
Der Begriff "Eugenik" ist abgeleitet aus den altgriechischen Ausdrucken "eu" für "gut" und "genos" für "Geschlecht", er lässt sich im Deutschen mit "Erbgesundheitslehre" übersetzen.
Die Vorstellung, dass es möglich sei, durch gezielte Maßnahmen den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu erhöhen und den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihre Ausbreitung war keineswegs auf Deutschland beschränkt, sondern sie spielte in allen industrialisierten Ländern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine wachsende Rolle.
Maßgeblich für diesen Prozess waren drei Aspekte, die hier eine unheilvolle Verbindung eingingen. Ein Aspekt war die wachsende Verbreitung rassistischer Vorstellungen, denenzufolge die Menschheit in verschiedene, höher- und minderwertige Rassen eingeteilt werden könne. Diese Ideen lassen sich zurückverfolgen bis zum Beginn der frühen Neuzeit, sie breiten sich in Europa aus durch den wachsenden Kontakt mit anderen Teilen der Erde und das Bedürfnis einer Rechtfertigung kolonialer Unterdrückung.
Im 19. Jahrhundert führt die Übertragung der Entdeckungen von Charles Darwin über die Evolution auf menschliche Gesellschaften zu der Vorstellung, dass eine Vermischung von höher- und minderwertigen Menschenrassen zu einer Schwächung der höherwertigen führen könne. Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher und technischer Erfolge im Zeitalter der Industrialisierung wird Eugenik so als Methode zur "Selbststeuerung der menschlichen Evolution" verstanden.
Vor dem Hintergrund der Erfahrung rasanter gesellschaftlicher Umbrüche der Industrialisierung mit dramatischen gesundheitlichen Folgen in den schnell wachsenden Städten schien auch der Bedarf an "rassenhygienischen" Maßnahmen im eigenen Land zu wachsen - eine Entwicklung, die durch die Folgen des Ersten Weltkriegs mit dem Massensterben und dem massenhaften Auftreten von Kriegsinvaliden von Wissenschaftlern in der Zeit der Weimarer Republik als Beleg für zunehmenden Handlungsbedarf genommen wurde.
Während sich eugenische Konzepte in vielen industrialisierten Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter ausbreiteten und Maßnahmen wie die Durchführung von Zwangssterilisationen in vielen Ländern umgesetzt wurden, schaffte die NS-Herrschaft in Deutschland die Voraussetzungen für die noch ungehemmtere Verwirklichung "rassenhygienischer" Ideen: Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs begann der massenhafte Mord an Insassen von Heil- und Pflegeanstalten.
Als der Massenmord in den Gaskammern, die in psychiatrischen Kliniken auf Reichsgebiet erprobt und eingerichtet worden waren, wegen wachsender öffentlicher Proteste 1941 auf Befehl Hitlers eingestellt wurde, wurden die Technik und das eingesetzte Personal zum Aufbau der Vernichtungslager in den Osten geschickt.
Obwohl dieser Zusammenhang und die an Kranken verübten Verbrechen spätestens seit dem sogenannten "Ärzteprozess" vor dem Alliierten Militärgerichtshof in Nürnberg aus dem Jahr 1946/47 bekannt war, kam es nur zu wenigen Verurteilungen. Ein Großteil der beteiligten Täter konnte die beruflichen Karrieren in der Bundesrepublik weitgehend ungebrochen fortsetzen. Demgegenüber steht die sehr späte und zögerliche Anerkennung der Opfer und ihrer Leiden. Erst seit den 1980er Jahren hat eine breitere Erforschung auch zu einer beginnenden öffentlichen Auseinandersetzung geführt.
Eine Entschädigung haben die Opfer von Zwangssterilisationen bis heute nicht erhalten.

Die Anfänge des modernen eugenischen Denkens reichen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Vor dem Hintergrund von Charles Darwins Untersuchungen „Über die Entstehung der Arten“ breiteten sich in allen industrialisierten Staaten wissenschaftliche Ansätze aus, die die von Darwin entdeckten Wirkungsweisen der Evolution unmittelbar auf die planvolle Steuerung menschlicher Gesellschaften zu übertragen versuchten. Ausgehend von der biologistischen Vorstellung der Gesellschaft als „Volkskörper“ (Albert Schäffle, 1821 – 1903) gingen Wissenschaftler seit der Jahrhundertwende verstärkt der Frage nach, wie das Erbgut einer Gesellschaft durch „Ausmerzung und Ausjätung“ (Alfred Ploetz) als negativ empfundener Eigenschaften verbessert werden könnte.
In den USA wurden vor diesem Hintergrund bereits seit 1896 Heiratsverbote für „Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache“ erlassen, seit 1907 wurden Zwangssterilisationen durchgeführt.
In Deutschland vermischte sich die eugenische Diskussion schon früh mit Theorien über angebliche Unterschiede menschlicher Rassen, die ebenfalls seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und in den USA eine wachsende Zahl von Anhängern fanden.
Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer, die als Begründer der eugenischen Diskussion in Deutschland gelten können, prägten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Begriff der „Rassenhygiene“ (Dok. 1, 2, 3).
Die gesellschaftliche Entwicklung der Epoche war von der Erfahrung eines grundlegenden Widerspruchs geprägt: bahnbrechenden Entwicklungen in Technik und Wissenschaft standen rasante gesellschaftliche Veränderungen gegenüber, die auch neuartige Formen von Elend hervorbrachten. Vor diesem Hintergrund entstand ein breites Feld gesundheits- und bevölkerungspolitischer Iniatitiven, in denen sich der Gedanke der Rassenhygiene zunehmend ausbreitete (Dokumente 4 – 8). Diese Entwicklung wurde durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs dramatisch verschärft (Dok. 9).
Literatur:
Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, Göttingen 1987.
1904 durch den Arzt Alfred Ploetz (1860-1940) gegründet, entwickelte sich die Zeitschrift „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ zu einem Diskussionsforum der Eugenik in Deutschland. Der Begriff „Eugenik“ war durch den britischen Mediziner Francis Galton (1822-1911) geprägt worden und bezeichnete ein Konzept, das auf die Verbesserung des menschlichen Erbgutes durch Zurückdrängung vermeintlich krankhafter Erbanlagen zielte. Dies wollte man dadurch erreichen, dass die Fortpflanzung genetisch „Hochwertiger“ gefördert (positive Eugenik) und die der „Minderwertigen“ verhindert wurde (negative Eugenik). In Anlehnung an sozialdarwinistische Denkweisen hieß das: Nur die Gesunden und Starken sollten Ehen schließen und sich vermehren dürfen. Den Schwachen und Kranken – vor allem Menschen mit Behinderungen oder psychischen Leiden – sprachen die Eugeniker dieses Recht ab und stellten sie als Gefahr für die „Rassequalität“ dar. In Deutschland führte Ploetz den Begriff „Rassenhygiene“ anstatt von „Eugenik“ ein. Seit 1905 fungierte die von ihm gegründete Zeitschrift als Sprachrohr der im selben Jahr gegründeten Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, deren Ziel es war, „Rassenhygiene“ als Wissenschaft zu etablieren.
Nach einem Studium der Volkswirtschaft und Medizin und der Promotion zum Dr. med. veröffentlichte Ploetz 1895 sein Werk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“, das als grundlegende Schrift der eugenischen Bewegung in Deutschland gilt. 1904 gründete er die Zeitschrift „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“, 1905 die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene. Ploetz begrüßte 1933 die nationalsozialistische Machtübernahme, wurde Mitglied im „Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik“ im Reichsministerium des Innern und trat 1937 der NSDAP bei. Den Nationalsozialisten galt er als Vorkämpfer des „wissenschaftlichen Rassegedankens“.
Der Arzt Wilhelm Schallmayer (1857-1919) kann gemeinsam mit Alfred Ploetz als Begründer der Rassenhygiene in Deutschland gelten. In seinem 1903 erschienenen programmatischen Hauptwerk trat Schallmayer für eine bewusst gesteuerte Entwicklung der menschlichen Fortpflanzung ein. Er forderte eine staatlich organisierte „Nationalbiologie“, welche die Lebensfähigkeit der Nation sicherstellen sollte. Hierzu schlug Schallmayer sowohl fördernde Maßnahmen wie die Einführung von Kindergeld oder „Mutterschaftsprämien“ für die „Rassetüchtigsten“ vor als auch verhindernde Maßnahmen wie „Ehegesundheitszeugnisse“ und die Sterilisierung von Personen mit „schlechten“ Erbanlagen.
Trotz der Forschungsergebnisse Robert Kochs galt Tuberkulose noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach als Erbkrankheit, die aus Sicht der Eugeniker nur durch eine Zurückdrängung der entsprechenden Erbanlagen bekämpft werden konnte. Die Empfehlungen des „Tuberkulose-Merkblatts“ des Hannoverschen Provinzialvereins zielten allerdings auf praktische Präventionsmaßnahmen und sahen beispielsweise das „richtige“ Atmen durch die Nase, regelmäßiges Baden und Waschen zur Abhärtung des Körpers, tägliche Zahnpflege, Bewegung an frischer Luft zur Erhöhung der körpereigenen Widerstandsfähigkeit sowie die strikte Vermeidung von Alkohol vor.
Der Nationalökonom Julius Wolf (1862-1937) war als Gründungsvorsitzender eine der prägenden Figuren der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik. In seiner Schrift „Die Mittel moderner Bevölkerungspolitik“ trat er für eine Sonderbesteuerung Lediger bei gleichzeitiger finanzieller Unterstützung kinderreicher Familien, für eine verstärkte Vorbildung der Frauen für den „Hausfrauen- und Mutterberuf“, den erschwerten Zugang zu Verhütungsmitteln und eine wirksame Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten ein.
Mitgliedskarte des Oberpräsidenten der preußischen Provinz Hessen-Nassau, Wilhelm Hengstenberg (1853-1927), als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik, 18. Dezember 1915
Das Merkblatt „Mütter, stillt Eure Kinder selbst!“ gehört zu einer Reihe von ähnlich konzipierten illustrierten Schriften, die, zumeist staatlich subventioniert, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich Verbreitung fanden. Zum einen waren sie durch entsprechende Hinweise und Verhaltensregeln der praktischen gesundheitlichen Aufklärung verschrieben. Zum anderen entsprangen sie zum Teil der eugenisch orientierten Überzeugung, bestimmte Krankheiten wie etwa Tuberkulose seien vererbbar und müssten bekämpft werden, um die Gesundheit künftiger Generationen zu sichern.
Geschlechtskrankheiten galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ernste Bedrohung für Volksgesundheit, Nation und „Rasse“ und bargen aus eugenischer Perspektive die Gefahr einer schleichenden „Degeneration“ der Bevölkerung. Diesen Gefahren entgegenzuwirken, machte sich die 1902 gegründete Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zur Aufgabe, die sich vor allem aus Ärzten, Sozial- und Gesundheitspolitikern sowie Staatsbeamten zusammensetzte.
Die Gründung der an die Eugenik-Bewegung anknüpfenden Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik im Jahr 1915 ordnet sich in den Kontext des Ersten Weltkriegs und des anhaltenden Geburtenrückganges im Deutschen Reich ein. Die dezidiert pronatalistische Vereinigung hatte die „Bekämpfung der vielen Gefahren, die das deutsche Volk vermöge des Sinkens der Geburtenrate bedrohen“, zum Ziel. Vor allem im Sinne einer Steigerung der Geburtenzahl und einer Mehrung der „deutschen Volkskraft“ wollte die Gesellschaft daher auf Bevölkerung, Politik und Öffentlichkeit einwirken.

Die ungeheure Anzahl von Toten und Verletzten des Ersten Weltkriegs führte zu einer radikalen Infragestellung tradierter Wertvorstellungen: So erschien auch die Vorstellung von der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens nicht mehr als sebstverständlich, die Forderung nach eugenisch begründeten Eingriffen erschien nicht mehr als Bruch eines Tabus. Vor diesem Hintergrund fanden ökonomistische Argumentationen von Rassehygienikern in der Zeit der Weimarer Republik breitere Aufnahme in Wissenschaft und staatlicher Verwaltung.
In der 1920 veröffentlichten Schrift über die " Vernichtung lebensunwerten Lebens" traten mit dem bedeutenden Strafrechtslehrer Karl Binding und dem Neurologen Alfred Hoche erstmals zwei renommierte und angesehene Wissenschaftler für die Legalisierung der "Euthanasie" ein (Dok. 1). Zwar stieß der Gedanke der "Euthanasie" unter Medizinern noch mehrheitlich auf Ablehnung, aber mit der Berufung von Fritz Lenz wurde 1923 an der Universität München der erste Lehrstuhl für Rassenhygiene eingerichtet (Dok. 2). Diskussionen über die Einführung eines Sterilisationsgesetzes wurden auch in der SPD immer wieder geführt (Dok. 3), und seit Mitte der 1920er Jahre begann der "Deutsche Bund für Volksaufartung und Erbkunde" damit, die Ideen der Rassehygieniker gezielt in die breitere Öffentlichkeit zu tragen (Dok. 4, 5). Insbesondere das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt bemühte sich mit der Einrichtung von Eheberatungsstellen um eine breitere Verankerung der rassehygienischen Vorstellungen (Dok. 6, 7), und in einschlägigen Publikationen wurde auch bereits die Aufstellung von Ahnentafeln propagiert (Dok. 8).
Die Abhandlung des Rechtswissenschaftlers Karl Binding (1841-1920) und des Psychiaters Alfred Hoche (1865-1943) beschritt den verheerenden Weg von der „Eugenik“ und den Diskussionen um eine anhand der Erbanlagen gesteuerte Bevölkerungsentwicklung zur Forderung nach „Euthanasie“, der physischen Vernichtung menschlichen Lebens. Neben der Tötung auf Verlangen von „unrettbar“ Kranken traten Binding und Hoche für die Tötung „unheilbar Blödsinniger“ ein, deren Leben „zwecklos“ und eine schwere Belastung für die Gesellschaft sei. Diese radikalen Positionen stießen in der Ärzteschaft der 1920er Jahre noch mehrheitlich auf Ablehnung. Während der NS-Zeit diente die Schrift jedoch terminologisch wie ideologisch als Grundlage und quasi wissenschaftlich begründete Rechtfertigung der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen.
Bereits 1921 publizierten die Mediziner Erwin Baur (1875-1933) und Eugen Fischer (1874-1967) sowie der Humangenetiker Fritz Lenz (1887-1976) mit ihrem „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ eine Schrift, die rasch zu einem Standard-Lehrbuch der Rassenhygiene wurde und die Hitler in „Mein Kampf“ rezipierte. Insbesondere die in dem Werk propagierte Hierarchisierung menschlicher Rassen, die durch Bildmaterial untermauert werden sollte, sowie die angebliche Überlegenheit der „nordischen Rasse“ fanden sich später in der nationalsozialistischen Ideologie wieder
Der Mediziner Alfred Grotjahn (1869-1931) war seit 1920 Professor für Sozialhygiene an der Universität Berlin, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und zwischen 1921 und 1924 SPD-Reichstagsabgeordneter. In seinem 1926 veröffentlichten Werk forderte Grotjahn die „planmäßige Ausmerzung durch Verwahrung und Zwangsunfruchtbarmachung“ von „erblich Belasteten“. Die Verhinderung der Fortpflanzung „Minderwertiger“ kam nach Grotjahns Vorstellung einer notwendigen „Reinigung des Volkskörpers“ gleich. Auch der Sozialdemokrat Grotjahn hatte damit Anteil an der ideologischen Vorbereitung der rassenhygienischen Praxis der NS-Diktatur.
Die im Auftrag des Deutschen Bundes für Volksaufartung und Erbkunde herausgegebene gleichnamige Zeitschrift bot Ärzten und Wissenschaftlern ein Forum, um für eine eugenisch geprägte Bevölkerungspolitik zu werben. Hierzu dienten auch Schaubilder, die dem Betrachter die vermeintliche Gefahr einer „Degeneration“ der Bevölkerung durch die Weitergabe „minderwertigen“ Erbgutes vor Augen führen sollte.
1925 in Berlin gegründet, verstand sich der Deutsche Bund für Volksaufartung und Erbkunde als Interessengruppe der Eugenik. In organisatorischer Hinsicht war er eng mit dem Reichsbund der Standesbeamten verquickt. Der Bund zielte auf die „Erhaltung und Mehrung des im deutschen Volke vorhandenen wertvollen körperlichen und geistigen Erbgutes“ ab. Sein Appell lautete: „Gibst du schlechtes Erbgut weiter, versündigst du dich gegen deine Kinder und dein Volk, und ebenso verderblich handelst du, wenn du wertvolles Erbgut besitzt, ohne es weiterzugeben.“ Von den staatlichen Stellen erhielt die Vereinigung breite Unterstützung für ihre Positionen.
Runderlass des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt, des Preußischen Ministeriums des Innern und des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an die Ober- und Regierungspräsidenten betreffend die Förderung rassenhygienischer Bestrebungen, 20. Februar 1926
Befördert durch die Diskussionen um eine qualitative Bevölkerungsentwicklung auf Basis der Eugenik wurden auf Erlass des Ministeriums für Volkswohlfahrt seit 1926 kommunale Eheberatungsstellen in den preußischen Provinzen eingerichtet. Sie waren darauf ausgerichtet, Heiratswillige auf freiwilliger Basis gesundheitlich und „erbbiologisch“ aufzuklären und hatten sowohl den Zweck, aus eugenischer Sicht wünschenswerte Eheschließungen zu fördern als auch unerwünschte Ehen zu verhindern und zur Sterilisierung zu raten. Die Beratungsstellen waren Ausdruck einer ersten Umsetzung und Institutionalisierung der zeitgenössischen eugenischen Konzepte.
Zu den Vorschlägen der Eugeniker in den 1920er Jahren gehörte die Aufstellung von Ahnentafeln, die Auskunft über die Qualität der Erbanlagen einer Person oder einer Familie geben sollten. Ziel war eine Bestandsaufnahme des „Erbmaterials“ des gesamten Volkes. Hiervon ausgehend sollte die Fortpflanzung der genetisch „Geeignetsten“ gefördert sowie diejenige der „erbbiologisch Minderwertigen“ verhindert werden.

Die bevölkerungspolitische Propaganda der Nationalsozialisten setzte auf eine Bildsprache, die darauf abzielte, die Starken und Gesunden zum „wertvollen“ Teil der Bevölkerung zu stilisieren. Sie allein hatten aus Sicht des NS-Regimes das Recht und geradezu die Pflicht, sich fortzupflanzen, um der „Erhaltung der Art und Rasse“ zu dienen. Körperlich und geistig Behinderten oder psychisch kranken Menschen wurde dieses Recht hingegen abgesprochen. In der menschenverachtenden NS-Ideologie galten sie als „minderwertig“ und wurden als Last für die Gesellschaft dargestellt.
Neben der breiten Entfaltung entsprechender Propagandamaßnahmen (Dok. 1 - 3) begann das NS-Regime zielstrebig mit der Einführung gesetzlicher Maßnahmen. Schon 1933 wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verabschiedet, das die Durchführung von Zwangssterilisationen legalisierte. Mit den sog. Nürnberger Gesetzen von 1935 wurde u.a. die Ausstellung von "Ehetauglichkeitszeugnissen" der Gesundheitsämter zur Voraussetzung von Eheschließungen gemacht (Dok. 4, 5). Damit wurde die erbbiologische Erfassung und Kontrolle wachsender Teile der Bevölkerung vorangetrieben. Zwangssterilisationen wurden an Patienten psychiatrischer Heil- und Pflegeanstalten durchgeführt (Dok. 7), als Folge der Nürnberger Gesetze stieg auch die Zahl der von Gesundheitsämtern angeordneten Zwangssterilisationen deutlich an. Diese Maßnahmen wurden sorgfältig dokumentiert und zentral erfasst (Dok. 6).
Nach der Machtübernahme von 1933 etablierte das NS-Regime eine rassistisch wie antisemitisch motivierte Bevölkerungspolitik, die auf radikalen rassenhygienischen Vorstellungen beruhte und in aggressiver Weise darauf ausgerichtet war, das Erbgut des deutschen Volkes vor „Verunreinigung“ zu bewahren und gleichzeitig durch gezielte „Auslese“ zu verbessern. Eine Facette der NS-Rassenhygiene bestand in der Umsetzung einer pronatalistischen Politik, welche die Fortpflanzung von im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie „rassisch wertvollen“ Teilen der Bevölkerung fördern sollte. Das 1934 geschaffene Rassenpolitische Amt der NSDAP verbreitete zahlreiche Plakate und Publikationen, die diesem Ziel dienten, darunter auch die Propaganda-Schrift „Freude am Kind“.
Der Reichsbund der Kinderreichen zum Schutze der Familie e.V. (RDK) wurde 1919 als Selbsthilfeorganisation kinderreicher Familien gegründet, nahm im Laufe der 1920er Jahre zunehmend radikale eugenische Positionen an und wurde in der NS-Zeit dem Rassenpolitischen Amt der NSDAP angeschlossen. Nun verstand sich die Organisation als „Kampfbund, der nationalsozialistisches bevölkerungspolitisches Denken in das Volk tragen will“. Ziel des RDK war die „biologische Erneuerung“ des deutschen Volkes, die auf einer „Auslese“ der „Deutschblütigen“ und „Erbgesunden“ fußen sollte. Damit einher gingen Ausgrenzung und Diffamierung derjenigen, die als „erbkrank“ oder „sittlich belastet“ und daher „minderwertig“ galten, wozu der RDK Menschen mit Behinderungen, aber auch Angehörige der unteren sozialen Schichten zählte.
Die Wochenzeitung „Völkischer Wille“ wurde durch den Reichsbund der Kinderreichen herausgegeben und diente mit seinen stark ideologisch aufgeladenen Beiträgen explizit der Erreichung der bevölkerungs- und rassenpolitischen Ziele des NS-Regimes
Stärker als die Förderung „rassisch wertvollen“ Nachwuchses standen antinatalistische Maßnahmen im Vordergrund der NS-Politik, die in menschenverachtender Weise auf diejenigen zielten, deren Erbgut als „minderwertig“ galt und als Gefahr für den „Volkskörper“ betrachtet wurde. Hierzu gehörten die so genannten „Fremdrassigen“, wozu vor allem die Juden gezählt wurden. Sie waren neben weiteren Bevölkerungsgruppen ab 1933 systematischer und gewaltsamer Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt. Im Kontext der „Nürnberger Gesetze“ vom September 1935 wurden mit dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, kurz „Blutschutzgesetz“, Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden verboten und auch deren sexuelle Beziehungen als „Rassenschande“ unter Strafe gestellt. Die Standesbeamten vor Ort hatten fortan Eheschließungen nur noch im Rahmen der nun geltenden rassenpolitischen Bestimmungen vorzunehmen.
Zentrale rassenhygienische Maßnahmen des NS-Regimes waren das 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sowie das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ („Ehegesundheitsgesetz“) vom Oktober 1935. Ersteres legalisierte die eugenische Zwangssterilisation, indem es vorsah, Personen, die an den acht dort definierten vermeintlichen „Erbkrankheiten“ litten, durch medizinischen Eingriff unfruchtbar zu machen. Letzteres sah die Einführung von „Ehetauglichkeitszeugnissen“ vor, die sich die Heiratswilligen durch das Gesundheitsamt ausstellen lassen mussten und formulierte Eheverbote für Personen mit ansteckenden Krankheiten, Entmündigte, Personen mit einer „geistigen Störung“ und „Erbkranke“.
Die Staatlichen Gesundheitsämter der Landkreise hatten nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ unter dem Schlagwort „Statistik der Erb- und Rassenpflege“ regelmäßig an die ihnen vorgesetzten Stellen zu berichten. Hinter den minutiös erhobenen Zahlen über die durchgeführten Sterilisationen verbarg sich in jedem Einzelfall menschliches Leid, das die Nüchternheit der Berichte nur erahnen lässt. Zwischen 1934 und 1945 wurden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches nebst den nach 1937 annektierten Gebieten rund 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Etwa 5.000 bis 6.000 Frauen und 600 Männer verloren infolge des Eingriffs ihr Leben.
Wie in vielen anderen Heil- und Pflegeanstalten in Hessen und im Deutschen Reich insgesamt wurden auch in der Treysaer Anstalt Hephata seit 1934 auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Zwangssterilisationen an Heimbewohnern durchgeführt.

Um der Entscheidung über Zwangssterilisationen den Anschein eines rechtsförmigen Verfahrens zu geben, wurden ab 1933 sogenannte Erbgesundheitsgerichte eingeführt, deren Aufgabe es war, die Durchführung von Zwangssterilisationen zu beschließen (Dok. 1 - 3).
Der deutsche Angriff auf Polen am 1. September 1939, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert, führte auch zu einer weiteren Entfesselung der gegen Patienten von Heil- und Pflegeanstalten eingesetzten Gewalt. Schon im September 1939 war es im besetzten Polen zu ersten Massakern an Patienten psychiatrischer Anstalten gekommen, die von der SS mit Unterstützung der Wehrmacht durchgeführt worden waren. Anfang Oktober ordnete Adolf Hitler mit einem auf den 1. September, den Tag des Angriffs auf Polen zurückdatierten Schreiben an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler an, "dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann" (Nürnberger Dokument PS-630). Man rechnete mit etwa 70.000 für die Ermordung in Frage kommenden Patienten. Zur Durchführung dieser Aufgabe wurde unter Leitung der Kanzlei des Führers in den folgenden Monaten eine halbstaatliche, öffentlich nicht in Erscheinung tretende Sonderverwaltung aufgebaut, deren Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 ihren Sitz hatte und deren Aktivitäten deshalb unter dem Kürzel "T 4" ausgeführt wurden.
Die Heil- und Pflegeanstalten wurden aufgefordert, Meldebögen über ihre Patienten auszufüllen, diese wurden an von der T4-Zentrale ernannte Gutachter überreicht, die aufgrund der Angaben in dem Formblatt über Tötung ("+") oder Weiterleben ("-") der Patienten entschieden. In insgesamt 6 ausgewählten Anstalten wurden Tötungseinrichtungen mit Gaskammern und Krematorien gebaut, entsprechend "begutachtete" Patienten aus anderen Anstalten wurden mit Bussen von einer eigens dafür eingerichteten Transportgesellschaft in diese Gaskammern transportiert und dort ermordet (Dok. 4, 5). In ebenfalls speziell eingerichteten Standesämtern wurden Todesurkunden mit falschen Todesursachen ausgestellt und über den Umweg möglichst weit entfernter, anderer Anstalten an die Angehörigen übersandt, um Nachforschungen vor Ort zu vermeiden.
Trotzdem entstand wachsende Beunruhigung unter den Angehörigen von unerwartet Verstorbenen, und nachdem der Münsteraner Bischof August Graf von Galen im August 1941 in einer Predigt öffentlich die Verlegungen und Todesraten in Heil- und Pflegeanstalten angeprangert hatte, befahl Adolf Hitler die Einstellung der "Aktion T4".
Die Ermordung von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen durch die Verabreichung von tödlichen Medikamenten oder Nahrungsentzug wurde jedoch in einigen Heil- und Pflegeanstalten bis Kriegsende fortgesetzt (Dok. 6 - 9).
Literatur:
Michael Burleigh (Hrsg.): Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich 2002.
Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 2002.
Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt 1983; 2. überarb. Aufl. Frankfurt 2010.
Ab 1933 wurden im Deutschen Reich „Erbgesundheitsgerichte“ geschaffen, die über die Sterilisierungen auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zu entscheiden hatten. Diese Spezialgerichte wurden bei jeweils einem Amtsgericht eines Landgerichtsbezirks gebildet. Besetzt waren sie mit einem Richter als Vorsitzendem sowie zumeist je einem beamteten und einem für das Deutsche Reich approbierten Arzt als ärztlichen Beisitzern. Dem Verfahren musste ein formeller Antrag auf Unfruchtbarmachung einer Person vorausgehen, der in der Regel von einem Amtsarzt oder den Leitern von Kranken-, Heil-, Pflege- oder Strafanstalten gestellt wurde. Dem Anschein nach handelte es sich um rechtsförmige Gerichtsverfahren. Tatsächlich stellten die Erbgesundheitsgerichte ein politisch-ideologisches Instrument zur Durchsetzung der NS-Rassenhygiene dar.
Die bei den Erbgesundheitsgerichten entstandenen Fallakten geben uns heute Aufschluss über den Verlauf eines Verfahrens zur Zwangssterilisation, über die daran beteiligten Ärzte und Richter und erlauben schließlich einen Einblick in Schicksal und Leid der Opfer. Neben dem Antrag auf Unfruchtbarmachung enthalten sie in der Regel ein amtsärztliches Gutachten, einen „Intelligenzprüfungsbogen“ und den Wortlaut der Beschlussfassung des Gerichts. Die Akten dienen als wertvolle Zeugnisse der gewaltsamen Eingriffe des NS-Regimes in das Leben derer, die aufgrund ihrer physischen oder psychischen Erkrankungen als „minderwertig“ gebrandmarkt und ausgegrenzt wurden.
In zahlreichen Fällen führten die Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte zu Widerständen der Opfer und ihrer Angehörigen gegen den folgenschweren Eingriff, so dass die Betroffenen durch Polizeigewalt in die Krankenhäuser gebracht wurden. Aus Sicht der staatlichen Stellen galt es zu verhindern, dass derartige „Verzögerungen“ bei der Durchsetzung des Gerichtsbeschlusses dazu führten, „ein Kind auf die Welt zu setzen, das im Sinne unserer Weltanschauung als höchst unerwünscht bezeichnet werden muß“.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs begann auch die systematische Erfassung und Ermordung der Patienten und Patientinnen von Heil- und Pflegeanstalten. Planung und Organisation der verharmlosend als „Euthanasie“ bezeichneten Morde oblag einer zentralen Dienststelle, die ihren Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin hatte. Ab 1940 wurden im Deutschen Reich sechs Tötungsanstalten eingerichtet, zu denen auch die Anstalt in Hadamar gehörte. Bis Ende 1941 wurden in diesen Anstalten im Zuge der so genannten „Aktion T 4“ mehr als 70.000 Menschen durch Gas ermordet. Allein in Hadamar starben über 10.000 Kinder, Frauen und Männer. Bedingt durch wachsende Unruhe in der Bevölkerung sowie öffentliche Proteste kirchlicher Würdenträger wurden die Gasmorde Ende 1941 eingestellt. Die „Euthanasie“-Verbrechen setzten sich jedoch fort. In der zweiten Mordphase zwischen 1942 und 1945 starben die Opfer durch Medikamente oder systematisches Verhungern. In Hadamar kamen bis Kriegsende nochmals etwa 4.500 Menschen ums Leben.
Anfang 1941 im Innenhof der Tötungsanstalt Hadamar errichtet, war die „T 4“-Garage Ankunftsort für die später Ermordeten. Von der zentralen Dienststelle in Berlin berufene ärztliche Gutachter hatten zuvor anhand von Patientendaten über die potenziellen Opfer entschieden. Diese wurden aus ihren ursprünglichen Anstalten in „Zwischenanstalten“ verlegt und von dort zur gezielten Ermordung nach Hadamar verbracht. Der Transport erfolgte durch die grau lackierten Busse der zur „T 4“-Dienststelle gehörenden „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“. Die „T 4“-Garage in Hadamar bot Platz für drei Busse, die im Innern des Gebäudes von fremden Blicken unbemerkt entladen werden konnten. Von der Garage führte ein gedeckter hölzerner Gang in das Hauptgebäude.
Wegen angeblicher „Geisteskrankheit“ wurde Ernst P. Anfang 1943 in die Heilanstalt Warstein (Westfalen) eingewiesen und von dort im selben Jahr nach Weilmünster verbracht. Im September 1943 schildert er in einem Brief an seine Mutter die dortigen Zustände: „Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige. Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. Wöchentlich sterben rund 30 Personen. Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg.“ Der Brief wurde seitens der Heilanstalt zurückgehalten und befindet sich daher heute in der Patientenakte.
Im September 1944 wurde Ernst P. erneut verlegt, nun von Weilmünster nach Hadamar. In dem Schreiben bittet seine Mutter um Erteilung einer Besuchserlaubnis: „Für die Mitteilung vom 29.9. bestens dankend, möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich seit geraumer Zeit ohne persönliche Nachricht von meinem Sohn bin und daher den dringenden Wunsch habe, ihn mal zu besuchen. Ich bitte Sie daher, mir doch möglichst bald eine entsprechende Erlaubnis zu senden. Heil Hitler.“ Unter dem Brief der Mutter mit Bleistift der Antwortentwurf: „Der Geisteszustand Ihres Sohnes ist unverändert. Besuche sind nach wir vor gesperrt.“
Anfang Januar 1945 wurde der Mutter des Ernst P. durch die Heilanstalt Hadamar mitgeteilt, ihr Sohn sei an einer Lungenentzündung erkrankt. Bereits am folgenden Tag ging die Benachrichtigung vom Tod des Sohnes an die Mutter ab. Die Schreiben folgen einem damals gängigen Muster zur Verschleierung der wahren Todesumstände der Ermordeten. Zunächst wurde den Angehörigen eine schwere, lebensbedrohliche Krankheit des Patienten angekündigt. Kurz darauf erhielten sie die Todesnachricht. Die erfundenen Todesursachen wie Nierenversagen oder Lungenentzündung finden sich auch in den Sterbeurkunden der Opfer wieder.
Dem Schreiber des Briefes war wenig zuvor der Tod seiner Tochter mitgeteilt worden. Fassungslos wandte er sich an die Heilanstalt Hadamar und bat um Erläuterung der Todesursache – angeblich „Darmkatarrh“ –, die ihm nicht nachvollziehbar erschien: „Ich möchte nochmals den Herrn Chefarzt höflich bitten, mir das festzustellen, was mein Kind für eine Krankheit gehabt hat. Das will mir nicht in den Kopf hinein. Sie haben mir in den 12 Tagen mein Kind fortgeschafft. […] Sehr geehrter Herr Chefarzt, ich kann mir so etwas nicht bieten lassen. Ich habe ein kräftiges Kind gehabt. Ich werde gerichtlich dagegen vorgehen. Schicken Sie mir sofort einen Bescheid zu, was das Kind für eine Krankheit gehabt hat.“ (Das Zitat ist an die heute gültige Orthografie angeglichen und zum besseren Verständnis teilweise ergänzt.)

Der von Binding und Hoche bereits 1920 propagierte Gedanke der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" war bis zur Mitte der Zwanziger Jahre in der Ärzteschaft der Weimarer Republik noch auf überwiegende Ablehnung gestoßen. Das änderte sich aber schnell nach der Machtübernahme der NS-Regierung. Auch an der Philipps-Universität Marburg nahmen aktive Befürworter rassenhygienischer Maßnahmen wie der Hygieniker Wilhelm Pfannenstiel schnell leitende Positionen ein und propagierten von dort aus offensiv die Durchführung "rassisch-erbbiologischer Auslese"-Maßnahmen.
Der NS-Staat hatte für diese Entwicklung günstige Voraussetzungen geschaffen. Getragen und vorangetrieben wurde diese aber von einer Generation junger, ehrgeiziger Wissenschaftler und Ärzte, die in der universitären Lehre (Wilhelm Pfannenstiel, Dok. 1 - 3), in der klinischen Forschung (Ernst Kretschmer, Dok. 4 - 5) und auch in der klinischen Praxis (Werner Villinger, Albrecht Langelüddeke, Dok. 6 - 7) leitende Positionen einnahmen.
Ungeachtet ihrer jeweiligen Rolle bei der Propagierung und Durchführung von Zwangssterilisationen oder Krankenmorden konnten diese Wissenschaftler und Ärzte ihre Karrieren nach 1945 weitgehend ungebrochen fortsetzen.
Literatur:
Ernst Klee: Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, (12. Auflage) Frankfurt am Main 2004.
Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 2003.
Wilhelm Pfannenstiel (1890-1982) war 1931 als Professor und Leiter des Hygiene-Instituts nach Marburg berufen worden. 1933 trat er der NSDAP bei, firmierte als Unterzeichner des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ und übernahm den Vorsitz der Marburger Ortsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Im Sinne der NS-Ideologie plädierte er 1934 in einem programmatischen Aufsatz für eine „Auslese der Hochwertigen“ und die „Ausmerzung der Minderwertigen durch Ausschaltung der Fortpflanzung“.
Seit 1934 Mitglied der SS, war Pfannenstiel als Arzt des SS-Oberabschnitts Fulda-Werra und als beratender Hygieniker der Waffen-SS tätig, ab 1941 im Range eines Obersturmbannführers. In dieser Funktion inspizierte er auch Konzentrations- und Vernichtungslager in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. 1942 war er während einer Inspektionsreise in das Vernichtungslager Belzec Augenzeuge der Ermordung von Juden. Seit 1940 war Pfannenstiel aufgrund seiner Tätigkeit als SS-Arzt immer wieder von seinen Dienstgeschäften an der Marburger Universität beurlaubt.
Als Professor der Philipps-Universität und beratender Hygieniker der Waffen-SS war Pfannenstiel ein gefragter Redner. In dieser Rolle propagierte er insbesondere das der Kriegspropaganda dienende Ziel, die „Wehr- und Leistungsfähigkeit“ zu erhalten und zu steigern. Dies sollte geschehen durch Gesundheitsvorsorge und Hygiene, durch „Auslese-Maßnahmen“ und eine „rassisch-erbbiologische Musterung aller tüchtigen und begabten Jugendlichen“. Bis zum Ende des Krieges zeigte sich Pfannenstiel als überzeugter Vertreter der NS-Rassenhygiene. Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst durch die US-amerikanischen Streitkräfte interniert, war Pfannenstiel in den 1950er Jahren in der chemisch-pharmazeutischen Industrie tätig. Er starb 1982 in Marburg.
Der Psychiater und Neurologe Ernst Kretschmer (1888-1964) war 1926 an die Marburger Universität berufen worden und leitete bis 1946 als Direktor die dortige Universitätsnervenklinik. Kretschmer trat zwar nicht der NSDAP bei, wurde jedoch 1933 förderndes Mitglied der SS. In dem 1934 durch den Schweizer Rassenhygieniker Ernst Rüdin herausgegebenen Band „Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat“ befürwortete Kretschmer ausdrücklich die Sterilisierung „Schwachsinniger“. Deren Nachkommen seien „nur zum Unglück geboren“ und die „Volksgemeinschaft“ werde von ihnen „mit moralischer Zersetzung, unerträglichen Lasten und zuletzt mit dem Untergang bedroht.“ Kretschmer war für das Erbgesundheitsgericht in Marburg sowie das Erbgesundheitsobergericht in Kassel begutachtend tätig und nahm vermutlich 1941 an einer Sitzung des Beirats der Mordaktion „T 4“ teil. Nach dem Krieg wurde Kretschmer an die Universität Tübingen berufen, wo er bis 1959 als Direktor der Universitätsnervenklinik fungierte. Dort starb er im Jahr 1964.
Der Kinder- und Jugendpsychiater Werner Villinger (1887-1961) war ab 1934 Chefarzt der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel und trat 1937 der NSDAP und dem NS-Ärztebund bei. Unter Villingers Leitung wurden in Bethel nahezu 3.000 Personen zur Sterilisierung angezeigt. Ab 1937 wirkte Villinger zunächst am Erbgesundheitsobergericht in Hamm, ab seiner Berufung an die Universität Breslau im Jahr 1940 am dortigen Erbgesundheitsobergericht an der Entscheidung über Zwangssterilisationen mit. Ab März 1941 war Villinger als „T 4“-Gutachter tätig und entschied als solcher über die Ermordung von Patienten und Patientinnen der Heil- und Pflegeanstalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg versah er zunächst die kommissarische Leitung der Universitätsnervenklinik Tübingen, bevor er 1946 an die Universität Marburg berufen wurde, deren Rektor er im Wintersemester 1950/51 und erneut von 1955-1956 war. 1961 berichtete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ über Villingers Rolle im Rahmen der „Euthanasie“-Morde und er wurde hierzu gerichtlich vernommen. Im selben Jahr verunglückte er bei einer Bergwanderung nahe Innsbruck tödlich.
Der Psychiater Albrecht Langelüddeke gehörte 1933 zu den Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ und trat im selben Jahr der NSDAP, dem NS-Ärztebund sowie dem NS-Dozentenbund bei. Von 1935-1937 war er Leiter der Landesheilanstalt Haina, von 1937 bis Kriegsende Direktor der Landesheilanstalt Marburg. Seit 1935 lehrte er zudem als außerordentlicher Professor an der Philipps-Universität. Langelüddeke befürwortete die Sterilisation „aus eugenischen Gründen“, was sich in seiner Tätigkeit für das Erbgesundheitsobergericht in Kassel niederschlug, wo er an der Entscheidung über Zwangssterilisationen beteiligt war. Nach Kriegsende aufgrund seiner Mitgliedschaft in den NS-Parteiorganisationen entlassen, war Langelüddeke von 1949-1954 erneut Direktor der Landesheilanstalt Marburg. Er starb 1977 in Hofheim am Taunus.

Spätestens seit dem sogenannten "Ärzteprozess", der in den Jahren 1946 und 1947 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stattgefunden hatte, waren die medizinischen Verbrechen, die in Konzentrationslagern, aber auch in den Heil- und Pflegeanstalten verübt worden waren, der Öffentlichkeit - und damit auch den Strafverfolgungsbehörden - bekannt (Dok. 1)
In den Jahren 1946 bis 1948 fanden erste große Prozesse auch vor dem Frankfurter Landgericht statt. Obwohl der verbrecherische Charakter medizinischer Versuche und die Durchführung der Krankenmorde damit juristisch zweifelsfrei belegt waren, wurde nur eine kleine Zahl der ebenfalls bekannten Täter zu Haftstrafen verurteilt (Dok. 2). Bis Anfang der 1950er Jahre waren auch diese überwiegend wieder in Freiheit und konnten ihre Berufstätigkeit fortsetzen (Dok. 3 - 7).
Literatur:
Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Hrsg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt 1960.
Die Erstausgabe erschien 1947 unter dem Titel: Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen), 175 Seiten, Heidelberg, März 1947
Mehr als 250.000 Menschen wurden unter dem Deckmantel der „Euthanasie“ ermordet. Nach Kriegsende wurde die Dimension dieses Verbrechens offenbar. Alliierte Truppen inspizierten die Anstalten und fanden dort Leichname ermordeter Patienten. Familienangehörige erstatteten Anzeige, um die tatsächlichen Todesumstände der Opfer aufklären zu lassen. Die Strafverfolgung der Täter erwies sich indes als schwierig: Beschuldigte tauchten unter, beweisfähige Akten waren vielfach vernichtet worden. Unter Ägide der alliierten Militärgerichtsbarkeit fand 1946-1947 der „Nürnberger Ärzteprozess“ statt. Zu den 23 Angeklagten gehörten mit Hitlers Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Karl Brandt, sowie dem Oberdienstleiter in der „Kanzlei des Führers“, Viktor Brack, zwei Hauptverantwortliche für Planung und Durchführung der „Euthanasie“-Morde.
Zwischen 1946 und 1948 fanden vor dem Landgericht Frankfurt vier Strafprozesse statt, in denen sich Angehörige des Personals der Heilanstalten Hadamar, Eichberg und Kalmenhof für ihre Beteiligung an den „Euthanasie“-Morden zu verantworten hatten. Angeklagt wurden 44 Personen, darunter Ärzte, Schwestern, Pfleger sowie Verwaltungs- und technisches Personal. In erster Instanz ergingen sechs Todesurteile, eine lebenslängliche und drei achtjährige sowie 16 weitere Haftstrafen. Die Todesurteile wurden letztlich nicht vollstreckt. Nach diversen Revisionsverfahren und Begnadigungen war die große Mehrheit der Angeklagten bis Anfang der 1950er Jahre wieder auf freiem Fuß. Die Frankfurter „Euthanasie“-Prozesse können dennoch als wichtiger Beitrag zur Strafverfolgung der NS-Krankenmorde gelten. Gleichzeitig dürfen sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die juristische Aufarbeitung der „Euthanasie“-Verbrechen höchst lückenhaft blieb und die Täter zumeist nicht strafrechtlich belangt wurden.
Der Arzt und Psychiater Walter Schmidt (1911-1970) wurde 1939 Assistenzarzt in der Landesheilanstalt Eichberg. Von 1939-1941 war er als Mitglied der Waffen-SS in der Tschechoslowakei, Polen und Norwegen stationiert. Anschließend kehrte er an die Heilanstalt Eichberg zurück, wo er 1941 als Oberarzt die Leitung der „Kinderfachabteilung“ übernahm. In dieser Funktion zeichnete er für die Ermordung von geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen verantwortlich. Als Stellvertreter des Anstaltsdirektors Friedrich Mennecke und seit 1943 faktischer Leiter der Anstalt war Schmidt darüber hinaus mitverantwortlich für den Transport von erwachsenen Patienten in die Tötungsanstalt Hadamar sowie für die Krankenmorde an Erwachsenen in der Heilanstalt Eichberg.
Im Juli 1945 durch die Alliierten festgenommen, wurde Walter Schmidt zunächst in das Internierungslager Dachau gebracht, bevor ihm vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess gemacht wurde. Im Dezember 1946 lautete das Urteil lebenslange Zuchthausstrafe. Diese wurde im August 1947 durch das Oberlandesgericht Frankfurt in die Todesstrafe abgeändert. Später folgte die Rückführung auf eine lebenslängliche und schließlich eine zehnjährige Freiheitsstrafe, die Schmidt allerdings nicht in Gänze verbüßen musste. Befördert durch eine Unterschriftenkampagne seiner Eltern, wurde er begnadigt und kam 1953 aus dem Gefängnis frei. Schmidt war anschließend wieder als Arzt tätig und starb 1970 in Wiesbaden.
Ähnlich wie auch andere an den „Euthanasie“-Verbrechen beteiligte Täter rechtfertigte Schmidt seine Mordtaten damit, dass er strikt nach Gesetz und Befehl, im Dienste der wissenschaftlichen Forschung sowie im Sinne einer legitimen Sterbehilfe für Schwerkranke und Sterbende gehandelt habe. Ein Unrechtsbewusstsein fehlt vollständig: „Ich handelte daher nur auf Grund eines ordnungsgemässen Gesetzes. […] Weigerung kam auf Grund meines Gehorsams gegenüber meinem Pflichtgefühl nicht in Frage. Ein Verbrechen sah ich in der Erlösung von Schmerz bei unheilbar schwer leidenden sterbenden Idioten, die das Euthanasie-Gesetz ermöglichte, nicht, zumal Kriegslage und Notwendigkeit ein solches Gesetz begründeten.“
Nachdem die Bemühungen zur Strafverfolgung der „Euthanasie“-Verbrechen seit Anfang der 1950er Jahre zum Erliegen gekommen waren, wurden in den 1960er Jahren, bedingt durch die öffentlichen Debatten um die Aufarbeitung der NS-Zeit, Ermittlungen wieder aufgenommen oder neu angestrengt. So ermittelte die Staatsanwaltschaft Kassel 1961 und 1962 gegen den ehemaligen Direktor der Landesheilanstalt Merxhausen (Landkreis Kassel), Dr. Theodor Malcus (1881-1967), wegen Beihilfe zum Mord. Malcus sollte nachgewiesen werden, dass er wusste, zu welchem Zweck Patienten ab 1941 in die Anstalten Herborn und Eichberg und weiter nach Hadamar „verlegt“ wurden. Dies gelang der Staatsanwaltschaft jedoch nicht. Anfang 1962 wurde das Verfahren eingestellt. Dies kann als symptomatisch für die Strafverfolgung der NS-Krankenmorde angesehen werden.
Nach Tätigkeiten als Assistenzarzt an der Landesheilanstalt Marburg sowie als Oberarzt an der Landesheilanstalt Haina wurde Theodor Malcus 1919 Direktor und Landesobermedizinalrat an der Landesheilanstalt Merxhausen. Diese Position übte er bis 1945 aus. Unter seiner Leitung wurden in Merxhausen Zwangssterilisationen durchgeführt sowie Patienten in die „Zwischenanstalten“ Eichberg und Herborn und weiter in die Tötungsanstalt Hadamar überstellt. Zwischen 1945 und 1947 war Malcus durch die Alliierten interniert worden. Anschließend lebte er wieder in Merxhausen.

Der fehlenden Strafverfolgung der Täter in der Bundesrepublik entsprach die fehlende Anerkennung der Opfer und ihrer Leiden.
Bis weit in die 50er Jahre hinein war eugenisches Gedankengut bei den zuständigen Behörden noch weit verbreitet, wurden die durchgeführten Zwangssterilisationen weiterhin als "rechtmäßig" betrachtet, auch wenn Zwangssterilisationen nicht länger durchgeführt werden durften (Dok. 1 - 4). Die Rückgängigmachung von Zwangssterilisationen wurde in der Regel verweigert (Dok. 5 - 6). In einer Entscheidung aus dem Jahr 1957 versagte die Bundesregierung den Opfern von Zwangssterilisationen den Anspruch auf Entschädigung (Dok. 7). Erst im Jahr 1988 erklärte der Bundestag die Durchführung von Zwangssterilisationen zu "nationalsozialistischem Unrecht". Es dauerte allerdings dann immer noch bis zum Jahr 1998, bis die Urteile der Erbgesundheitsgerichte für unrechtmäßig erklärt und per Gesetz aufgehoben wurden.
Eine Anerkennung der Opfer von Zwangssterilisationen als Verfolgte des Nationalsozialismus wurde damit aber bis heute nicht verbunden, Anspruch auf Entschädigung besteht deshalb bis heute nicht.
Obwohl die in den psychiatrischen Anstalten durchgeführten Verbrechen spätestens seit dem Nürnberger Ärzteprozess von 1946/47 der Öffentlichkeit bekannt waren, dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis eine breitere öffentliche Auseinandersetzung damit begann (Dok. 8 - 10). Erst seit den 1980er Jahren wurden Gedenkorte und Gedenkstätten mit dem Anspruch auf Öffentlichkeitswirksamkeit eingerichtet (Dok. 11 - 15), vor dem Hintergrund einer erst langsam beginnenden breiteren wissenschaftlichen Erforschung der Geschehnisse.
Wurden die „Nürnberger Gesetze“ nach Kriegsende durch die Alliierten offiziell aufgehoben, so galt dies weder für das „Ehegesundheitsgesetz“ noch für das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, die von alliierter Seite offenbar nicht als direkter Ausfluss der NS-Ideologie gewertet wurden. Und auch auf Seiten der deutschen Behörden ließen sich Stimmen vernehmen, die für eine weitere Anwendung plädierten. So war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aus Sicht des Hersfelder Landrats „für die Gesunderhaltung des Volkes von grosser Wichtigkeit“. Zudem liege es „im allgemeinen Volksinteresse“, dass „das Eheverbot auch für die Erbkranken aufrecht erhalten bleibt. Würde die Anwendung nicht erfolgen, steht zu erwarten, dass die Erbkranken in grosser Zahl heiraten, ohne sterilisiert zu sein und ihre Nachkommenschaft der Allgemeinheit zur Last fällt.“
Mit Blick auf das Gebiet des sich bildenden Bundeslandes Hessen erging erst im Dezember 1945 eine Anordnung der US-amerikanischen Militärregierung, welche die deutschen Stellen anwies, die Anwendung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auszusetzen und unter Strafe zu stellen. Allerdings übertrug die Militärregierung den deutschen Politikern gleichzeitig die Aufgabe, „durch demokratische Einrichtungen selbst zu entscheiden, ob erzwungene Unfruchtbarmachung vom Standpunkt der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.“
Auf Grundlage der Anordnungen der US-amerikanischen Militärregierung erließ das Groß-Hessische Staatsministerium Anfang 1946 eine Verordnung, welche bestimmte, dass das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ „bis auf weiteres nicht mehr anzuwenden“ sei. Ein Verbot und damit verbunden eine Ächtung des Gesetzes blieben allerdings aus. Für die Opfer der Zwangssterilisationen bedeutete dies eine höchst unbefriedigende Situation. Weder wurde das ihnen zugefügte Leid als Unrecht anerkannt noch hatten sie hierdurch Anspruch auf Entschädigungsleistungen
Die Beibringung der 1941 auf Grundlage des nationalsozialistischen „Ehegesundheitsgesetzes“ eingeführten „Eheunbedenklichkeitsbescheinigungen“ war 1946 in Hessen per Erlass verboten worden. Trotz Verbots setzten zahlreiche Standesbeamte die Praxis der NS-Zeit jedoch fort und verlangten die Bescheinigungen weiterhin, so dass der Minister des Innern 1950 erneut einschritt.
Etwa seit dem Jahr 1946 wandten sich während der NS-Zeit zwangssterilisierte Personen an Ärzte und Krankenhäuser, um die Folgen des Eingriffs rückgängig machen zu lassen („Refertilisierung“). Aus medizinischer Sicht wäre dies möglich gewesen. Die unklare rechtliche Lage – formal galt das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ trotz Aussetzung fort – hielt die Mediziner jedoch vielfach von einer solchen Operation ab. Sie fragten daher bei den zuständigen staatlichen Stellen, Gesundheitsämtern und Regierungspräsidien, an, wie zu verfahren und ob eine behördliche Genehmigung für die Operation notwendig sei.
Die auf zahlreiche gleichlautende Anfragen erteilten Auskünfte des Regierungspräsidiums in Kassel zur Frage der Refertilisierung waren in ihrer Zielrichtung eindeutig: Strafbar würden sich Patient und Arzt durch die Wiederherstellung der Fruchtbarkeit zwar nicht machen, man rate jedoch von dem Eingriff ab, weil die durchgeführten Sterilisierungen „immer zu Recht erfolgt“ (!) und die medizinischen Risiken des Eingriffs erheblich seien. Aus Sicht der Behörden galten die Maßstäbe der NS-Zeit auch nach 1945 offenbar fort.
1957 nahm die Bundesregierung Stellung zu der Frage, ob den auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sterilisierten Personen ein Recht auf Entschädigung zu gewähren sei. Die Antwort fiel negativ aus. Die Opfer der Zwangssterilisationen waren damit von Entschädigungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen. Erst 1988 ächtete der Deutsche Bundestag die Zwangssterilisationen als „nationalsozialistisches Unrecht“ und sprach den Opfern „Achtung und Mitgefühl“ aus. Zehn weitere Jahre vergingen, bis das nun gesamtdeutsche Parlament 1998 ein Gesetz verabschiedete, das die bis dahin rechtskräftigen Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte aufhob. Als NS-Verfolgte und damit entschädigungsberechtigt wurden die Opfer jedoch nicht anerkannt.
Mit der Einweihung des Wandreliefs im Eingangsbereich des früheren Hauptgebäudes der psychiatrischen Klinik im Jahr 1953 wurde erstmals in Deutschland der Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen gedacht.
Im Jahr 1964 wurde der ehemalige Anstaltsfriedhof, auf dem zwischen 1942 und 1945 die in Hadamar ermordeten Patienten in Massengräbern beerdigt wurden, zu einer Gedenklandschaft umgestaltet. In diesem Zuge wurde auch eine Stele mit der Inschrift „Mensch, achte den Menschen“ errichtet.
Das Mahnmal für die während der NS-Zeit in der Landesheilanstalt Haina ermordeten Patienten trägt die Inschrift: „Zur Erinnerung an die hilflosen Kranken, die in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945 hier starben. Ihr Tod ist uns Mahnung und Verpflichtung.“
Ein Teil des heutigen Erinnerns sind die Denk- und Mahnmale, die sich auf dem Gelände der ehemaligen Landesheilanstalten befinden, die nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach als psychiatrische oder neurologische Kliniken fortbestanden. Hier galt es jeweils, die Rolle der Anstalten während der NS-Zeit kritisch zu beleuchten und dem Gedenken an die Opfer einen angemessenen Platz zu geben.
Das „Denkmal der grauen Busse“, ein Entwurf von Horst Hoheisel und Andreas Knitz, wurde im November 2006 an der „alten Pforte“ der ehemaligen Heilanstalt Ravensburg-Weißenau errichtet und erinnert dort an die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde, insbesondere der Mordaktion „T 4“. Das Denkmal besteht aus zwei Betonbussen, die den Fahrzeugen der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“, die während der NS-Zeit den Transport der Opfer in die Tötungsanstalten organisierte, nachempfunden sind. Im Innern befindet sich die Inschrift „Wohin bringt ihr uns? 1940/1941“. Neben dem im heutigen Zentrum für Psychiatrie Weißenau fest installierten Denkmal existiert ein zweiter identischer Betonbus, der seinen Standort wechselt und bereits in zahlreichen deutschen Städten zu sehen war.
Zweites Foto:
Nachguss des mobilen „Denkmals der grauen Busse“ vor dem Landeshaus des Landschaftsverbandes Rheinland in Köln-Deutz, errichtet im Jahr 2012
Die Gedenkstätte Hadamar befindet sich im Hauptgebäude der ehemaligen Landesheilanstalt Hadamar. Sie erinnert an die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen und versteht sich als Ort des Gedenkens, der historischen Aufklärung und politischen Bildungsarbeit.
Zu der Gedenkstätte gehören die noch erhaltenen Kellerräume mit der ehemaligen Gaskammer und einem wieder freigelegten Krematoriumsofen, der ehemalige Anstaltsfriedhof sowie die „T 4“-Busgarage, die 2006 restauriert und in die Nähe des Originalstandorts versetzt wurde. Sie ist heute die einzig erhaltene Busgarage der ehemaligen Gasmordanstalten und damit ein wichtiges Zeugnis der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen.
Gedenkstätte Hadamar, Rückansicht mit „T 4“-Busgarage, 2010
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „T 4“-Garage jahrzehntelang als Scheune des zur Anstalt gehörenden Hofgutes genutzt und drohte schließlich einzustürzen. 2006 wurde sie restauriert, in die Nähe des Originalstandorts versetzt und in die Gedenkstätte integriert. Sie ist heute die einzig erhaltene Busgarage der ehemaligen Gasmordanstalten und damit ein wichtiges Zeugnis der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen.
„Stolpersteine“ ist ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das zum Ziel hat, an die in der NS-Zeit verfolgten, ermordeten, deportierten, vertriebenen oder in den Suizid getriebenen Menschen zu erinnern. Jeweils auf der Oberseite der quaderförmigen Betonsteine befindet sich eine Messingplatte, die eine Inschrift zur Erinnerung an die Opfer trägt. Die Steine werden in der Regel in den Gehweg vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der betreffenden Person eingelassen. Über 50.000 solcher Erinnerungssteine befinden sich heute in Deutschland und weiteren europäischen Ländern und geben den Opfern des Nationalsozialismus einen Namen.
„Stolperstein“ in Erinnerung an Helmut Völker, verlegt am 28. April 2008 in Marburg, Schwanallee 57
Der „Stolperstein“ in der Marburger Schwanallee 57 erinnert an Helmut Völker, der im September 1944 im Alter von 13 Jahren in Hadamar ermordet wurde.
„Stolperstein“ in Erinnerung an Richard Hartmann, verlegt am 6. Oktober 2012 in Marburg, Bahnhofstraße 3
Der Stein trägt die Inschrift „Hier wohnte Richard Hartmann, Jg. 1896, eingewiesen 1922, Landesheilanstalt Marburg/Scheuern, ‚verlegt‘ 16.5.1941, Hadamar, ermordet 16.5.1941, Aktion T 4.“