
Marburg im Nationalsozialismus - ein Stadtrundgang
Die vorliegende Ausstellung liefert Materialien zur NS-Geschichte in Marburg. Dabei geht es nicht nur darum, lokal- und regionalgeschichtliche Zugänge zur Geschichte des Nationalsozialismus aufzuzeigen. Vielmehr können zahlreiche Themen der nationalsozialistischen Innenpolitik an ausgewählten Orten beispielhaft verdeutlicht und mit Quellenmaterial so vertieft werden, dass auch allgemeinere Fragen von überregionaler Bedeutung ausgehend von den lokalen Schauplätzen erforscht werden können.
Die in der Ausstellung vorgestellten Orte liegen im Innenstadtbereich und können im Rahmen eines Spaziergangs erlaufen werden. Jeder der vorgestellten Orte ist mit einem thematischen Schwerpunkt verknüpft, der anhand der ausgestellen Materialien eigenständig erforscht und in allgemeinere Zusammenhänge eingebunden werden kann.
Die Ausstellungsräume sind so angeordnet, dass sie im Rahmen eines Rundwegs nacheinander aufgesucht werden können. Die einzelnen Themen können damit in einem chronologischen Zusammenhang erlaufen werden.
Die erste Station "Rudolfsplatz" zeigt den Aufstieg der Marburger NSDAP in den letzten Jahren der Weimarer Republik bis zum Frühjahr 1933.
An der zweiten Station "Rathaus" können die wesentlichen Etappen zur Durchsetzung der NS-Dikatur erkundet werden: die "Machtergreifung" im Rathaus fand hier statt, die "Gleichschaltung" der Presse, die Verfolgung und Ausschaltung der politischen Gegner wurden von hier aus organisiert und durchgeführt.
An der dritten Station "Wettergasse 25" können antisemitische Ausschreitungen, wie sie nach der Boykottaktion vom April 1933 zunehmend stattfanden, an einem einschlägigen Beispiel untersucht werden. Die Ausschreitungen sind spontan und finden ungeregelt statt, treffen aber auf Duldung oder Wohlwollen der Öffentlichkeit und der staatlichen Stellen.
Die vierte Station "Synagoge Universitätsstraße" dokumentiert die Ausgrenzung der jüdischen Gemeinde bis zum Synagogenbrand am 9. November 1938.
Gleich nebenan in der "Untergasse 17" befand sich die vorletzte Station der jüdischen Schule. Nach den Pogromen vom November 1938 wurden jüdische Schülerinnen und Schüler endgültig vom Besuch allgemeinbildender Schulen ausgeschlossen. Diesen Prozess der Ausgrenzung bis zur Schließung der jüdischen Schule nach Abschluss der Deportationen kann man hier nachvollziehen.
Die sechste Station ist das Ladengeschäft und Haus in der "Barfüßerstraße 26". Am Beispiel des dort bis 1938 ansässigen Manufakturwarengeschäfts der Eheleute Stern kann der gesamte Prozess der staatlich organisierten "Arisierung", d.h. der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und der Ausplünderung ihrer Vermögenswerte schrittweise nachvollzogen werden.
Das Landratsamt als nächste Station ("Barfüßer Straße 11") ist der Ort, von dem aus die Deportationen in die Konzentrationslager organisiert und durchgeführt wurden.
In der "Schulstraße" kann zwischen dem "Heinrich-Abel-Haus", dem Gebäude der NSDAP-Kreisleitung in der ehemaligen Otto-Böckel-Straße 12 und der damaligen "Horst-Wessel-Schule" der Zugriff der NSDAP auf Schule, Bildung und den Schulalltag erkundet werden.
Am "Kämpfrasen", dem Exerzierplatz der Jägerkaserne an der Frankfurter Straße, fanden schließlich die großen propagandistisch wichtigen Aufmärsche statt: zum "Tag der nationalen Arbeit" am 1. Mai 1933, bevor am Folgetag die Gewerkschaften zerschlagen und ihr Vermögen beschlagnahmt wurde, die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, hier wurden auch bis 1937 die Kasernen beidseitig der Frankfurter Straße ausgebaut - zur Kriegsvorbereitung.

Aus der Zeit des Dritten Reiches sind unzählige Fotos überliefert und können als historische Quelle genutzt werden. Die im folgenden Ausstellungsraum gesammelten Bilder geben einen zeitrafferartigen Einblick in die Entwicklung der NSDAP in Marburg, von einer kleinen Ortsgruppe im Jahr 1927 bis zu der die Stadt und das Stadtbild beherrschenden Partei im Sommer 1933. Alle Aufnahmen stammen vom gleichen Ort: Der Rudolfsplatz am Fuß der Alten Universität veranschaulicht die Etappen von der "Kampfzeit" bis zur "Machtergreifung".
Eine umfangreiche Sammlung historischer Fotos für weitere, ortsbezogene Recherchen findet sich in der Datenbank "Historische Bilddokumente" des Landesgeschichtlichen Informationssystems Hessen (LAGIS) .
Im Jahr 1927 hatte die Universität Marburg ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs am Ende der Weidenhäuser Brücke Richtung Rudolfsplatz errichten lassen. Die Marburger Ortsgruppe der NSDAP nutzte diesen Ort fortan für Demonstrationen. Das Foto der nationalsozialistischen "Totenehrung" wurde am 9. November 1927 aufgenommen, dem Tag des Hitlerputsches von 1923.
In der Festschrift der NSDAP von 1935 wird die Funktion der Geschäftsstelle folgendermaßen beschrieben:
"Bald stellte sich die Notwendigkeit heraus, eine eigene Geschäftsstelle zu eröffnen. Diese entstand am 15. März [1930] am Pilgrimstein, Ecke Biegenstraße, in Verbindung mit der Buchhhandlung 'Der Sturm'. In diesem kleinen Verkaufsraum wurde bis zum Herbst 1931 hinter einem Vorhang die Arbeiten der Bezirksleitung, der Ortsgruppe und der SA erledigt. Dort saß die Leitung der Wahlkämpfe und Propagandaaktionen. Erst im Herbst 1931 konnten drei kleine Zimmer dazugenommen werden, wo dann die Dienstgeschäfte der Kreisleitung bis zu Beginn 1935 geführt wurden. Gleichzeitig entstand nebenan das SA-Heim, das während er Kampfzeit oft Zeuge der Vorbereitung großer Propagandafeldzüge war." (1923 - 1925 - 1935 NSDAP Marburg. Festschrift zum 10(12)jährigen Bestehen der NSDAP in Marburg, Marburg 1935, S. 31f.)
Bei den dargestellten Haus handelt es sich um das Haus Weidenhäuser Str. 14 in Marburg.
Oben ist die Hakenkreuzfahne aus einem Fenster gehängt, in der Mitte die Fahne der Eisernen Front und unten die Fahne der KPD.
Die Eiserne Front war ein Zusammenschluss des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (Afa-Bund), der SPD und des Arbeiter Turn- und Sportbundes (ATSB). Am 2. Mai 1933 wurde die Eiserne Front im Zuge der Unterdrückung der Arbeiterbewegung und der Zerschlagung der Gewerkschaften aufgelöst.
Am 26. August 1933 zwingt die Marburger SA-Standarte "Jäger 11" den Medizinstunden Jakob Spier, ein Schild mit der Aufschrift "Ich habe ein Christenmädchen geschändet!" durch die Stadt zu tragen. Um die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen, geht der SA-Spielmannszug vorneweg.
Jakob Spier stammte aus einer Familie in Schrecksbach (Kreis Ziegenhain). Nach dem Besuch des Oberrealgymnasiums in Alsfeld hatte er 1927 ein Medizinstudium in Heidelberg aufgenommen und war vom Wintersemester 1930/31 bis zum Frühjahr 1933 an der Universität Marburg eingeschrieben und wohnte zuletzt in der Biegenstraße 19.
Er hatte sich mit einer jungen Frau aus Marburg verabredet, sowohl sie als auch ihre Eltern waren mit der Verabredung einverstanden.
Die SA schleppte Jakob Spier im Zug bis zum Marktplatz, wo der SA-Standartenreferent Paul-Gerhart Todenhöfer in einer Ansprache "deutsche Mädchen und Frauen" davor warnte, sich mit Juden einzulassen.
Jakob Spier wurde am Ende dieser Aktion "in Schutzhaft genommen".
Quellen und Literatur:
OZ vom 28.8.1933
John R. Willertz, Marburg unter dem Nationalsozialismus (1933 - 1945), in: Erhart Dettmering, Rudolf Grenz (Hrg).: Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, Marburg 1980, S. 600.
Klaus-Peter Friedrich: Ein dunkles Kapitel Marburger Geschichte, in: Oberhessische Presse, 25.08.2014.
Ein Vergleich der Stadtpläne von 1931 und 1939 zeigt die Veränderungen, die die neuen Machthaber ab 1933 im Marburger Stadtbild verankert haben.
Arbeitsauftrag:
Welche Veränderungen fallen Ihnen auf? Welche Straßen, Plätze und Gebäude wurden umbenannt? Recherchieren Sie die Bedeutung der neuen und ggf. auch der alten Namen.

Am Beispiel Marbugs lässt sich die NS-Gleichschaltung nachvollziehen; z.B. demonstrieren die Wahlergebnisse der Reichstagswahl vom 5. März 1933, dass die Marburger Bevölkerung die nationalsozialistische Entwicklung überwiegend begrüßte [Dok. 1].
Zur ersten Machtprobe in der Stadt kam es nur wenige Tage später, als der Marburger Bürgermeister im Flaggenstreit mit der SA unterlag und seinen Rücktritt erklären musste [Dok. 2, 7]. Das Ergebnis der sich anschließenden Stadtverordnetenwahl zeigt das Vertrauen, dass die Marburger auch im Stadtparlament in die NSDAP setzten [Dok. 3].
Die Folgen, die diese Entscheidung für Abgeordnete anderer Parteien und die Stadt Marburg hatte, zeigen die Dokumente 8, 9 und 10.
Auch die Marburger Presse wurde gleichgeschaltet; hier am Beispiel des Hessischen Tageblatts des Verlegers Hermann Bauer - nach Besetzung durch die SA und Zensurauflagen musste die Zeitung ihr Erscheinen schließlich einstellen [Dok. 4, 5, 6, 11].
Mit dem Dokument 12 beginnt der Komplex "Schutzhaft": Der Reichstagsbrand vom 28.02.1933 zog Maßnahmen nach sich, die auch in Marburg spürbar waren, wo zeitgleich Durchsuchungen und Verhaftungen, besonders von KPD- und SPD-Funktionären, begannen [Dok. 12, 13, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 21 , 22, 24]. Es wurden so viele Verhaftungen vorgenommen, dass der Marburger Gefängnisdirektor schließlich eine Überbelegung beklagte und um andere Unterbringungsmöglichkeiten bat [Dok. 23]. Im Juni wurde deshalb in der Landesarbeitsanstalt Breitenau ein Konzentrationslager eingerichtet [Dok. 28]. Im April 1933 ebbte die erste Verhaftungswelle, die angeblich der "nationalen Sicherheit" diente, ab und Entlassungen folgten [Dok. 26, 27]. Um auf die Entlassenen jedoch weiter Druck ausüben zu können, mussten diese eine Erklärung unterschreiben, sich nicht weiter staatsfeindlich zu betätigen [Dok. 16, 25]. Zur Kontrolle und Überwachung legte man aber "Personalakten" an [Dok. 32], und gab Tipps, wie am unaufälligsten Briefe zu öffnen waren. Dokument 33, 29 und 31 belegen, dass viele Verhaftungen nur aufgrund von Denunziationen aus dem persönlichen Umfeld zustande kamen; auch eine praktische Möglichkeit, missliebige Konkurrenten auszuschalten. Dokument 34 und 35 zeigen Fotografien der Rathausschirn, wo politische Häftlinge oft zuerst inhaftiert wurden, und des Kilians, der eine Außenstelle der Gestapo beherbergte.
Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler einer Regierung aus NSDAP und DNVP ernannt worden. Dass die Marburger mit der Regierungsbeteiligung der NSDAP einverstanden waren, zeigen die Ergebnisse der Reichstagswahl vom 05.03.1933: Die NSDAP schnitt mit 9444 Stimmen (=57,6%) in der Stadt Marburg nämlich deutlich besser ab als im Reichsdurchschnitt (43,9%). Ihr Ergebnis vom November 1932 konnte sie sogar noch um 8,3% (=8105 Stimmen) steigern. Die DNVP hingegen verzeichnete einen Verlust von 11,1 %, was fast einem Viertel aller Wähler entsprach. Auch KPD (4,8%) und DVP (3,6%) mussten Verluste hinnehmen. SPD (13,5%) und Zentrum (5,8%) konnten sich behaupten.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 85.
Der Ausgang der Wahlen zum Reichstag (05.03.1933) fand seinen sichtbaren Ausdruck auch im Beschluss des Marburger Magistrats vom 08.03.1933, die schwarz-rot-goldene Flagge auf öffentlichen Gebäuden durch Hakenkreuz und/oder Schwarz-Weiß-Rot zu ersetzen. Die Ortskrankenkasse wehrte sich jedoch gegen die Beflaggung, da sie kein öffentliches Gebäude sei - anders als z.B. das Landratsamt - und erhielt dabei Unterstützung von Oberbürgermeister Müller. Der Regierungspräsident in Kassel entschied jedoch, dass die AOK die Beflaggung hinzunehmen habe, was die SA als Anlass zu öffentlichen Anfeindungen gegen den OB nahm. Der Magistrat erklärte schließlich, dass sich Müller im rechtlichen Sinne korrekt verhalten habe.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburber Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 102.
Die Wahlergebnisse zeigen einen deutlichen Gewinn der NSDAP: Sie errang 7218 Stimmen; trotz eines Verlustes von 2226 Stimmen im Vergleich zur Reichstagswahl vom 05.03. erhielt sie damit 20 von 30 Sitzen im Stadtparlament. Weitere Sitzen bekamen SPD (4), KPD (1), Zentrum (1), DNVP (3) und Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft (1). Damit hatte die NSDAP im neugewählten Marburger Stadtparlament keine nennenswerten Gegner mehr. Das Ergebnis spiegelt ein klares "Ja" der Marburger zum neuen Staat und eine deutliche Absage an die Parteien der Weimarer Republik wider.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 in der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S.119.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 118.
Dem Hessischen Tageblatt wurde vorgeworfen, den Reichskanzler und die NSDAP kritisiert zu haben. Das Erscheinungsverbot hatte der Oberpräsident von Kassel, Ernst von Hülsen, verhängt. Er konnte sich dabei auf die von Reichspräsident Hindenburg erlassene "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 04. Februar 1933 berufen. Die Verodnung diente den Nationalsozialisten dazu, Kritiker durch Pressezensur, Beschränkungen des Briefgeheimnisses und der freien Meinungsäußerung, durch Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Eigentum mundtot zu machen.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 120.
Thema das Artikels: der Umgang einer Zeitung mit der eingeschränkten Pressefreiheit. Das Hessische Tageblatt kündigt deshalb an, seine bisher stets frei geäußerte Meinung zurückhaltender zu formulieren und "Stellungnahme[n]" nur noch "abwartend" zu verfassen. Gleichzeitig formuliert der Autor aber auch eine letzte Kritik; so hofft er, dass sich die bisherigen "Bedenken" der Zeitung, die aktuellen politischen Umstände betreffend, nicht bewahrheiten werden.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 121.
Die Ergebnisse der Stadtverordnetenwahlen zeigten weitere Auswirkungen in Marburg: So wurde der den Nationalsozialisten unliebsame Oberbürgermeister Müller, DVP, seines Amtes enthoben. Die Vorgehensweise der Nationalsozialisten war einfach: Die 20 Stadtverordneten der NSDAP weigerten sich, mit Oberbürgermeister Müller aufgrund von "schwerwiegenden Differenzen" zusammenzuarbeiten. Sie erklärten, dass sie auch im Sinne der Marburger Bevölkerung handelten, da diese sie ja schließlich gewählt habe. Nachdem der Kreisleiter der NSDAP mit einigen SA-Männern Müller im Rathaus zum sofortigen Rücktritt aufgefordert hatte, sah sich Müller dazu gezwungen, bis auf Weiteres Urlaub zu nehmen. Seine Nachfolge trat am 27.04.1934 das NSDAP-Mitglied Ernst Scheller an.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 137.
Die NSDAP begann nun, die noch vorhandenen Gegner ihrer Politik im Stadtparlament auszuschalten. Reichsminister Göring hatte dazu eine Anordnung erlassen, nach der SPD-Mitglieder des Stadtparlaments durch rechtsoriente Personen ausgetauscht werden können. Daher sagten die vier am 12.03. gewählten Stadtverordneten der Marburger SPD ihre Teilnahme an der Sitzung am 03.04. ab. Außerdem befürchteten, verhaftet zu werden, sollten sie Beschlüssen der NSDAP im Wege stehen. Der gewählte Verteter der KPD war zu dieser Zeit übrigens schon in "Schutzhaft" genommen worden.
Quelle abgedruckt in: Dettmering, Erhart: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 157.
Hermann Bauer, der Herausgeber des Hessischen Tageblatts, berichtet über die erste Sitzung des neuen Stadtparlaments. Seine Informationen hat er allerdings nicht aus erster Hand erhalten, da man ihm den Zutritt zur Veranstaltung verwehrt hat. In dieser Tat sieht er den Versuch, das "Hessische Tageblatt [zu] ruinieren" Ebenso markiert sie einen weiteren Einschnitt der Pressefreiheit, indem kritische Tageszeitungen von ihrer Berichterstattung abgehalten werden, so dass nur gleichgeschaltete Nachrichten erscheinen können.
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. S. 158.
Die Oberhessische Presse bejubelt die "gewaltige Erneuerung" der nationalsozialistischen Bewegung, die sich auch in der Sitzung des Stadtparlaments gezeigt habe: "Schlag auf Schlag, mit mustergültiger Diszipliniertheit wurde in kürzester Frist die Tagesordnung erledigt". Kein Wunder, schließlich waren keine Abgeordente gegnerischer Parteien anwesend. Schnelle Beschlüsse konnten hinsichtlich der Verleihung von Ehrenbürgerschaften sowie von Umbenennungen gefällt werden, die dem neuen Geist ein Gesicht gaben: Hindenburg und Hitler wurden zu Ehrenbürgern der Stadt Marburg ernannt, umbenannt wurden folgende Straßen und Schulen: Friedrichsplatz = Adolf-Hitler-Platz, Uferstraße = Bernhard-Rust-Straße, Oberrealschule (MLS) = Adolf-Hitler-Schule, Südschule (OUS) = Horst-Wessel-Schule, Nordschule (FES) = Schlageter-Schule. In seiner Rede lobt der neue OB Voß diesen "Gleichklang", für den die Marburger mit ihrer Zustimmung zur "deutschen Erneuerung" verantwortlich seien. Im Anschluss an seine Rede verpflichtet er die Abgeordneten der NSDAP mittels Handschlag.
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 153 - 156.
Die Befürchtung Hermann Bauers, dass sein Blatt "runiniert" werden sollte, wurde Ende des Monats Gewissheit: "So füge ich mich dem geistigen und wirtschaftlichen Druck und stelle das Erscheinen [...] ein." Ein letztes Mal äußert Bauer seine Sorgen über die aktuellen politischen und geistigen Entwicklungen :"[...] uns tragen Feste und Feiern nicht über diese innere Not hinweg.", bevor auch die letzte kritische Pressestimme in Marburg verstummt.
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001.
Vom 27. auf den 28. Februar brannte der Reichstag in Berlin. Obwohl die Schuldigen nicht eindeutig ermittelt werden konnten, nutzte die NS-Regierung den Brand, um gezielt gegen ihre politischen Gegner, vor allem die KPD, vorzugehen. Noch am 28. Februar veröffentlichte sie die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat".
Das Hessische Tageblatt druckt die Verordnung ab und weist ihre Leser besonders auf die vorgenommene Einschränkung der Pressefreheit auf. In ihrem Kommentar kritisiert sie diesen Schritt: Denn grade vor einer Wahl müsse ein Appell an die "verantwortungsbewussten Bürger" gerichtet werden können, auch jene Parteien zu wählen, die für einen "Ausgleich" der aktuellen Spannungen zwischen links und rechts sorgen könnten. Gleichzeitig informiert das Blatt über die Bedeutung der Verordnung, die sich vor allem gegen kommunistische "Umtriebe", die die Regierung als "Gefahr" betrachte,richtet.
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Zeitschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 70.
Der Artikel berichtet über erste Hausdurchsuchungen bei kommunistischen Funktionären: In der Geschäftsstelle der SPD wurde Wahlwerbung beschlagnahmt, das als "Propagandamaterial" verunglimpft wird.
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001.S.71.
Die Oberhessische Zeitung berichtet von Hausdurchsuchungen in der Geschäftstelle der KPD am Barfüßer Tor und der SPD in der Biegenstraße. Die Maßnahmen dienen angeblich der "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit". Die OZ erwähnt in ihrem Artikel auch das Aufstellen einer "Hilfspolizei"; ihr liegt ein Erlass vom 22.Februar von Innenminister Göring zugrunde. Sie soll die Polizeibeamten bei ihrer Arbeit im Vorfeld der Reichtstagswahlen (05. März) unterstützen, um vermeintlliche Umsturzversuche der "Linken" zu verhindern. Sie setzt sich aus den "nationalen Wehrverbänden" zusammen, also aus SA, SS und Stahlhelm. Die Beamten tragen eine Uniform und eine weiße Armbinde mit dem Schriftzug "Hilfspolizei".
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marbuger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur. Marburg 2001. S. 71.
Wenige Tage vor der Reichstagswahl finden nun auch erste Verhaftungen von politsch Andersdenkenden statt: Die OZ berichtet von der Festnahme zweier KPD-Mitglieder.
Der Artikel macht die beginnende Willkürherrschaft deutlich, denn Verhaftungen konnten nun ohne konkreten Anlass vorgenommen werden; die beiden Kommunisten hatten sich lediglich in "verdächtiger Weise" im Schlosspark "herumgetrieben".
Gleichzeitig dokumentiert der Artikel die Bemühungen der Marburger SPD, den von der NS-Regierung vorgenommen Unterstellungen, sie handele "illegal", entgegenzutreten.
Quelle abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur. S. 76.
Nach der Verhaftung der 32 politischen Gegner ist das Gefängnis in der Wilhelmstraße überbelegt. Der Gefängnisvorsteher führt in einem Schreiben an den Landrat Marburg genau auf, welche Häftlinge zur Zeit bei ihm untergebracht sind. Seine Bitte, für zukünftige Häftlinge andere Unterbringungen zu finden, macht deutlich, dass er davon ausgeht, dass es zu weiteren Verhaftungen kommen wird. Insgesamt beherbergt das Gefängnis also 91 Gefangene, von denen mehr als die Hälfte politsche Gefangene sind.
Transkription:
"Wie aus der Anlage ersichtlich ist, hat das hiesiege Gerichtsgefängnis eine Normalbelegung von 73 Köpfen. Die augenblickliche Belegungsziffer beträgt dagegen 91 Köpfe, so daß die Anstalt um 18 überbelegt ist. Ich bitte daher, bei der Verhaftung weiterer Schutzhaftgefangener in Erwägung ziehen zu wollen, ob diese Leute nicht einer anderen Anstalt zugeführt werden könnten. [Unterschrift.]
[Anlage] Belegungsverhältnisse des Gerichtsgefängnisses in Marburg /L.:
Normalbelegung: 65 Männer, 8 Frauen = 73. Es können untergebracht werden: In Zellen für Tag und Nacht 15; In Zellen nur für die Nacht (Schlafzellen) 26; In Gemeinschaftsräumen 32 = 73.
Es sind zur Zeit untergebracht: Unters. Gefangene 10; Strafgefangene 34; Zivilhaftgefangene - , Transporthaftgefangene 1; Schutzhaftgefangene: a) für Pol. Verw. Marburg 14; b) für Landratsamt Marburg/L 32 = 46."
Das Hessische Tageblatt berichtet unter der Überschrift "Politische Verhaftungen" über die Festnahme von Kommunisten im Landkreis Marburg. Es verwendet dabei schon den Begriff des Konzentrationslagers: "Die Verhafteten werden voraussichtlich einem Konzentrationslagers zugeführt."
Quelle abedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 136.
Der Polizeipräsident Pfeffer macht Vorschläge zur Durchführung und Dauer der Schutzhaft: so möchte er die Mindestdauer der Haftzeit von vier Wochen auf etwa zwei bis drei Monate ausdehnen. Außerdem informiert er über die Einrichtung eines "Gross-Konzentrationslagers", in das entlassene Häftlinge, die sich wieder "staatsfeindlich" betätigten, eingeliefert werden sollten. Aus "volkserzieherischen Gründen" sieht er schlicßelich für solche Schutzhäftlinge die Verlegung in ein "Arbeitsdienstlager" vor, die ihre "Besserungsfähigkeit" unter Beweis gestellt hätten.

Die Anordnung "Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" beendete die jüdische Beteiligung am Marburger Wirtschaftsleben endgültig. Doch bis 1938 waren bereits viele Betriebe "arisiert" oder "liquidiert" worden, denn schon kurz nach dem Machtantritt riefen die Nationalsozialisten zu Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte und ihre Inhaber auf; der am 29.03.1933 in der Marburger Oberhessischen Zeitung erschienene Artikel liefert die vermeintliche Rechtfertigung dafür [Dok. 1 ].
Einen Tag später reagiert die jüdische Gemeinde Marburgs auf die in der Stadt vorgenommenen Maßnahmen [Dok. 2]. Ihre Erklärung, vermutlich mit dem Ziel geschrieben, weitere Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung abzuwenden, bleibt ohne Wirkung: Noch am gleichen Tag ergeht ein Boykottaufruf der NSDAP für den 1. April [Dok. 3], dessen Durchführung in Marburg kurz darauf in der OZ beschrieben wird [Dok. 4].
Zwei Jahre später, am 09.04.1935, zeigt sich, dass Teile der Marburger Bevölkerung nicht nur dazu bereit sind, jüdische Geschäfte zu meiden, sondern sich sogar an Ausschreitungen gegen diese Geschäfte und ihre Inhaber beteiligen. Josef Spinat, der polnischer Staatsbürger war und in der Wettergasse 25 einen Schuhladen unterhielt, entschied sich vor der Schließung seines Ladens aufgrund rückläufiger Umsätze zu einem Ausverkauf. Im Zuge dessen verbreitete sich das Gerücht, Spinat habe weitere Schuhe hinzugekauft, um den Räumungsverkauf hinauszuzögern, was sich später als vollkommen haltlos herausstellte.
Die Dokumente 5 und 6 schildern den Ablauf der Ausschreitungen sowie den Zustand des Hauses nach dem Überfall.
Einige Studenten konnten von der Polizei in der Wettergasse identifiziert werden; in ihren Zeugenaussagen [Dokumente 7, 8 und 9] weisen sie jedoch jegliche Verantwortung von sich.
Im Dokument 10 kommt Josef Spinat selbst zu Wort: Er schildert in seinem Strafantrag gegen Unbekannt, wie er den Übergriff erlebt hat.
Die Zeugenaussage eines weiteren Studenten beleuchtet noch einmal die Vorgänge in der Wettergasse während des Überfalls und danach. [Dok. 11]. Einen Einblick in das Geschehen im Ladeninneren während des Überfalls gewähren die Zeugenaussagen dreier Mitarbeiterinnen des Schuhhauses [Dok. 12 ].
Die Dokumente 13 , 14 , 15 und 16 zeigen den z.T. unmotivierten Umgang der Behörden mit dem Vorfall, der 1936 eingestellt wird.
Das Amtsgericht Marburg sprach Spinat als Entschädigung lediglich einen Betrag von 834 RM zu - den Spinat offensichtlich nie erhalten hat -, obwohl er selbst den Schaden mit einem Wert von 11954,70 RM angab. Josef Spinat entschloss sich im Jahr 1936 zur Übersiedlung nach Palästina (Vgl. zu letzterem: Händler-Lachmann, Barbara / Werther, Thomas: Vergessene Geschäfte, verlorene Geschäfte. Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im Nationalsozialismus. Marburg 1992.)
Der Artikel schildert die angeblich "spontan" ergriffenen Maßnahmen gegen die "deutschfeindliche Propaganda" im Ausland, die einen Boykott deutscher Waren nach sich gezogen habe: So versahen SS-Leute jüdische Geschäfte sowie Kanzleien jüdischer Rechtsanwälte anhand von Plakaten mit dem Hinweis an die Marburger, diese Geschäfte als "Deutsche" nicht mehr zu betreten.
Abdruck in: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Hg. v. Erhart Dettmering. In: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001.
Die jüdische Gemeinde Marburg distanziert sich in ihrer Erklärung von den "Greuelnachrichten im Ausland", die von einer Misshandlung deutscher Juden berichten: Sie weist darauf hin, dass ihre Mitglieder in Marburg als Teil der Gesellschaft völlig unbehelligt lebten und betont ihr Einverständnis mit dem neuen Staat und dem "Erstarken Deutschlands".
Abdruck in: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Hg. v. Erhart Dettmering. In: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001.
In dem Artikel wird über die Boykottkundgebung, die auf dem Marburger Marktplatz stattfand, berichtet: Diese sei, wie die Maßnahmen gegen jüdische Geschäfte, eine Reaktion auf die "jüdische Hetze" im Ausland, die man gerade erst erfolgreich aus Deutschland verdrängt habe. Gleichzeitig ergeht die Drohung, dass Kunden, die weiter jüdische Geschäfte besuchten, mit "Terror" zu rechnen hätten.
Abdruck in: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Hg. v. Erhart Dettmering. In: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001.
Die Polizeihauptwachtmeister berichten über den Ablauf der Ausschreitungen gegen den jüdischen Inhaber des Schuhgeschäfts in der Wettergasse 25.
Der Student Hans Ludwig äußert sich zu den Vorwürfen, an den Ausschreitungen sowie an den Sprechchören gegen Josef Spinat beteiligt gewesen zu sein. Ludwig gehört dem SA-Sturm 32 als Obertruppführer an.
Das Ministerium wendet sich erneut an den Regierungspräsidenten: Mittlerweile habe sich die polnische Botschaft "wiederholt" nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt- Josef Spinat ist polnischer Staatsbürger -, weswegen der Minister eine Beschleunigung des Verfahrens in Kassel und Marburg erreichen möchte.

Am frühen Morgen des 10. Novembers 1938 wurde die Feuerwehr zur brennenden Synagoge in der Universitätsstraße gerufen. Hier angekommen, war sie weniger darum bemüht, den Brand zu löschen, sondern versuchte lediglich, die umliegenden Häuser vor einem Übergreifen der Flammen zu schützen. Da das Dach bereits einstürzte, entschied sie sich dazu, weitere Fakten zu schaffen und sprengte die Kuppel des Gebäudes [Dok. 3 , 6 ]. Der Synagogendiener erstattete Anzeige wegen Brandstiftung [Dok. 4 ], die Täter konnte oder wollte die Staatsanwaltschaft jedoch nicht ermitteln [Dok. 5 , 6, 7 ]. Erst nach dem Ende des Krieges bemühte sich die Staatsanwaltschaft um eine neue Aufnahme des bereits zu den Akten gelegten Verfahrens [Dok. 7 ]. Als staatliche Reaktion auf die November-Pogrome erfolgte die sog. "Judenaktion" vom 10. November, bei der deutschlandweit mehr als 30.000 männliche Juden in Konzentrationslager verschleppt und dort z.T. monatelang inhaftiert wurden [Dok. 8 ,9 ,11 ]. Der Marburger Gerson Isenberg wurde nur wenige Tage nach seiner Verhaftung im KZ Buchenwald ermordet [Dok. 10 ].
Wie die Strafanzeige eines Marburger Kaufmanns [Dok. 2 ] beweist, gab es aber bereits vor dem 9. November einen Anschlag auf die Synagoge. Als Begründung für die Pogrome musste der Mord Herschel Grynszpans an dem Legationssekretär Ernst vom Rath am 7. November in Paris herhalten.
Der Marburger Kaufmann Samuel Bacharach macht eine Strafanzeige gegen einen Unbekannten. Er stellte fest, dass in der Synagoge sämtliche Fenster beschädigt waren und Steine lagen. Überdies vernahm er einen intensiven Benzingeruch.
Der Marburger Kriminal-Oberassistent schreibt in seinem Bericht vom 09.11, dass am 08. November 1938 durch Unbekannte Scheiben der Synagoge in der Universitätsstraße zertrümmert wurden und eine Explosion stattfand. Die Suche nach den Tätern sei erfolglos verlaufen. Die Geschädigten stellen keinen Strafantrag.
Am 10.11 schreibt selbiger, dass die Synagoge am 10. November restlos ausgebrannt sei. Die Suche nach den Tätern wäre negativ geblieben. Er stellt die These auf, dass die Brandlegung eine spontane Protestaktion gegen das Attentat auf den deutschen Diplomaten in Paris, vom Rath, gewesen sei.
"Judenaktion vom 10.11.1938" - Verzeichnis der inhaftierten "Aktionsjuden" in der Stadt Marburg, 10. 11.1938, Nr. 1-31.
Zahlenmäßige Aufstellung der im das KL Buchenwald inhaftierten "Aktionsjuden" 10. November 1938 - 3. Januar 1939 mit Verzeichnis der Zu- und Abgänge. Die Gesamtzahl der in Buchenwald im Rahmen "Judenaktion vom 10.11.1938" inhafteirten Juden betrrug 9845 Personen, am 03. 01.1939 waren noch 1534 Personen in Haft.
Transkription:
Sofort!
Bericht an G. RJM in Berlin W8, …
Durch S.H.G Stle in Kassel (2 Stücke)
Betr. Brand der Synagoge in Marburg a.L.
Fernmündliche Ausführung vom 10.11.1938
Am 10.11.38 gegen 6 Uhr morgens erhielt die Ortspolizeibehörde in Marburg durch den Synagogendiener der Jüdischen Kultusgemeinde Marburg a.L. die Mitteilung, daß in dem Gebäude Universitätsstraße 11, der Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde, ein Brand ausgebrochen sei.
Die daraufhin alarmierte Feuerwehr trat sofort in Tätigkeit, musste sich jedoch im Wesentlichen auf den Schutz der Nachbarhäuser beschränken, da die Synagoge selbst nicht mehr zu retten war. Der Dachstuhl und das Innere der Synagoge ist abgebrannt, die Grundmauern u. die steinerne Kuppel stehen noch. Es besteht Einsturzgefahr, sodaß mit der Niederlegung der Kuppel aus bau- und sicherheitspolizeilichen Gründen gerechnet werden muß. Der Unterzeichnete überzeugte sich im Laufe des Vormittags an Ort und Stelle von der Tätigkeit der Feuerwehr u. der Polizeiorgane. Die Brandstätte, die in belebter Straße liegt, war u. ist abgesperrt.
Über die Brandursache ist nichts zu ermitteln gewesen. Nach dem Bericht der Ortspolizeibehörde sind die Ermittlungen nach etwaigen Brandstiftern ergebnislos verlaufen.
Das Gebäude ist bei der Hessischen Brandversicherungsanstalt Kassel mit 78.000 RM versichert, die Mobilien sind bei der Allianz- und Stuttgarter Versicherungsgesellschaft mit RM 10.000,- versichert.
Unterschriften
L. 10.11.38

"Die Synagoge, in der die jüdische Schule war, ist abgebrannt."[Dok. 1 ] Ein neuer Schulraum musste gefunden werden [Dok. 3 ], denn ab dem 15. November 1938 war es jüdischen Schülerinnen und Schülern nicht mehr erlaubt, in "deutsche" Schulen zu gehen [Dok. 2 ]. Als Begründung musste das Attentat Herschel Grynszpans auf einen deutschen Diplomaten herhalten, das auch als Anlass zur Reichspogromnacht diente - der Nacht, in der auch die Synagoge Marburgs einfach "abgebrannt" war. Lehrer Pfifferling bemühte sich darum, im Auftrag des Schulamts abgelegene Räumlichkeiten zu finden [Dok. 4 ]. Auf die Schnelle konnte jedoch nur ein Raum in einem Haus in der Untergasse 15 [heute 17] ausfindig gemacht werden, das einem jüdischen Metzger gehörte, der aber schon 1936 verstorben war [Dok. 5 ,6 ].Um eine weitere Ausgrenzung voranzutreiben, wurde schließlich die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" geschaffen, die fortan konkrete Anordnungen erhielt, wie sie u.a. das jüdische Schulwesen zu organisieren hatte;. Unterstützung vom deutschen Staat sollte es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr geben [Dok. 7 , 8 ]. In diesem Zuge wurde Lehrer Pfifferling kurzer Hand zwangspensioniert; ein knappes halbes Jahr später durfte er aber wieder unterrichten [Dok. 9 , 10 ].
Im Herbst 1940 musste die im Frühling in die "abgelegenere" Schwanallee umgezogene jüdische Privatschule schließen [Dok. 11 , 12 ], wie weitere jüdische Schulen im Bezirk Kassel [Dok. 13 ].
Das Haus in der Schwanalle 15 galt außerdem als "Ghetto- bzw. Judenhaus"; das "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1933 erleichterte es den Nazis, jüdische Mitbürger aus ihren angestammten Wohnungen oder Häusern zu verteiben und dort unterzubringen, wo bereits andere Juden lebten [Dok.14 ]. Damit diese auch immer als Juden sichtbar waren, mussten sie den sog. "Judenstern" tragen. Dokument 15 führt die Stigmatisierung fort, denn neben Personen waren nun auch Wohnungen, in denen jüdische Mitbürger lebten, zu kennzeichnen.
Der Minister kündigt in seinem Schreiben an den RP in Kassel die Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Schülern in öffentlichen Schulen an. Darum müssten neue Räumlichkeiten für den jüdischen Privatunterricht gefunden werden. Jüdische Privatlehrer erhielten aber nur ein Gehalt, wenn sie dies vorher aus der Stadtkasse bezogen hätten. Auch sollen alle "in Schutzhaft genommenen Lehrer" aus der Haft entlassen werden, damit die jüdischen SchülerInnen nicht zu lange ohne Unterricht verbleiben.
Das Schreiben der Stadtkasse an den Kreisschulrat schildert in euphemistischen Worten die Vorgänge rund um die Pogromnacht vom 9. November 1938 und die Folgen für die jüdische Schule, die sich in den Räumen der Synagoge befand. Von Brandstiftung ist keine Rede, vielmehr sei die Schule lediglich "abgebrannt". Lehrer Pfifferling sei zu seiner eigenen Sicherheit in Schutzhaft genommen worden. Verschwiegen wird auch, dass mit der sog. "Judenaktion" vom 10. November ca. 30.000 männliche Juden in Konzentrationslager verschleppt wurden, u.a. nach Buchenwald.
Salomo[n] Pfifferling (geb. 1882) war seit 1919 Lehrer an der kleinen Marburger jüdischen Schule, die seit 1934 in der Synagoge untergebracht war. Ende 1941 wurde Pfifferling mit seiner Frau in das Ghetto Riga deportiert; er starb im Konzentrationslager Auschwitz.
Da bisher noch keine Räumlichkeiten in der Schwanallee 15 freigemacht werden konnten, schlägt Lehrer Pfifferling zur Einrichtung einer provisorischen Schule folgende Möglichkeit vor:
"Hiermit gebe ich davon Kenntnis, daß der isralitischen Volksschule in dem Wohnhaus von Fr. Katz ein Zimmer (Größe 6:4,30) für Schulzwecke zur Verfügung steht, das wir einstweilen bis zur Freistellung eines größeren Zimmers [in der] Schwanallee 15 benutzen möchten und bitte ich um Genehmigung mit dem Unterricht zu beginnen.
Salomon Pfifferling "
Die 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz zwang alle jüdischen Verbände und jüdischen Gemeinden dazu, sich in der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" zusammenzuschließen. Ihre Aufgaben: Organisation und Finanzierung der jüdischen Wohlfahrtspflege, des jüdischen Schulwesens, Vorbereitung der jüdischen Auswanderung und der Berufsausbildung.Hintergedanke der Verordnung: die "weitere Absonderung vom deutschen Volk" und Kontrolle der jüdischen Bevölkerung.
Die jüdische Schule erhält zudem ab nun keinerlei finanzielle Unterstzützung der Stadt Marburg mehr und muss sich aus eigenen Mitteln finanzieren.
Die Verordnung definiert die Aufgaben der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" bezügl. des jüdischen Schulwesens: U. a. soll die Reichsvereinigung in erster Linie Volksschulen einrichten; erst dann, wenn sie noch über Mittel verfüge, könne sie weiterführende Schulen unterhalten. Die Lehrpläne müssten sich an dem Ziel orientieren, die jüdischen Bürger Deutschlands zum Auswandern zu bewegen; daher sollten vor allem solche Fremdsprachen gelernt werden, die einer Auswandernung "dienlich" seien.
§ 9 regelt die Pensionierung jüdischer Lehrer, bei der es sich um aber eigentlich um eine Zwangspensionierung handelt.
Ein halbes Jahr nach seiner Zwangspensionierung erhält Lehrer Pfifferling wieder die Genehmigung, zu unterrichten.
Die Israelitische Gemeinde berichtet über die erfolgte Verlegung der jüdischen Volksschule von der Untergasse 15 in die Schwanallee 15.
Neben der Schule in Marburg wurden auch jüdische Privatschulen in anderen hessischen Städten dazu gezwungen, den Lehrbetrieb einzustellen [u.a. Fulda, Langenselbold oder Korbach].
Das Reichsgesetz bedeutete eine Vertreibung aus der gewohnten Umgebung, beendete das Recht auf Mieterschutz und freie Wohnungswahl und kennzeichnet die Anfänge der Ghettoisierung. So entfiel für Juden z.B. die Möglichkeit, den Mieterschutz in Anspruch zu nehmen, wenn ihr nichtjüdischer Vermieter ihnen vorzeitig kündigte. Gleichzeitig erlaubte es den Gemeindebehörden, in Wohnungen oder Häuser, in denen Juden leben, zusätzliche Mieter einzuweisen. Durch die Zwangseinweisung in neuen, beengten Wohnraum konnte auch die Trennung von sog. "Mischehen" beschleunigt werden. Auf diese Weise wurden die sog. "Judenhäuser" geschaffen.
Das Gesetz trieb die Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger stärker voran, indem es eine räumliche Trennung von Juden und Nichtjuden vornahm. So sorgte es für eine Ansammlung jüdischer Mitbürger in bestimmten Stadtteilen und ermöglichte eine dauerhafte Überwachung. Die sog. "Judenhäuser" sollten später als eine Sammelstellte für die Deportationen dienen.
Juden müssen laut der Anordnung ihre Wohnungen mit einem Stern kennzeichen. Damit er an der Haustür auffällt, ist Papier in weißer Farbe zu benutzen. Mit der Einführung des Papiersterns gibt es keinen sicheren Rückzugsort für jüdische Mitbürger mehr.

Literatur:
- Händler-Lachmann, Barbara und Werther, Thomas: Vergessene Geschäfte, verlorene Geschichte. Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im Nationalsozialismus, Marburg 1992
- Hessisches Institut für Lehrerfortbildung (Hrsg.): Marburg im Nationalsozialismus. Materialien für eine zeitgeschichtliche Stadterkundung, zusammengestellt von Michael Heiny, Amélie Methner und Susanne Fülberth, Fuldatal und Marburg 1997
Noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden im ganzen Reichsgebiet etwa 30.000 männliche Juden verhaftet und in die eigens ausgebauten Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verbracht. In Marburg waren 31 Einwohner von den Verhaftungen betroffen, darunter auch Julius Stern. Einer der Marburger Gefangenen, Gerson Isenberg, der bis 1931 eine Metzgerei im Steinweg geführt hatte, hat die Haftbedingungen in Buchenwald nicht überlebt. Julius Stern wurde nach 4 Wochen, am 8. Dezember 1940, aus dem KZ Buchenwald entlassen.
Die "Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens" wurde auch in Marburg sofort umgesetzt: Nach seiner Rückkehr aus dem KZ Buchenwald erhielt Julius Stern ein Schreiben des Oberbürgermeisters Marburg, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er sein Geschäft innerhalb von 4 Wochen aufzulösen und zu verkaufen hätte.
In der Anordnung wurde auch gleich festgelegt, dass ein Ausverkauf der Waren an Endkunden nicht erlaubt sei, sondern dass die Waren, die Ladeneinrichtung und das Geschäft selbst nur an die "arischen" Konkurrenten verkauft werden dürfen.
Die Auflösung des Geschäfts und der Verkauf durften von den Eigentümern nicht selbstständig durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass alles im Sinne der Machthaber ablief. Nachdem die Stadt eine Liste der noch bestehenden jüdischen Betriebe erstellt hatte, benannte die Industrie- und Handelskammer Kassel einen Abwickler zur Durchführung und Kontrolle der Geschäftsauflösungen. Der Verkauf der Stoff- und Trachtenhandlung von Julius und Else Stern wurde dem Steuerberater Konstantin Kümpel aus Marburg übertragen.
Nur zwei Wochen nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald unterschrieb Julius Stern einen Vertrag zum Verkauf seines Hauses in der Barfüßerstraße 26. Der Käufer war Inhaber eines Marburger Installationsbetriebs, der unter anderem ein Ladengeschäft für Küchen- und Elektroartikel nur wenige Häuser entfernt, an der Hofstatt, führte.
Als Kaufpreis wurde die Summe von 30.600,- RM festgelegt. Die Übergabe des Hauses sollte am 1. April 1939 erfolgen, eine vorherige Zahlung des Kaufpreises wurde im Vertrag ausgeschlossen. Die Eheleute Stern hatten das Recht, ihre Wohnung noch bis Ende September zu nutzen. Sollten sie die Wohnung bis dahin nicht geräumt haben, wurden Mietzahlungen an die neuen Eigentümer fällig.
Eine Abschrift des Kaufvertrags wurde unmittelbar dem Finanzamt übermittelt, damit das Geld aus dem Verkauf für die sog. "Judenvermögensabgabe" gepfändet werden konnte.
Anfang Januar 1939 musste Julius Stern eine Aufstellung seines Vermögens bei der in Kassel ansässigen Devisenstelle einreichen. Devisenstellen waren als Abteilungen der Finanzämter während der Weltwirtschaftskrise eingerichtet worden, um den Außenhandel zu kontrollieren. Nach 1933 trat diese Aufgabe in den Hintergrund und sie waren hauptsächlich mit der finanziellen Ausplünderung der Juden befasst.
Julius Stern gab das Vermögen der Eheleute Julius und Else Stern mit ca. 47.000,- RM an.Diese Angabe umfasst den Wert von Haus und Grundstück, den Laden mit Inventar und Warenlager sowie das übrige Vermögen auf Konten und in Wertpapieren. Im Jahr 1935 hatte das Vermögen nach dem Vermögenssteuerbescheid noch 51.000,- RM betragen. Bereits im Jahr 1937 konnte Julius Stern kein versteuerbares Einkommen mehr erzielen, das Geschäftsjahr 1938 musste er bereits mit einem Verlust in Höhe von ca. 3.100,- RM abschließen, das entsprach ziemlich genau dem Gewinn des Jahres 1936 (HHStAW 519/3 Nr. 37399, Fragebogen für die Versendung von Umzugsgut vom 21.09.1939).
Außer dem Kaufpreis für das Haus sollten auch alle anderen Einnahmen der Eheleute Stern direkt auf das Sperrkonto übertragen werden. Erst auf den ausdrücklichen Antrag des Rechtsanwalts Hermann Reis genehmigt die Devisenstelle Kassel den Eheleuten Stern die Verfügung über einen monatlichen Betrag von 100,- Reichsmark. Innerhalb von zwei Monaten waren die Sterns von selbstständigen Ladeninhabern und Hausbesitzern zu Almosenempfängern erniedrigt worden.
Der Betrag von 100 RM im Jahr 1939 entspricht umgerechnet einem Kaufkraftwert von ca. 450,- € im Jahr 2015. (Vgl. den historischen Kaufkraftrechner von Rolf-Fredrik Matthaei (privates Angebot) sowie die Hinweise bei wikipedia.)
In den Jahren seit 1933 waren im ganzen Reichsgebiet zahlreiche jüdische Unternehmen und Geschäfte in den Ruin gedrängt und zum Verkauf gezwungen worden, wobei die Käufer in der Regel sehr große Vorteile erzielen konnten. In dem Versuch, diesen Prozess der sogenannten "wilden Arisierung" stärker unter staatliche Kontrolle zu nehmen und die durch Rüstungsausgaben stark bedürftige Reichskasse an den "Arisierungs"-Gewinnen zu beteiligen, mussten die Käufer jüdischen Eigentums eine "Ausgleichsabgabe" an das Reich zahlen.
Im Ergebnis wurde diese Abgabe aber nicht den Käufern zusätzlich auferlegt, sondern wurde von dem den Verkäufern zustehenden Kaufpreis abgezogen, bevor die Restsumme dann auf ein Sperrkonto eingezahlt wurde, um für die sog. "Judenvermögensabgabe" oder die "Reichsfluchtsteuer" gepfändet zu werden.
Der Einkaufswert des vorhandenen Warenlagers von Julius Stern betrug nach dessen Angaben RM 12.000,-.
Der als Abwickler eingesetzte Treuhänder hatte den Verkaufswert des Warenlagers auf 70% des Einkaufswertes geschätzt. Als Sachverständiger wurde der Marburger Textilhändler Philipp Berdux eingesetzt, der den Verkaufswert auf knapp 35% des Einkaufswerts ansetzte, weil viele Waren "fast unverkäuflich" seien. Trotzdem hat Berdux selbst dann den größten Teil des Warenlagers übernommen, die übrigen Waren und das Inventar wurden von anderen Marburger Textilhändlern aufgekauft.

Im Oktober 1941 begann bereits die systematische Deportation der Juden aus Deutschland, obwohl erst am 20. Januar 1942 auf der sog. "Wannsee-Konferenz" genaue Details zur "Endlösung der Judenfrage" geklärt wurden. Der "Erlass zu Entscheidungen der Judenfrage" von 1939 zeigt, dass die zeitlich vorher gertroffenen Maßnahmen vor allem erst einmal dazu dienten, jüdische Mitbürger aus der Gesellschaft auszugrenzen [Dok. 1]. Dieses Vorhaben sollte mit der "Kennzeichnungspflicht für Juden" von 1941 weiter realisiert werden [Dok. 2 ].
Das Handeln der Behörde im August 1942 spiegelt die Klärung der o.g. Überlegungen wider: Sie gibt die Anweisungen der Gestapo von oben an die Bürgermeister des Kreises wieder, in denen alle Abläufe genau koordiniert sind, um eine "reibungslose Deportation" zu gewährleisten. Dabei werden zwei Aspekte besonders deutlich: Die menschenunwürdige Behandlung der Deportierten - der Versuch, die Betroffenen so lange wie möglich in Unkenntnis ihrer genauen Situation und der auf sie zukommenden Ereignisse zu halten, um das Entstehen von jedweder Unruhe vermeiden. Die sachliche Sprache, in der über das Schicksal von Menschen bestimmt wird, die - schon vollkommen entrechtet - nun den letzten Teil ihrer Existenz zurücklassen müssen, spiegelt verwaltungsmäßige Richtigkeit vor. Hierfür spricht auch die Verwendung des euphemistischen Begriffs "ausgewandert" für den Verbleib der Deportierten, der das wahre Vorgehen verschleiert und das Leid der Opfer zusätzlich verhöhnt [Dok. 3 , 4 , 5 ].
Der zweite Aspekt betrifft die schamlose Aneignung von Wertsachen und Gegenständen, die ganz selbstverständlich beschlagnahmt werden und in den Besitz des Finanzamts übergehen [Dok. 6 ].
Landräte, Bürgermeister und Polizei werden über aktuelle Regeln zur Behandlung von jüdischen Mitbürgern informiert - zu den Themen Wohnen, "Judenbann", Pensionen, Mischehen:
So wird u.a. geklärt, dass jüdische Familien in gemeinsamen Häusern zusammengepfercht werden können [Vgl. auch das "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1939].
Zum sog. "Judenbann" hält das Schreiben fest, dass Juden zwar noch Straßenbahnen benutzen dürfen, aber von Hotels, die bei NS-Angehörigen beliebt sind, ferngehalten werden müssen. Den Städten bliebe es aber selbst überlassen, ob sie jüdischen Mitbürgern z.B. die Nutzung von Schwimmbädern untersagen wolle.
Das Schreiben definiert außerdem, dass pensionierte jüdische Beamte zwar ein Anrecht auch ihre Pension hätten, diese aber durchaus gekürzt werden dürfe.
Zuletzt klärt das Schreiben darüber auf, wie "Mischehen" zu behandeln sind und unterscheidet dabei zwischen Ehepaaren mit und ohne Kinder. Auch spiele es eine Rolle, ob der Ehemann oder die Ehefrau jüdisch sei.
Das Schreiben enthält Anordnungen zur Diffamierung und Stigmatisierung der jüdischen Mitbürger: Denn fortan haben Juden ab dem 6. Lebensjahr den Judenstern zu tragen, der "sichtbar auf der linken Brust des Kleidungsstückes" befestigt werden muss. Er kostet 10 Pfennig und muss pfeglich behandelt werden.
Weitere Einschränkungen kommen hinzu: So dürfen Juden sich nur mit einem schriftlichen Nachweis der örtlichen Polizei aus ihrer Wohngemeinde entfernen. Außerdem ist ihnen untersagt, Orden oder ähnliche "Ehrenabzeichen" zu tragen. Das Übertreten der Verbote wird je nachdem mit einer Geldstrafe oder einer 6-wöchigen Haft bestraft.
Das Schreiben an den Marburger Bürgermeister skizziert den Ablauf der für den 7. September 1942 geplanten "Evakuierung"; betroffen sind die noch im Marburger Kreis lebenden jüdischen Mitbürger.
Damit die Ausführenden den "Sammeltransport" schneller und leichter zusammenstellen können, wird bestimmt, dass sich die Betroffenen schon einen Tag früher, also am. 6. September, am Bahnhof einfinden und die Nacht dort verbringen müssen. Die Bestimmungen zur Gepächmitnahme sind eindeutig: Lediglich ein Koffer oder ein Rucksack darf mitgeführt werden. Bargeld und andere Wertsachen seien, so wird angeordnet, vollständig mitzubringen; um Aufregung unter den Wartenden zu vermeiden, solle ihnen dieses jedoch erst im Kasseler Sammellager abgenommen werden.
Damit sich Behörden und Finanzamt schon einen Überblick über den zu erwartenden Gewinn verschaffen können, müssen die betroffenen Familien bereits im Vorfeld Listen über das Inventar, das sie zurücklassen müssen, anfertigen.
Gleichzeitig ergeht die Anordnung, die deportierten Juden als "ausgwandert" in den Behörden zu führen.
Der Fahrplan gibt an, wann sich die zu Evakuierenden am Bahnhof einzufinden haben. Der Zug von Marburg nach Kassel fährt beispielsweise um 11Uhr ab. In Kassel befindet sich das Sammellager, von dem aus die Transporte nach Theresienstadt geschlossen weitergehen sollten.
Der Landrat teilt nüchtern mit, dass die Deportation vom 7. September ohne weitere Vorkommnisse "reibungslos" verlaufen sei. Um den Vorgang abschließen zu können, seien nur noch die "Judenverzeichnisse" auf den aktuellen Stand zu bringen.

Der Artikel stellt die Grundlagen der neuen Schulpolitik vor: "Ein Volk, eine Rasse, die Persönlichkeit, die Wehr und ein lebendiger Gott" - nur auf diese Weise sei eine "einheitliche Willensbildung" zu erreichen.
Die Lehrpläne müssten sich deshalb wieder auf das Nationale, das "Heldische" besinnen, auch den Führergedanken thematisieren und Lehrinhalte der Weimarer Republik entfernen.
Abdruck in: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Hg. v. Erhart Dettmering. In: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 204.
Der NS-Lehrerbund ordnet seine Pädagogik ganz der nationalsozialistische Weltanschauung unter: Die dringlichste Aufgabe der Lehrer sei es, ihren Schülerinnen und Schülern die Bedeutung der "Erb- und Rassenpflege" nahe zu bringen. Nur so sei der "Bestand und die Zukunft des deutschen Volkes" gesichert. Den Schülern solle auch klar gemacht werden, dass Schwaches und Krankes deshalb nicht weiter gepflegt werden dürfe, da es um die "Erhaltung der Art" gehe. Das Ziel müsse sein, dass die Schüler verstehen und sich dafür einsetzen, dass es nicht um den Einzelnen, sondern um das Ganze, die Gemeinschaft gehe.
Abdruck in: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Hg. v. Erhart Dettmering. In: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. Marburg 2001. S. 439f.
§ 3 des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wird auch an der Elisabethschule angewendet: Am 1.1.1934 wird die Studienrätin Martha Strauß entlassen.
[§ 3: (1) Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§§ 8 ff.) zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.]
Schon mit dem Erlernen der Buchstaben begann die Indoktrinierung in der Schule.
Schmitt, Hanno: Am Ende stand das Wort "Umsonst". Nationalsozialismus an Marburger Schulen, Marburg 1985, S. 194 ff.
1. Zeigen Sie auf, worin - laut Gauleiter Weinrich und Landesjugendpfarrer Schäfer - der "Kampf" sowie die Aufgabe der Jugend besteht.
2. Geben Sie wieder, wie "deutsch" im Text definiert wird. Wie muss sich ein "deutscher" Junge, wie ein "deutsches" Mädchen verhalten?
3. Erklären Sie, warum die Nationalsozialisten der Jugend eine große Bedeutung beimessen.
4. Beurteilen Sie die hier dargestellte Einheit von Kirche und Nationalsozialismus und setzen Sie sie in Bezug zum Aufbau der Hitlerjugend.
Lösungshinweise zu Aufgabe 4:
Die Verehrung, die Adolf Hitler entgegengebracht wird, zeigt religiöse Anklänge und rückt ihn damit in die Nähe eines Heiligen, der das deutsche Volk aus der Not errettet habe. Deshalb betont Gauleiter Weinrich, dass man für den Kanzler „bete“ und stets „seiner gedenke“. Die sich anschließende Formel „So sprechen wir: […]“ lehnt sich an das Sprechen eines Gebets an. Der folgende Feldgottesdienst will die Gemeinsamkeiten zwischen der neuen politischen Lehre und der Religion hervorheben: „Es soll uns bereit machen, den zu hören, der in der Geschichte herrscht.“ Die Jugend soll in diesem Sinne lernen, an ihre zukünftigen Aufgaben im neuen Staat, in der neuen Gemeinschaft, herangeführt zu werden.

Der 1. Mai, ein Montag, sollte auch in Marburg feierlich begangen werden. Das abgedruckte Programm zeigt die Einbindung der Jugend - von Schülern und Studenten - sowie vor allem der in NS-Betriebsgruppen organisierten Mitglieder, u.a. der NS-Betriebszellen-Organisation oder der NS-Beamtenarbeitsgemeinschaft. Arbeiter und Angestellte, die nicht in einem NS-Bund organisiert sind, müssen sich, um teilnehmen zu können, einem solchen für die Zeit des Aufmarsches anschließen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Gewerkschaften an ihrem Tag nicht mehr im Mittelpunkt stehen.
Nur einen Tage später wurden diese dann auch durch Besetzung der Gewerkschaftshäuser von SA und NS-Betriebszellen-Organisation (NSBO) zerschlagen, ihre Funktionäre verhaftet, die Mitglieder in der "Deutschen Arbeitsfront (DAF) zwangsvereinigt.
Abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. 2001. S. 177f.
Das Hessische Tageblatt hat das Programm der Feierlichkeiten zum 1. Mai nur kurz zusammengefasst. Es veröffentlicht allerdings noch den Aufruf des Marburger Gewerkschaftsvorsitzenden Geilfuß`, der seine Mitglieder zwar einerseits auffordert, sich "restlos an den Feiern zu beteiligen", aber andererseits angesichts der nun vom Staat organisierten Abläufe daran erinnert, dass sie die eigentlichen Wegbereiter, "die Pioniere des Maigedankens", seien.
Abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnte. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. 2001. S. 179.
Der Fackelzug durch die Stadt endete am 10. Mai auf dem Kämpfrasen, in dessen Mitte ein großer Scheiterhaufen brannte. Unter dem Motto "Wider den undeutschen Geist" wurden "undeutsche" Bücher und Schriften verbrannt. Die Bücherverbrennung wurde von der Deutschen Studentenschaft, dem Dachverband der allgemeinen Studentenausschüsse, organisiert und unter Führung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) durchgeführt. Als Anlass nennt der Artikel den "Widerwillen der deutschen Jugend gegen alles Fremde", das ihr in den Jahren der Weimarer Republik aufogezwungen worden sei.
Die Bücherverbrennungen an den deutschen Hochschulen bildeten den Abschluss der vierwöchigen "Aktion wider den undeutschen Geist". In diese sind u.a. folgende Ereignisse einzuordnen: der "Judenboykott" vom 1. April sowie das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April , welches einen Professorenboykott an vielen Universitäten nach sich zog.
Abgedruckt in: Erhart Dettmering: Was alle lesen konnten. Das Jahr 1933 im Spiegel der Marburger Lokalpresse. Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 72. 2001. S. 215.