangte Böckel eingehende Kenntnisse über die bäuerliche Kultur und Lebensweise, die bestehenden ökonomischen Probleme und entwickelte zum Teil persönliche Beziehungen, die seinen Antisemitismus und sein politisches Programm bestimmten.
Politisch aktiv wurde Böckel 1885, als er erste Artikel in antisemitischen Blättern wie dem „Reichsgeldmonopol“, Organ des antisemitischen Kasseler Reformvereins (gegr. 1881) um Ludwig Werner, veröffentlichte. Er nahm einen rasanten Aufstieg als Politiker, denn bald wurde man in Berlin auf ihn aufmerksam, wo im selben Jahr erste Auftritte erfolgten. Dem Kasseler Reformverein trat er bei und organisierte dort Pfingsten 1886 mit Werner den dritten Antisemiten-Kongress.
Im August 1886 gründete Böckel einen Marburger Reformverein. Bei den im Februar 1887 anstehenden Reichstagswahlen zunächst als Kandidat für den Wahlkreis Kassel-Melsungen vorgesehen, kam es Ende 1886 zum Bruch mit dem Kasseler Reformverein. Böckel beschloss daraufhin, für den Wahlkreis Marburg-Frankenberg zu kandidieren. Wegen Boykotts des Abdrucks seiner Wahlkampfaufrufe durch die lokalen Zeitungen gründete er mit dem Reichs-Herold ein eigenes Organ, dessen Probenummer im Januar 1887 erschien. Er initiierte in kürzester Zeit eine beispiellose Wahlkampagne mit zahllosen Auftritten auf dem Lande, Pamphleten und Plakaten mit dem Ergebnis, dass er auf Anhieb 56,6 Prozent der Stimmen erhielt. 1890 vermochte er sein Ergebnis gar auf 64,8 Prozent zu steigern. Danach sank sein Stern. 1893 und 1898 musste er jeweils in eine Stichwahl, gewann aber auch diese nochmals. War er 1887 der einzige dezidiert antisemitische Abgeordnete im Reichstag, so erreichten die Antisemiten 1893 bereits Fraktionsstärke, fast die Hälfte von ihnen waren Hessen.
Die ökonomische Situation verbesserte sie sich in dem agrarisch geprägten und wirtschaftlich rückständigen Kurhessen nach dem Anfall an Preußen 1866 gerade nicht, sondern verschärfte sich aufgrund von Steuererhöhungen und dem nun verpflichtenden Militärdienst. Besonders schwer traf es die Bauern, welche häufig hoch verschuldet waren und von denen so mancher in Konkurs geriet. Verglichen damit erlebten etliche Juden aufgrund der ihnen erwachsenen Spielräume durch die Emanzipation und der sich ihnen bietenden Chancen durch ihre gewohnte Geschäftstätigkeit mit Waren und Kapital auf dem Lande eine wirtschaftliche Verbesserung. Häufig waren sie Kreditgeber von Bauern.
Böckel nahm die gesellschaftlichen Veränderungen und die soziale Not der Landbevölkerung sensibel wahr, personifizierte jedoch diese strukturelle Krise: Die Juden verunglimpfte er als Güterschlächter, machte sie zu Sündenböcken für das Elend der Bauern. Er formulierte eine Sozialkritik und soziale Forderungen, die ihn stark von den konservativen Antisemiten abhob. Trotz durchaus progressiver Programmatik vertrat er ein anti-modernes Gesellschaftsbild, das die bäuerliche Kultur als urtümlich und rein ansah. Letztlich hing Böckel einer rückwärtsgewandten, vorkapitalistischen Gemeinschaftsidylle an, für die die Juden als Verkörperung des abgelehnten Neuen eine Gefahr darstellten. Ihre bürgerliche Gleichstellung wollte er abschaffen und sie unter Fremdenrecht stellen.
Für die fulminanten Erfolge Böckels lassen sich verschiedene Faktoren ausmachen. Wegen seiner langjährigen Beziehungen zur hessischen Landbevölkerung wusste er ihren „Nerv“ zu treffen. Mit Charisma und großem rhetorischen Talent versehen, zog er mit unermüdlicher Versammlungstätigkeit über die Dörfer. Er verfolgte damit eine neue Wahlkampfstrategie, die er mit Flugblättern, Plakaten und Mundpropaganda zusätzlich unterstützte. Ferner verknüpfte er in dem zweimal wöchentlich erscheinenden und rasch auflagenstarken Reichs-Herold geschickt seine politische Propaganda mit sozialen Aspekten, lokalen Nachrichten und praktischen Hilfestellungen. In dem gleichnamigen Verlag publizierte er weitere, direkt die Bauern ansprechende einschlägige Propagandaschriften. Schließlich bot er den Bauern konkrete Hilfestellungen an, indem er Genossenschaftskassen und Konsumvereine gründete. Diese bildeten jedoch nur ein Strohfeuer: Schnell stellte sich heraus, dass vielfach das nötige Know-how bei Böckel und anderem Führungspersonal fehlte, außerdem wurden diese Organisationen in finanzieller Hinsicht in den Dienst der Parteiarbeit gestellt, was sie wirtschaftlich schwächte und moralisch diskreditierte.
Böckels Scheitern hatte am Ende viel mit dem seiner sozialpolitischen Projekte zu tun, außerdem mit der Konkurrenz innerhalb der antisemitischen Bewegung. Hinzu kamen die aktiv betriebenen Reformen von Seiten des Staates, die den Bauern tatsächlich eine Hilfe bedeuteten. Die staatlicherseits initiierten Genossenschaftskassen und Konsumvereinigungen zeitigten einen wirksamen Erfolg. Es entwickelte sich aber auch aktive bürgerliche Gegenwehr, die publizistisch und auf juristischem Feld ausgetragen wurde.
Nachdem 1890 gleich fünf Antisemiten in den Reichstag eingezogen waren, wurde dieses vornehmlich in Kreisen Liberaler allmählich als bedrohlich empfunden. So kam es Ende 1890 in Berlin zur Gründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Der Verein unterhielt neben seinem Hauptbüro weitere in antisemitischen Hochburgen, darunter eines in Marburg. Die Mitgliederzahl stieg im ersten Jahr auf rund 12.000 an, auch viele Juden wie der Frankfurter Bankier Hallgarten bildeten ein wichtiges, auch finanzielles Rückgrat des Vereins. Ende 1891 begann der Verein mit der Herausgabe seiner wöchentlich erscheinenden Mittheilungen zur Abwehr des Antisemitismus. Als Mittel der Aufklärung bediente man sich logischer Argumentation und Rationalität, Appellen an kultivierte Humanität und „echtes Deutschtum“.
Einer der aktivsten Repräsentanten dieses Vereins war der Marburger Staatsarchivar Dr. Georg Winter, ein Nationalliberaler. Vorsitzender in Marburg war pikanter Weise Böckels Doktorvater, Prof. Edmund Max Stengel. Der Marburger Ableger des Vereins, namentlich Winter, reagierte förmlich spiegelbildlich auf die Böckelbewegung. Er entwickelte seinerseits eine rege, auch die Dörfer einbeziehende Versammlungstätigkeit. Darüber hinaus engagierte er sich stark publizistisch, unter anderem mit einer Fortsetzungsserie, betitelt als „Der Antisemitismus in Kurhessen und seine Bekämpfung“, in der er Böckels Praktiken sowie dessen Fehlschläge in seinen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Bauern entlarvte. Das Marburger Büro des „Abwehrvereins“ bot zudem der Landbevölkerung seinerseits juristische Beratung an. Mit großem Engagement trat dieser Verein also entschieden und kontinuierlich öffentlich gegen Böckel und seine Anhänger auf und machte so den Antisemiten das Feld streitig. Dass Böckel 1893 in die Stichwahl gehen musste, dürfte auch ein Verdienst der Marburger Aktivisten dieses Vereins gewesen sein.
Böckel griff in seinem Reichs-Herold Juden teilweise namentlich, teilweise anonym, aber dennoch eindeutig identifizierbar an, würdigte sie herab, verleumdete sie, stellte krasse Falschbehauptungen auf und wirkte dadurch gezielt geschäftsschädigend. Im Staatsarchiv Marburg ist eine ganze Reihe von Privatklagen jüdischer Geschäftsleute aus verschiedenen Teilen Hessens und darüber hinaus erhalten, die deren Gegenwehr belegen. Die Klagen lauten in der Regel auf Beleidigung. In den wenigsten Fällen kam es jedoch zu einer Verurteilung, weil Böckel als Abgeordneter Immunität genoss, sich die Prozesse hierdurch so lange hinzogen, bis die Angelegenheiten verjährt waren. Dennoch belegen sie ein selbstbewusstes Auftreten der betroffenen Juden, die sich nicht in eine passive Opferrolle verkrochen.
(We)
Das undatierte Foto zeigt den wichtigsten Repräsentanten des hessischen Antisemitismus Dr. Otto Böckel in 'jüngeren Jahren'. Hinzugesetzt ist das Umschlagbild des "Kehraus! Antisemitischer Volkskalender" aus dem Jahr 1892, erschienen in dem von Böckel betriebenen Verlag Reichs-Herold. Es illustriert einen stark nationalistisch gefärbten Antisemitismus, verkörpert in einer blonden, martialischen Germania, die nach der Enthauptung des als abscheulicher Drache dargestellten Judentums das Schwert zurück in die Scheide steckt. Der Flügelhelm auf ihrem Haupt unterstreicht das Kriegerische. Die aufgepflanzte Flagge mit dem Reichsadler wird von einem andächtig blickenden Landmann gehalten, neben ihm zwei Kinder mit gefalteten Händen, links ein den Pflug führender Bauer und im Hintergrund eine friedlich-pittoreske Landschaft mit Kirchlein zur Unterstreichung, wem diese Befreiungstag hauptsächlich zu Gute kam. Erläuternd ist die dargestellte Szene als "Sieg des Deutschtums über das Judentum" überschrieben.
Bereits als Student an der Gießener Universität entdeckte Otto Böckel seine Leidenschaft für die Volkskunde und zog über die Dörfer Oberhessens, um Volkslieder zu sammeln. Seiner rund 130 Seiten umfassenden Anthologie stellte er eine weitaus längere Einleitung voran. In dieser tritt deutlich seine zivilisationskritische, rückwärtsgewandte Haltung zutage, wenn er gegen Eisenbahnen und Fabriken als Chiffren für die Modernisierung wettert. Er verbindet diese mit Verunglimpfungen von Juden als Monopolisten im Vieh- und Fruchthandel und Güterschlächter, antisemitische Äußerungen, wie er sie danach immer wieder artikulierte. Aufgrund dieser Melange sah Böckel Volkssitte und Volkslied degenerieren.
Bereits Ende 1885 hatte Otto Böckel eine Rede in einer Versammlung des Deutschen Antisemiten-Bunds in Berlin gehalten und damit Beziehungen zu der Bewegung in der Reichshauptstadt geknüpft.
Der Antisemiten-Bund war 1884 gegründet worden und blieb weitgehend auf Berlin begrenzt. Da dieser ebenfalls radikale, anti-konservative Positionen vertrat, stand Böckel ihm nahe. Im Herbst 1886 hielt er erneut eine Rede, die er in seinem Verlag Reichs-Herold druckte. Hier beschreibt er in dramatischen Worten die Situation der Bauern in Hessen und die Initialzündung für seine Entscheidung, politisch aktiv zu werden. Sie soll von einem Mord an einem Juden, dessen ein bei diesem verschuldeter Bauer angeklagt war, ausgegangen sein. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Böckel stattet sich als Kulminationspunkt seiner Ausführungen mit einem Sendungsbewusstsein aus: „Von dieser Stunde an bin ich antisemitischer Agitator, das Bild des armen, vom Juden ausgeraubten Bauern treibt mich vorwärts“. Dabei stilisiert er sich selbst als „Befreier“ des Volkes. Erstmals thematisiert Böckel hier die „Judenfrage“ auch als „Rassenfrage“ und leitet daraus die Forderung nach einer Aufhebung der Emanzipation ab.
Im August 1886 wurde Otto Böckel im Raum Marburg organisatorisch aktiv, indem er einen Ableger des Deutschen Reform-Vereins gründete, zu dessen Vorsitzendem er gewählt wurde. Nach drei Monaten soll dieser bereits 80 Mitglieder stark gewesen sein. Offenbar gehörten ihm auch zahlreiche Studenten an. Neben General- und Mitgliederversammlungen enthält das Protokollbuch auch Berichte von sogenannten Volksversammlungen, Wahlkampfveranstaltungen, die Orte und Art der Agitation Böckels aus der Sicht des Vereins beschreiben. Böckel war mit seinen Anhängern vornehmlich auf dem Land im Raum Marburg-Frankenberg unterwegs, hielt in dichter zeitlicher Folge Versammlungen ab und vermochte es offenbar, große Massen anzuziehen, diese mit seiner Rhetorik und seinen Themen zu begeistern und für sich zu gewinnen. Im Februar 1887 erlangte er sogleich die absolute Mehrheit mit über 56 Prozent der Stimmen. Dabei startete er für den Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg-Vöhl erst im Spätjahr 1886 in das Rennen, war er doch zunächst für ein Mandat im Wahlkreis Kassel-Melsungen vorgesehen gewesen.
Wegen der Weigerung der lokalen Zeitungen, Wahlkampfanzeigen abzudrucken, gründete er in Marburg das Propagandablatt Reichs-Herold und baute auch einen gleichnamigen Verlag auf.
Ein Erzeugnis von Otto Böckels Verlag war der „Kehraus“, ein antisemitischer Kalender, der sich an ein bäuerliches Lesepublikum richtete. Zunächst in Berlin verlegt, erschien er seit 1889 in Marburg. Als Bauernkalender mit landwirtschaftlichen Informationen und Terminen aufgemacht, enthielt er im Unterhaltungsteil zahllose Kurzgeschichten, Karikaturen, Witze, Lieder, Gedichte und Bildgeschichten, die ausschließlich antisemitische Inhalte transportierten.
Links: Kombination von Karikatur, jiddischem Idiom und Witz, rechts: nationalistische Verse.
In dem zweimal wöchentlich erscheinenden und rasch auflagenstarken Reichs-Herold verknüpfte Otto Böckel geschickt seine politische Propaganda mit sozialen Aspekten, lokalen Nachrichten und praktischen Hilfestellungen. Gleichzeitig schreckte er nicht vor Verleumdungen und übler Nachrede gegenüber den Geschäftspraktiken von Juden zurück, dabei nannte er einzelne Personen und Unternehmen unverblümt namentlich oder beschrieb sie doch in einer Weise, dass unzweifelhaft feststand, wer gemeint war. Die so Diffamierten verharrten jedoch nicht in einer passiven Opferrolle, sondern wie zahlreiche im Staatsarchiv Marburg erhaltene Privatklagen belegen, versuchten sie juristisch gegen Böckel vorzugehen. Dass diese Klagen in seltenen Fällen Erfolg hatten, hing damit zusammen, dass Böckel als Abgeordneter Immunität genoss und die Delikte oftmals verjährt waren, bis diese aufgehoben war.
In der Nr. 272 des Reichs-Herold vom 10. Januar 1890 bezichtigte Böckel Siegmund Gottschalk und indirekt auch Louis Erlanger unlauterer Geschäftspraktiken, woraufhin die Denunzierten Klage beim Marburger Amtsgericht erhoben.Das Gericht kam zu folgendem Urteil: "Das Gericht erachtet hiernach für thatsächlich festgestellt, daß der Angeklagte im Januar 1890 öffentlich und zwar in der Zeitung 'der Reichsherold' durch einen mit n. Rosenthal 1. Januar überschriebenen Artikel a) in Bezug auf den Privatkläger Gottschalk nicht erweislich wahre Thatsachen verbreitet zu haben (sic!), welche geegnet sind, den p. Gottschalk in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder verächtlich zu machen, b) den Privatkläger Louis Erlanger beleidigt zu haben." Es verurteilte Böckel zur Zahlung von je 20 Mark an die Kläger und erteilte diesen das Recht, das Urteil im Reichs-Herold zu publizieren.
"Trotz mehrerer Vorbestrafungen des Angeklagten wegen desselben Vergehens" fiel das Urteil milde aus, weil "der Angeklagte sich in dem Glauben befunden hat, daß der in dem Artikel geschilderte Vorgang der Wahrheit entspräche, und daß er nur falsch berichtet war." Böckel kam mit dieser Begründung also sehr glimpflich davon.
Der aus Breslau gebürtige Georg Winter wurde mit einer mediävistischen Arbeit 1878 in Göttingen promoviert und gelangte nach Stationen im Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Berlin und im Staatsarchiv Düsseldorf 1885 an das Staatsarchiv Marburg, wo er bis 1892 tätig war. Winter war nationalliberal gesonnen, parteipolitisch aktiv und heftiger Kritiker des Antisemitismus. Wie Otto Böckel mit einer glänzenden rhetorischen Begabung versehen, agitierte er aus dem 1891 gegründeten Marburger Büro des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus heraus gegen Böckel, indem auch er über Land zog, Versammlungen abhielt und die Bevölkerung zur Abkehr vom Antisemitismus zu bewegen suchte, offenbar durchaus mit einigem Erfolg. Jedenfalls musste Böckel bei den Wahlen 1893 erstmals in die Stichwahl. Das Büro bot außerdem in Not geratenen Bauern juristische Beratungen an.
Der Philologe Edmund M. Stengel gehörte seit 1873 dem Lehrkörper der Universität an. Er vertrat dort bis zu seinem Weggang nach Greifswald 1895 die „abendländischen Sprachen und Literaturen“. In dieser Funktion war er zum Doktorvater Otto Böckels geworden. Edmund Stengel war Mitglied im Gründungsvorstand des Vereins zur Bekämpfung des Antisemitismus und einer seiner pronociertesten Wortführer in Marburg. Er leitete den Marburger Zweig des Vereins bis zu seinem Weggang nach Greifswald. Auch die erste öffentliche Versammlung des Vereins in Marburg fand unter seiner Leitung statt. Böckel hinderte dies nicht, die Versammlung mit seinen Anhängern beinahe zu sprengen und für seine eigene Agitation zu nutzen.
Auch als Angehöriger der Freisinnigen Partei versuchte Stengel die Bewegung Böckels politisch zu bekämpfen. Von seinen akademischen Kollegen erwartete er dabei keine Unterstützung. In dem Briefentwurf schrieb er: " unter meinen Collegen von der Universität kann ich von keinem wirksame Hilfe erwarten, (...)"
Als 1890 gleich fünf Antisemiten in den Reichstag einzogen, wurde aus dem liberalen Bürgertum heraus in Berlin der Verein zur Abwehr des Antisemitismus gegründet. Er konzentrierte sich auf die Aufklärung der Öffentlichkeit mit Flugschriften und Broschüren, vor allem aber mit den regelmäßig erscheinenden Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, die seit dem 21. Oktober 1891 publiziert wurden. Deren Ziel bestand darin, den antisemitischen Halbwahrheiten und Verzerrungen „mit den Waffen der Wahrheit und Thatsachen“ zu begegnen, also eine dezidiert sachliche Aufklärungsarbeit zu betreiben. Georg Winter war einer ihrer fleißigsten Autoren. So setzte er sich von 1891 bis 1892 in 18 Fortsetzungen unter dem Titel „Der Antisemitismus in Kurhessen und seine Bekämpfung“ mit der Böckelbewegung auseinander. Außerdem erschienen dort Berichte über antisemitische Aktivitäten und Vorkommnisse und über seine eigenen Vortragstätigkeiten.
In der Nr. 2 vom 1. November 1891 wird über eine Versammlung am 29. Oktober 1991 in Marburg, der "Hochburg der hessischen Antisemiten", berichtet, zu der der Verein zur Abwehr des Antisemitismus eingeladen hatte. 1000 Leute sollen sich zu dem Vortrag des Berliner Vorstandsmitglieds Lic. Gräbner eingefunden haben, darunter Kurator und Rektor der Universität sowie "zahlreiche Notable der Stadt". Auch Böckel hatte seine Truppen mobilisiert. Dem Bericht zufolge teilte Böckel in Anschluss an den Vortrag rein persönliche Beleidigungen aus, und seine Anhänger traten mit Radau und Tumult statt Argumenten auf. Dem Versammlungsleiter Prof. Edmund Stengel blieb daraufhin nichts anderes übrig, als diese aufzulösen.

Religiös bestimmte Tages-, Wochen- und Jahresrhythmen, Feste, Vorschriften, Riten und Gebräuche prägten im 19. Jahrhundert weit stärker den Alltag von Menschen, zumal in ländlichen Regionen, als man sich das heute vielleicht vorstellt. Existierten selbst zwischen den christlichen Konfessionen hierin große Unterschiede und grenzten sich diese im gemischt konfessionellen Raum Marburg deutlich und auch sichtbar voneinander ab – z.B. aufgrund der unterschiedlichen Trachten der Frauen auf den Dörfern –, so unterschied sich der Alltag der Juden umso gravierender von dem der Christen. Er enthielt zudem Barrieren, insbesondere die strengen Speisevorschriften, die eine soziale Interaktion der beiden Gruppen erschwerten. Und doch entwickelten sich im 19. Jahrhundert soziale Räume, in denen Christen und Juden einander näher kamen und über die gewohnten rein geschäftlichen Beziehungen hinaus soziales Leben teilten und gestalteten.
Religiöse Praktiken
Dass man ein von Juden bewohntes Haus oder eine Wohnung betrat, merkte man bereits an der Eingangstür, denn am oberen Teil des rechten Türpfostens war leicht schräg eine Mesusa angebracht, eine in eine Kapsel aus Holz oder Metall eingelassene Pergamentrolle mit einem biblischen Text aus Deuteronomium 6, 4-9 und 11, 13-21, der dem Haus Segen bringen sollte.
Fromme Juden begannen den Tag mit einem Morgengebet, legten sich dazu einen Gebetsschal um und wickelten zwei lederne Gebetsriemen, an denen jeweils eine Kapsel mit biblischen Textstellen befestigt war, in vorgeschriebener Art und Weise um Handgelenk bzw. Stirn.
Im jüdischen Ritus begann die Arbeitswoche mit dem Sonntag, folglich fiel der siebte Tag der Schöpfung, an dem man ruhen sollte, auf Samstag, den Schabbat. Er begann am Freitagabend eine Stunde vor Einbruch der Nacht und dauerte bis Samstag vor Sonnenuntergang. Der Tag war zum einen von einer strengen Arbeitsruhe geprägt, was z.B. darin zum Ausdruck kam, dass man auf dem Land noch bis in das 20. Jahrhundert hinein christliche Nachbarsmädchen, sog. Schabbesmägde, damit beauftragte, Feuer im Ofen anzuzünden und andere notwendige Arbeiten zu verrichten, zum anderen wurde er festlich begangen und war begleitet von verschiedenen Riten. Den ganzen Freitag wurde zunächst geputzt und gekocht, man nahm ein Bad, und am Abend legte man feine Kleider an. Den Tisch deckte man mit einem feinen Tischtuch und dem „guten Geschirr“. Die Hausfrau zündete die beiden Schabbatleuchter an, der Hausherr segnete den Wein in dem Kidduschbecher, ebenso die Challot, zu Deutsch Berches, das waren Hefezöpfe, welche an das Manna in der Wüste nach dem Auszug aus Ägypten erinnern sollten. Dann konnte das Festmahl beginnen. Neben dem Besuch des Gottesdienstes am nächsten Morgen, in dem Woche für Woche ein vorgesehener Abschnitt der Tora vorgelesen wurde, verbrachte man den Schabbat vor allem gesellig mit Familie und Freunden. Das Ende des Schabbats beging die Familie wieder mit einem Ritus. In der Besamimbüchse befanden sich duftende Kräuter oder Gewürze, die den Wohlgeruch des Schabbats versinnbildlichten und von dem Hausherrn gesegnet wurden. Mit dem Entzünden der geflochtenen Havdalah-Kerze markierte man das Ende des Schabbats (Havdala bedeutet Unterscheidung). Sie löschte man mit einigen Tropfen Wein aus dem Kidduschbecher und stimmte sich dann mit guten Wünschen auf die anbrechende Arbeitswoche ein. Die Juden waren allerdings gehalten, die nun folgende christliche Sonntagsruhe nicht zu stören, insofern übten sie hier Zurückhaltung.
Das jüdische Jahr, welches dem Mondkalender folgt und eine eigene Zählung aufweist, ist durchzogen von vielen Festtagen mit je eigenen Bräuchen, seien es Purim, das an die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft erinnert, Pessach, mit welchem der Auszug aus Ägypten begangen wird, Rosch Haschana, das Neujahrsfest, Jom Kippur, der Versöhnungstag, oder Sukkot, das Laubhüttenfest, eine Art Erntedankfest.
In der Ausstellung wird beispielhaft das Chanukka-Fest thematisiert, ein mehrtägiges, besonders heimeliges Lichterfest zur dunklen Jahreszeit im Dezember, das an ein Wunder erinnert. Nach ihrem Sieg über die griechischen Besatzer im 2. Jh. v. Chr. wollten die Juden, nachdem sie den Tempel von Götzen gereinigt hatten, die Menora, den siebenarmigen Leuchter, anzünden, doch war nur ein einziges Fläschchen Öl vorhanden, das normalerweise nur für einen Tag gereicht hätte. Die Menora brannte jedoch acht Tage lang. Während des achttägigen Festes wird jeden Tag eine zusätzliche Kerze auf einem im Fenster stehenden Leuchter angezündet.
Mit diesem Fest verbunden ist das Dreidelspiel der Kinder. Der Legende nach hielten die unter der Herrschaft der Seleukiden gläubig gebliebenen Juden ihre Kinder trotz des Verbotes zum Studium der religiösen Traditionen an. Tauchten Patrouillen auf, hatten die Kinder schnell den Dreidel zur Hand, taten so, als spielten sie damit, und behaupteten, man habe sich nur hierzu getroffen. So trug der Dreidel zur Erhaltung des Judentums bei. Faktisch geht das Dreidelspiel aber auf ein deutsches Kinderspiel aus dem 16. Jahrhundert zurück. Der Dreidel ist ein vierseitiger Kreisel, auf jeder Seite stehen bestimmte hebräische Buchstaben. Je nachdem, welcher Buchstabe nach dem Drehen oben liegt, wird eine bestimmte Aktion verlangt: Man gewinnt entweder die gesamte Kasse oder die Hälfte, oder man verliert weder noch gewinnt man, oder man muss etwas in die Kasse geben. Wer nichts mehr besitzt, hat verloren. Die Kinder spielen meistens um Süßigkeiten. Außerdem bekommen sie zu Chanukka Geschenke. Dunkle Jahreszeit, Lichterglanz, längere Tage des Feierns und Geschenke – Chanukka und Weihnachten haben gewisse Gemeinsamkeiten. Assimilierte Juden in den größeren Städten feierten gerne „Weihnukka“, verbanden also die schönen Bräuche von Chanukka und Weihnachten miteinander.
Geschäftstätigkeit
Juden im Raum Marburg lebten vor allem vom Handel, nur in geringem Maße auch vom Handwerk. Ein für Juden wichtiges Handwerk war allerdings die Metzgerei, durften sie doch aufgrund ihrer Speisevorschriften nur koscheres Fleisch, also von geschächtetem Vieh, essen und auf keinen Fall Schweinefleisch. Eine solche gut gehende Metzgerei betrieb die in Fronhausen an der Lahn alteingesessene Familie Löwenstein. Das in der Ausstellung gezeigte Ladenschild aus Holz stammt von ihrer „alten“ Metzgerei, die Schrift zeigt ausgeprägte Jugendstilelemente, somit dürfte es um 1900 gefertigt worden sein. Familie Löwenstein gehört zu den „Dorfjuden“, denen im 19. Jahrhundert ein beachtlicher wirtschaftlicher Aufstieg gelang. Ausdruck dessen ist ihr 1881 traufseitig zur Straße errichtetes zweistöckiges Fachwerkhaus, die Front gegliedert durch einen Schmuckgiebel mit Balkon und verzierter Balustrade. Daneben steht noch heute das bescheidene Häuschen der Vorfahren mit der kleinen Metzgerei, von der das Schild stammt. Im 20. Jahrhundert setzte sich ihr Aufstieg fort, denn Hermann Löwenstein baute dem Wohnhaus einen Metzgerladen aus Klinkern vor. Der Verkaufsraum war vornehm weiß gekachelt mit einem Schmuckband aus blauen Kacheln und ausgestattet mit einer Marmortheke. Die Löwensteins verbanden, für jüdische Metzger nicht ungewöhnlich, ihr Handwerk mit dem Viehhandel.
Der Viehhandel war im 19. Jahrhundert fest in jüdischer Hand, weswegen übrigens Otto Böckel mit seinen Ausrufen judenfreier Viehmärkte wenig Erfolg hatte. Einen seltenen und wertvollen Einblick in die Geschäftstätigkeit einer Viehhändlerfamilie im Main-Kinzig-Raum gewährt das mit der Aufschrift „Haupt-Buch für Simon Ehrlich“ versehene Rechnungsbuch. 1856-1896 von verschiedenen Händen geführt, dürfte es mindestens zwei Generationen gedient haben. Ehrlichs lebten in Schlüchtern. Sie handelten schwerpunktmäßig in Orten um Steinau an der Straße und Schlüchtern mit unterschiedlichen Rinderrassen und besaßen zahllose Kunden von Bürgermeistern, Bauern, Handwerkern bis zu Tagelöhnern. Nur im Ausnahmefall beglichen ihre Käufer die fällige Summe sofort bar, sondern zahlten sie meistens über 1-2 Jahre zu einem Zinssatz von 5 Prozent ab. Zu den Geschäftspraktiken der Ehrlichs gehörte es, zusammen mit Partnern zu handeln.
Bildung und gesellschaftliches Leben
Die Alphabetisierung der Juden auf dem Land und den ausgeprägten Sinn für Familiengeschichte und –tradition dokumentiert ein einzigartiges Dokument, das trotz der Shoa und der Ermordung seiner letzten Besitzer erhalten geblieben ist – eine von mehreren Generationen über die weibliche Linie und daher gleich in drei Familien aus Roth vererbte Bibel, die ein mit grobem Faden eingenähtes Doppelblatt chronikalischer Notizen in Hebräisch, später in Deutsch enthält. Die Eintragungen beginnen mit dem Jahr 1803 und enden 1921. Geburten und Todesfälle wurden überwiegend in Hebräisch verzeichnet, auch von Frauen, in Deutsch z.B. ein besonders schlimmes Hochwasser von 1841 und die Mobilmachung vom 1. August 1914. Zu einigen Geburtseinträgen aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts fehlen amtliche Quellen, was diese Aufstellungen besonders wertvoll für die Genealogie der jüdischen Familie macht.
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als viele jüdische Landgemeinden noch klein waren und die Kinderzahl entsprechend gering, beantragten Juden, Privatlehrer beschäftigen zu dürfen. Bald wurden an vielen Orten jüdische Elementarschulen gegründet, und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein unterhielten selbst ländliche jüdische Gemeinden diese der staatlichen Aufsicht unterstehenden achtklassigen Schulen. Wollten sie ihren Kindern eine höhere Bildung zukommen lassen, mussten sie sie jedoch auf die weiterführenden Schulen in Marburg schicken, allesamt gemischt konfessionell. Für Jungen existierten hier im 19. Jahrhundert das bereits von Philipp dem Großmütigen gegründete Pädagogium, ab 1833 als Gymnasium bezeichnet (heute das humanistische Gymnasium Philippinum), und seit 1838 eine mit wechselnden Unterrichtskonzepten und entsprechenden Bezeichnungen versehene „Realschule“, welche auf Technik und Gewerbe vorbereiten sollte und daher Schwerpunkte auf Mathematik und Naturwissenschaften sowie die neueren Sprachen legte. Sie ist die Vorläuferin der Martin-Luther-Schule. Für Mädchen bestand seit 1858 eine private höhere Töchterschule, die 1879 in die städtische höhere Töchterschule umgewandelt wurde, die heutige Elisabethschule.
Die Schülerlisten des Gymnasiums belegen vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nur vereinzelte Aufnahmen von Söhnen Marburger jüdischer Familien, später nehmen diese zu, wie auch von solchen aus der Umgebung. Früh besonders bildungseifrig waren u.a. die Familien Lucas, Erlanger und Eichelberg. In den 1880er Jahren bis 1900 betrug der Anteil jüdischer Schüler rund 5 Prozent, nach 1900 stieg er kontinuierlich an bis auf etwa 10 Prozent 1904. Die „Realschule“ wies seit 1870 bis 1900 einen etwas höheren Schüleranteil als das Gymnasium auf, nach dem Ausbau zur Oberrealschule 1898/99 stieg dieser kontinuierlich an auf deutlich über 10 Prozent und erreichte 1907 15 Prozent. Den Bildungsbedürfnissen der Juden entsprach die Oberrealschule offenbar mehr als das humanistische Gymnasium. Es bleibt aber festzuhalten, dass bei beiden der prozentuale Anteil der jüdischen Schüler weit über dem der Juden an der Gesamtbevölkerung lag. Die Entwicklung in der Marburger Region folgt somit dem reichsweiten Trend: Juden zeichnete ein besonderes Bildungsstreben aus, sie waren in der Lage, weiterführenden und langen Schulbesuch ihrer Söhne zu finanzieren und damit Voraussetzungen für deren sozialen Aufstieg zu schaffen. Auch ihren Töchtern ermöglichten Juden eine höhere Bildung. Erlangers, Eichelbergs, Lucas‘, Strauß‘ und andere Familien, auch vom Land, schickten sie zur höheren Töchterschule. Zwischen 1878 und 1907 wurde diese von 94 jüdischen Mädchen besucht.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland das Vereinswesen, wo sich Gleichgesinnte zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenfanden. Juden gründeten einerseits eigene, oftmals karitative Vereine, mit denen sie ihre spezifischen Interessen verfolgten. In Stadt und Land engagierten sie sich jedoch ebenso in gemischt konfessionellen Vereinen, seien es Gesang-, Sport- oder andere Kulturvereine. Fotos und Jubiläumsfestschriften solcher Vereine belegen oftmals einen frühen Beitritt jüdischer Mitglieder, von denen sich einige sogar besonders verdient machten und darum mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet wurden. Gerade das Vereinswesen belegt eine zunehmende Integration der Juden in die Dorfgemeinschaften ebenso wie in die Stadtgesellschaften.
(We)
Metallene Kapsel mit Pergamentrolle, auf der die Verse aus Deuteronium 6, 4-9 und 11, 13-21 stehen, die an allen Haupteingängen des Hauses befestigt wird.
Rechteckiger weißer Gebetsschal mit schwarzen Streifen und in einer bestimmten Weise geflochtenen Schaufäden, den Zizit, an den vier Ecken. Er wird von Männern beim Gebet und bei verschiedenen religiösen Zeremonien getragen.
Zwei Kapseln mit Lederriemen, die mehrere Texte aus Exodus und Deuteronomium enthalten. Beim Gebet wird die eine Kapsel mit den Lederriemen am linken Arm, die andere an der Stirn befestigt, dabei werden die Lederriemen jeweils in vorgeschriebener Weise gewunden.
Die Alphabetisierung der Juden auf dem Land und den ausgeprägten Sinn für Familiengeschichte und -tradition dokumentiert ein einzigartiges Dokument, das trotz der Shoa und der Ermordung seiner letzten Besitzer erhalten geblieben ist - eine von mehreren Generationen über die weibliche Linie und daher gleich in drei Familien aus Roth vererbte Bibel, die ein mit grobem Faden eingenähtes Doppelblatt handschriftlicher chronikalischer Notizen in Hebräisch, später in Deutsch enthält. Die Eintragungen beginnen mit dem Jahr 1803 und Enden 1921. Geburten und Todesfälle sind überwiegend in Hebräisch verzeichnet, auch von Frauen, in Deutsch z. B. ein besonders schlimmes Hochwasser von 1841 ("Hier schreibe ich ein Denkmal auf, das von 17ten auf den 18ten Januar 1841 das Wasser so groß gewesen, als das bei Mensche gedenke so keins gewessen ist, an den Ekband (= Eckpfosten des Fachwerkhauses) habe ich es gezeichnet mit 3 nägel Meier Höchster") und die Mobilmachung vom 1. August 1914 (fol. 3v). Zu einigen Geburtseinträgen aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts fehlen amtliche Quellen, was diese Aufstellung besonders wertvoll für die Genealogie der jüdischen Familie macht. Daneben zeeigt dieses Stück, dass es zur religiösen Praxis gehörte, die Bibel und auch weitere Texte in Hebräisch zu lesen.
Der Beginn des Schabbats, eine Stunde vor Sonnenuntergang, wird mit dem Anzünden zweier Kerzen und einem Segensspruch der Hausherrin markiert.
Mit einem an die Schöpfung der Welt erinnernden Segensspruch des Hausherrn über dem Wein im Kidduschbecher wird der Schabbat geheiligt. Abgebildet auf einem Damasttischtuch von Bertha Stern, Roth.
Den Wohlgeruch des Schabbats versinnbildlichende duftende Gewürze werden an dessen Ende vom Hausherrn gesegnet.
Havdalah bedeutet Unterscheidung. Das Entzünden der geflochtenen Kerze markiert das Ende des Schabbats und den Übergang in die profane Zeit der anderen Wochentage. Unter guten Wünschen für die kommende Woche wird die Kerze mit Wein aus dem Kidduschbecher gelöscht.
Achtarmiger Leuchter, der an das Wunder im Tempel erinnert, als eine Minora mit nur einem Fläschchen Öl acht Tage lang brannte. In Erinnerung an das Wunder wird im Dezember ein achttägiges Lichterfest gefeiert, währenddessen jeden Tag eine weitere Kerze entzündet wird.
Kreiselspiel der Kinder um Süßigkeiten an den Chanukka-Feiertagen.
Die Schrift zeigt ausgeprägte Jugendstilelemente, es dürfte somit um 1900 angefertigt worden sein.
Familie Löwenstein betrieb eine gut gehende Metzgerei in Fronhausen. Sie gehört zu den "Dorfjuden", denen im 19. Jahrhundert ein beachtlicher wirtschaftlicher Aufstieg gelang. Ausdruck dessen ist ihr 1881 traufseitig zur Straße errichtetes zweistöckiges Fachwerkhaus, die Front gegliedert durch einen Schmuckgiebel mit Balkon und verzierter Balustrade. Daneben steht noch heute das bescheidene Häuschen der Vorfahren mit der kleinen Metzgerei, von der das Ladenschild aus Holz stammt.
Im 20. Jahrhundert war Hermann Löwenstein in der Lage, dem Wohnhaus einen neuen Metzgerladen aus Backstein vorzubauen. Der Verkaufsraum war vornehm weiß gekachelt mit einem Schmuckband aus blauen Kacheln und ausgestattet mit einer Marmortheke.
Personen auf dem zweiten Bild (jeweils von links): Elisabeth Schneider, Bedienstete der Löwensteins, Sanni Katten, Verwandte aus Halsdorf. Vor dem Schaufenster Friedrich, der jüngere der beiden Söhne Hermann Löwensteins.
Einen seltenen und wertvollen Einblick in die Geschäftstätigkeit von Viehhändlern im Main-Kinzig-Raum gewährt das Rechnungsbuch der Familie Ehrlich. 1856-1896 von verschiedenen Händen geführt, dürfte es mindestens zwei Generationen gedient haben. Ehrlichs handelten schwerpunktmäßig in Orten um Steinau an der Straße und Schlüchtern mit unterschiedlichen Rinderrassen und besaßen zahllose Kunden von Bürgermeistern, Bauern, Handwerkern bis zu Tagelöhnern. Nur im Ausnahmefall zahlten ihre Käufer die fällige Summe sofort bar, sondern beglichen sie meistens über ein bis zwei Jahre hinweg zu einem Zinssatz von 5 Prozent. Zu den Geschäftspraktiken der Ehrlichs gehörte es, zusammen mit Partnern zu handeln.
Aufgeschlagene Doppelseite: Geschäftsbeziehungen zu Joseph Schleich, Bauer und Schmied aus Marborn, sowie den Bauern Johannes Ochs aus Hutten und Martin Schmidt aus Niederzell.
Jahrgangsweise geführtes Verzeichnis der neu aufgenommenen Schüler, das zunehmend auch jüdische Schüler enthält; hier die Aufnahme von Hugo Eichelberg und Ludwig Erlanger, 1870.
Jahrgangsweise geführtes Verzeichnis der neu aufgenommenen Schüler; besonders viele jüdische Schüler enthalten die abgebildeten Seiten der Aufnahmen zu Ostern 1903. Sie kamen auch aus dem Marburger Umland und entfernteren Orten.
Jüdische Einwohner Roths traten dem Verein schon bald nach seiner Gründung 1893 bei. Abgebildet sind Berthold Stern (2. Reihe 7. von links), Julius Bergstein und Hermann Höchster (2. Reihe 2. und 3. von rechts).
Auch nach Jahrzehnten waren jüdische Mitglieder aus den Familien Stern, Bergstein und Höchster weiterhin im Gesangsverein aktiv. Hermann Höchster, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, hatte sich so sehr um den Verein verdient gemacht, dass er bereits Ehrenmitglied war. Im Festkomitee engagierten sich alle jüdischen Sänger.