
Unrechtspflege: Roland Freisler und die hessische Justiz 1926-1941
Eine Kultur, deren Anwälte sich längst unter dem Beifall der
Mehrheit zu Wortführern der Diffamierung und Verneinung all
dessen gemacht hatten, worauf diese Kultur beruhte, vermochte
ihrer eigenen Zerstörung nicht mehr glaubwürdig entgegenzutreten.
Joachim Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches
Der Mann, der am späten Abend des 1. Juli 1930 wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch und Aufforderung zum Ungehorsam in das Polizeigefängnis von Kassel eingeliefert worden ist, macht am Tag darauf seine Aussage: „Beruf: Rechtsanwalt – Wohnort: Kassel – Wohnung: Hinzpeterstraße 8 – geboren am: 30. Oktober 1893 in Celle – Staatsangehörigkeit: Preuße – Familienstand: zur Zeit verheiratet mit Marion Russegger – Namen der Eltern: Julius F. und Florintine, geb. Schwertfeger – Stand des Vaters: Professor – Vermögensverhältnisse: geregelt.“ Im Vernehmungsbogen steht hinter der Frage, ob die beschuldigte Person bekannt sei, ein handschriftliches „Ja“; die Tabelle unter dem Wort „Strafverzeichnis“ auf der selben Seite ist leer. Unter das daran anschließende Vernehmungsprotokoll hat der Beschuldigte zwei Mal seine Unterschrift gesetzt. Jedes Mal unterschreibt er mit einem violetten Stift als „Dr. jur.“ – so hastig und großformatig, dass seine Unterschrift den Schreibmaschinentext darüber durchstreicht. [1]
Keine 15 Jahre später wird derselbe Mann als Präsident des Volksgerichtshofs mit seiner Unterschrift mehrere Tausend Todesurteile eigenhändig unterzeichnet und gefällt haben. Er wird die Hauptverantwortung tragen für die Hinrichtung der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944, für die Hinrichtung von Mitgliedern des „Kreisauer Kreises“ und der „Weißen Rose“ – unter ihnen auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Selbst dafür verantworten musste er sich nicht mehr: Roland Freisler wurde bei einem alliierten Bombenangriff auf Berlin am 3. Februar 1945 von einem Bombensplitter tödlich getroffen. Über den toten Freisler sprach noch das Nürnberger Militärtribunal in seinem Urteil als dem „düstersten, brutalsten und blutigsten Richter der gesamten deutschen Justizverwaltung“ und stellte ihn neben Himmler, Heydrich und Thierack zu jenen, „deren desperate und verabscheuungswürdige Charaktere der Welt bekannt“ seien. Darüber jedoch, wer Roland Freisler war, bevor er am 20. August 1942 zum Präsidenten des Volksgerichtshofs wurde und sich durch sein fanatisches Wirken in diesem Amt als „Inkarnation aller Justizverbrechen des Dritten Reichs“ im kollektiven Geschichtsbewusstsein festsetzen sollte, ist bis heute kaum etwas bekannt. [2]
Diese Ausstellung ermöglicht nun anhand der Aktenüberlieferung aus den Beständen des Staatsarchivs Marburg einen authentischen Blick auf die öffentliche Figur Roland Freisler und dessen Rolle als Rechtsanwalt und Stadtverordneten in Kassel zwischen 1926 und 1933. [3] In welcher dieser Rollen auch immer Freisler dabei in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückte, von Anfang an vertrat er in der für ihn typischen, pathologisch anmutenden Rastlosigkeit und Umtriebigkeit die Ideologie des Nationalsozialismus: Seine mitunter stundenlangen Verbaltiraden im Kasseler Stadtparlament, seine beleidigenden persönlichen Angriffe auf politische Gegner und seine hemmungslose nationalsozialistische Agitation gegen die Weimarer Republik brachten ihn mehrmals wegen Beschimpfung, Beleidigung der republikanischen Staatsform, Hausfriedensbruch und Landfriedensbruch auf die Anklagebank des Landgerichts Kassel. [4] Als Rechtsanwalt vertrat Freisler zur selben Zeit überaus öffentlichkeitswirksam Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung in Hessen, die sich zumeist wegen ähnlicher Delikte vor Gericht zu verantworten hatten. [5] Einen in diesem Zusammenhang besonders Prestige trächtigen Fall stellte für Freisler die Vertretung der Witwe Elfriede Messerschmidt in einem Schadensersatzprozess gegen den Preußischen Staat dar: Deren Ehemann, den NSDAP-Stadtverordneten Heinrich Messerschmidt, hatte die nationalsozialistische Bewegung in Kurhessen zum Helden und Märtyrer stilisiert, nachdem er bei Straßenkämpfen zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Reichsbannerleuten am 18. Juni 1930 in der Kasseler Altstadt durch einen Messerstich tödlich verletzt worden war. [6]
Doch die Ausstellung will nicht nur einen authentischen Blick auf die öffentliche Figur Roland Freisler als einen frühen und und besonders virulenten Vertreter des Nationalsozialismus in Kassel eröffnen, sie will anhand der einschlägigen Aktenüberlieferung auch zwei erklärte Gegner des Nationalsozialismus in Kassel und deren Schicksal nach der „Machtergreifung“ in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung stellen. Der Polizeipräsident Dr. Adolf Hohenstein und der Polizei-Oberstleutnant Otto Schulz waren als Sozialdemokraten überzeugte Verteidiger des Weimarer Rechtsstaats und wurden schon aus diesem Grund von Freisler gehasst. Nicht zuletzt auf Initiative der sozialdemokratisch besetzten Polizeiführung von Kassel war Freisler nämlich in den Jahren zwischen 1926 und 1930 mehrmals auf die Anklagebank gebracht und in einigen Fällen auch rechtskräftig verurteilt worden.
Im Zuge der „Machtergreifung“ erschien die bloße Versetzung von Hohenstein und Schulz in den vorzeitigen Ruhestand den neuen Machthaber jedoch nicht als ausreichend: Sie entfernten beide nicht nur aus ihren Ämtern, sondern strengten Dienststrafverfahren gegen die ehemaligen Polizeibeamten an. [7] Mit der Rache der politischen NS-Justiz an Hohenstein und Schulz gingen staatlich gedeckte Willküraktionen einher: Hohensteins Wohnsitz in Boppard am Rhein wurde im Frühjahr 1933 zum Schauplatz einer über Nacht andauernden „Haussuchung“ der „Kasseler SS“, die für Hohenstein lebenswichtige amtliche Dokumente und Wertgegenstände kurzerhand beschlagnahmte. Schulz wurde als „Landesverräter“ öffentlich an den Pranger gestellt und fiel im Februar 1935 einem politisch motivierten gewaltsamen Übergriff zum Opfer, bei dem er schwere Verletzungen davontrug. Das Urteil im Dienststrafverfahren gegen Hohenstein lautete schließlich auf Verlust des Ruhegehalts, Verlust der Hinterbliebenenversorgung und auf Verlust der Amtsbezeichung – seine Existenz war zerstört. Schulz wurde nach zähen Verhandlungen lediglich das Ruhegehalt für die Dauer von fünf Jahren um 20 Prozent gekürzt. Er legte gegen dieses Urteil Berufung ein, doch die Ironie der Geschichte kam ihm zuvor: Ein „Gnadenerlass des Führers für Beamte“ führte im Herbst 1939 – mehr als sechs Jahre nach Prozessbeginn – zur Einstellung des Verfahrens.
Ein zweiter Prozess gegen Hohenstein und Schulz, dessen Anfänge im Frühjahr 1936 gelegen hatten, war zu dieser Zeit freilich noch nicht ausgestanden. [8] Im Zuge der Dienststrafverfahren hatten die zuständigen Gerichte erkannt, dass der gewaltsame Tod des NSDAP-Mitglieds Heinrich Messerschmidt in Folge der Ereignisse vom 18. Juni 1930 auf die „Verletzung der Amtspflicht“ und die „grobe Fahrlässigkeit“ der Angeklagten zurückzuführen sei. Nun versuchte der Preußische Staat in einem zermürbenden, bis 1941 andauernden Rechtsstreit die geleistete Entschädigungszahlung an die Witwe Elfriede Messerschmidt in Höhe von 6000 Reichsmark bei den nunmehr juristisch Verantwortlichen Hohenstein und Schulz einzutreiben. Der Prozess verlief allerdings im Sande: Kläger und Beklagte ließen ihre Ansprüche schließlich fallen. [9]
Der vernichtende Urteilsspruch im Dienststrafverfahren gegen den Polizeipräsidenten a. D. Dr. Adolf Hohenstein versäumte es übrigens nicht, noch einmal das „scharfe Vorgehen gegen den damaligen Rechtsanwalt“ Dr. Roland Freisler zu rügen. Vergleicht man abschließend den damaligen Rechtsanwalt aus Kassel mit dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs, entsteht das Bild einer bruchlosen biographischen Kontinuität: Nur wenige Karriere-Juristen des Nationalsozialismus gehörten auch zu seinen frühesten ideologischen Verfechtern. Von Roland Freisler – Parteimitgliedsnummer 9679 – kann dies nicht behauptet werden. Freisler war in seinem gesamten Denken und Handeln – ob als Angeklagter, Verteidiger oder Richter – Zeit seines politischen Lebens ein nationalsozialistischer Überzeugungstäter. Gängige historische Erklärungsformeln für eine totalitäre Persönlichkeit, wie die Biographie des „verführten Intellektuellen“ oder die „Banalität des Bösen“, gehen auch deshalb bei Roland Freisler fehl: Er war ein brillanter Jurist – bar jeder Humanität und bar jedes Unrechtsbewusstseins. Sein akribisch betriebener „Neuaufbau der Rechtspflege“ auf dem ideologischen Fundament der nationalsozialistischen Weltanschauung war nichts anderes als die Umdeutung des bisherigen Strafrechts in ein Kampf- und Vernichtungsrecht. Dieses gnadenlose Gesinnungsstrafrecht kleidete Freisler in die ihm eigene liquidatorische Sprache, die an Zynismus und Menschenverachtung kaum zu überbieten war, und Urteilsformulierungen zuließ, die oft schlimmere Beleidigungen darstellten, als die Äußerungen, die dem Urteilsspruch zu Grunde lagen. Dem Juristen Freisler, der intellektuell so hervorragend mit der römischen Rechtstradition vertraut war, dass er einst „summa cum laude“ promoviert hatte, galt diese Tradition nichts. Als Angehöriger der so genannten gebildeten Schichten hatte er sein zu allem verwendbares Talent in den Dienst der nationalsozialistischen Unrechtsmaschinerie gestellt – wohl auch, wie Joachim Fest über die Intellektuellen und den Nationalsozialismus schreibt, „aus Selbsthaß, Zerstörungstrieb oder einfach pointenhungriger Verantwortungslosigkeit“. [10]
[1] Ausstellungsraum 1: Dokument 27.
[2] Müller, Ingo, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987. S. 157. Vgl. auch Wesel, Uwe, Drei Todesurteile pro Tag. Am 3. Februar 1945 fliegen die Alliierten einen schweren Luftangriff auf Berlin. Eines der Opfer ist Roland Freister, der Präsident des Volksgerichtshofs, in: Die Zeit 6 (03.02.2005). Bisher sind zwei Biographien über Freisler erschienen: Buchheit, Gert, Richter in roter Robe. Freisler: Präsident des Volksgerichtshofs, München 1968; Ortner, Helmut, Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Wien 1993. Buchheits Biographie argumentiert wissenschaftlich fundiert und auf breiter Quellengrundlage, ist jedoch durch die Erkenntnisse der zeitgeschichtliche Forschung in den Folgejahrzehnten in manchen Aspekten überholt oder sogar widerlegt worden. Ortners eher journalistisch abgefasste Biographie über Freisler wendet sich hingegen an eine breitere Leserschaft; gleichwohl hätte dem Buch ein „Quellenverzeichnis“ nicht geschadet, das diesen Namen auch verdient. So wird etwa der Freisler-Biograph Buchheit darin durchgehend als „Buschheit“ aufgeführt. Allgemein fällt auf, dass mehrere Textpassagen von Buchheit sich im beinahe gleichen Wortlaut bei Ortner wiederfinden. Vgl. hierzu vor allem die Fallschilderungen über die Geschwister Scholl und Elfriede Scholz.
[3] Für den lokalhistorischen Kontext sei hier verwiesen auf den instruktiven Aufsatz von Frenz, Wilhelm, Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Kassel – 1922 bis 1933, in: Hennig, Eike (Hg.), Hessen unterm Hakenkreuz, Frankfurt/M. 1983. S. 63-106.
[4] Ausstellungsraum 1.
[5] Ausstellungsraum 2.
[6] Ausstellungsraum 3.
[7] Ausstellungsraum 4.
[8] Ausstellungsraum 5.
[9] Für den regionalhistorischen Kontext sei hier noch verwiesen auf die Untersuchung von Form, Wolfgang/ Schiller, Theo (Hgg.), Politische NS-Justiz in Hessen. Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933-1945 sowie Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34), 2. Bde., Marburg 2005.
[10] Fest, Joachim: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1964. S. 340.

Nachdem Roland Freisler erstmals am 23. Juli 1920 nach Kassel zurückgekehrt war und dort seit dem 13. Februar 1924 auch eine Anwaltskanzlei eröffnet hatte, zog er am 4. Mai des selben Jahres als Mitglied des antirepublikanischen Wahlbündnisses „Völkisch-Sozialer Block“ (VSB) in die Kasseler Stadtverordnetenversammlung ein. Hier machte er durch seine hemmungslose antidemokratische Agitation und persönliche verbale Attacken gegen politische Gegner auf sich aufmerksam. Seine zuweilen stundenlangen Redebeiträge zielten darauf ab, die Stadtverordnetenversammlung als demokratische Institution ad absurdum zu führen und politische Entscheidungsprozesse bewusst zu blockieren. So hatte Freisler in der Stadtverordnetenversammlung vom 21. Juni 1926 von der „schamlose[n] Pleite der Schieberrepublik“ gesprochen und war dafür vom Schöffengericht Kassel wegen Beleidigung der Republikanischen Staatsform zu einer Geldstrafe in Höhe von 1000 Reichsmark verurteilt worden [Dokument 1, 8]. In den Folgejahren wiederholten sich im Kasseler Stadtparlament tumultartige Szenen, bei denen sich Freisler namentlich mit dem sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden Christian Wittrock einen nicht immer bloß verbalen Schlagabtausch lieferte [Dokument 11, 12]. Den Hauptanlass zu weiteren Gerichtsverfahren gegen Freisler gab eine „noch nie dagewesene Versammlungsoffensive“ der NSDAP-Ortsgruppe, die am 18. Juni 1930 gleichzeitig vier öffentliche Parteikundgebungen in Kassel abhielt und dabei in der Altstadt auf Gegenkundgebungen der Kommunisten und Reichsbanner traf. Bei den anschließend ausbrechenden Straßenkämpfen wurde der NSDAP-Stadtverordnete Heinrich Messerschmidt durch einen Messerstich schwer verwundet und starb kurze Zeit später an seinen Verletzungen. Freisler erhob daraufhin in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 23. Juni 1930 den massiven Vorwurf gegen den Kasseler Polizeipräsidenten Dr. Adolf Hohenstein („der jüdische frühere Rechtsanwalt“) und den Polizei-Oberstleutnant Otto Schulz („der sozialdemokratische Kommandeur der Schutzpolizei“), sie hätten am 18. Juni in den Straßen der Stadt „Blut fließen sehen“ wollen [Dokument 14]. Im anhängigen Prozess vor dem Schöffengericht Kassel wurde Freisler deshalb wegen übler Nachrede gegen Hohenstein zu einer Geldstrafe von 300 Reichsmark und wegen Hausfriedensbruch im Stadtparlament zu einer Geldstrafe von 100 Reichsmark verurteilt; von der Beleidigung des Polizei-Obersleutnants Schulz wurde er jedoch freigesprochen [Dokument 18, 19].
Stenographischer Bericht der Stadtverordnetenversammlung vom 21. Juni 1926.
Prozessakte: "Akten der Staatsanwaltschaft in Kassel über die bei dem Schöffengericht in Kassel anhängige Strafsache gegen Dr. Roland Freisler wegen Beleidigung der republikanischen Staatsform."
Anzeige der Stadtverordneten an den Staatsanwaltschaftsrat Dr. Schmitz in Kassel gegen den Stadtverordneten Freisler wegen Beschimpfung der republikanischen Staatsform, unter anderem mit den Worten "schamlose Pleite der Schieberrepublik", in der Sitzung vom 21. Juni 1926.
Anklageschrift des Oberstaatsanwalts in Kassel gegen den Stadtverordneten Freisler.
Antrag der Anwälte Freisler an die kleine Strafkammer des Landgerichts Kassel, weitere Zeugen aus der Stadtverordnetenversammlung im Prozess zu zulassen.
Die Anwälte Freisler legen Berufung gegen das Urteil des Schöffengerichts gegen Roland Freisler vom 23. Juni 1927 ein.
Die Ferienstrafkammer des Landgerichts Kassel verhängt ein erneutes Urteil über Freisler: Die Berufungs wird abgelehnt. Die von Freisler zu zahlende Geldstrafe beläuft sich deshalb nach wie vor auf 1000 Reichsmark, Kassel, den 23. August 1927.
Die Anwälte Freisler legen auch gegen das Urteil vom 23. August die Revision ein, Kassel, den 30. August 1927.
Freisler lässt die eingelegte Revision in Vertretung durch den Rechtsanwalt Huber zurückziehen.
Endgültiges Urteil des Schöffengerichts Kassel gegen den Angeklagten Freisler: Es bleibt bei einer Geldstrafe in Höhe von 1000 Reichsmark.
"Gnadenerweis" gegenüber dem Verurteilten Freisler: Anlässlich des 80. Geburtstags des Reichspräsidenten Paul Hindenburg wird nach einem Erlass des Preußischen Staatsministeriums vom 21. November 1927 die Geldstrafe auf eine Summe von 500 Reichsmark reduziert.
Aktenvermerk der Oberstaatsanwaltschaft Kassel: Freislers Eintrag wird aus dem Strafregister getilgt.
Prozessakte: "Strafantrag gegen Rechtsanwalt Dr. Roland Freisler wegen Beleidigung des Polizeipräsidenten Dr. Hohenstein und des Pol.-Oberstleutnants Schulz in der Stadtverordnetenversammlung vom 23.6.30 [in Kassel] 1930-31".
Amtliche Korrespondenz zwischen dem Regierungspräsident und dem Stadtverordnetenvorsteher betreffend die stenographische Niederschrift der beleidigenden Äußerungen Freislers über den Polizeipräsidenten Hohenstein und den Polizeioberstleutnant Schulz in der Stadtverordnetenversammlung vom 23. Juni 1930.
Abschrift des Urteils vom 24. November 1930 [vgl. Dokument 18].
Prozessakte: "Akten des Amtsgerichts zu Kassel in der Strafsache gegen Dr. Roland Freisler wegen Landfriedensbruch", Kassel im Juli und Oktober 1930.
Einlieferungsformular des Polizeipräsidiums Kassel: Freisler ist wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch auf Anordnung des Polizeipräsidenten Hohenstein vorläufig festgenommen und ins Polizeigefängnis eingeliefert worden.
Bericht des Kommandos der Schutzpolizei über den Tathergang im Fall Freisler.
Vernehmungsprotokoll der Schutzpolizei: Freisler macht Angaben zu seiner Person und eine Aussage.
Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 2. Juli 1930: Freisler wird vom Tatvorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legt gegen dieses Urteil daraufhin Berufung ein.
Die Anwälte Freisler stellen beim Amtsgericht einen Antrag auf Zurückweisung der Berufung der Staatsanwaltschaft.
Der Oberstaatsanwalt nimmt die Berufung im Fall Freisler zurück.

Roland Freisler, der noch während seiner Referendarszeit in der Kasseler Kanzlei der Anwälte Theodor und Alfred Dellevi – beide deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens – tätig gewesen war, hatte sich seit dem 13. Februar 1924 gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Oswald als Rechtsanwalt in Kassel niedergelassen. Zwischen den promovierten Juristenbrüdern herrschte eine klare Arbeitsteilung: Oswald Freisler war auf Zivilrecht, Roland Freisler auf Strafrecht spezialisiert. Als überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde verteidigte Freisler in zahlreichen Strafprozessen öffentlichkeitswirksam Mitglieder der NSDAP – vornehmlich der SA – die wegen ihrer regen Teilnahme an Saal- und Straßenschlachten, Prügeleien, wegen der Verunglimpfung und Misshandlung politischer Gegner oder wegen Beleidigung der Republikanischen Staatsform auf der Anklagebank saßen.
Freisler avancierte schnell zum „Staranwalt“ des Nationalsozialismus in Hessen, der nicht nur die Straßenschläger der SA vor Gericht häufig mit beachtlichem Erfolg vertrat, sondern auch für die nationalsozialistische Prominenz als Rechtsbeistand tätig wurde. So verteidigte er zum Beispiel Gregor Strasser und – in einer zivilrechtlichen Unterlassungsklage gegen das „Kasseler Volksblatt“ im Dezember 1934 – Adolf Hitler. Die fragwürdige Berühmtheit Freislers als Strafverteidiger zog auch das Interesse des Kasseler Polizeipräsidiums auf seine Person: Kriminalbeamte wurden als Prozessbeobachter eingesetzt, wenn Freisler in einem Strafverfahren mit politischem Tathintergrund die Verteidigung der angeklagten Partei übernahm [Dokument 1].
Eine Klage des Schlossers und SA-Mitglieds Konrad Gerland bot Freisler im Sommer des Jahres 1930 die willkommene Gelegenheit, gegen den Polizeipräsidenten von Kassel, Dr. Adolf Hohenstein, der als Sozialdemokrat und Verteidiger der Republik ein erklärter Gegner der Nationalsozialisten war, eine offiziell Beschwerde einzureichen [Dokument 2]. Gerland hatte in der Nacht vom 5. auf den 6. August gemeinsam mit den SA-Leuten Blankmeister und Gerstenmayer ein Hakenkreuz und eine Wahlaufforderung an die Rathausmauer zur Wilhelmstraße gemalt. Die Polizei konnte ihn nach kurzer Flucht stellen und behielt ihn für eine Gegenüberstellung mit den übrigen Tatverdächtigen bis zum Mittag des nächsten Tages in Haft [Dokument 3]. Freisler erstattete daraufhin im Namen Gerlands Beschwerde gegen den Polizeipräsidenten Hohenstein wegen Freiheitsberaubung. Die Beschwerde erwies sich als haltlos und wurde schließlich vom Regierungspräsidenten zurückgewiesen [Dokument 7].
Wie geschickt Freisler auch als Propagandist des Nationalsozialismus in Hessen agierte, verdeutlicht seine Stellung als „persönlich haftender Gesellschafter“ der nationalsozialistischen Tageszeitung „Hessische Volkswacht“, die am 1. Dezember 1930 aus dem antidemokratischen und antisemitischen Kampfblatt „Der Sturm“ hervorgegangen war. Die Zeitung hatte im Sommer 1931 in mehreren Artikeln eine massive Hetze gegen die Republik – namentlich gegen Reichskanzler Brüning und Regierungspräsident Friedensburg – betrieben, weshalb der Oberpräsident von Hessen-Nassau die Veröffentlichung der Zeitung erst für vier und dann für sechs Wochen verbot [Dokument 8, 9, 10]. Im letzten Fall erreichte es Freisler jedoch, durch eine offizielle Erklärung das Veröffentlichungsverbot auf drei Wochen herabsetzen zu lassen [Dokument 12]. Als im Frühjahr des folgenden Jahres der Polizeipräsident Hohenstein die Auflagenhöhe nationalsozialistischer Zeitungen zur Wahrung des „Osterfriedens“ beschränken wollte, drohte dem preußischen Staat eine Entschädigungsklage durch den Rechtsanwalt Freisler [Dokument 15].
Welchen Einfluss Freislers „Rechtshilfe“ auf die Entwicklung des Nationalssozialismus in Hessen hatte, veranschaulichen auch die höhnischen Pressekommentare der „Hessischen Volkswacht“ über groß angelegte aber weitgehend erfolglose Haussuchungen der Preußischen Polizei in den Geschäftsstellen der NSDAP und ihren paramilitärischen Unterorganisationen SA und SS in den Jahren 1931 und 1932 [Dokument 17, 20]. Just zu dieser Zeit konstatierte der NS-Funktionär Robert Ley nach einer Besichtigung des Gaues Hessen-Nassau-Nord, dass Freisler die direkte Funktion der Gauleitung dort zwar nicht ausübe, er jedoch trotzdem als der eigentliche Führer des Gaues anzusehen sei. Freisler zog zudem seit 1932 als Abgeordneter der NSDAP im Preußischen Landtag durch polemische Anfragen und Redebeiträge verstärkt die politische Aufmerksamkeit auf sich [Dokument 21]. Zum Abschluss der „Machtergreifung“ in Kassel am 30. März 1933 war Freisler bereits über die Grenzen Kurhessens hinaus zu einem einflussreichen Protagonisten innerhalb der NSDAP geworden [Dokument 22].
Das Propaganda-Blatt "Der Nationale Sozialist" berichtet über die polizeiliche Beobachtung von Freislers Anwaltstätigkeit und hetzt zugleich gegen den Kasseler Polizeipräsidenten Hohenstein, Kassel, den 19. Oktober 1929.
Bericht des Polizeipräsidenten and den Regierungspräsidenten über den Einsatz des Kriminalbeamten Leber als Prozessbeobachter, Kassel, den 2. November 1929.
Vermerk des Regierungspräsidenten: Die Teilnahme von Kriminalbeamten an Gerichtsverhandlungen sei ebenso legal wie notwendig und dieser Rechtsanspruch müsse mit Nachdruck vertreten werden, Kassel, den 6. November 1929.
Prozessakte: "Beschwerde der Rechtsanwälte Freisler namens des Schlossers Gerland gegen den Pol.-Präs. Hohenstein wegen Freiheitsberaubung, 1930".
Beschwerde der Anwälte Freisler an den Regierungspräsidenten über die polizeiliche Festnahme des SA-Mitglieds Konrad Gerland auf Anweisung des Polizeipräsidenten Hohenstein.
Prozessvollmacht für die Anwälte Freisler im Fall Gerland.
Bericht des Kriminalassistenten Leber und des Kriminalsekretärs Schmidt über die Ergreifung, Festhaltung und Vernehmung Gerlands und weiterer SA-Mitglieder in der Nacht vom 5. auf den 6. August 1930.
Begründete Verfügung des Oberpräsidenten in Kassel an Verlag und Schriftleitung der "Hessischen Volkswacht": Sechswöchiges Veröffentlichungsverbot der nationalsozialistischen Zeitung "Hessische Volkswacht". Bekanntmachung des Verbots im Deutschen Reichs- und Preußischen Staatsanzeiger.
Bericht des Kasseler Polizeipräsidenten über ein Rundschreiben der NSDAP-Ortsgruppe Kassel, das die Reduzierung der Dauer des Veröffentlichungsverbots der "Hessischen Volkswacht" auf drei Wochen ankündigt.
Schriftliche Erklärung der Rechtsvertreter der "Hessischen Volkswacht" (Freisler tritt dabei als ihr "persönlich haftender Gesellschafter" in Erscheinung), dass der Brühning-Artikel "durch einen nicht mehr beschäftigten Hilfsschriftleiter geschehen ist", woraufhin der Oberpräsident das Veröffentlichungsverbot auf eine Dauer von drei Wochen herabsetzt, Kassel, den 31. Juli 1931.
Artikel aus der "Hessischen Volkswacht" über eine angeblich erfolglose polizeiliche Haussuchung bei NSDAP-Mitgliedern in Hofgeismar.
Maßnahmenkatalog des Nachrichtendienstes zur Erfassung und Überwachung radikaler nationalsozialistischer Gruppierungen, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten.
Prozessakte: "Durchsuchungen bei der NSDAP am 17.3.1932".
Anordnungen des Regierungspräsidenten in Kassel im Namen des preußischen Minsters des Inneren, wie mit den beschlagnahmten Gegenständen aus groß angelegten Haussuchungen bei NSDAP-Mitgliedern zu verfahren sei.
Höhnische Pressekommentare aus der nationalsozialistischen Zeitung "Hessische Volkswacht" über die "völlig ergebnislosen Haussuchungen" bei Mitgliedern der Kasseler SA und SS nebst einen Aufruf Freislers an die NSDAP-Parteimitglieder.
Artikel aus der nationalsozialistischen Zeitung "Hessische Volkswacht" vom 1. August 1932 über den von Freisler vorzubringenden Urantrag im Preußischen Landtag, die Reichswehr solle bei Paraden künftig ohne Polizeischutz marschieren.
Anfragen Freislers im Preußischen Landtag vom 7., 13. und 21. Januar des Jahres 1933: Freisler beklagt sich polemisch über die vom "Untermenschentum der Kommunisten" betriebene "Hetze", "Verleumdungen" und "Angriffe" gegen die Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung.

Zur nationalsozialistischen Kerngruppe in Kassel, die sich im Winter des Jahres 1923 vornehmlich aus kleinbürgerlichen Beamten, Angestellten und freiberuflich tätigen Akademikern konstitutiert hatte, gehörte neben dem Rechtsanwalt Roland Freisler auch der Kaufmann Heinrich Messerschmidt. Beide waren am 4. Mai 1924 als Mitglieder des „Völkisch-Sozialen-Blocks“ in die Kasseler Stadtverordnetenversammlung eingezogen. Als Messerschmidt nach dem Besuch einer NSDAP-Parteikundgebung im Lokal „Stadt Stockholm“ in der Kasseler Altsstadt am 18. Juni des Jahres 1930 in den zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Reichsbannerleuten ausbrechenden Straßenkämpfen durch einen Messerstich tödlich verletzt wurde, stilisierten ihn die Parteifreunde bald zum Märtyrer und Heroen des Nationalsozialismus in Kassel und Kurhessen.
Aus diesem Grund mag es für Roland Freisler wohl auch eine Prestigefrage gewesen zu sein, die Klage der Witwe Heinrich Messerschmidts auf Schadensersatz gegen den Preußischen Staat in den Jahren 1932 und 1933 als Anwalt zu vertreten [Dokument 1]. Die klagende Partei stand jedoch vor einem für den Ausgang des Prozesses entscheidenden Problem: Der Anspruch auf eine Geldrente und eine Entschädigungszahlung an die hinterbliebene Witwe Elfriede Messerschmidt setzte den juristischen Nachweis voraus, dass die Kasseler Polizei, insbesondere der Polizei-Oberstleutnant Otto Schulz, beim Einsatz der Schutzpolizei am 18. Juni 1930 fahrlässig und „schuldhaft seine Amtspflicht verletzt“ habe.
Dies wiederum ließ einer detaillierten Klärung der Ereignisse dieses Tages erhebliche juristische Bedeutung zukommen [Dokument 3]. Aus historischer Perspektive fallen in dieser Hinsicht zwei Aspekte der Aktenüberlieferung besonders ins Auge: Zum einen der Konflikt der klagenden und der beklagten Partei um die Deutungshoheit darüber, was am 18. Juni „wirklich“ geschah, zum anderen ein kurze Zeit nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ einsetzender Wandel in der Darstellung der relevanten Tatsachen und der darauf aufbauenden juristischen Argumentation, die sich in zunehmendem Maße politisch und ideologisch einfärbte.Der Gang der Ereignisse vom 18. Juni stellte sich zusammengefasst wie folgt dar: In Reaktion auf das Uniformverbot des Preußischen Innenministers vom 11. Juni 1930 hatte die NSDAP für den 18. Juni insgesamt vier Parteikundgebungen in Kassel organisiert. Die Veranstaltungen wurden durch großformatige Plakate angkündigt, die unter anderem die Aufschriften „Gegen den marxistischen Mord- und Blutterror“ und „Mordbrenner“ (bezogen auf das Reichbanner) trugen. Die Agitation der NSDAP zielte offensichtlich darauf ab, die politische Gegnerschaft, vor allem der Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten, auf diese Weise zu provozieren. Eine der NSDAP-Kundgebungen fand zudem in dem Altstadt-Lokal „Stadt Stockholm“ statt, das bis dahin vornehmlich den Kommunisten und Sozialisten als Versammlungsort gedient hatte. Als die abendliche Kundgebung der NSDAP in der „Stadt Stockholm“ wegen republikfeindlicher Äußerungen vorzeitig polizeilich aufgelöst worden war (einer der Redner war Freisler), wurden die aufgrund des Uniformverbots in Zivilkleidung erschienen Nationalsozialisten von der Polizei dazu angehalten, unauffällig und in kleinen Gruppen den Heimweg anzutreten, um eine Konfrontation mit der Menschenmenge, die sich inzwischen vor dem Lokal gebildet hatte, zu vermeiden. Auf der Straße rief dann jedoch der Stadtverordnete Heinrich Messerschmidt die Nationalsozialisten dazu auf, sich geschlossen zu einer neuen Versammlung in den „Bürgersälen“ zu begeben. Auf dem Weg dorthin wurde Messerschmidt an der Garnisonskirche überfallen und von einem Messerstich in den Rücken so schwer verletzt, dass er nach mehreren Wochen des Aufenthalts im Kasseler Landeskrankenhaus an der Verletzung starb.
Aus den ersten Stellungnahmen des Polizeipräsidenten und des Regierungspräsidenten in Kassel [Dokument 2, 4] und der Erwiderung auf die Klage der Witwe Meserschmidt durch den Rechtsanwalt Otto Stahl im Namen des Preußischen Staates [Dokument 6] wurde ersichtlich, dass dem Vorwurf Freislers, die Polizei hätte die nationalsozialistischen Versammlungsteilnehmer schutzlos einer gewalttätigen Menge ausgeliefert und so deren Leben gefährdet, einstimmig widersprochen wurde.
Anders gestalteten sich allerdings die amtlichen Stellungnahmen zum Prozess Messerschmidt seit Mai des Jahres 1933: Der neue Polizeipräsident von Kassel, Fritz von Pfeffer, der vormals leitende Positionen in der Kasseler SA und SS innegehabt hatte und später die hiesige Gestapo leiten würde, verfügte am 4. Mai, dass der Witwe Messerschmidt eine Gnadenrente gewährt werden solle, und legte seinem Schreiben noch eine Stellungnahme der NSDAP-Gauleitung Hessen-Nassau-Nord bei [Dokument 7]. Der ebenfalls neue (kommissarische) Regierungspräsident in Kassel hielt zwar in seinem vier Tage darauf verfassten Schreiben eine „schuldhafte Pflichtverletzung“ von Schulz nach wie vor für ausgeschlossen, mahnte aber an, „in dem schwebenden Rechtsverfahren einen aus menschlichen und politischen Gründen an sich erwünschten Vergleich abzuschließen“ [Dokument 8, 10, 11, 12]. Der erwünschte Vergleich kam zustande: Die Witwe Messerschmidt erhielt eine Entschädigungszahlung des Preußischen Staates über 6000 Reichsmark. Sehr zutreff kam dem Ausgang des Verfahrens im Übrigen die überraschende Ergreifung, Überführung und Verurteilung der „Arbeiter“ Christ und Hickmann zu langen Zuchthausstrafen im Juni 1933 – wegen Totschlags von Heinrich Messerschmidt [Dokument 13].
Wie sehr sich das politische Umfeld bis dahin bereits gewandelt hatte, veranschaulicht der herausfordernde Sprachgebrauch Freislers in einer Erwiderung auf den erwähnten Schriftsatz von Otto Stahl. Freisler vertrat nun den Standpunkt, es sei polizeiliche Amtspflicht, „jedem einzelnen Nationalsozialisten […] Schutz zu gewähren“ – eben gerade vor einer „kommunistischen Menschenmenge“. Unverhohlen sprach er nun auch von dem „jüdischen Polizeipräsidenten Hohenstein“ [Dokument 9]. Hatte das Dienstverhalten des zu diesem Zeitpunkt schon ehemaligen Polizei-Oberstleutnants Otto Schulz hinsichtlich der Ereignisse des 18. Juni 1930 bis dahin von amtlicher Seite keinen Anlass zu überdeutlicher Kritik gegeben, sollte sich dies durch ein vernichtendes Gutachten des Polizei-Oberstleutnants Pfeffer-Wildenbruch vom 27. September 1933 gründlich ändern [Dokument 14]: Pfeffer-Wildenbruch warf Schulz vor, die Maßnahmen der Polizei am Versammlungslokal „Stadt Stockholm“ seien „derart mangelhaft und unzulänglich“ gewesen, „wie sie falscher nicht hätten getroffen werden können“. Weiter war von „grenzenloser Unfähigkeit“ und „sträflichem Verhalten“ die Rede; die Kritik gipfelte in der Behauptung, der Oberstleutnant habe sich als Mitglied der SPD, „von parteipolitischen Gesichtspunkten leiten lassen“ und auch deshalb „bewußt fahrlässig“ gehandelt.
Prozessakte: "Prozess der Witwe Messerschmidt gegen den preuss. Staat 1932-36".
Anwälte Freisler: Klageschrift der Witwe Elfriede Messerschmidt gegen den Preußischen Staat betreffend die Entschädigungsforderungen für den nach Ansicht der Klägerin durch die Polizei verschuldeten Tod ihres Ehemanns, dem SA-Mitglied Heinrich Messerschmidt, der nach einer NSDAP-Parteikundgebung am 18. Juni 1930 in der Kasseler Innenstadt getötet worden war.
Durch den Kommandanten der Schutzpolizei Oberstleutnant Schulz abgezeichneter Bericht über den Einsatz der Polizei am 17. und 18. Juni 1930 in der Kasseler Altstadt.

Der so genannte „Preußenschlag“ – der Staatsstreich des Reichskanzlers Franz von Papen gegen die sozialdemokratische Regierung des Ministerpräsidenten Otto Braun in Preußen am 20. Juli 1932 – zeitigte auch in Kassel schnell politische Wirkung: Noch am folgenden Tag wurden der Oberpräsident von Hessen-Nassau, August Haas, und der Polizeipräsident in Kassel, Dr. Adolf Hohenstein, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Somit wurden zwei sozialdemokratische Beamte, die sich zuvor als entschlossene Verteidiger der Republik immer wieder gegen die nationalsozialistische Bewegung in Hessen gestellt hatten, kurzerhand aus ihren Schlüsselpositionen entfernt.
Für die neuen Machthaber war der Fall Hohenstein mit dessen Entlassung allerdings noch nicht erledigt: Am 31. März des Jahres 1933 führte die „Kasseler SS 35“ in Hohensteins Wohnsitz in Boppard am Rhein eine bis zum Morgen des nächsten Tages andauernde (!) Haussuchung durch, nachdem sie Adolf Hohenstein selbst nicht im Hause angetroffen hatte. Die Ehefrau Olga Hohenstein wandte sich als bestürzte Zeugin dieser Willkür-Aktion mit einem Brief an den Regierungspräsidenten in Kassel, in dem sie um die Rückgabe der Gegenstände bat, die die Kasseler SS im Zuge ihrer Haussuchung einfach mitgenommen hatte [Dokument 1]. Nachdem der Regierungspräsident sich zweimal bei der verantwortlichen NSDAP-Gauleitung Kurhessen nach dem Verbleib der Gegenstände erkundigt hatte, erhielt er zur Antwort, sämtliche Gegenstände aus der Haussuchung beim ehemaligen Polizeipräsidenten Hohenstein seien an den amtierenden Polizeipräsidenten ausgeliefert worden – mehr fest zu stellen, sei nicht möglich [Dokument 2].
Die zweite Anfrage des Regierungspräsidenten ging wahrscheinlich auf den Erhalt eines zweiten, handschriftlichen Briefes zurück, den Hohenstein selbst am 15. Mai 1933 verfasst hatte. Darin zählt Hohenstein zwar ohne Anspruch auf Vollständigkeit aber umso detaillierter die aus seinem Haus entwendeten Gegenstände auf, darunter die eigenen Personalakten, insbesondere zahlreiche amtliche Ernennungsurkunden, Kauf- und Sparbuchakten, Sparkassenbücher, Urkunden über die Teilnahme am 1. Weltkrieg nebst Kriegsauszeichnungen in Gestalt des Eisernen Kreuzes 1. und 2. Klasse sowie eine beträchtliche Summe Bargeld [Dokument 3]. Ein später angelegtes Verzeichnis des Kriminalassistenten Hellwig vom 22. und 23. Juni 1933 über die an Hohenstein zurückgesandten Gegenstände aus der Haussuchung kam mit Hohensteins eigener Aufstellung freilich nicht mehr zur völligen Deckung [Dokument 4]: Abgesehen von fünf Reichspfennig in einer Handtasche fand sich in dem Verzeichnis kein Eintrag über Bargeld, laut Hellwig habe man bei der Durchsicht „keine Geldnoten zwischen den Sachen vorgefunden.“
Die Verteidigung des Weimarer Rechtsstaats sollte für Hohenstein nach der „Machtergreifung“ auch noch juristische Konsequenzen haben: Er musste sich vor der Dienststrafkammer Koblenz wegen Verletzung der Amtspflicht einem Gerichtsverfahren stellen. Das schließlich gegen Hohenstein ergangene Urteil vom 2. März 1936 lautete auf Verlust des Ruhegehalts, Verlust der Hinterbliebenenversorgung und Verlust der Amtsbezeichung [Dokument 5]. In der mehr als sechzig Seiten umfassenden Urteilsbegründung wurden ihm insbesondere sein „Zurückweichen vor dem kommunistischen Straßenterror“ und ein „kleinliches und schikanöses Verhalten gegenüber der nationalen Bewegung“ zum Vorwurf gemacht. In diesem Zusammenhang wurde nochmals auf die „grobe Fahrlässigkeit bei den Vorfällen am 18. Juni 1930“ und auf den „Gummiknüppelbefehl bezgl. der Wilhelmstrasse am 1. Juli“ hingewiesen. Beide Ereignisse hatten ihrer Zeit bekanntlich zur Einleitung von Strafverfahren gegen Roland Freisler wegen Beleidigung und Landfriedenbruch geführt [Ausstellungraum 1]. Das „scharfe Vorgehen gegen […] den damaligen Rechtsanwalt“ wurde in der Urteilsbegründung ebenfalls gerügt.
Der Ausgang des Entschädigungsprozesses der Witwe Elfriede Messerschmidt im Sommer 1933 [Ausstellungsraum 3] hatte es wahrscheinlich gemacht, dass auch gegen den am 31. Mai des selben Jahres vorzeitig in den Ruhestand versetzten Polizei-Oberstleutnant a. D. Otto Schulz ein politisch motiviertes Dienststrafverfahren nach dem Muster des Hohenstein-Verfahrens angestrengt werden würde. Am 24. Juni 1934 leitete die Dienststrafkammer Berlin ein entsprechendes Verfahren gegen Schulz wegen Verletzung der Amtspflicht ein [Dokument 6]. Juristische Verwendung fand in diesem Verfahren auch ein Gedächtnisprotokoll des Polizeimajors Kiel über den vier Jahre zurückliegenden Einsatz (!) der Schutzpolizei am 18. Juni 1930, das unter anderem dem vorgefassten Verdacht Nahrung gab, Schulz sei „recht einseitig gegen die NSDAP eingestellt“ gewesen [Dokument 7].
In einer an den preußischen Minister des Innern gerichteten Stellungnahme vom 5. August 1934 bekräftigte Schulz hingegen, „seine volle Pflicht“ getan zu haben [Dokument 8]. Aus dem Schreiben geht auch hervor, dass man Schulz von höherer Stelle „nahegelegt“ hatte, vorzeitig aus dem Dienst zu scheiden, um „disziplinaren Maßnahmen auszuweichen“; sein diesbezüglicher Versuch, das Dienststrafverfahren formaljuristisch abzuwenden, wurde jedoch durch den Innenminister und später durch die Dienststrafkammer zurückgewiesen. Die Strafkammer verurteilte Schulz am 19. Oktober 1938 wegen Dienstvergehens zu einer Kürzung des Ruhegehalts um 20 Prozent für die Dauer von fünf Jahren [Dokument 9]. Schulz habe „bei der Befehlsgebung und Durchführung der taktischen polizeilichen Maßnahmen am 17. und 18. Juni 1930 seine Pflichten als Kommandeur der Schutzpolizei in Kassel grobfahrlässig verletzt und sich hierdurch der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig gezeigt“.
Die umfangreiche Urteilsbegründung deutete gleichwohl darauf hin dass es dem Gericht nicht gelungen war, stichhaltig zu beweisen, dass Schulz „aus gehässiger Einstellung gegenüber der NSDAP bewußt der Partei schaden und sie dem Pöbel preisgeben wollte“. Dabei hatte die Urteilsschrift eine Raum greifende Betrachtung über die „Politische Einstellung des Beschuldigten“ angestellt, die insbesondere auf dessen Mitgliedschaft in der SPD zwischen 1922 und 1932 sowie im Reichsbanner zwischen 1924 und 1931 hinwies, und ihn als überzeugten Anhänger der Republik darstellte. Schulz legte Berufung gegen das Urteil ein, doch letzten Endes kam ihm der Zufall zur Hilfe: Ein „Gnadenerlass des Führers für Beamte“ vom 29. Oktober 1939 führte schließlich zur Einstellung des Verfahrens.
Akte: "Sonder-Akten betreffend Störung der öffentilchen Ruhe und Ordnung ..."
Brief der Ehefrau des ehemaligen Polizeipräsidenten, Olga Hohenstein, an den Regierungspräsidenten in Kassel: Bitte um Rückgabe der mitgenommenen Gegenstände aus einer Haussuchung der Kasseler SS 35 in Hohensteins Haus.
Prozessakte: "Dienststrafverfahren gegen den Polizeipräsidenten a. D. Dr. Hohenstein".
Urteil der Dienststrafkammer Koblenz im Dienststrafverfahren gegen den Polizeipräsidenten a. D. Dr. Adolf Hohenstein: Verlust des Ruhegehalts, Verlust der Hinterbliebenenversorgung, Verlust der Amtsbezeichnung.
Prozessakte: "Dienststrafverfahren gegen den Polizeioberst a. D. Schulz [zu Kassel], 1934-35".
Preußischer Minister des Innern: Einleitung des Dienststrafverfahrens gegen den ehemaligen Polizei-Oberstleutnant Otto Schulz wegen Pflichtverletzung im Amt aufgrund "marxistischer Einstellung".

Nachdem der Urteilsspruch im Dienststrafverfahren gegen den Kasseler Polizeipräsidenten a. D. Adolf Hohenstein ergangen war [Dokument 1] und während das Dienststrafverfahren gegen den Polizei-Oberstleutnant a. D. Otto Schulz noch lief [Ausstellungsraum 4], setzte der Preußische Minister des Innern seit dem Frühjahr 1936 alle juristischen Hebel in Bewegung, um einen Zahlungsbefehl in Höhe von insgesamt 6000 Reichsmark gegen die beiden ehemaligen Polizeibeamten zu erwirken [Dokument 2]. Bei dem Betrag handelte es sich um die nach einem juristischen Vergleich von 1933 erfolgte Entschädigungzahlung des Preußischen Staates an die Witwe Elfriede Messerschmidt, deren Ehemann – der NSDAP-Stadtverordnete Heinrich Messerschmidt – in Folge der Ereignisse vom 18. Juni 1930 der tödlichen Verwundung eines Messerstichs erlegen war [Ausstellungsraum 3].
Im Zuge der Dienststrafverfahren gegen Hohenstein und Schulz wegen Verletzung der Amtspflicht hatten nach Auffassung der zuständigen Justiz die zwei Angeklagten sich als Hauptverantwortliche des Polizei-Einsatzes vom 18. Juni 1930 eines grob fahrlässigen Verhaltens schuldig gemacht. Waren aus juristischer Perspektive somit Hohenstein und Schulz als die für den Tod von Messerschmidt zumindest indirekt Verantwortlichen erkannt, sollten sie jetzt auch finanziell dafür belangt werden, indem der Preußische Staat die einst an Elfriede Messerschmidt gezahlten 6000 Reichsmark von ihnen zurückforderte.
Da der Aufenthaltsort Hohensteins schon im Frühjahr 1936 laut Aktenüberlieferung für die Behörden nicht mehr zu ermitteln war – über sein Schicksal als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nach 1936 drängen sich aus heutiger Sicht bestimmte Vermutungen auf – verlegte sich das Preußische Innenministerium darauf, den ehemaligen Polizei-Oberstleutnant Schulz im Zweifelsfall zur alleinigen Zahlung der kompletten Summe aufzufordern [Dokument 3]. Die Klageschrift der Anwaltskanzlei Rocholl im Namen des Preußischen Staates vom 10. Juni 1936 richtete sich zwar noch an die beiden Polizeibeamten a. D. als die Beklagten, sie wurde allerdings lediglich durch den Rechtsanwalt Walter Isele im Namen von Otto Schulz erwidert [Dokument 4, 5]. Im Mittelpunkt des umfangreichen Schriftwechsels zwischen den Rechtsanwälten Rocholl und Isele, der sich bis in das Jahr 1937 erstreckte, stand wiederum die Frage, was sich beim Einsatz der Schutzpolizei in der Kasseler Altstadt am 18. Juni 1930 „wirklich“ ereignete, und welche Verantwortung Schulz als damaliger Kommandeur der Schutzpolizei für diese Ereignisse trug [Dokument 6, 7].
Zur Vermeidung weiterer Prozesskosten unterbreitetete das Landgericht Kassel schließlich im Einvernehmen mit dem Reichsführer SS den Beklagten Hohenstein und Schulz am 2. Juni 1937 einen Vergleichsvorschlag, der für Schulz die einmalige Zahlung von 500 Reichsmark an den preußischen Fiskus vorsah [Dokument 8, 9]. Isele lehnte diesen Vergleich jedoch mit dem Hinweis ab, gegen seinen Mandanten schwebe bereits seit anderthalb Jahren ein Dienststrafverfahren, in dessen weiterem Verlauf man die Vergleichszahlung von 500 Reichsmark als ein Schuldeingeständnis des Angeklagten werten könne [Dokument 10].
Der Gesundheitszustand von Otto Schulz hatte sich in der Zwischenzeit so rapide verschlechtert, dass sein Rechtsanwalt in einem Schreiben vom 15. Oktober 1937 die Verteidigung der Gegenseite darauf hinwies, dass im Falle einer von Schulz ausgehenden Enschädigungsklage etwaige Forderungen nach Schmerzensgeld höher ausfallen würden als die finanziellen Ansprüche des Preußischen Fiskus in der Angelegenheit Messerschmidt [Dokument 11]. Was die einschlägige Aktenüberlieferung in diesem Zusammenhang nur indirekt belegt: Schulz war im Zuge des gegen ihn eingeleiteten Dienststrafverfahrens als "Landesverräter" öffentlich an den Pranger gestellt worden. Am 21. Februar 1935 war er offenbar einem politisch motivierten, gewaltsamen Übergriff zum Opfer gefallen und hatte dabei schwere psychische und physische Verletzungen davongetragen. Die Folgen der öffentlichen Beleidigung und der körperlichen Misshandlung für den Gesundheitszustand von Schulz belegten die medizinischen Gutachten der Berliner Ärzte Dr. Zander und Dr. Hermann. Sie lagen dem entsprechenden Schriftsatz von Isele bei [Dokument 11].
In den beiden folgenden Jahren 1938 und 1939 ruhte das Verfahren gegen Schulz, doch Schulz selbst ruhte nicht: Am 19. Oktober 1938 wurde er in einem parallel gegen ihn laufenden Prozess vor der Dienststrafkammer Berlin wegen Dienstvergehen verurteilt. Nach einer Berufung wurde das Verfahren gegen Schulz erst im Herbst des nächsten Jahres eingestellt [Ausstellungsraum 4]. Ein Jahr später kam das Verfahren gegen Schulz vor dem Landgericht Kassel erneut in Gang [Dokument 12]. Nach dem langjährigem Prozess einigten die gegnerischen Parteien sich nun zügig auf einen Vergleich, in dem Kläger und Beklagter die jeweils gegen den anderen erhobenen Forderungen fallen ließen [Dokument 13, 14]. Einen Tag nach Neujahr 1941 beurkundete das Gericht den Vergleich [Dokument 15]. Das Verfahren war abgeschlossen.
Prozessakte: "Rechtsstreit des preuss. Staates gegen den Pol.-Präs. a. D. Dr. Hohenstein und Pol.-Oberst a. D. Schulz".
Mitteilung der Dienststrafkammer Koblenz an den Regierungspäsidenten in Kassel über das Urteil im Dienststrafverfahren gegen den Poliezipräsident a. D. Hohenstein: Aberkennung des Ruhegehalts, der Hinterbliebenenversorgung und der Amtsbezeichung. Der Aufenthaltsort Hohensteins ist den Behörden zu dieser Zeit unbekannt.
Im Hinblick auf den schlechten gesundheitlichen Zustand des Mandanten Schulz weist dessen Rechtsanwalt Walter Isele die Verteidigung der klagenden Partei darauf hin, dass im Falle einer von Schulz ausgehenden Enschädigungsklage sein zu erwartendes Schmerzensgeld sicher höher ausfallen würde als die finanziellen Ansprüche der gegnerischen Partei in der Angelegnheit Messerschmidt!
Schulz war im Zuge des gegen ihn eingeleiteten Dienststtrafverfahrens als "Landesverräter" öffentlich an den Pranger gestellt worden. Am 21. Februar 1935 war er einem politisch motivierten, gewaltsamen Übergriff - wahrscheinlich verübt durch Mitglieder der SA - zum Opfer gefallen und hatte schwere psychische und physische Verletzungen davongetragen. Über die Folgen der Beschimpfung und der körperlichen Misshandlung für den Gesundheitszustand von Schulz geben die dem Anwaltssschreiben beiliegenden Gutachten der Ärzte Dr. med. J. Zander und Dr. med. N. Hermann medizinische Auskunft, Berlin-Lankwitz, den 3. März 1935, und Berlin-Lichterfelde, den 2. März 1935.